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A. Hütig (Mainz): Immanuel Kant
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Ein Tag – ein Leben: Immanuel Kant
Geboren am 22. April 1724 in Königsberg als Sohn eines Sattlers, besucht Kant ab 1732
das Gymnasium und studiert ab 1740 an der Königsberger Universität. Nach einigen Jahren als Hauslehrer bei adeligen Familien in der Umgebung und den ersten Schriften erwirbt er 1755/56 weitere akademische Grade. Nach zwei v.a. aus politischen Gründen erfolglosen Bewerbungen auf Professuren und vielen kleineren Schriften wird er 1766 Unterbibliothekar an der Schlossbibliothek und kann damit erstmals ohne größere Geldsorgen arbeiten. 1770 wird er zum ordentlichen Professor für Logik und Metaphysik ernannt;
seine Antrittsdisputation nimmt die Raum- und Zeitlehre der >Kritik der reinen Vernunft<
vorweg. 1781 erscheint dieses epochale Werk (Auflage A). Weil Kant über die Reaktionen
enttäuscht war, veröffentlicht er zwei Jahre später eine populärere Fassung, die >Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können<, und 1787 sogar eine zweite, relativ stark überarbeitete Auflage B. Über die Erkenntnistheorie hinaus ist v.a. die praktische Philosophie für Kant wichtig, es erscheinen
die >Grundlegung zur Metaphysik der Sitten< (1785) und die >Kritik der praktischen
Vernunft< (1788). Als drittes großes Werk folgt 1790 die >Kritik der Urteilskraft<, die
sowohl Ästhetik und Kunsttheorie als auch die Naturteleologie behandelt. Schriften über
die Religion führen 1794 zu einer Ermahnung durch das königliche Kabinett und zu dem
Verbot, weiterhin über religiöse Fragen zu veröffentlichen. Kant fügt sich der Zensur. In
den folgenden Jahren folgen noch Schriften u.a. zur politischen Philosophie (>Zum ewigen Frieden<, 1795), zur Geschichtsphilosophie und zur Rechts- und Tugendlehre (>Die
Metaphysik der Sitten<, 2 Teile, 1797). Kant stirbt am 11. Februar 1804.
Bewegendes: Aufklärung und Kritik
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ (>Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung?<) Mit Kants Antwort auf eine
Preisfrage der Berliner Akademie (1783) ist Motiv und Ziel seines Philosophierens benannt: Der Mensch soll sich keiner Autorität beugen, keinen Anspruch akzeptieren oder
selbst vertreten, die sich nicht vor seiner eigenen Vernunft als gültig erwiesen haben.
Letztlich muss der Mensch auch auf diese Instanz allein vertrauen, weil ihm keine andere
Möglichkeit oder Garantie bleibt. Eben in dieser kritischen Prüfung aller Geltungsansprüche von Erkenntnis und Wissenschaft, von Moral und Kunst sieht Kant die Hauptaufgabe
der Philosophie, zumindest so lange, bis die Ansprüche geklärt sind. Bevor man also, wie
die traditionelle Philosophie, Überlegungen über das Weltganze, Gott, die Seele oder die
Freiheit des Menschen anstellt, muss man zunächst die Bedingungen der Möglichkeit und
Gültigkeit derartiger Erkenntnisse untersuchen, sie aus der menschlichen Vernunft einsichtig machen. Kant unternimmt es, diese von ihm transzendental genannte Perspektive
systematisch auszuarbeiten. Dabei behält die praktische Vernunft den Primat: alles Interesse der reinen Vernunft, selbst in theoretischer Hinsicht, ist auf die moralische Bestimmung des Willens gerichtet. Zwar wollte Kant anfangs mit seiner Arbeit spekulative Metaphysik wieder möglich machen, letztlich zeigt und anerkennt er aber, dass die menschliche Vernunft hier zu keinen Erkenntnissen kommen kann und im praktischen Gebrauch
ihren eigentlichen Wert hat.
Prägungen: Man kann nicht Philosophie, nur philosophieren lernen.
