Deutsches Ärzteblatt 1983: A-49

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Zur Fortbildung
Aktuelle Medizin
ÜBERSICHTSAUFSATZ
Neuropsychologische
Störungen in Klinik und Praxis
Ätiologie, Erscheinungsformen, Diagnose
und Therapieansätze zu Aphasien, Apraxien, Agnosien und
räumlichen Orientierungsstörungen
Peter Berlit und Gabriele Haack
Aus der Neurologischen Klinik
(Direktor: Professor Dr. Heinz Gänshirt)
der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
1. Einleitung
Unter
neuropsychologischen
Symptomen sind Störungen übergeordneter Leistungen bei erhaltener elementarer Funktion zu verstehen. So sind die Aphasien
Sprachstörungen bei intakter
Sprechmotorik, die Apraxien
Handlungsstörungen bei ungestörter somatisch-motorischer
Funktion und die Agnosien Erkennungsstörungen bei erhaltener
sensibler und sensorischer Funktion. In der Praxis ist das Wissen
um die Charakteristika und die
Häufigkeit neuropsychologischer
Symptome entscheidend, um den
Patienten rechtzeitig einer gezielten Diagnostik und symptomatischen Therapie zuführen zu können. Da die neuropsychologische
Störung stets Symptom ist, hängen kausale Behandlung, Verlauf
und Prognose von der zugrundeliegenden Erkrankung ab.
Form einer Kodierungsstörung
(expressiv) oder einer Dekodierungsstörung (rezeptiv) beeinträchtigt (35)*)
2.1 Ätiologie der Aphasien
Die Aphasien sind die am häufigsten diagnostizierten neuropsychologischen Störungen. In einem
Zeitraum von 11 Jahren (1970 bis
1981) konnten wir bei 1196 Kranken (7,8 Prozent) Sprachstörungen beobachten, wobei ein Viertel
(25,6 Prozent) aller Schlaganfallpatienten betroffen war. Eine
Übersicht über die Häufigkeit der
einzelnen Ursachen für das Auftreten einer Aphasie ist in Darstellung 1 wiedergegeben.
Über die Hälfte der Sprachstörungen wird durch eine zerebrale Gefäßerkrankung hervorgerufen;
hierbei stehen 86 transitorisch
ischämische Attacken einer Zahl
von 578 Hirninfarkten gegenüber.
2. Die Aphasien
Die Aphasien sind als Sprachstörungen von den Sprechstörungen,
den Dysarthrien, abzugrenzen.
Während bei letzteren eine gestörte Sprechmotorik unterschiedlicher Ursache (kortikal, extrapyramidal, bulbär) vorliegt, ist bei den
Aphasien das Sprachsystem in
Als Ursache des Schlaganfalles
war bei 184 Patienten ein stenosierender bzw. verschließender Prozeß der Arteria carotis interna, in
126 Fällen eine Läsion der Arteria
cerebri media und 168mal eine
multilokuläre Arteriosklerose der
Hirngefäße nachweisbar. Eine kardiale Hirnembolie führte in 100
Fällen zu einer Aphasie.
Aphasie, Apraxie und Agnosie
sind neurologische Symptome, die für den Patienten tiefgreifende Einschnitte in sein
Leben bedeuten. Es lassen
sich verschiedene Störungen
abgrenzen. Das Wissen um
die Charakteristika dieser
neuropsychologischen Störungen, um ihr Zustandekommen und die zugrundeliegenden Erkrankungen ist entscheidend, um in der Praxis
die Weichen für eine individuelle Rehabilitation des Kranken richtig stellen zu können.
Unter den Tumoren als Aphasieursache war das Glioblastom (112
Fälle) am häufigsten, gefolgt von
Hirnmetastase (68 Fälle), Astrozytom (60 Fälle), Meningeom (21 Fälle) und Oligodendrogliom (15 Fälle). Die Tumoraphasien bieten
meistens das Bild einer amnestischen Aphasie, zeichnen sich aber
durch Perseverationen aus und
durch die bei einer vaskulären amnestischen Aphasie nicht vorhandene Sprachverständnisstörung.
In Verbindung mit Gefäßmißbildungen sahen wir eine Aphasie
häufiger bei Nachweis eines Aneurysmas (30 Fälle) als bei angiographisch darstellbarem Angiom (11
Fälle); bei 35 dieser Patienten trat
die Sprachstörung im Rahmen einer Blutung auf. Die traumatischen Aphasien waren häufiger
auf eine Hirnkontusion (23 Fälle)
als auf ein epi- oder subdurales
Hämatom (16 Fälle) zurückzuführen. Im Rahmen von Abbauprozessen des Gehirns waren aphasische
Störungen bei der Alzheimerschen Erkrankung (17 Fälle) und
bei der Multiinfarktdemenz (9 Fälle) nachweisbar. Bei den Meningoenzephalitiden führten virale Infektionen (10 Fälle) häufiger als
bakterielle (8 Fälle) und tuberkulöse (5 Fälle) Erkrankungen zu einer
*) Die in Klammern stehenden Ziffern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis des
Sonderdrucks.
