Neuropsychologische Symptome und Syndrome Elisabeth Fertl, Frank Uhl Univ.-Klinik für Neurologie Wien Neuropsychologische Symptome und Syndrome ► Rechtshänder (90% aller Menschen): Sprach- und Handlungsdominanz der linken Hemisphäre (rechte Hemisphäre: für ganzheitliche und räumliche Wahrnehmung zuständig) ► Linkshänder: in 70% der Fälle Sprachzentrum ebenfalls linkshirnig; in 30% der Fälle rechtshirnige oder bilaterale Repräsentation der Sprache ► rostrale Anteile des Gehirns (Frontallappen): Steuerung des Handelns ► Mittellinien-Strukturen (limbisches System): unabdingbar für ein intaktes Gedächtnis Faktoren, die die höheren Hirnfunktionen beeinflussen ► Alter ► Geschlecht ► Ausbildung (Anzahl der Bildungsjahre) ► Art und Ausmaß einer Hirnläsion ► Allgemeinzustand (z.B. Schmerzen, Fieber, Hypotonie) ► Stimmungslage (z.B. Depression) ► Medikation ► Motivation ► Aktiviertheit (z.B. Vigilanz, Schlaf) Störungen der Aufmerksamkeit ► Hauptfunktion der Aufmerksamkeit: Selektion von perzeptiven Informationen zur Verhaltenssteuerung ► Fokussierung auf externe und/oder interne Reize ► Teilleistungen: – „Alertness“ – selektive Aufmerksamkeit – geteilte Aufmerksamkeit – Daueraufmerksamkeit Störungen der Aufmerksamkeit Neglect (1) ► Neglect, Definition: Vernachlässigung einer Raumhälfte und/oder einer Körperhälfte ohne gleichzeitig vorhandene Bewußtseinsoder Orientierungsstörung ► die vernachlässigte Raum- oder Körperhälfte ist immer jene, die in bezug auf die Gehirnläsion kontralateral gelegen ist (kontraläsioneller Raum) ► in der gesunden Raumhälfte (ipsiläsioneller Raum) zeigt der Patient normale Aufmerksamkeitsleistungen ► also: pathologische Allozierung von Aufmerksamkeitsressourcen in den ipsiläsionellen Raum Störungen der Aufmerksamkeit Neglect (2) ► die zugrundeliegenden Hirnläsionen sind meistens in den posterioren kortikalen Anteilen der rechten Hemisphäre lokalisiert ► Patienten mit rechtshirnigen Schlaganfällen: 35 bis 80% weisen Neglectsymptome auf (jeder Patient zeigt ein individuelles Neglect-Profil) ► unimodale (d.h. nur eine Sinnesmodalität betreffende) Formen des Neglects: motorischer, sensibler, visueller, akustischer Neglect ► multimodale (d.h. mehrere Sinnesmodalitäten betreffende) Formen des Neglects Störungen der Aufmerksamkeit Motorischer Neglect ► Vernachlässigung der Motorik der kontralateral der Läsion gelelegenen Extremität(en) ► die scheinbar plegische(n) Extremität(en) wird (werden) sofort wesentlich besser bewegt, wenn der Patient eine bimanuelle Tätigkeit mit hohem Aufforderungscharakter automatisch durchführt (z.B. das Fangen eines Balles) Störungen der Aufmerksamkeit Sensibler Neglect ► bei bilateral symmetrisch und simultan gesetzten taktilen Reizen werden nur jene an der vom Neglect nicht betroffenen Körperperhälfte wahrgenommen („Auslöschphänomen“; „Extinktion“) ► werden die taktilen Reize jedoch (zeitlich getrennt) nacheinander gesetzt, werden sie an beiden Körperhälften wahrgenommen ► NB: es darf allerdings keine Hemihypästhesie vorliegen ! Störungen der Aufmerksamkeit Visueller Neglect ► bilateral symmetrisch und simultan angebotene optische Reize werden nur in der vom Neglect nicht betroffenen Gesichtsfeldhälfte wahrgenommen ► werden die optischen Reize jedoch (zeitlich getrennt) nacheinander angeboten, werden sie in beiden Gesichtsfeldhälften wahrgenommen („Unaufmerksamkeits-Hemianopsie“) ► Prüfung: spontanes Zeichnen von Objekten (z.B. das Zifferblatt einer Uhr); diejenige Hälfte des Papiers, die in der vernachlässigten Gesichtsfeldhälfte des Patienten