Die frühen Schriften Kants sind z.T. noch im Geiste des Rationalismus gehalten – Christian Wolff (1679-1754) popularisierte die Philosophie von Leibniz (1646-1716) und prägte
die damalige Philosophie. Aus dem „dogmatischen Schlummer“ (>Prolegomena<) erweckt Kant nach eigener Aussage der Skeptizismus von David Hume (1711-76), der kritisiert hatte, dass Kategorien wie z.B. die Kausalität nicht aus der Erfahrung zu entnehmen
sind: Bloß weil bisher ein bestimmtes Ereignis immer die gleiche Wirkung hatte, heißt das
nicht, dass es diese Kausalität notwendig und immer gebe. Für Hume ist unsere Vorstellung von Kausalität nur Gewöhnung, Nähe und Ähnlichkeit. Kant stimmt der Kritik am
Rationalismus aber nur z.T. zu: ohne eine Konzeption von Kausalität würden wir gar nicht
darauf kommen, etwas als Ursache eines anderen Ereignisses anzusehen. Wenn Kausalität nun nicht in der Erfahrung zu finden ist, muss sie als subjektiver Beitrag zur Erfahrungskonstitution aufgefasst werden. Dies gilt für alle Kategorien sowie für Raum und
Zeit. Trotz der Abkehr vom Rationalismus schätzt Kant den systematisch-architektonischen Geist dieser Richtung und folgt ihr im Aufbau seiner Schriften.
Im Bereich der praktischen Philosophie, von Ethik und Geschichtsphilosophie, ist es JeanJacques Rousseau (1712-78), der den größten Einfluss auf Kant hatte. Obwohl er dessen
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Glauben an die Natur und ihre heilsame Kraft nicht teilt, folgt er ihm doch v.a. in bezug
auf die Kritik an allem nur scheinbaren Fortschritt und allzu optimistischem Vernunftvertrauen. Weitere Bezugspunkte sind der antike Stoizismus, die Naturrechtstradition sowie
in Abgrenzung von deren Theorie eines moralischen Gefühls die englischen Moralisten,
z.B. A. A. C. Shaftesbury (1671-1713) oder Francis Hutcheson (1694-1764). In der Ästhetik ist es der Erfinder dieser philosophischen Disziplin, Alexander Gottlieb Baumgarten
(1714-62), auf den Kant v.a. in der Terminologie, aber auch in der Aufwertung der Autonomie des Kunstwerks und der Vorstellung einer harmonischen Ganzheit zurückgreift.
Kant unterhielt einen z.T. regen Briefwechsel und Kontakt mit anderen Philosophen seiner Zeit, so mit Herder, Hamann, Herz, Maimon, Mendelssohn, Reinhold und Fichte.
Jedoch ist Kant, obwohl er natürlich auch gelegentlich explizit zu anderen Positionen Stellung bezieht, zum einen ein originärer Denker, der seine eigene Position ohne viele Bezüge entwickelt und die philosophische Sprache und Methodik verändert hat wie kaum ein
zweiter. Zum anderen sieht er selbst Philosophie nicht als Abfolge oder Entwicklung der
Systeme, sondern als Idealbild der Reflexion: Philosophie ist „eine bloße Idee von einer
möglichen Wissenschaft, die nirgend in concreto gegeben ist, welcher man sich aber auf
mancherlei Wegen zu nähern sucht, so lange, bis […] das bisher verfehlte Nachbild, so
weit als es Menschen vergönnt ist, dem Urbilde gleich zu machen gelingt. Bis dahin kann
man keine Philosophie lernen; denn, wo ist sie, wer hat sie im Besitze, und woran läßt sie
sich erkennen? Man kann nur philosophieren lernen, d.i. das Talent der Vernunft in der
Befolgung ihrer allgemeinen Prinzipien an gewissen vorhandenen Versuchen üben, doch
immer mit Vorbehalt des Rechts der Vernunft, jene selbst in ihren Quellen zu untersuchen und zu bestätigen, oder zu verwerfen.“ (KrV, A 838/B 866)
Baupläne: Vernunft und Freiheit – „… der bestirnte Himmel über mir und das
moralische Gesetz in mir“
Kants eigenen Worten zufolge befasst sich die Philosophie mit drei Grundfragen, die in
einer vierten münden: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch?“ Mit einiger Berechtigung kann man seine Philosophie ebenfalls diesen Fragen zuordnen.