Ausgabe A DEUTSCHES ARZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 14 vom 8. April 1983
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Aphasie. Zu den seltenen Ursachen einer Sprachstörung zählten
in unserem Krankengut unter anderem die Sinusthrombosen (7
Fälle} und die Vergiftungen (5
Fälle).
Das Haupterkrankungsalter lag in
unserem Krankengut zwischen
dem 50. und dem 70. Lebensjahr.
Dies ist in erster Linie auf die Ätiologie der Sprachstörungen zurückzuführen: So fielen 54 Prozent der Schlaganfallpatienten mit
einer Aphasie und die Hälfte aller
Tumoren mit einer Sprachstörung
in diese Altersgruppe. Bei Patienten, die jünger als 50 Jahre alt waren, fanden sich häufig traumatische und entzündliche Hirnerkrankungen sowie Blutungen im
Rahmen einer Gefäßmißbildung.
Bei 53 Patienten, die jünger als 30
Jahre waren, lag die Migraine accompagnee mit 11 Fällen vor Tumoren, Arteriitiden und Verletzungen . Die Alters- und Geschlechtsverteilung ist in Darstellung 2 zusammengestellt.
Fremdkörper---- - - .
Degenerative _ __ ___
Erkrankungen
Meningo---,--------.
encephalitis
Migräne--------.
2.2 Die Aphasieformen
Das Auftreten einer Aphasie ist an
eine Läsion der dominanten Hemisphäre - also beim Rechtshänder
der linken Hemisphäre - gebunden . Sogenannte gekreuzte Aphasien mit ausschließlicher Läsion
der nicht dominanten Seite, über
die gelegentlich kasuistisch berichtet wird (1 ), zählen zu den ausgesprochenen Raritäten : Sie sind
möglicherweise auf eine individuelle bilaterale Sprachrepräsentation zurückzuführen, wie sie öfters
beim Linkshänder zu beobachten
sein soll.
Auf Grund linguistischer Charakteristika lassen sich verschiedene
Aphasieformen voneinander abgrenzen:
..,.. Sensorische Aphasie
Leitsymptom der nach Wernicke
benannten und von ihm 1874 beschriebenen Aphasie (44) ist- bei
flüssiger Sprachproduktion - die
Sprachverständnisstörung (Deka~-----Gefäßmißbi l dungen
Hirntumoren
Cerebrale
Arteriitis - - -7'1
Seltene _ _
Ursachen
Unter Paraphasien ist das Vertauschen einzelner Laute innerhalb
eines Wortes (phonematische
oder Iiteraie Paraphasie) bzw. das
Vertauschen ganzer Worte (semantische oder verbale Paraphasie) zu verstehen . Ist das Sprachmuster durch Paraphasien bis zur
Unverständlichkeit verändert, wird
von einer Jargonaphasie gesprochen. Hierbei treten oft Neologismen auf, das heißt, durch paraphasische Entstellungen kommt
es zu Wortneubildungen.
Als Paragrammatismus werden
die grammatikalischen Fehlleistungen des sensorischen Aphasikers bezeichnet, wobei fehlerhafte
Satzteilaneinanderreihung, -Verschränkung und -Verdoppelung
häufig sind (27) .
Bei den genannten Symptomen ist
die Sprachproduktion oft sogar
gesteigert (Logorrhoe). Der anatomische Ort der Schädigung liegt
bei der Wernicke-Aphasie im Gyrus temporalis posterior superior,
entsprechend dem Versorgungsgebiet der A. temporalis post. aus
der A. cerebri media.
..,.. Motorische Aphasie
-/
258
672
Cerebrale·:__----,:-::-_ __ ____;
Durchblutungsstörungen
Darstellung 1: Ätiologie bei 1169 Fällen von Aphasie
50
dierungs-, rezeptive Störung) . Das
Sprachbild wird durch Paraphasien, Paragrammatismus und Neologismen bestimmt.
Bei der nach Broca benannten
motorischen Aphasie ist das Leitsymptom die gestörte Sprachproduktion bei relativ gut erhaltenem
Sprachverständnis (Kodierungs-/
expressive Störung) . Als erster
ordnete Broca 1861 dieser Form
der Sprachstörung eine anatomische Läsion zu (13) . Der Läsionsort liegt dorsal' der dritten Stirnwindung im Versorgungsgebiet
der A. praerolandica.