liegt, wird oft freigelassen ► Prüfung: Halbieren vorgegebener Linien; die Linien werden nicht in der Mitte halbiert, sondern in der Mitte der Gesichtsfeldhälfte, die vom Neglect nicht betroffen ist Störungen der Aufmerksamkeit Akustischer Neglect ► es erfolgt keine Reaktion auf akustische Reize aus der vernachlässigten Raumhälfte, ohne daß dort eine Hörstörung vorliegt ► Prüfung: bilaterale Simultanstimulation (z.B. Schütteln von zwei Schlüsselbunden vor beiden Ohren) Störungen der Aufmerksamkeit Neglect – Folgen im Alltag Neglect-Syndrome nach rechtshirniger Läsion: ► Tendenz, den Kopf und die Augen nach rechts zu wenden ► Stimuli aus der linken Raumhälfte (Pflegepersonal, Besucher) werden nicht beachtet ► Rasieren: die linke Gesichtshälfte bleibt (weitgehend) unberücksichtigt ► Ankleiden: erfolgt unvollständig, links hängt z.B. das Hemd aus der Hose ► aktives Rollstuhlfahren, Gehen: der Patient stößt immer wieder gegen Gegenstände (z.B. Türstöcke) in der linken Raumhälfte, der linke Arm ist erhöht verletzungsgefährdet ► Selbständigkeit, Arbeitsfähigkeit und Verkehrstüchtigkeit u.U. erheblich beeinträchtigt Störungen der Aufmerksamkeit „Pusher-Syndrom“ ► gelegentlich mit einem Neglect-Syndrom assoziiert ► rechtshirnige Läsion: führt zur Kippung der subjektiven Körperlängsachse nach rechts ► der Patient tendiert dazu, das Körpergewicht zur linken Seite zu verlagern ► Resultat: Zug- und Falltendenz nach links, die nicht nachhaltig korrigierbar ist, da der Patient den Eindruck hat, gerade zu sitzen bzw. zu stehen Störungen der Sprachfunktionen (Aphasien) Anatomische Grundlagen Sprachfunktionen: werden von einem (meist linkshirnig lokalisierten) Netzwerk erbracht, das Kortexareale (im Frontal-, Parietal-, Temporallappen und der Inselregion) sowie subkortikale Zentren (Thalamus, Stammganglien) umfaßt Broca-Zentrum: motorisches Sprachzentrum im Frontallappen (Area 44) Wernicke-Zentrum: sensorisches Sprachzentrum im Temporallappen (Area 22) Leitungsaphasien: entstehen bei Läsionen der weißen Substanz zwischen motorischem und sensorischem Sprachzentrum Transkortikale Aphasien: entstehen bei Läsionen in unmittelbarer Nachbarschaft dieser beiden Zentren Störungen der Sprachfunktionen (Aphasien) Definitionen, Ursachen Sprachmodalitäten: ► expressive Fähigkeiten: freies Sprechen und Schreiben ► rezeptive Fähigkeiten: Verstehen und Lesen Aphasien (Definition): ► sind erworbene, stets multimodale Störungen der Sprachfähigkeit, wobei die einzelnen Modalitäten unterschiedlich stark betroffen sind ► d.h.: bei jeder Aphasie liegt immer auch ein variables Ausmaß an Alexie und Agraphie (erworbene Lese- bzw. Schreibstörung) vor Ursachen von Aphasien: am häufigsten fokale linkshirnige Läsionen (ischämische Infarkte, intrazerebrale Blutungen, Schädelhirntraumen, Tumoren) Störungen der Sprachfunktionen (Aphasien) Klassifikation Standard-Syndrome: ► Broca-Aphasie ► Wernicke-Aphasie ► amnestische Aphasie ► Globalaphasie Nicht-Standard-Syndrome: ► transkortikale Aphasien ► Leitungsaphasie Nicht klassifizierbare Aphasien: die sprachlichen Leitsymptome sind nicht mit einer dieser Aphasieformen vereinbar Störungen der Sprachfunktionen (Aphasien) Diagnostik Spontansprache: der Patient soll mehrere Minuten lang spontan sprechen; „nicht-flüssige“ Spontansprache: der Patient spricht mit großer Anstrengung bzw. bringt nur kurze Sätze (< 5 Worte) hervor Sprachverständnis: Prüfung mit einfachen Fragen, die keine motorischen Aufträge beinhalten Benennen: Prüfung durch Präsentation und Aufforderung zum Benennen von