Kant stellt zunächst die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit von
Erkenntnis- und normativen Ansprüchen, er geht dabei nicht psychologisch vor, sondern
prüft, welche Ansprüche epistemologisch zu recht bestehen. Hierzu beginnt er bei den
Strukturen des menschlichen Erkenntnisvermögens; nachdem er zwei Erkenntnisquellen,
Sinnlichkeit und Verstand, identifiziert hat, rekonstruiert er deren implizite Strukturen.
Raum und Zeit sind die zwei Formen der Anschauung, die alles, was für uns wahrnehmbar ist, immer schon formen: Wir können uns nichts ohne räumliche Ausdehnung vorstellen, zudem den Raum überhaupt nicht als nicht existent oder als zusammengesetzt.
Räumlichkeit ist also eine Form, die all unserer sinnlichen Anschauung a priori – vor aller
Erfahrung – zugrunde liegt. Gleiches gilt für die Zeit, ohne die Dauer, Folge usw. nicht
vorstellbar sind. Raum und Zeit haben empirische Realität, d.h. objektive Gültigkeit für
alle je sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände, aber transzendentale Idealität, sie sind nur
Bestimmungen unserer Anschauung, nicht der Dinge, wie sie außerhalb dieser Anschauung sind. Alles, was in Raum und Zeit angeschaut wird, ist deshalb nur Erscheinung,
nicht Ding an sich, das wir nicht erkennen können; wir können bzw. müssen aber annehmen, das da irgend etwas ist, was uns erscheint.
Auch in bezug auf den Verstand entdeckt Kant a priori gegebene Elemente, die 12 Kategorien wie Kausalität, Substanz oder Möglichkeit. Sie verknüpfen und bringen Ordnung
und Zusammenhang in die Anschauungen. Erkenntnis entsteht im Zusammenspiel der
subjektiven Strukturen von Sinnlichkeit und Verstand: „Gedanken ohne Inhalt sind leer,
Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV, A 51) Die Anwendung der Kategorien auf
die Anschauung geschieht im Schematismus: Die Einbildungskraft verbildlicht die Kategorien, indem sie zu jeder ein zeitliches Schema konstruiert. So ist z.B. die Dauer das
Schema der Substanz, die Folge das Schema der Kausalität und die Gleichzeitigkeit das
Schema der Wechselwirkung. Wichtiger und schwieriger jedoch ist der Nachweis, warum
gerade diese Kategorien Geltung besitzen sollen und warum diese subjektiven Strukturen
objektive Erkenntnisse produzieren können sollen. In der transzendentalen Deduktion
versucht Kant, dies plausibel zu machen. Dazu ist zu zeigen, dass die Kategorien a priorische und notwendige Ordnungsfunktionen sind. Für Kant ist dafür das Selbstbewusstsein
zentraler Bezugspunkt: Alle Gedanken müssen von einem „Ich denke“ begleitet werden
können, sonst wären es nicht die Gedanken eines Ichs. Darin zeigt sich die Einheit und
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Identität des Denkenden; im Bezug auf das Ich zeigt sich auch der interne Zusammenhang der Gedanken. Die Kategorien sind nun die Regeln des Übergangs zwischen verschiedenen Vorstellungen; genauso wie das Selbstbewusstsein ist auch ein Wissen um
diese Regeln der Synthesis a priori gegeben. Alles, was für uns Objekt werden kann,
steht unter diesen a priorischen Regeln; die Kategorien konstituieren erst Objekthaftigkeit. „Die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.“ (KrV, B 197).