Typisch für die Broca-Aphasie
sind phonamatisehe Paraphasien,
Agrammatismus und Störung der
Prosodie (Sprachmelodie). Unter
Agrammatismus ist die Rarifizierung grammatikalischer Strukturen zu verstehen , der Verzicht auf
Heft 14 vom 8. Aoril1983 80. Jahroano DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe A
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Konjugation, Deklination und auf
nicht essentielle Adverben und
Adjektive (Telegrammstil); überdies zeigt der Patient einen verlangsamten Sprachfluß mit großer
Sprachanstrengung und ist in seiner Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt (31 ).
<30
: ll
l~tJ]
30-39
lfttttttt~]
40-49
..,.. Globale Aphasie
Die globale Aphasie ist gekennzeichnet durch eine hochgradige
Beeinträchtigung aller Sprachfunktionen. Zumeist zeigen die Patienten keinerlei verständliche
sprachliche
Äußerung,
das
Sprachbild besteht aus stereotypen Silben, Floskeln und Neologismen. Gelegentlich werden Silben- oder Wortfolgen perseveratorisch
unaufhörlich
wiederholt
(Sprachautomatismen), wobei der
Kranke sich über Sprachmelodie
und Sprachrhythmus auszudrükken versucht. Das Sprachverständnis ist bei der globalen Aphasie schwer gestört. Kommunikation findet meist nur über die Intonation statt (43).
Diese schwerste Form der Aphasie
kommt in der Regel durch einen
Verschluß des Mediahauptstammes zustande, der zu einer lnfarzierung der gesamten Sprachregion führt. Sie ist damit bei den
Schlaganfällen die häufigst auftretende Aphasieform.
IIIIf~IIIIIII~
50-59
60~9
~I1IIl1\~I\1I\~\f~\~I\~IIIJ
I~\~I\~\t~\~\1t1Jt]
70-79
>so
]l1IJ
Alter
%
I
10
Sprachproduktion mit häufigen
phonematischen
Paraphasien
durch eine hochgradige Störung
des Nachsprechens auszeichnet.
Die Aphasieform wird auch als
zentrale Aphasie bezeichnet, Ort
der Läsion soll der Fasciculus arcuatus sein (21).
..,.. Transkortikale Aphasie
Als Sonderform wird die sogenannte Leitungs-Aphasie abgegrenzt, die sich bei flüssiger
l
30
Darstellung 2: Alters- und Geschlechtsverteilung bei 1169 Fällen von Aphasie
..,.. Amnestische Aphasie
Bei der amnestischen Aphasie ist
die Wortfindungsstörung das Leitsymptom. Bei flüssiger Sprachproduktion, gutem Sprachverständnis und weitgehend intaktem
Satzbau fallen die Patienten durch
Wortfindungsstörungen auf, die
sie durch Umschreibungen oder
Füllwörter zu kaschieren suchen .
Der Läsionsort liegt bei der amnestischen Aphasie in der Temporoparietalregion, ohne daß das Syndrom einem bestimmten Gefäß zuzuordnen wäre.
I
20
Bei den transkortikalen Aphasien
liegt eine Unterbrechung der Bahnen zwischen Sprachregion und
sensorischen Assoziationsfeldern
vor (29, 41); die Patienten können
bei stark reduzierter Spontansprache relativ gut nachsprechen
(transkortikal-motorische
Aphasie), ohne bei der transkortikalsensorischen Aphasie den Sinn
des Nachgesprochenen voll zu
verstehen.
Im amerikanischen Sprachraum
wird eine Unterscheidung in fluent- und non-fluent-aphasias gemacht, wobei die amnestische, die
Wernicke-Aphasie und die transkortikal sensorische Aphasie zu
den flüssigen, die globale, die Broca-Aphasie und die transkortikal
motorische Aphasie zu den nichtflüssigen Sprachstörungen zählen. Diese vereinfachende Nomenklatur ist vor allem im Hinblick auf
die Prognose der Schlaganfallpatienten mit Aphasie zweckmäßig :
Die "flüssigen" Aphasiker, deren
Läsionsort hinter der Sylvischen
Furche liegt, haben auf Grund der
besseren
Kollateralversorgung
eine bessere Prognose als die
"non-fluents" (7).
