5 Die reellen Zahlen 5.1 Historisches In der geometrischen Betrachtungsweise der Pythagoreer gab es für beliebige zwei Zahlen, d. h. Strecken, stets ein gemeinsames Maß. Dabei heißt eine Strecke e Maß einer anderen Strecke a, wenn es eine (natürliche) Zahl n gibt, so dass a = n · e. Zwei Strecken a und b heißen kommensurabel, wenn sie ein gemeinsames Maß e haben, d. h. wenn n und m existieren mit a = ne und b = me. Man war also der Ansicht, dass zwei Strecken stets kommensurabel sind. Das Verfahren zum Finden des gemeinsamen Maßes zweier Zahlen wird bei Euklid als Verfahren der Wechselwegnahme“ beschrieben (Euklidischer Algorithmus zur Ermittlung des größten ” gemeinsamen Teilers, ggt): ggt(60, 24) = ggt(60 − 2 · 24, 24) = ggt(12, 24) = ggt(12, 24 − 12) = ggt(12, 12) = 12. Die pythagoreische Ansicht, dass zwei Strecken stets kommensurabel seien, brachte Hippasos von Metapont im 5. Jh. v. Chr. ausgerechnet anhand des Symbols der Pythagoreer, dem Pentagramm, ins Wanken. Im regulären Pentagon sind aus Symmetriegründen stets eine Seite und eine Diagonale parallel. Daher sind die Dreiecke 4ABD und 4EB 0 D ähnlich. Hieraus folgt die Verhältnisgleichheit AC ED ED = = , AB EB 0 CE − CD wobei die letzte Gleichheit aus der Tatsache folgt, dass 4CDB 0 gleichschenklig ist. Also stehen Seite und Diagonale im Verhältnis des goldenen Schnitts zueinander: Diagonale Seite = Seite Diagonale − Seite Wenn man nun jedoch zum nächstkleineren Dreieck innerhalb des Innenfünfecks übergeht, bleibt das Verhältnis unverändert. Dieses Verfahren lässt sich unendlich fortsetzen, und jedes Mal wird die Diagonale um die Seite gekürzt, so dass offenbar das Verfahren der Wechselwegnahme nie abbricht. Also sind Diagonale und Seite im regulären Pentagon inkommensurabel. √ 1 Bemerkung: Mit dem Ansatz aa10 = a0a−a lässt sich die Länge der Diagonalen zu a0 = a21 (1+ 5) 1 ermitteln. Weitere Eckpunkte der historischen Entwicklung: • Eudoxos von Knidos (4. Jh. v. Chr.) stellt eine geometrische Proportionenlehre für inkommensurable Größenverhältnisse auf. Erste Regeln, die sich heute als Rechengesetze für reelle Zahlen identifizieren lassen. √ • Euklid (ca. 300 v. Chr.) beweist, dass 2 irrational ist. • Archimedes von Syrakus (3. Jh. v. Chr.) und Ptolemaios (150 n. Chr.) benutzen für 10 507 514 π Mittelwerte von Bruchzahlen (von 3 71 und 3 17 bzw. später von 3 3600 und 3 3600 ). Erste Idee der Intervallschachtelung. • Indisch-arabische Algebra (9./10. Jh.) verwendet Rechengesetze für beliebige Wurzeln. Beginn des Rechnens mit Objekten, die man als Zwischenergebnisse und Hilfsmittel toleriert, aber nicht als Zahlen. • M. Stifel (1544): So wie eine unendliche Zahl keine Zahl ist, so ist eine irrationale Zahl ” keine wahre Zahl, weil sie sozusagen unter einem Nebel der Unendlichkeit verborgen ist.“ • S. Stevin (1548–1620): Präzisierung des Intervallschachtelungprinzips. • R. Descartes (1637): geometrische Interpretationen der Rechenoperationen. • G. W. Leibniz und die Brüder Bernoulli: Infinitesimalrechnung, Rechnen mit Reihen. • A. L. Cauchy: Präzisierung des Konvergenzbegriffs. • R. Dedekind (1872): Definition von R über Schnitte“ (Dedekindsche Schnitte): mo” derne Präzisierung der geometrischen Proportionenlehre von Eudoxos. • G. Cantor (1883): Definition von R über Fundamentalfolgen. • Bachmann (1892): Systematische Definition von R durch Intervallschachtelungen. 