Kant nennt das Verfahren dieses Nachweises Deduktion. Dies bezeichnet nicht eine logische Schlussfolgerung, sondern stammt aus der Rechtslehre seiner Zeit und meint die
Begründung eines Rechtsanspruchs aus einem unbezweifelbaren Faktum heraus. In Übertragung der Gerichtsanalogie kann man sagen, dass Kant hier keinen Beweis für die
Gültigkeit der Kategorien liefern will, sondern vor der Instanz der Vernunft einen Anspruch vorträgt, den man gar nicht nicht akzeptieren kann, wenn man sich nicht selbst
als unvernünftig abqualifizieren will. Der Titel Kritik der reinen Vernunft meint deswegen
sowohl die Untersuchung der Vernunft als auch die Untersuchung durch die Vernunft. Die
metaphysischen Ergebnisse des Werkes sind v.a. negativ: Erkenntnisse über Gott, die
Seele und das Weltganze sind nicht möglich, weil von diesen Gegenständen keine Anschauung möglich ist, sie also nicht Objekt unserer Erfahrung sein können. Zugleich ist
die Gültigkeit der Kausalität im Bereich der Erscheinungen absolut. Doch damit ist nicht
bewiesen, dass der Mensch nicht auch ein freies Wesen sein könnte: Gerade weil die
Kausalität auf den Bereich der Erscheinungen eingeschränkt ist, sagt ihre Gültigkeit
nichts über den Menschen, wie er an sich ist. Die Vorstellung, dass der Mensch auch aus
Freiheit wirken kann, ist zwar nicht beweisbar, aber auch nicht widerlegbar, und sie widerspricht auch nicht den Ergebnissen der KrV. Somit ist Freiheit denkmöglich.
In den ethischen Schriften untersucht Kant nun, was in positiver Hinsicht zur Freiheit gesagt werden kann und wie eine Ethik zu begründen ist. Zum Handeln benötigt man in jedem Fall die Vernunft, zur Ableitung von Konsequenzen aus Gesetzen oder Klugheitsregeln. Zielen diese auf eine vorgegebenes Ziel, z.B. Sättigung, so folgt das Handeln den
Vorgaben der Neigung, in diesem Fall dem Hungergefühl. Neigungen sind zufällig, veränderlich und nicht verallgemeinerbar, können also kein moralisches Prinzip begründen; ein
solches müsste unabhängig von zufälligen Bedingungen sein und sogar „für alle Vernunftwesen“ (GMS) gelten. Der Wert einer Handlung bemisst sich überdies nicht aus den
Folgen, die unvorhersehbar sind und den Intentionen widersprechen können, sondern
aus dem Willen, der dahinter steht. Ein guter Wille ist nun einer, der aus reiner Vernunftmotivation tätig wird, der sich an einem Prinzip a priori orientiert, nicht an zufälligen
oder erfahrungsabhängigen Regeln. Ein solches Prinzip ist ein kategorischer Imperativ
(KI), der ein unbedingtes Sollen ausdrückt. Da jeder Inhalt dieses Sollens eine Bedingtheit zeigen würde, ist die Form entscheidend: Unbedingt gilt nur das, was widerspruchsfrei als allgemeingültiges Gesetz gedacht werden kann, was formale Allgemeinheit besitzt. Der KI lautet daher: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich
als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (KpV, §7) Handelt man allein
aus Achtung vor diesem Prinzip, so handelt man aus Pflicht und nicht nur äußerlich der
Pflicht gemäß. Kant unterscheidet noch vollkommene Pflichten, z.B. gegen sich das Verbot des Selbstmordes und gegen andere das der Lüge, und unvollkommene Pflichten,
z.B. gegen sich das Gebot der Selbstkultivierung und gegen andere das Gebot der praktischen Nächstenliebe. Hier zeigt sich, dass er keineswegs eine puristische Gesinnungsethik vertritt, die einer folgensensiblen Verantwortungsethik unterlegen ist: Es ist eine
Pflicht, anderen zu helfen und im Lichte möglicher Konsequenzen alle verfügbaren Mittel
einzusetzen; für die moralische Bewertung jedoch sind die Folgen aufgrund ihrer Kontingenz nicht geeignet.