2.3 Diagnostik
der Aphasien
Für die Untersuchung des Aphasikers in der Praxis existieren einige
einfache Sprachtests, anhand derer die verschiedenen Aphasieformen voneinander abgegrenzt werden können. Entscheidend ist zunächst in jedem Falle die Beurteilung der Spontansprache. Hierbei
ist auf Redefluß (fluent - non-fluent), auf Paraphasien, auf Umschreibungen, auf grammatikali-
Ausgabe A DEUTSCHES ARZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 14 vom 8. April1983
53
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sche Fehler und auf die Sprachmelodie zu achten. Bei nichtflüssigen Aphasien mit gestörter
Sprachproduktion ist eine Sprachaktivierung durch Nachsprechen
oder Reihensprechen (Wochentage, Monate) zu erreichen. Das
Sprachverständnis wird durch verbale Aufforderungen zu Handlungen und durch Benennungsaufgaben geprüft. Sogenannte Minimalpaare dienen dem Nachweis phonematischer Paraphasien bei gering ausgeprägter aphasischer
Sprachstörung. Beispiele für die
Möglichkeiten der Aphasieuntersuchung sind in Tabelle 1 zusammengestellt.
In der Klinik erfolgt die sichere Unterscheidung zwischen Aphasikern und Nichtaphasikern durch
den Token-Test. Bei diesem von
De Renzi und Vignolo 1962 beschriebenen Test muß der Patient
mit Plättchen unterschiedlicher
Form und Farbe Aufgaben in steigendem Schwierigkeitsgrad ausführen (18).
Huber und Mitarbeiter haben mit
dem Aachener Aphasietest einen
standardisierten Test vorgelegt,
der zusätzlich eine Unterscheidung der verschiedenen Aphasieformen, eine Bestimmung des
Schweregrades der Sprachstörung und eine Erfassung und Beschreibung der Symptome ermöglicht (28).
2.4 Differentialdiagnose
der Aphasien
Wie bereits eingangs erwähnt,
sind von den Aphasien die Dysarthrien abzugrenzen. Während die
Sprechstörungen die gestörte
Prosodie und Wortrarifizierung
mit den Aphasien gemeinsam haben, fehlen hier die Symptome der
Paraphasien, des Paragrammatismus, der Wortfindungsstörung
oder der Sprachverständnisstörung. Der Kranke hat nicht
Schwierigkeiten, das Wort zu finden oder zu verstehen, er hat Mühe, es zu artikulieren. Bei der
schwersten Form der Dysarthrie,
54
Untersuchung auf Aphasie
C) Untersuchung
der Spontansprache:
Frage zum
jetzigen Befinden,
zur Entstehung der
Krankheit,
zur beruflichen Tätigkeit,
zur Familie
C) Nachsprechen:
einsilbige Wörter, mehrsilbige Wörter, einfache Sätze, Sätze mit Nebensatz
® Minimalpaare:
Hans Hand Hanf, Brei drei
frei usw.
® Benennen vor und nach
Begriffsangebot:
z. B. Stuhl
oder Kugelschreiber
® Aufforderungen:
Strecken Sie
die Zunge heraus!
Zeigen Sie das Fenster!
Legen Sie den Kugelschreiber auf die blaue Decke!
Tabelle 1: Beispiele für Möglichkeiten
der Aphasieuntersuchung
der Anarthrie, ist eine Unterscheidung zur Wortstummheit der globalen Aphasie durch das erhaltene
Sprachverständnis bei der Anarthrie möglich.
lat oder einer Kunstsprache führen können, die in erster Linie von
der sensorischen Aphasie abzugrenzen ist. Die Wortneuschöpfungen (Neologismen) des schizophrenen Patienten haben aber oft
eine Bedeutung innerhalb des
psychotischen Denkens — sie kommen nicht durch paraphasische
Entstellungen zustande.
Besteht im Rahmen einer Psychose ein Mutismus oder ein Stupor
mit striktem Schweigen des Patienten, werden in der Regel das
Verhalten des Kranken und die
Fremdanamnese zur Abgrenzung
von nichtflüssigen Formen der
Aphasie führen. Mit dem Aphasiker ist zumeist eine normale Kommunikationssituation herzustellen; er versucht, seine sprachliche
Störung durch Gestik und Mimik
auszugleichen.
Schließlich können Störungen des
Sprechens bei einer Bewußtseinsstörung eine Aphasie vortäuschen. Sowohl quantitative (Somnolenz, Sopor) als auch qualitative
Störungen des Bewußtseins (Dämmerzustand, Delir) können zu Veränderungen der Sprache vor allem
in bezug auf Wortfindung, Wortwahl und Sprachproduktion führen. Hierbei ist die Prüfung der
Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung entscheidend für die
Differentialdiagnose.