Alltagsgegenständen Nachsprechen: Prüfung durch Aufforderung zum Nachsprechen von Buchstaben, einsilbigen Worten, mehrsilbigen Worten und kurzen Sätzen (Prüfung der Funktionstüchtigkeit der Informationsweitergabe vom sensorischen zum motorischen Sprachzentrum) Lesen und Schreiben Störungen der Sprachfunktionen (Aphasien) Leitsymptome Agrammatismus: keine Berücksichtigung allfällig erforderlicher Deklinations- und Konjugationsformen, häufiges Fehlen der Verben Paragrammatismus Paraphasien: Störungen der Wortbildung, die entweder die Lautfolge oder den Wortsinn betreffen Wortfindungsstörungen Automatismen Störungen der Sprachfunktionen (Aphasien) Bostoner Diagnose-Schema Spontansprache flüssig auditives Sprachverständnis Nachsprechen + + + + + – + – + + – – + – + – – + – – + gut; – schlecht AphasieForm amnestische Aphasie Leitungs-Aphasie transkortikale Aphasie (sensorische Form) Wernicke-Aphasie transkortikale Aphasie (motorische Form) Broca-Aphasie Global-Aphasie Broca-Aphasie (Motorische Aphasie) ► Spontansprache: nicht-flüssig ► kurze Sätze, sehr limitiertes Vokabular, Agrammatismus, „Telegrammstil“: z.B. „Schlaganfall … Krankenhaus … Wagen fahren“ ► phonematische (literale) Paraphasien (Lautentstellungen): z.B. „Farau“ (statt: Frau), „Burch“ (statt: Bruch) ► Nachsprechen: sehr schwierig ► erhebliche Sprachanstrengung, gestörte Prosodie (Rhythmik und Melodie der Sprache) ► Lesen und Schreiben: stets mitbetroffen ► Sprachverständnis: überwiegend intakt ► Prognose betreffend verbale Kommunikationsfähigkeit: gut Wernicke-Aphasie (Sensorische Aphasie) (1) ► Spontansprache: flüssig ► die Patienten sprechen viel, Logorrhoe (ungehemmte Sprachproduktion), die Inhalte sind aber unverständlich ► Satzbau: Satzverschränkungen, ausgeprägte Störungen der Satzbildung, Paragrammatismus: z.B. „ich war auf dem Berg bin ich oben gewesen“ ► Vokabular: umfangreich, Neologismen (Wortneuschöpfungen), phonematische und semantische (verbale) Paraphasien (Vertauschung des Wortsinnes), z.B. Mutter (statt Schwester) ► „Jargon-Aphasie“: völlig unverständliche Spontansprache, „Wortsalat“ ► das Unverständnis der Zuhörer wird kaum bemerkt Wernicke-Aphasie (Sensorische Aphasie) (2) ► Sprachverständnis: schwer gestört ► Nachsprechen: nicht möglich ► Schreiben und Lesen: nicht sinnvoll möglich ► DD: Verwirrtheitszustand, akute Psychose ► Prognose: weniger günstig als jene der motorischen Aphasie Amnestische Aphasie (Anomie) ► Spontansprache: flüssig, jedoch Suchen nach einzelnen Worten, Leitsymptom: Wortfindungsstörung, v.a. Substantive und Adjektive betreffend (Benennen von Gegenständen) ► Sprachäußerungen klingen umständlich, häufig werden Umschreibungen und Füllwörter verwendet, z.B. „das dings da“ ► Satzbau, Artikulation, Prosodie: ungestört ► Sprachverständnis: intakt ► Nachsprechen: ungestört ► schriftsprachliche Leistungen: ungestört ► Prognose: sehr günstig Globalaphasie (expressiv-rezeptive Aphasie) ► ausgeprägte Störungen aller sprachlichen Modalitäten ► Leitsymptom: Automatismen, d.h. ständig wiederkehrende formstarre Äußerungen, z.B. „ja, ja …“, „sasa … sa“ ► Sprachproduktion: nicht-flüssig, erhebliche Sprachanstrengung, kaum spontane Sprachäußerungen ► Sprachverständnis: schwer beeinträchtigt ► Nachsprechen: nicht möglich ► verbale Kommunikation: massiv gestört ► Prognose: sehr ungünstig Transkortikale Aphasien (sensorische Form, motorische Form) ► die sprachliche Beeinträchtigung gleicht jener bei der sensorischen bzw. motorischen Aphasie ► jedoch: Nachsprechen erstaunlich gut möglich Leitungsaphasie ► Spontansprache: flüssig ► reichlich phonematische Paraphasien ► Sprachverständnis: weitgehend intakt ► Nachsprechen: erheblich beeinträchtigt, reduzierte verbale Merkspanne Störungen des Gedächtnisses und des Lernens Anatomische Grundlagen: ► für ein intaktes Arbeits- und Langzeitgedächtnis benötigt man das gesamte Gehirn ► Einspeicherung („storage“) und Wiederfinden („retrieval“) von Informationen: läuft über die Strukturen des limbischen Systems; entscheidend: Neurone des Hippocampus ► Frontallappen: steuern die Verarbeitungsvorgänge im Arbeitsgedächtnis ► Langzeitgedächtnis: in den großen kortikalen Arealen der tertiären Rindengebiete verankert; Kapazität unbegrenzt Störungen des Gedächtnisses und des Lernens – Definitionen (1) Gedächtnis: Fähigkeit, Informationen abzuspeichern und bei Bedarf wieder abzurufen Arbeitsgedächtnis (Kurzzeitgedächtnis): Fähigkeit, Informationen aufzunehmen und gleichzeitig zu verarbeiten; z.B. Kopfrechnen; Kapazität beschränkt Langzeitgedächtnis: zeitlich und mengenmäßig unbegrenzte Fähigkeit, Informationen zu behalten und bei Bedarf wieder abzurufen; Systeme: a. explizites (deklaratives) Gedächtnis b. implizites (nondeklaratives) Gedächtnis Störungen des Gedächtnisses und des Lernens – Definitionen (2) Explizites (deklaratives) Gedächtnis: ► Speicherung von verbalisierbarem Wissen („Wissen WAS“) ► semantisches Gedächtnis: Speicherung von allgemeingültigen Inhalten (Allgemeinwissen ohne persönlichen Bezug) ► episodisches Gedächtnis: Speicherung individuell bedeutsamer Inhalte (persönliche Biographie) ► Hirnschädigung: meistens ist das episodische Gedächtnis am deutlichsten beeinträchtigt Implizites (nondeklaratives) Gedächtnis: ► Speicherung von nicht oder nur sehr schwer verbalisierbaren Inhalten („Wissen WIE“), also Fertigkeiten; z.B. Wie bindet man Schuhbänder ? Störungen des Gedächtnisses und des Lernens – Definitionen (3) Amnesie: Unfähigkeit, Erlebtes zu speichern oder aus dem Gedächtnis abzurufen a. retrograde Amnesie b. anterograde Amnesie Retrograde Amnesie: Unfähigkeit, auf bereits gespeicherte Informationen zuzugreifen (vorübergehend oder für immer) ► Ursachen: v.a. Schädelhirntraumata, Allgemeinnarkosen ► Zeitraum der retrograden Amnesie: Sekunden bis Wochen ► ev. teilweise Aufhellung (es bleiben Erinnerungslücken) ► meistens in Verbindung mit einer anterograden Amnesie Störungen des Gedächtnisses und des Lernens – Definitionen (4) Anterograde Amnesie: Unfähigkeit, ab einem schädigenden Ereignis für einen bestimmten Zeitraum Informationen aus dem Arbeitsin das Langzeitgedächtnis zu transferieren ► Patient wach, bewußtseinsklar ► Ultrakurzzeitgedächtnis („Immediatgedächtnis“) intakt, begrenzte Informationsmengen können für max. 1 min behalten werden; z.B. kann eine Ziffernfolge korrekt nachgesprochen werden ► jedoch: neue Informationen können nicht gelernt werden, z.B. Wortlisten ► nach Schädelhirntraumen ist die Dauer der anterograden Amnesie (posttraumatischen Amnesie) ein wesentlicher Indikator für den Schweregrad der Hirnschädigung und für die Prognose Störungen des Gedächtnisses und des Lernens – Ursachen Passagere Amnesien: ► postiktal ► nach Bewußtseinsverlust unterschiedlichster Genese ► bei zerebralen Durchblutungsstörungen ► medikamentös bedingt Dauerhafte Amnesien: bei bilateralen Läsionen des limbischen Systems ► nach schweren Schädelhirntraumen ► nach Herpes simplex Typ 1-Enzephalitis ► nach zerebraler Hypoxie ► nach CO-Vergiftung Transitorische Globalamnesie (TGA, amnestische Episode) ► akut auftretende, zeitlich begrenzte anterograde