Beim Handeln aus Pflicht gibt man sich selbst ein Gesetz vor, man handelt autonom und
versetzt sich und alle Vernunftwesen damit gedanklich in ein (ideelles) Reich der Zwecke,
wo nur Vernunftgesetze herrschen. Auch wenn es oft schwer fällt, so zu handeln, und das
Moralprinzip als Imperativ mit Nötigung auftritt: weil der Mensch als zwar neigungsbestimmtes, aber auch vernunftbegabtes Wesen zu dieser Handlung aus Pflicht fähig ist,
besitzt er Würde – die freie Selbstbestimmung ist durch nichts, auch durch keine göttlichen oder weltlichen Gebote, ersetzbar. Der KI ist so die Verbindung des reinen Moralprinzips zu einem auch empirisch bestimmten Willen, die Idee der Freiheit muss dabei
vorausgesetzt werden, damit Handeln überhaupt möglich ist. Freiheit ist zwar nicht beweisbar, aber von praktischer Bedeutung und lässt sich positiv als Autonomie verstehen.
„Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben
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darum in praktischer Rücksicht wirklich frei“ (GMS). Wie Freiheit sind die Unsterblichkeit
der Seele und Gott Postulate, unbeweisbare, aber praktisch wirksame Vernunftbegriffe,
denen empirisch nichts entspricht. Religion kann daher nur als Vernunftreligion, die die
Befolgung der Moral unterstützt, nicht als Offenbarung gerechtfertigt sein.
In der Kritik der Urteilskraft analysiert Kant die ästhetischen und die teleologischen Urteile. Schönheit ist danach interesseloses Wohlgefallen; der Mensch erfreut sich am freien
Spiel seiner Erkenntniskräfte: Im Bezug auf die ästhetische Lust entdeckt die Urteilskraft
ohne vorgängigen Begriff die Zweckmäßigkeit eines künstlich Hergestellten und damit
auch die Zweckmäßigkeit der menschlichen Geisteskräfte, die so harmonisch ineinander
greifen. Weiter nennt Kant erhaben, was über alle Maßen groß ist, uns aber doch deutlich
macht, wie unsere Vernunft nach noch Größerem strebt, nämlich nach der Unbedingtheit
des moralischen Sollens. „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ (KpV,
288) In der Natur entdecken wir eine Zweckmäßigkeit der Organismen, die von uns in
diese hinein gelegt wird. Damit zeigt sich in der Idee der Zweckmäßigkeit die Einheit des
vernünftigen Subjekts, dessen Vernunft nicht in heterogene Teile zerfällt, und zugleich
die Kompatibilität der Forderungen der praktischen Vernunft mit den Ergebnissen der
theoretischen, wenn auch nur mit subjektiver Notwendigkeit.
In der Rechtslehre legitimiert Kant eine monarchische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
aus dem äußerlichen Verhältnis der Menschen zueinander, also ohne Bezug zu ihrem Willen. Recht ist „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der
des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit vereinigt werden kann“ (MS,
Einl. § B), und gleichsam durch einen Vertrag entstanden. Revolutionen und aktiver Widerstand sind demnach selbst gegen Tyrannei nicht legitim, weil sie zur Aufhebung des
Rechtszustandes führen würden. Trotz dieser eher herrschaftslegitimierenden Elemente
war Kant ein Bewunderer der französischen Revolution: Sie kann als Geschichtszeichen
aufgefasst werden, als Indiz dafür, dass es mit der menschlichen Gattung weiter Richtung Freiheit und tugendhafter Gesellschaft geht. Die Moralisierung der Gattung, die Kultur der Vernunft sind so praktisches Ziel – eine Garantie für tatsächliche Verbesserungen
gibt es aber nur, insofern die Menschen selbst es sind, die diese in Angriff nehmen.