2.5 Aphasien und
andere neurologische Symptome
Bei zerebralen Abbauprozessen
können Wortfindungsstörungen
auftreten, ohne daß eine Aphasie
im eigentlichen Sinne vorliegen
muß (23). Es handelt sich hierbei
um eine Störung der Namenfindung (Anomie) bei organischem
Psychosyndrom.
Im Zusammenhang mit einer
Sprachstörung finden wir das
Schreiben und Lesen beeinträchtigt, wobei die Art der Fehlleistungen (Paragraphien, Paralexien,
grammatikalische Fehler, Auslassung, Überproduktion) denen der
zugrundeliegenden Sprachstörung entsprechen.
Eine weitere wichtige Differentialdiagnose der Sprachstörungen
sind die Denkstörungen bei einer
Schizophrenie, wobei Zerfahrenheit, Gedankenabreißen und Begriffsstörungen zu einem Wortsa-
Auf die isolierten Störungen des
Lesens (Alexie) oder Schreibens
(Agraphie), die als Leitungsstörun-*
gen zu interpretieren sind, soll an
dieser Stelle nicht eingegangen
werden.
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Der vaskulären Ätiologie der meisten Aphasien entsprechend liegt
bei einem Großteil der Patienten
mit Sprachstörung ein Mediasyndrom mit sensomotorischer brachiofazialbetonter Hemiparese der
rechten Körperhälfte vor. 903 unserer Patienten (75,5 Prozent) hatten gleichzeitig eine Halbseitenlähmung rechts, in 226 Fällen bestand zusätzlich eine homonyme
Hemianopsie nach rechts.
Isolierte Aphasien ohne Extremitätenparese sahen wir in 234 Fällen
(19,6 Prozent); besonders häufig
traten sie als Initialsymptom von
Hirntumoren und bei den Schlaganfällen als Ausdruck einer kardialen Hirnembolie, wie wir dies bereits anderenorts beschrieben haben (6), auf.
Bei 30 der Aphasiepatienten ohne Halbseitenlähmung bestand
gleichzeitig ein homonymer Gesichtsfeldausfall. Hierbei handelte
es sich in der Regel um WernickeAphasiker, bei denen — dem Läsionsort entsprechend — eine Hemianopsie häufiger, Extremitätenparesen dagegen seltener als bei
der Broca-Aphasie sind.
Ein Großteil der vaskulären Aphasiepatienten hat initial eine vorübergehende kortikale Dysarthrie,
wobei diese häufiger mit einer
Broca- als mit einer WernickeAphasie vergesellschaftet ist. Persistierende Dysarthrien sahen wir
bei 43 Aphasikern bei einer Gesamtzahl von 479 ausgeprägten
Dysarthrien in unserem Krankeng ut.
3. Die Apraxien
Wie die Aphasien werden die
Apraxien durch Läsionen der dominanten Hemisphäre hervorgerufen; es handelt sich um Handlungsstörungen bei intakter elementarer Beweglichkeit.
Dies bedeutet, daß keine Lähmung
einer Gliedmaße vorliegt, sondern
das Ausführen einer sinnvollen
Handlung bei ungestörter Motorik
56
Untersuchung auf Apraxie
Buccofaziale Praxie:
pfeifen, Zunge herausstrecken, Zähne fletschen,
Nase rümpfen
0 Arm- und Handpraxie:
Handrücken auf die Stirn
legen, Drohgebärde machen, Haare kämmen,
Holzsägen imitieren
® Bein- und Fußpraxie:
Ball kicken, mit dem Fuß
ein Kreuz malen, Zigarette
austreten
Tabelle 2: Beispiele für die Untersuchung auf Apraxie
nicht möglich ist. Entscheidendes
diagnostisches Kriterium ist die
gestörte Auswahl und Aneinanderreihung von Bewegungselementen (41). In Analogie zu den Paraphasien werden die resultierenden
Fehlleistungen als Parapraxien
bezeichnet. Dem Läsionsort entsprechend sind die Handlungsstörungen oft mit Aphasien vergesellschaftet, isolierte Apraxien sahen
wir vor allem bei Hirntumoren.
3.1 Die ideomotorische Apraxie
Die ideomotorische Apraxie ist gekennzeichnet durch die Unfähigkeit des Patienten, in der Untersuchungssituation einzelne Bewegungselemente zu einer Bewegungsfolge richtig anordnen zu
können. Im täglichen Leben führt
das Krankheitsbild in der Regel zu
keiner Behinderung.
nach Läsionsort die Apraxie nur
bei der einen oder bei der anderen
Prüfungsart nachweisbar ist (30).
