Verwundbarkeit und Widerstandskraft Resilienz und Bindung bei Kindern mit Entwicklungsbesonderheiten Cornelia Dehm 29.11.2016 Überblick Verwundbarkeit und Widerstandskraft - Resilienz und Bindung bei Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten Was passiert, wenn Kinder mit Entwicklungsbesonderheiten auf die Welt kommen? Kurze Zusammenfassung Resilienz Kurze Zusammenfassung (vom Fachtag 2015) Bindung genauere Blick auf das Beispiel Autismus 29.11.2016 Dehm - Resilienz 2 Überblick Verwundbarkeit und Widerstandskraft - Resilienz und Bindung bei Kindern mit Entwicklungsbesonderheiten Ich möchte als Abschluss des Tages zum einen noch einmal den Bogen spannen zwischen Resilienz und Bindung, zum anderen aber auch noch (stärker) eine neue Perspektive einführen: Was passiert, wenn Kinder mit Entwicklungsbesonderheiten auf die Welt kommen im Hinblick auf Ihre Anpassungsfähigkeit und die Ihrer Eltern? Die Kinder können zu früh geboren sein, die Behinderungen können motorische Funktionen betreffen, aber auch die kognitive Entwicklung oder kommunikative Fähigkeiten. Heute ging es darum, dass Resilienz als eine erlernbare Fähigkeit von Systemen zu betrachten ist, die (ggf.) in der Lage ist, Lebenskrisen abzumildern. Als ausgesprochen wichtig werden dabei sozialkommunikative Fähigkeiten angesehen. Diese entstehen u.a. durch frühe Beziehungserfahrungen, die in der Bindungsforschung näher untersucht worden sind (interne Arbeitsmodelle). Welche besonderen Herausforderungen gibt es für Kinder mit Entwicklungsbesonderheiten und ihre Eltern? An welchen Stellen besteht besonderer Anpassungsbedarf? Was macht eine zusätzliche/ komorbide Störung weniger wahrscheinlich? Was stärkt die Familien? 29.11.2016 Dehm - Resilienz 3 Resilienz Ursprung war die Beobachtung, dass sich einige Menschen trotz widriger Umstände gesund entwickeln. (60% der Kinder von Eltern mit Depression entwickeln selbst eine psychische Störung. 40% also auch nicht!) Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen umzugehen und sie zu bewältigen. erworbene und nicht angeborene Fähigkeit flexibel und nicht Unverwundbarkeit Im Kontext von Behinderungen also ein gelingendes Aufwachsen „trotz dessen“. 29.11.2016 Dehm - Resilienz 4 Resilienz auf mehreren Ebenen Individuum (personale Resilienz) Selbstregulationsfähigkeit im Bezug auf Aufmerksamkeit, Emotion, Erregung, Verhalten Selbstwirksamkeitserfahrungen Familie, Eltern-Kind-Beziehung (soziale Resilienz) Bindungssystem, vertrauensvolle Beziehungsangebote familiärer Zusammenhalt und Zulassen von Autonomie Soziales Umfeld, Gemeinde externe Hilfesysteme Gesellschaft, Kultur Inklusion 29.11.2016 Dehm - Resilienz 5 Besondere Aufgaben von Eltern mit einem behinderten Kind: medizinische Pflege Zusätzliche Elternaufgaben: Kompensation von dem, was das Kind noch nicht kann Arbeit mit dem sozialen System Elternschaft gegenüber Geschwistern Aufrechterhalten von Beziehungen Sich selbst am Laufen halten Ray (2002), J. of ped. Nursery 29.11.2016 Dehm - Resilienz 6 Gut adaptierte Familien mit einem behinderten Kind zeichnen sich aus durch: Klare Einordnung und Verständnis der Behinderung Strukturelle Anpassung der Familie an die Lage Hohes Maß an innerfamiliärer Interaktion und starke Außenaktivitäten Problemlöseorientierung, Flexibilität Selbstreflexion und Selbstbewusstsein Bewusste Balance von Bedürfnissen, klare Generationsgrenzen Emotionale Expressivität, Ausdrucksfähigkeit des Kindes fördern Reframing der Rolle des behinderten Kindes Beavers et al, Patterson et al, Li-Tsang et al. 29.11.2016 Dehm - Resilienz 7 Bindungstheorie Eine sichere Bindungsentwicklung und das damit verbundene Urvertrauen wirken wie ein großer Schatz auf einer anstehenden Reise. (Karl Heinz Brisch, 2010) 29.11.2016 Dehm - Resilienz 8 Bindungstherorie Die Bindungstheorie beschreibt das Bedürfnis des Menschen, eine enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehung zu Mitmenschen aufzubauen. "Bindung ist das gefühlsgetragene Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person knüpft und das sie über Raum und Zeit miteinander verbindet." 