Nachklang: Die Revolution der Denkungsart
In der Philosophie der Neuzeit gibt es kaum einen Philosophen, der so einflussreich ist
wie Kant; jeder Nachfolgende hat sich mit ihm auseinander zu setzen. Selbst wer ihn kritisiert, muss die von ihm gesetzten Bedingungen der Erkenntnis beachten; wer hinter
Kant zurückfällt, wird als ‚vorkritisch’ abgetan. Unmittelbar an Kant anknüpfend entstand
der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel), der von ihm ausgehend, v.a. mit Bezug auf die Ethik und die Ästhetik, neue metaphysische Systeme entwarf. Auch Schopenhauer ist in diese Linie zu stellen; in gewisser Weise vollzieht auch Nietzsche eine Radikalisierung des transzendentalen Standpunkts. Nach Hegels Tod 1831 war die Zeit der großen Systeme vorbei, die Naturwissenschaften gewannen an Einfluss. Der Neukantianismus (ca.1870- ca.1920) versuchte, diese neuen Entwicklungen mit Kant zu interpretieren. Dilthey (1833-1911) entwarf eine Kritik der historischen Vernunft, in der er die Geschichte und die Kultur mit kantischen Mitteln analysiert, ähnlich kurz darauf Simmel und
Cassirer. Die originäre Kant-Interpretation von Heidegger (1927/28) war wichtig für dessen eigene Philosophie. Wittgenstein (1889-1951) vertrat eine Sprachtheorie, die kantische Züge trägt. In der sprach- und logikorientierten sog. analytischen Philosophie der
Gegenwart diskutiert man die Möglichkeit transzendentaler Argumente und die Bedeutung von Schemata. In der praktischen Philosophie ist der Gedanke der Universalisierung
Teil der allermeisten Theorien; neben dem genannten Neukantianismus der Jahrhundertwende knüpfen v.a. die Diskursethik (Habermas, Apel) und die liberale Vertragstheorie
eines John Rawls (geb. 1929) produktiv an Kant an: Erstere erweitert das monologische
Modell des Subjekts zur Idee der Kommunikationsgemeinschaft, Rawls unternimmt eine
Operationalisierung des KI mit spiel- und entscheidungstheoretischen Mitteln. Feministische Positionen kritisieren Kants Selbst-Konzept, die Vernunftzentriertheit und die Abstraktheit, knüpfen aber auch positiv an die Forderung nach Achtung des anderen an.
Bioethika: „… nur der Mensch … ist Zweck an sich selbst.“
Auf den ersten Blick scheint die bioethische Position Kants eindeutig zu sein: Eine Fassung des KI fordert, die „Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines je-
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den anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ (GMS) zu brauchen.
Diese Fassung verbietet jede Instrumentalisierung eines Menschen zu anderen Zielen, also auch Menschenversuche, kommerziellen Organhandel oder Stammzellgewinnung aus
Embryonen. Allerdings ist ja gerade umstritten, ob z.B. Embryonen bereits als ‚vollwertige’ Menschen anzusehen sind und ihnen Menschenwürde im vollen Sinn zukommt. Mit
Kant kann es keine Abstufungen der Menschenwürde geben; entweder hat etwas Würde
oder nicht. Kant benutzt zwar auch den Person-Begriff, der in manchen bioethischen Positionen zur Unterscheidung von bewussten und damit Rechte tragenden Menschen von
‚bloß biologischem menschlichen Leben’ verwendet wird; bei ihm bezeichnet Person jedoch den Menschen, insofern er aufgrund seiner auch vernünftigen (Gattungs-)Natur einen absoluten Wert hat. Über die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch sagt Kant dagegen
nicht viel. Da die Würde für ihn an der Fähigkeit zur Selbstbestimmung hängt, scheint
der Schluss möglich, dass vorbewusstes oder nicht mehr bewusstes Leben keine Würde
besitzt. Die Vernunft ist jedoch so unendlich, dass ein einzelnes menschliches Wesen sie
niemals ausschöpfen kann, so dass der Grad der Vernünftigkeit unerheblich ist. Zudem
können wir uns bei anderen, aber sogar bei uns selbst nie sicher sein, ob wir tatsächlich
aus freier, selbstbestimmter Vernunft handeln oder doch nur unseren Neigungen folgen;
wir sind uns selbst ja auch nur als Erscheinung zugänglich, besitzen keine vollständige
Selbsttransparenz. Die Würde kommt deshalb der Gattung Mensch zu, von der als ganzes
man hoffen darf, dass sie immer mehr Freiheit und Vernunft verwirklicht; die Würde des
Einzelnen bemisst sich nach seiner Teilhabe an dieser Gattung, nicht nach seiner tatsächlichen Ausprägung der Vernunft. Für Kant ist die leibhafte Präsenz eines Menschen ein
ausreichendes Symbol seiner Vernünftigkeit, um einen sittlichen Anspruch auf Anerkennung zu begründen (KdU, §§17 u. 59).