Lokalisatorisch können der motorische Assoziationskortex der
sprachdominanten Hemisphäre
und seine Verbindungen zur Gegenseite, zum Wernicke-Sprachzentrum oder zum motorischen
Kortex betroffen sein (21).
Die apraktische Störung kann entsprechend dem Läsionsort das
Gesicht (buccofaziale Apraxie),
die Arme und/oder Beine (Giedmaßenapraxie) betreffen. Die sogenannte „sympathische Dyspraxie"
des linken Armes bei Hemiparese
rechts ist auf die Läsion der Kornmissurenfasern in Balkennähe zurückzuführen (36).
Die Gesichtsapraxie ist bei 80%
aller Aphasiker in unterschiedlichem Ausmaß nachweisbar — es
besteht eine positive Korrelation
mit der Häufigkeit phonematischer Paraphasien (30).
Eine ausgeprägte Gliedmaßenapraxie sahen wir bei 54 Patienten, meist auch in Verbindung mit
einer Aphasie.
Hierbei ist die Handlungsstörung
bei den flüssigen Aphasieformen
schwerer ausgeprägt als bei den
nichtflüssigen (29). In 17 Fällen
trat die ideomotorische Gliedmaßenapraxie isoliert auf bzw. ging
den anderen neurologischen Symptomen voraus.
Bei 11 dieser Patienten war die
Handlungsstörung Initialsymptom
eines linkshirnigen Tumors, bei
drei Patienten lag eine zerebrale
Arteriitis vor.
3.2 Die ideatorische Apraxie
Bei der Apraxieprüfung wird die
Bewegungsfolge durch fehlerhafte Teilelemente, Auslassungen
und Wiederholungen entstellt.
Beispiele für die Untersuchung
auf Apraxie sind in Tabelle 2 zusammengestellt. Die Untersuchung hat hierbei verbal und
imitatorisch zu erfolgen, da je
Bei der ideatorischen Apraxie ist
der Patient nicht in der Lage, Einzelhandlungen in eine sinnvolle
Handlungsfolge umzusetzen.
Im Gegensatz zum ideomotorischen Apraktiker, dessen Symptomatologie oft erst in der Untersu-
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chungssituation zutage tritt, ist bei
diesem Syndrom der Kranke im
alltäglichen Leben behindert. Die
klinische Untersuchung auf ideatorische Apraxie erfolgt mit Hilfe
einer komplexen Aufgabestellung,
wie z. B. der Zubereitung eines
Schnellkaffees (30) oder dem
Richten eines belegten Brotes.
Das Krankheitsbild ist selten — wir
konnten im Verlauf von drei Jahren zwei Patienten untersuchen;
es ist an eine Läsion der Temporoparietalregion der dominanten Hemisphäre gebunden.
die retrorolandische Parietalregion betroffen (24). So war in unserem Krankengut die räumliche
Orientierungsstörung nur bei 39
Patienten nach Läsion der sprachdominanten Hemisphäre aufgetreten, hier zumeist unter dem Bild
der konstruktiven Apraxie. Die
häufigsten Ursachen für eine
räumliche Orientierungsstörung
waren neben der zerebralen
Durchblutungsstörung (53 Fälle)
Hirntumoren (37 Fälle) und Blutungen (8 Fälle).
5. Die Agnosien
4. Räumliche
Orientierungsstörung
Patienten mit einer räumlichen
Orientierungsstörung können die
räumlichen Beziehungen innerhalb eines Gegenstandes bzw. die
mehrerer Gegenstände zueinander nicht erfassen und wiedergeben. Die Störung kann sowohl die
Orientierung im Raum (die Patienten finden sich im Zimmer oder
auf der Straße nicht zurecht), am
Körper (Ankleidestörung, Rechtslinks-Störung, Fingeragnosie) und
an Gegenständen (Uhrzeitagnosie) betreffen als auch beim Zeichnen, Schreiben und Gestalten zu
einer konstruktiven Apraxie führen. Bei der Untersuchung können
die Kranken geometrische Figuren
nicht im Raum (Klötzchen) oder
auf dem Papier (Kärtchen) anordnen, sie können Objekte wie Haus
oder Fahrrad nicht kopieren bzw.
frei zeichnen.
Wir bekamen eine räumliche
Orientierungsstörung in dem beobachteten Zeitraum von 11 Jahren in 126 Fällen zu Gesicht, wobei
das männliche Geschlecht (67 Fälle) etwas häufiger als das weibliche (59 Fälle) betroffen war. Das
Durchschnittsalter betrug 58
Jahre.