Amnesie ohne weitere kognitive oder sensomotorische Störungen ► der Patient ist ratlos, stellt redundant immer dieselben Fragen ► übriger neurologischer und internistischer Befund: normal ► Dauer: wenige Stunden, max. zwei Tage ► Spontanremission ► retrograde Amnesie für die Dauer der Episode ► Prognose: gut, Rezidive selten ► Ätiologie: bilaterale passagere (ischämisch oder bioelektrisch verursachte ?) Minderfunktion temporo-mesialer Hirnareale ? ► DD: Verwirrtheitszustand, akute Psychose Amnestisches Syndrom (Globalamnesie) ► dauerhafte Störung des episodischen Gedächtnisses (selten) ► die Biographie des Patienten endet subjektiv mit dem Eintritt der Hirnläsion, das Altgedächtnis bleibt meistens großteils intakt ► die Funktionen des impliziten Langzeitgedächtnisses bleiben erhalten ► neue Fertigkeiten (z.B. neue Sportarten, Computerbedienung) sind erlernbar ► Ätiologie: meistens Folgezustand nach kardiopulmonaler Reanimation (CPR) nach „out-of-hospital cardiac arrest“, ev. nach abgelaufener Herpes simplex Typ 1-Enzephalitis ► relevante Remission: nicht zu erwarten ► „Korsakow-Syndrom“: Alkoholfolgekrankheit mit amnestischem Syndrom und dysexekutiven Symptomen (z.B. Umorientierung und Konfabulationen) Störungen der Wahrnehmung Agnosien Agnosie: Unfähigkeit, an sich bekannte Objekte zu erkennen bzw. bekannte Informationen zu deuten, obwohl die elementare Wahrnehmung in der dargebotenen Modalität (visuell, akustisch, somatosensorisch) intakt ist; Patienten mit Agnosien können nicht erkennen bzw. verstehen, was sie sehen, hören oder spüren Formen der Agnosien: visuelle (optische) A., akustische A., somatosensorische A. Voraussetzungen: ungestörte Bewußtseinslage, klare Denkvorgänge Pathophysiologie: Diskonnektion der primären Kortexareale von den zugehörigen Assoziationsgebieten, i.a. durch ausgedehnte bilaterale kortikale oder Marklager-Läsionen verursacht Störungen der Wahrnehmung Visuelle (optische) Agnosien (1) Definition: Störung des visuellen Erkennens und Benennens trotz (weitgehend) intakter Sehleistung Ursachen: Läsionen sekundärer oder höherer visueller Assoziationsfelder im okzipitalen bzw. im okzipito-temporalen Kortex „apperzeptive visuelle Agnosien“: ► Defizit auf einer „basalen“ Verarbeitungsebene ► visuell wahrgenommene Inhalte können nicht in ein zwei- oder dreidimensionales Gesamtbild übergeführt werden (gestörte Integration) ► subjektiv: „Sehstörungen“, Zeichnen oder Kopieren nicht möglich, Schätzen von Winkeln, Distanzen und Relationen erheblich beeinträchtigt ► Erkennen von Objekten nicht möglich (Benennen von Farben ungestört) Störungen der Wahrnehmung Visuelle (optische) Agnosien (2) „assoziative visuelle Agnosie“: ► Extraktion charakteristischer Merkmale und Integration der Einzelinhalte zu einem zwei- oder dreidimensionalen Gesamtbild möglich ► jedoch: gestörte Verknüpfung des Gesamtbildes mit dem Wissen betreffend das Aussehen des Objekts ► Zeichnen, Kopieren möglich, Formen können unterschieden werden ► Objekte sind aber weder erkennbar noch beschreibbar Visuelle (optische) Agnosien Subtypen apperzeptiver Agnosien (1) Visuelle Objektagnosien: ► an sich bekannte Objekte können durch Betrachten nicht erkannt, benannt oder verwendet werden ► Identifikation des Objekts erst durch Betasten bzw. durch zusätzliche (z.B. akustische oder olfaktorische) Informationen möglich Farbagnosie: ► Unfähigkeit, Schwarz-Weiß-Strichzeichnungen korrekt zu kolorieren (ein Apfel wird z.B. blau angemalt) Visuelle (optische) Agnosien Subtypen apperzeptiver Agnosien (2) Prosopagnosie: ► gestörtes Wiedererkennen von bekannten Gesichtern ► Gesichter sind als solche identifizierbar, verschiedene Gesichter sind voneinander unterscheidbar, es gelingt aber nicht, konkrete Gesichter vertrauten Personen zuzuordnen ► zusätzliche visuelle oder akustische Informationen (Brille, Bart, Hören der Stimme): die Person wird erkannt ► Ursache: i.a. beidseitige Läsion okzipito-temporaler Rindenfelder Simultanagnosie: ► Unfähigkeit, mehr als ein Merkmal eines Gegenstandes gleichzeitig wahrzunehmen, Einzelheiten werden nur punktuell registriert (z.B. Verwechseln einer runden Brillenfassung mit einem Fahrrad, da nur zwei verbundene Kreise wahrgenommen werden) Akustische (auditorische) Agnosien Definition: Störungen des auditiven Erkennens trotz intakter elementarer Hörleistung Klinisches Bild: bekannte Geräusche, eine bekannte Stimme, bekannte Tonfolgen und Melodien („Amusie“) oder nichtverbale Laute („Lautagnosie“) können nicht identifiziert bzw. richtig zugeordnet werden Ursache: Läsion im Bereich sekundärer auditorischer Rindenfelder im temporalen Kortex Somatosensorische Agnosien Subtypen (1) Taktile Agnosie (Astereognosie): ► Unfähigkeit, an sich vertraute Objekte (z.B. eine Zahnbürste) ohne visuelle Kontrolle durch Betasten zu erkennen, obwohl die Sensibilität (Berührungsempfindung) intakt ist ► Betrachten des Gegenstandes: dieser wird erkannt und richtig benannt ► Ursache: Läsion im Bereich der kontralateralen sekundären somatosensiblen Rindenfelder in der Nähe des Gyrus postcentralis ► DD: periphere Sensibilitätsstörung ! Somatosensorische Agnosien Subtypen (2) Autotopagnosie: ► Unfähigkeit, Abschnitte des eigenen Körpers über Aufforderung richtig zu identifizieren und/oder zu benennen, obwohl die Sensibilität (Berührungsempfindung) intakt ist ► z.B. Rechts-Links-Orientierungsstörung ► z.B. „Fingeragnosie“: Unfähigkeit, über Aufforderung die Finger der eigenen Hand richtig zu benennen ► Ursache: i.a. Läsion im Bereich der parieto-okzipitalen bzw. der parieto-temporo-okzipitalen Übergangsregion der dominanten Hemisphäre Somatosensorische Agnosien Subtypen (3) Anosognosie: ► Nicht-Erkennen einer funktionellen Beeinträchtigung bzw. einer Erkrankung, die durch eine zerebrale Läsion verursacht wurde ► z.B. wird das Vorliegen einer Hemiparese (einer homonymen Hemianopsie, einer Erblindung) vom Patienten nicht wahrgenommen und negiert; der paretische Arm wird als fremd (nicht ihm gehörend) betrachtet und dessen Bewegungsbeeinträchtigung ignoriert bzw. geleugnet ► Ursache: meistens eine Läsion im Parietallappen der nicht-dominanten Hemisphäre ► oft liegt gleichzeitig ein Neglect vor ► Prognose der Rehabilitation: ungünstig Störungen des Planens und Handelns Frontalhirnsyndrom (dysexekutives Syndrom) (1) Präfrontaler und orbitofrontaler Kortex: tertiäre Rindengebiete für die multisensorische Integration der Verhaltenssteuerung Motorische Leistungen der Frontallappen: ► Praxie: zielgerichtetes Handeln ► Blickwendung ► Inhibition von Primitivreflexen, um Willkürhandlungen zu ermöglichen ► Wechsel des Handlungskonzeptes Kognitive Leistungen der Frontallappen: ► Exekutivfunktion ► Antrieb ► Kontrolle ► Persönlichkeit ► Metakognition (Fähigkeit, die eigenen Grenzen zu erkennen) Störungen des Planens und Handelns Frontalhirnsyndrom (dysexekutives Syndrom) (2) Minus-Variante (frontokonvexes Organisches Psychosyndrom): ► Patient verlangsamt, antriebslos und gleichgültig ► Antrieb und Eigeninitiative herabgesetzt, der Patient erweckt den Eindruck der Willenlosigkeit (Abulie, Plazidität) ► ev. sind