Für die Menschheit als biologische Gattung unter anderen ist die Angabe von empirischen
Kriterien der Zugehörigkeit sicher möglich. Aber der normative Status resultiert ja nicht
aus diesen Naturtatsachen, sondern gerade aus der Vorstellung, neben der Naturgesetzlichkeit einer anderen Art von Gesetzen folgen zu können. Dabei ist Kants Ethik jedoch
nicht anthropozentrisch, sondern ethikozentrisch: jeder vernunft- und damit moralfähigen Gattung kommt Würde zu. Die Menschheit ist in dieser Hinsicht ein Vernunftbegriff,
ein Ideal, das unser Verhalten orientieren soll und kann. Jede empirische Festlegung
würde daraus einen Erfahrungsbegriff machen, der diese normative Funktion nicht mehr
erfüllen könnte. Auch die Pflicht zur Selbstkultivierung und zur Fortentwicklung der Gattung gelten nur, insofern wir uns als Vernunftwesen anerkennen, und impliziert keinen
biologischen Züchtungsgedanken. Diese Anerkennung sollten wir aus begrifflichtheoretischen wie aus normativ-praktischen Gründen möglichst weit vollziehen. Eine
Pflicht zur Hilfe und Nächstenliebe, aus der eine Ethik des Heilens ableitbar wäre, existiert nur, insoweit sie nicht mit anderen, grundlegenderen Pflichten kollidiert. Zudem ist
Leidminderung als solche für Kant kein moralisches Ziel, weil Leid und Glück unscharfe,
kontingente Begriffe sind und auch missbraucht werden können: Manche haben an eigenem oder fremden Leid Freude, jeder versteht unter Glück etwas anderes und kann dies
selbst gar nicht genau definieren, so dass dies nicht als Basis einer moralischen Forderung dienen kann. Die Würde des Menschen resultiert daraus, dass er sich über die Bedürfnisse und Neigungen hinwegsetzen und sich durch moralisches Handeln als glückswürdig erweisen kann, nicht jedoch daraus, tatsächlich glücklich zu sein.
Mit Kant kann man folgende Überlegung anstellen: Die Menschenwürde ist in der Unersetzbarkeit der individuellen Selbstbestimmung begründet. Unersetzlich ist diese auch,
weil mit ihr jeweils etwas Neues, unhintergehbar als frei Anzusehendes in die Welt
kommt. 1 Damit müssen genetische Manipulation, Keimbahntherapie und reproduktives
Klonen als äußerst problematisch angesehen werden, weil damit in den Entstehungskontext eines potentiellen Vernunftwesens eingegriffen und die Grundlage dieses Wesens als
verfügbares Material angesehen wird. Kant betont, allerdings im rechtsphilosophischen
Kontext, dass Eltern mit dem Moment der Zeugung eine Pflicht zur Erhaltung und Versorgung des Kindes haben, da sie keine Sache, sondern ein „mit Freiheit begabtes Wesen“ (MdS, §28) in die Welt gebracht haben, wobei unerheblich ist, wie viel Vernunft es
[Als Hypertext] Die Philosophin Hannah Arendt prägte dafür den Begriff der Natalität, des Geborenseins: Auch mit
der Geburt eines Menschen entsteht etwas Unvorhersagbares, und gerade darin liegt die Unersetzbarkeit. In
gleicher Weise finden sich in der Naturrechtstradition, so bei Rousseau und Locke, und in Erklärungen der Menschenrechte, z.B. in der Französischen Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers (1789) und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), Formulierungen wie ‚alle Menschen werden frei und gleich geboren’; daher kann als normativ relevantes Kriterium die Tatsache, von Menschen abzustammen, gelten.