Im Gegensatz zu den bisher besprochenen neuropsychologischen Störungen tritt die räumliche Orientierungsstörung häufiger bei rechtshirnigen als bei
linksseitigen Läsionen auf; es ist
Unter Agnosien sind Störungen
des Erkennens bei ungestörter
Wahrnehmung zu verstehen. Es
handelt sich um eine uneinheitliche Gruppe; die einzelnen Agnosien sollen an dieser Stelle nur
kurz aufgezählt werden.
Bei der klassischen visuellen
Agnosie kann der Patient optisch
dargebotene Gegenstände nicht
benennen, die er nach Betasten
erkennt.
Die Lokalisation der Läsion im Bereich des linken visuellen Kortex
unter Einschluß von Balkenanteilen spricht für eine Leitungsstörung (41).
Bei der Prosopagnosie handelt es
sich um eine Störung des Erkennens von bekannten Gesichtern.
Das seltene Krankheitsbild wird
angetroffen bei rechtsseitigen und
beidseitigen occipito-temporalen
Läsionen und ist öfters mit Gesichtsfeldausfällen und räumlichen Erkennungsstörungen vergesellschaftet (17, 38).
Einer Reihe von Symptomen
kommt keine eigenständige Bedeutung zu — vielmehr entstehen
sie als Untersuchungsartefakt.
So sind die Autotopagnosie — die
Störung der Orientierung am eigenen Körper — die Fingeragnosie,
die Uhrzeitagnosie, die Rechtslinks-Störung bzw. das nach
Gerstmann benannte Syndrom
(Rechts-links-Störung, Fingeragnosie und Akalkulie) (22) auf eine räumliche Orientierungsstörung bzw. eine aphasische Störung zurückzuführen (39).
Als Anosognosie wird das Nichterkennen von Krankheit bezeichnet.
Der Patient negiert bei diesem
Syndrom einen bestehenden neurologischen Ausfall, wie z. B. einen Gesichsfeldausfall oder eine
Halbseitenlähmung.
Eine schwächere Variante dieser
interessanten Störung ist der Neglect — darunter versteht man eine
halbseitige Vernachlässigung des
Körpers oder des Außenraumes.
Die Syndrome kommen nach Läsionen beider Hemisphären vor,
die klassische Lokalisation ist die
Parietalregion der rechten Hemisphäre (10, 16, 34).
Wir sahen eine Anosognosie bei
insgesamt 70 Patienten, davon nur
18 nach Läsionen der linken Hemisphäre. pie häufigsten Ursachen
waren der`Schlaganfall, Hirntumoren und traumatische Hirnläsionen.
6. Therapie der Aphasien
Verglichen mit der Intensität an
Diagnostik und Therapie klinisch
somatischer Erscheinungen von
Krankheiten, die unter anderem eine Aphasie zur Folge haben, blieb
die Behandlung der Aphasien bis
vor wenigen Jahren ein Stiefkind
der Medizin, obwohl eine Sprachstörung oft einen tieferen Einschnitt in die Persönlichkeit des
Kranken bedeuten kann als die Folgen einer Lähmung von Arm oder
Bein.
6.1 Linguistisch
orientierte Aphasietherapie
Die linguistisch orientierte Aphasietherapie versucht, dem Patienten Einsicht in die Struktur seiner
sprachlichen Störung zu vermitteln
und dadurch Lernprozesse in Gang
zu setzen (40). Hierzu wird überein-
Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 14 vom 8. April 1983
59
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stimmend gefordert, die Behandlung so früh wie möglich zu beginnen und auf keinen Fall zunächst
abzuwarten, ob und wieweit sich
die somatischen Ausfälle wieder
zurückbilden . Bereits nach Abklingen der Bewußtseinsstörung , noch
am Krankenbett, kann die ausgebildete Logopädin mit den ersten
Sprachübungen beginnen . Je früher derTherapiebeginn , um so größer ist die Chance, durch begleitendes Üben den spontanen Verlauf
der Aphasie günstig zu beeinflussen .
Hinsichtlich des zu erwartenden
Therapieerfolges spielen prämorbide Persönlichkeit und Intelligenzquotient keine wesentliche
Rolle , allerdings kommt dem sozialen Umfeld eine besondere Bedeutung zu . Denn es ist wichtig, die oft
gehemmten und unsicheren Patienten zum Sprechen anzuregen
und zu motivieren. Jüngere Patienten lernen oft leichter und schneller
als ältere .
Es ist schwierig oder gar unmöglich , die Effizienz einer Aphasietherapie global messen zu wollen ;
denn die spontane Rückbildung ist
beim einzelnen Patienten von sehr
vielen Faktoren abhängig und sehr
unterschiedlich (2 , 33, 42) . Unbestritten istjedoch dersinnvolle Nutzen einer möglichst intensiven Behandlung durch eine hierzu ausgebildete Logopädin, deren Therapiekonzept speziell auf Art und Ausmaß der Schädigung gerichtet sein
soll (9).