nicht einmal Hunger oder Harndrang ausreichend starke Stimuli, um eine zielgerichtete Handlung auszulösen ► verminderte psychomotorische Spontanaktivität, verminderte Flexibilität, gestörte Problemlösefähigkeit ► DD: Depression Störungen des Planens und Handelns Frontalhirnsyndrom (dysexekutives Syndrom) (3) Plus-Variante (frontobasales Organisches Psychosyndrom): ► Patient unkontrolliert psychomotorisch aktiv ► verminderte Impulskontrolle, ev. sexuelle Enthemmung, ev. pathologische Wutausbrüche bei geringsten Stimuli ► Sozialverhalten erheblich gestört: Distanz-, Kritik-, Taktlosigkeit ► „utilization behaviour“ (gesteigerte Umweltabhängigkeit durch mangelnde frontale Inhibitionsleistungen): z.B. Greifen nach umstehenden Gegenständen, Drehen und Wenden dieser ► kognitive Leistungen (Denken, Sprachverarbeitung, Gedächtnis, Problemlösen): weitgehend intakt ► DD: Manie Störungen des Planens und Handelns Apraxie (1) Anatomische Grundlagen: ► Bewegungsaufforderungen (akustisch oder visuell): erreichen über das Marklager die Bewegungszentren (links frontal gelegen) ► Bewegungsplanung: im linkshirnigen motorischen Assoziationskortex ► Ausführung: Weiterleitung der Impulse über den Balken zur rechten Hemisphäre und über den Fasciculus arcuatus zum primär motorischen Kortex der linken Hemisphäre ► Apraxien: sind Diskonnektionssyndrome, die als Folge linkshirniger Läsionen im posterioren oder im anterioren Marklager bzw. Kortex auftreten ► trotz eines unilateralen Herdes liegt klinisch eine bilaterale Apraxie vor Störungen des Planens und Handelns Apraxie (2) Definition: Unvermögen, eine erlernte Handlung durchzuführen, ohne daß eine relevante Parese, eine Sensibilitätsstörung oder eine Sprachverständnisstörung vorliegen Leitsymptome der Apraxie: Fehlhandlung (Parapraxie, Perseveration, Conduite d´approche) – der Patient setzt zur zielgerichteten Handlung an, verfehlt aber den Ablauf oder bleibt im vorherigen Bewegungskonzept hängen DD Parese: bei Apraxien treten die motorischen Fehler nur bei bestimmten Handlungen auf; die gleiche Bewegung ist in einem anderen Handlungskontext normal ausführbar Ideomotorische Apraxie ► Störung der Umsetzung von motorischen Plänen in Handlungen ► die Störung betrifft v.a. die Extremitäten („Gliedmaßenapraxie“) ► Ausführung von kommunikativen Gesten gestört ► Test: der Patient soll zeigen, wie er einen Nagel in die Wand schlagen würde (Imitation ohne reale Objekte) ► Test: zum Abschied winken ► Test: einem ungezogenen Kind drohen Ideatorische Apraxie ► fehlender Plan zur Bewegung ► mehrschrittige Handlungen mit realen Objekten können nicht korrekt zu Ende geführt werden ► Test: Aufforderung, einfache Alltagshandlungen (einen Brief kuvertieren, Kaffee kochen) durchzuführen ► NB: getrennte Klassifikation ideomotorische / ideatorische Apraxie umstritten Gesichtsapraxie (bukkofaziale Apraxie) ► Gesichtsapraxie: vorwiegend Willkürbewegungen der Gesichtsmuskulatur betroffen ► Bewegungen wie Naserümpfen, Zähnezeigen oder Zungenschnalzen sind weder über Aufforderung noch mittels Imitation durchführbar ► typisch: die Bewegungen sind über Befehle nicht abrufbar, werden aber bei automatischen Abläufen fehlerfrei durchgeführt ► oft liegt gleichzeitig eine Sprechapraxie oder eine Gliedmaßenapraxie vor Sprechapraxie ► Störung des Bewegungsplanes für die Sprechmotorik ► ev. in Kombination mit einer Aphasie bei Läsion des linksseitigen anterioren Inselkortex ► Spontansprache: wechselnde Artikulationsfehler, ausgeprägtes artikulatorisches Suchverhalten ► schriftsprachliche Leistungen: besser als die mündlichen ► Abgrenzung zur bukkofazialen Apraxie: die Einzelbewegungen zur Artikulation können normal durchgeführt werden (deren Zusammenhang kann nicht richtig programmiert werden) Demenz Definition, klinisches Bild (1) Demenz: ► dauerhafter Verfall der geistigen Leistungsfähigkeit ► Abnahme von Gedächtnisleistungen und Denkvermögen, Verlust der während des Lebens erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten ► Einbuße des Entscheidungs- und Handlungsspielraumes ► Verhaltensauffälligkeiten, Veränderung der prämorbiden Persönlichkeit ► oft sekundäre psychiatrische Symptome (Wahnbildungen, emotionelle Labilität, Aggressionsausbrüche) ► Voraussetzung: die kognitiven und Verhaltensstörungen müssen im Längsschnitt über mindestens 6 Monate präsent sein ! ► Cave: Demenz ist keine Krankheitsentität, sondern ein Syndrom (typische Kombination von kognitiven und behaviouralen Symptomen), das von diversen Erkrankungen verursacht werden kann ! Demenz Definition, klinisches Bild (2) Kriterien einer Demenz (DSM-IV) (1/2): 1. Beeinträchtigung des Kurzzeit- und Langzeit-Gedächtnisses 2. mindestens eines der im folgenden angeführten Kriterien muß zutreffen: ► Beeinträchtigung des abstrakten Denkens ► Beeinträchtigung der Urteilsfähigkeit ► andere Beeinträchtigung höherer kortikaler Funktionen ► Persönlichkeitsveränderung 3. die Beeinträchtigung des Gedächtnisses und des Intellekts verursacht erhebliche Funktionsstörungen im sozialen und im beruflichen Bereich Demenz Definition, klinisches Bild (3) Kriterien einer Demenz (DSM-IV) (2/2): 4. die Funktionsstörungen liegen nicht nur ausschließlich während eines Delirs vor 5. eines der beiden im folgenden angeführten Kriterien muß zutreffen: ► Vorliegen eines organischen Faktors, der die Beeinträchtigung des Gedächtnisses und des Intellekts verursacht ► die Beeinträchtigung des Gedächtnisses und des Intellekts kann nicht auf eine nicht-organische psychische Erkrankung zurückgeführt werden Demenz Definition, klinisches Bild (4) Kortikale Demenz: ► Ursache: kortikale Läsionen ► Prototyp: Morbus Alzheimer ► initial und im frühen Verlauf: intakte Verhaltensfassade, kaum kognitive Defekte ► motorische Beeinträchtigung: im Frühstadium nicht zu erwarten Subkortikale Demenz: ► Ursache: subkortikale Läsionen (weiße Substanz, Stammganglien), v.a. extrapyramidale Erkrankungen, zerebrovaskuläre Prozesse ► Symptome: meistens Dysarthrie, allgemeine Verlangsamung der kognitiven Prozesse, Antriebsminderung ► motorische Beeinträchtigung: zu erwarten Demenz Differentialdiagnose Intelligenzminderung: primärer psychomotorischer Entwicklungsrückstand Delir (akuter Verwirrtheitszustand): rasch wechselnde Bewußtseinslage, zeitlicher Verlauf ! Depressionen: „Pseudodemenz“ Aphasien Leichte kognitive Störung („mild cognitive impairment“, MCI): zunehmende Vergeßlichkeit im Alter, ohne daß weitere kognitive Domänen betroffen sind Iatrogene Demenz: meistens durch psychopharmakologische Polymedikation, auch durch Ganzhirnbestrahlungen oder neurotoxische Chemotherapien „Durchgangssyndrom“ ► „Syndrom“: charakteristische Symptomkonstellation von kognitiven und Verhaltensauffälligkeiten ► „Durchgangs …“: Annahme, daß sich die Symptomatik im zeitlichen Verlauf bessern wird ► Manifestation im Gefolge einer akuten organischen Hirnschädigung (z.B. Schädelhirntrauma, Enzephalitis) ► häufige klinische Symptome: Agitiertheit oder psychomotorische Inaktivität, Orientierungsstörungen, erhebliche mnestische Einbußen, ev. Angst, Distanzlosigkeit, Aggressionsdurchbrüche