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konkret zeigt oder zu nutzen in der Lage ist. Dann kommt die Würde aber nicht nur, wie
man aufgrund der Wichtigkeit der Selbstbestimmung denken könnte, psychophysischen
Einheiten zu, die für sich existieren können. Feten in utero wären in dieser Hinsicht auch
Träger der Würde, obwohl sie ja keineswegs Individuen sind, die sich nur zufällig innerhalb einer ungewöhnlichen Umgebung aufhalten, sondern in ihrer Existenz von einer Trägerin von Würde abhängig, die eigentlich nicht gegen ihren Willen instrumentalisiert werden darf, noch nicht einmal von ihr selbst. Ein Recht auf Abtreibung gibt es, auch wenn
Feministinnen gelegentlich ein solches mit Kant aus der Pflicht zur Selbstentwicklung, die
durch eine Schwangerschaft beeinträchtigt wird, ableiten wollen, wohl nicht. Ob sich ein
Konflikt zwischen moralischen Normen, z.B. dem Instrumentalisierungsverbot und dem
absoluten Wert des Individuums, auch des potentiellen (aber bereits existenten, um nicht
verschmolzene Gameten auszuschließen), immer auflösen lässt, wie Kant annahm, ist
zumindest zweifelhaft.
Der Status extrauteriner und in vitro erzeugter Zellen, die gar nicht zur Geburt vorgesehen sind – von Kant verständlicherweise nicht thematisiert –, ist noch prekärer. Sobald
aber die technischen Möglichkeiten existieren, z.B. durch künstliche Gebärmütter, lässt
sich argumentieren, dass dann die Reifung zu einem Vernunftwesen möglich und damit
moralisch geboten wäre. Für jede potentiell vernunftbegabte Gattung verbieten sich genetische Manipulation, Hybridbildung oder industrielle Nutzung; erwiesenermaßen nicht
vernunftfähige Gattungen dagegen sind für Kant explizit den Sachen gleichgestellt und
dürfen be- und genutzt werden. Ein solcher Nachweis ist jedoch schwierig; in einer Nachlassnotiz stellt Kant die Überlegung an, dass man auf Pferden, wenn sie ‚Ich’ sagen könnten, nicht mehr reiten dürfte. So lange wir die Sprache anderer Wesen nicht verstehen,
sollten wir vorsichtig sein; auch unser Verhalten lässt ja nicht immer auf Vernunft schließen. Zudem lässt sich ein womöglich irreversibler Eingriff in die Grundlagen des Lebens
als Geschichtszeichen im negativen Sinne verstehen, als Indiz dafür, dass dem Menschen
nichts unantastbar ist – für Kant ist das „radikal böse“.
Natürlich kann man an Kants Positionen und Theoremen einiges kritisieren, die Philosophiegeschichte seit Kant ist voll von solchen Einwänden. Trotz der nicht unbezweifelbaren
Ausgangspunkte, des heute vielleicht weniger heftig auftretenden Vernunftvertrauens
und der Infragestellung des generellen Erkenntnisziels kann man jedoch von Kant Entscheidendes lernen, das auch in bioethischen Kontexten als Leitfaden dienen kann. Was
nämlich bei praktisch-normativen Entscheidungen, gerade bei solchen des Umgangs mit
den Grundlagen unserer eigenen naturhaften Existenz, immer mit auf dem Spiel steht, ist
neben dem Anspruch moralischer Forderungen auf ausnahmslose und durch keine anderen Erwägungen zu suspendierende Geltung und neben der unhintergehbaren Bedeutung
der Anerkennung der Freiheit als Bedingung und Ziel unseres Handelns vor allem eines –
unser Selbstverständnis als freie, handelnde, zumindest teilweise vernünftige und deshalb zur Moral fähige Wesen.
Spuren
Kant-Literatur allgemein:
Daniel, Claus: Kant verstehen. Einführung in seine theoretische Philosophie, Frankfurt am
Main 1984.
Höffe, Otfried: Immanuel Kant, München 1983.
Höffe, Otfried (Hg.): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/Main ²1993.
Kaulbach, Friedrich: Immanuel Kant, Berlin ²1982 oder später (dann zus. mit V. Gerhardt).
Literatur zu bioethischen Fragen mit Blick auf Kant:
Braun, Kathrin: Menschenwürde und Biomedizin. Zum philosophischen Diskurs der Bioethik, Frankfurt am Main 2000.
Links zu Kant:
http://www.uni-mainz.de/~kant/kfs/Welcome.html
http://www.uni-marburg.de/kant/
http://ethics.acusd.edu/theories/Kant/index.html
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