29.11.2016 Dehm - Resilienz 9 John Bowlby Bindungstheoretische Annahmen angeborene Disposition, Bindungen einzugehen bindungsbezogenes Verhalten ist organisiert: Bindungssystem wird aktiviert bei Verunsicherung/ Angst Aktivierung ist mit starker innerer Erregung verbunden Ziele des Bindungsverhaltens: Nähe Sicherheit Bindungsperson als externe Regulationshilfe bei Verunsicherung und Angst 29.11.2016 Dehm - Resilienz 10 Internales Arbeitsmodell Internale Arbeitsmodelle von sich selbst und den Bezugspersonen werden aufgebaut. Repräsentanz der Bindungserfahrungen. Wichtige Funktion: Verhalten voraussehen und eigenes Verhalten genau planen zu können. Es kann im Verlauf des Lebens durch neue Erfahrungen verändert werden, baut sich aber am schnellsten in der frühen Kindheit auf (vulnerable Phase). 01.10.2016 Dehm Bindung - Sozialpädiatrie Curriculum 11 Fremde Situation Mary Ainsworth 12-18 Monate alte Kinder kurze Trennung von der Bezugsperson Rückkehr der Bezugsperson in festgelegten Abläufen. 29.11.2016 Dehm - Resilienz 12 Fremde Situation Hypothese: In Anwesenheit der Mutter fühlt sich das Kind wohl, und erkundet die Umgebung (Explorationsverhalten). Geht die Mutter, wird Bindungsverhalten (Weinen, Rufen, Schreien, Suchen) aktiviert. Kommt die Mutter wieder, entspannt sich das Kind wieder. Bindungsverhalten führt dazu, dass eine Person – ein Kind - die Nähe zu einer anderen bevorzugten Person erlangt oder aufrechterhält. Der große Teil (ca. 60%) der Kinder reagierte so (sichere Bindung). 29.11.2016 Dehm - Resilienz 13 Fremde Situation Andere zeigten den Wechsel von Bindungs- und Explorationsverhalten nicht. Überwiegend Explorationsverhalten bei geringem mütterlichem Beziehungsangebot (unsicher-vermeidender Bindungsstil). Verstärktes Bindungsverhalten bei wenig vorhersehbaren Bindungsangeboten (unsicher-ambivalenter Bindungsstil). Später: unsicher-desorganisierter Bindungsstil: Widersprüchliches Verhalten und hohe Passivität. Das Bindungssystem ist aktiviert, das Bindungsverhalten äußert sich aber nicht in eindeutigen Verhaltensstrategien. 29.11.2016 Dehm - Resilienz 14 Feinfühligkeit - Sensitivität Förderung der sicheren Bindung Verbalisierung – der „inneren Welt“ der affektiven Zustände – der Handlungszusammenhänge des Säuglings Wechselseitige Abstimmung in der Mutter-SäuglingsInteraktion – Korrektur von Missverständnissen Blickkontakt mit gelungener Affektabstimmung (Intersubjektivität) 29.11.2016 Dehm - Resilienz 15 Feinfühligkeit - Sensitivität Feinfühligkeit der Erwachsenen, bedeutet, die Signale des Kindes wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren und auf sie entwicklungs/situationsangemessen und prompt reagieren. (Ainsworth 1977) Feinfühligkeit führt zu einer sicheren Bindung. 