5.2 Die Konstruktion der reellen Zahlen R nach Cantor Definition 1 Eine Abbildung a : N → Q heißt Zahlenfolge in Q oder rationale Folge. Zur Bezeichnung der Folgenglieder schreibt man statt a(n) einfach an , mit (an ) sei die Folge selbst bezeichnet. Beispiele: (an ) = (2, 2, 2, 2, 2, 2, . . .) ist eine konstante Folge. (bn ) = (1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, . . .) ist die Folge der natürlichen Zahlen, (cn ) = (1, 3, 5, 7, 9, . . .) die Folge der ungeraden Zahlen. Folgen müssen keinem Bildungsgesetz gehorchen, so kann (1, 4, 5, 32 , −4 79 , ???) den Beginn einer Folge darstellen, wobei das Fragezeichen darstellen soll, dass die weiteren Glieder aufgrund des nicht erkennbaren Bildungsgesetzes nicht klar ersichtlich sind. Bemerkung: Formal entspricht der Menge der rationalen Folgen das unendliche kartesische Produkt Q × Q × Q × . . .. Ein Element dieser Menge ist nun kein Tupel mit endlich vielen Komponenten, sondern eine rationale Folge mit unendlich vielen Folgen- oder Funktionswerten. Definition 2 Sei (an ) rationale Folge. Eine Zahl g ∈ Q heißt Grenzwert von (an ), wenn für jedes ε > 0 ein Index k ∈ N existiert, so dass |an − g| < ε für alle n > k. Man schreibt: g = lim an . n→∞ Wenn (an ) einen Grenzwert hat, so heißt (an ) (rational) konvergent. Eine Folge mit dem Grenzwert 0 heißt Nullfolge. Beispiele: limn→∞ n1 = 0, limn→∞ (−1)n n12 = 0 (Nullfolgen), n+1 limn→∞ n−1 n = 1, limn→∞ n = 1. 2 Die Folgen (n), (n ) und (n − n1 ) haben keinen Grenzwert. Satz 1 Sei (an ) eine rational konvergente Folge. Es gilt: (an ) hat genau einen Grenzwert g ∈ Q. Beweis: Die Existenz von g folgt aus der Definition der rationalen Konvergenz. Zum Beweis der Eindeutigkeit nehmen wir an, g1 und g2 mit g1 < g2 seien zwei Grenzwerte. Die 1 Wahl von ε := g2 −g führt dann zu einem Widerspruch, da das Endstück von (an ) nur in einer 2 der beiden ε-Umgebungen von g1 und g2 liegen kann. √ Die Folge der Dezimalbruchentwicklungen von 2 (etwa (1; 1,4; 1,41; 1,414; 1,4142; . . .)) ist nicht rational konvergent. Da sie sich dennoch anders verhält als die vorherigen Beispiele, führt man für solche Fälle einen neuen Begriff ein. Definition 3 Sei (an ) eine rationale Folge. (an ) heißt rationale Fundamentalfolge oder rationale Cauchy-Folge bzw. Cauchy-konvergent, wenn es zu jedem ε > 0 einen Index k ∈ N gibt, so dass für alle m, n ≥ k gilt, dass |am − an | < ε ist. Satz 2 Sei (an ) eine rationale Folge. Wenn (an ) rational konvergent ist, ist sie auch Fundamentalfolge. Beweis: Sei g = limn→∞ an . Aus der Dreiecksungleichung |am − an | ≤ |am − g| + |an − g| folgt die Behauptung. 1 Beispiel: Die Folge (rn ) sei wie folgt rekursiv definiert: r1 := 1, rn+1 := 1 + 1+r . Man ern 1 2 5 mittelt die ersten Werte zu r1 = 1; r2 = 1 2 = 1,5; r3 = 1 5 = 1,4; r4 = 1 12 = 1,4166 . . .; 12 r5 = 1 29 = 1,41379 . . .; r6 = 1 29 70 = 1,4142857 . . . usw. (rn ) ist Fundamentalfolge, aber nicht rational konvergent. Den zweiten Teil dieser Aussage sieht man wie folgt ein: Nimmt man an, dass es ein g ∈ Q gibt 1 mit g = limn→∞ rn , so folgt aus der Definition durch Grenzübergang g = 1 + 1+g ⇔ g 2 = 2. Das Quadrat des Grenzwertes, falls er existiert, ist also 2, so dass der Grenzwert nicht rational sein kann. Zum Beweis, dass es sich um eine Fundamentalfolge handelt, betrachtet man die Differenz aufeinander folgender Folgenglieder: 1 1 rn−1 − rn rn+1 − rn = 1 + − 1+ = . 