Zunächst wird es bei schwer
sprachgestörten Patienten notwendig sein , jede sprachliche, mimische und gestische Ausdrucksbewegung aufzugreifen und für
die Therapie zu nutzen . Kommmt
keine spontane Äußerung vom Patienten , muß der Therapeut versuchen , dem Patienten Gesten zu
entlocken , die das gesprochene
Wort begleiten , z. B. Händeschütteln bei der Begrüßung , Winken
zum Abschied , ein gedachtes Glas
zum Mund führen , wenn der Patient Durst hat und dies der
Schwester mitteilen will , und an60
deres mehr. ln dieser ersten Phase
soll nach Möglichkeit nicht korrigierend eingegriffen , sondern positiv verstärkt werden, was vom
Patienten an Äußerungen kommt.
Läßt sich keine spontane Reaktion
erreichen, können Reihen vorgesprochen werden , z. B. Zahlen ,
Wochentage oder Monatsnamen ,
die mitunter vom Patienten ohne
weitere Hilfe fortgesetzt werden
können. Auch wird er gelegentlich
ein ihm gut bekanntes Lied singen
können. Sind diese Anfangsschwierigkeiten
überwunden ,
kann mit der zweiten Therapiephase begonnen werden, die sich speziell auf die vorhandene Störung
richtet.
So wird es bei schwer motorisch
gestörten oder global aphasischen Patienten notwendig sein ,
zunächst Laute und Buchstaben ,
Silben sowie ein- und mehrsilbige
Wörter zu üben , die je nach erreichtem Fortschritt entsprechend
syntaktisch
geordnet werden.
Hierzu können Wort- und Bildtafeln benutzt werden sowie sprachliche Hilfen , in denen der Therapeut Anfangsbuchstaben und Silben vorgibt oder Lückensätze, die
der Patient vervollständigt. Weitere Hilfen sind Mit- und Nachsprechen sowie Schreiben .
~ Wichtig ist, daß sich der Therapeut an dem Erreichten und auch
an den Bedürfnissen des Patienten orientiert und sich nicht an ein
starres, vorgegebenes Schema
hält.
Anders wird sich die Behandlung
bei einer Wernicke-Aphasie gestalten mit Logorrhoe, Paraphasien und Neologismen bis hin zum
Jargon. ln diesem Fall muß zunächst versucht werden , den Redeschwall einzudämmen , Silben
neu zu ordnen und den Patienten
nachsprechen zu lassen . Gleichzeitig und in Verbindung mit der
Sprachtherapie soll das Lesen ,
Schreiben und Rechnen geübt
werden.
~ Wichtig und in jedem Falle anzustreben ist neben der reinen
Sprachbehandlung auch die soziale Reintegration des durch die
Aphasie oft schwer gehemmten
Patienten . Hierzu gehören krankengymnastische
Behandlung ,
Beschäftigungstherapie mit Malen , Zeichnen , Modellieren , Vorlesen und nicht zuletzt das Einüben
alltäglicher Situationen im Rahmen des Rollenspiels.
7. Therapie anderer
neuropsychologischer
Störungen
Noch weniger als für die Aphasiebehandlung existieren Richtlinien
für die Therapie apraktischer und
agnostischer Störungen . Auch
hier ist es entscheidend , dem Patienten Einsicht in die Struktur seines Funktionsausfalles zu geben ,
damit schrittweise Fehlleistungen
abgebaut, kompensiert bzw. Einzelfunktionen wieder erlernt werden können .
Bei einigen der geschilderten
nicht-aphasischen neuropsychologischen Störungen allerdings
erübrigt sich eine spezielle Behandlung , da der Patient entweder
im täglichen Leben kaum beeinträchtigt ist (ideomotorische Apraxie) oder eine Spontanrückbildung die Regel ist (Anosognosie).
ln der Rehabilitation des Kranken
mit neuropsychologischen Symptomen ist das erklärende Gespräch mit den Angehörigen nicht
nur für die Behandlung Hauptaufgabe des betreuenden Hausarztes
- die Aufklärung über die Funktionsstörung bewahrt den Patienten auch davor, als "dement" beiseite geschoben zu werden, und
ermöglicht damit die soziale Reintegration .
Literatur beim Sonderdruck
Anschrift der Verfasser :
Dr. med. Peter Berlit
Dr. med. Gabriele Haack
Neurologische Klinik der
Universität Heidelberg
Voßstraße 2
6900 Heidelberg
Heft 14 vom 8. April 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe A
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