29.11.2016 Dehm - Resilienz 16 Resilienz bei Risikokindern – einzelne Befunde Elterliche Feinfühligkeit schützt bei Frühgeburtlichkeit vor späteren Verhaltensauffälligkeiten (Laucht et al. 1999) Die enge Unterstützung ist bei Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten länger wichtig als bei gesunden Kindern 29.11.2016 Dehm - Resilienz 17 Einfluss der Bindungserfahrung auf die Bewältigungsfähigkeit Umgang mit emotionaler Belastung Bindungserfahrungen internale Arbeitsmodelle Selbstwert/ Identität Bewältigung von Risikofaktoren Gestaltung enger Beziehungen Strauß, Buchheim, Kächele, 2002 29.11.2016 Dehm - Resilienz 18 Beispiel Autismus 29.11.2016 Dehm - Resilienz 19 Qualitative Beeinträchtigung der gegenseitigen sozialen Interaktion non-verbales Verhalten wird nicht zur Regulation sozialer Interaktionen genutzt – monotone Mimik, Gestik, Tonfall – seltene und abweichende direkte Blickkontakte – soziales Lächeln, subtiles Minenspiel, mimischer Ausdruck von Gefühlen sind reduziert Mangel an geteilter Freude – Kind lenkt Aufmerksamkeit nicht auf Dinge („nur so“) – Teilt keine Bedürfnisse oder Vergnügen 29.11.2016 Dehm - Resilienz 20 Qualitative Beeinträchtigung der gegenseitigen sozialen Interaktion Schwierigkeiten Freundschaften einzugehen – – – – Weniger bis kein Interesse an anderen Kindern kein Phantasiespiel Unangemessene Reaktion auf Annäherungen anderer Keine oder unangemessene Annäherungsversuche Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit – Mangelndes Einfühlungsvermögen – Fehlende Einschätzungsfähigkeit sozialer Situationen 29.11.2016 Dehm - Resilienz 21 Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation und Sprache 1/3 der Kinder entwickeln keine od. nur eingeschränkte Sprache – kaum Kompensation durch Gestik (konventionelle, zielgerichtete: z.B. Nicken) oder Mimik Stereotype und/oder eigentümliche sprachliche Äußerungen – Wortneubildungen (Neologismen) – Vertauschung der Personalpronomina – Worte nachsprechen (Echolalie) 29.11.2016 Dehm - Resilienz 22 Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation und Sprache Bei unauffälliger Sprache, trotzdem Störung der Kommunikation: – Monologisierend, gestelzt, repetitiv und stereotyp – Konkretistische Sprache („einen Bären aufbinden“, verbessern) Mangel an imitativem, imaginärem und abwechslungsreichen Spiel – So-tun-als-ob-Spiel – Spielerische Imitation Eine Konversation kann nur schwer begonnen und aufrechterhalten werden – Auch kein Plappern! 29.11.2016 Dehm - Resilienz 23 eingeschränkte Interessen/stereotype Verhaltensmuster Sonderinteressen: spezielles Interesse mit ungewöhnlicher Intensität Vorherrschende Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen (Räder am Auto) Zwanghafte Anhänglichkeit an nicht funktionalen Ritualen (z.B. Wortritualen) Repetitive motorische Manierismen – Drehen der Finger vor den Augen, Schaukeln, Aufund Abhüpfen 29.11.2016 Dehm - Resilienz 24 Autismus und typische Belastungsfaktoren in der Interaktion: Besondere Schwierigkeiten im Hinblick auf die Beziehungsgestaltung durch geringere Responsivität des Kindes Eltern erleben ihre Erziehungsmaßnahmen als nicht wirkungsvoll (trotz Erziehungswissen und passender erzieherischer Strategie) Eltern werden unsicher in der Beurteilung ihrer eigenen Reaktion Höheres elterliches Stresserleben (Schlafstörungen, Ausscheidungsstörung, Aggression) 29.11.2016 Dehm - Resilienz 25 Bindungsforschung mit autistischen Kindern Studien weisen darauf hin, dass es etwa der Hälfte der Mütter von Kindern mit Autismus gelang, eine sichere Bindungsbeziehung (fremden Situation) aufzubauen. besonders feinfühlige Mutter bessere Kommunikationsfähigkeiten der Kinder Nach H. Rauh: Beckwirth et al. 2002 29.11.2016 Dehm - Resilienz 26 Zusammenfassung Kinder mit Entwicklungsbesonderheiten und ihre Eltern brauchen gezielte Unterstützung, damit Beziehung trotz erschwerter Bedingungen gelingt und sich auf den gesamten Entwicklungsverlauf positiv auswirken kann. 29.11.2016 Dehm - Resilienz 27 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 29.11.2016 Dehm - Resilienz 28