1 + rn 1 + rn−1 (1 + rn )(1 + rn−1 ) Da rn > 1 für alle n ∈ N, folgt |rn+1 − rn | < 21 |rn − rn−1 |. Hieraus ergibt sich durch vollständige Induktion |rn+1 − rn | < 2−n+1 |r2 − r1 | = 2−n , woraus folgt: |rn+l − rn | ≤ |rn+l − rn+l−1 | + |rn+l−1 − rn+l−2 | + . . . + |rn+1 − rn | < 2−n−l+1 + 2−n−l + 2−n−l−1 + . . . + 2−n < 2−n+1 . Zu vorgegebenem ε > 0 wählt man also den Index k, so dass 2−k+1 ≤ ε. Definition 4 In der Menge F der rationalen Fundamentalfolgen, F = {(an ) Zahlenfolge in Q | (an ) ist Fundamentalfolge}, wird folgende Relation definiert: (an ) ∼ (bn ) :⇔ (an − bn ) ist Nullfolge. Beispiel: (an ) = (1, 21 , 31 , . . . , n1 , . . .) und (bn ) = (1, 14 , 19 , . . . , n12 , . . .) sind beides Nullfolgen, also ist ihre Differenz ebenfalls eine Nullfolge. Aber auch (an + 5) und (bn + 5) stehen in Relation zueinander. Satz 3 Durch obige Definition wird eine Äquivalenzrelation in F erklärt. Beweis: Reflexivität und Symmetrie sind offensichtlich. Für die Transitivität verwendet man wieder die Dreiecksungleichung |an − cn | = |an − bn + bn − cn | ≤ |an − bn | + |bn − cn |. Definition 5 (Menge der rationalen Zahlen) ∼ sei die oben definierte Relation in F . Die Menge R := F/ ∼ heißt Menge der reellen Zahlen. Bemerkung: Wiederum wird der neue Zahlbereich als Faktormenge bezüglich einer Äquivalenzrelation erklärt. Damit ist eine reelle Zahl eine Äquivalenzklasse der obigen Äquivalenzrelation (d. h. eine Menge). In diesem Fall handelt es sich um die Menge aller äquivalenten Fundamentalfolgen. Es liegt auf der Hand, wie die rationalen Zahlen in dieser Faktormenge darstellbar sind: Die Zahl 2 ist gegeben durch die konstante Folge (2)n . Es gilt aber auch: (2)n = (1, 3, −6, 2, 2, 2, . . .) = (3, 2 21 , 2 13 , . . . , 2 + n1 , . . .). Weitere äquivalente Folgen lassen sich leicht angeben. 5.3 Addition und Multiplikation in R Addition und Multiplikation werden wieder mit Hilfe von Repräsentanten erklärt, sind aber, was zu zeigen ist, repräsentantenunabhängig: Definition 6 (Addition und Multiplikation in Q) Für zwei Zahlen α = (an ), β = (bn ) ∈ R werden ihre Summe und ihr Produkt erklärt durch: α + β := (an + bn ), α · β := (an · bn ). Satz 4 (R, +, ·) ist ein Körper. Beweis: Der Nachweis aller Körpereigenschaften, die der Leser an dieser Stelle wiederholen möge, ist sehr aufwendig und wird hier nicht durchgeführt. Natürlich sind die bisher bekannten Zahlen aus Q im neuen Zahlbereich enthalten“: ” Satz 5 Die Abbildung i : Q → R mit a 7→ (a, a, a, . . .) ist injektiv. Durch sie wird Q isomorph auf den Unterkörper i(Q) ⊆ R abgebildet. Q ist kanonisch isomorph“ zu i(Q) bzw. kanonisch eingebettet“ in R. Daher identifiziert man ” ” üblicherweise diese beiden isomorphen Mengen. Damit √ ist also (a, a, a, . . .) = a. Für einige der neuen Zahlen führt man neue Schreibweisen ein, √ z. B. 2 := (rn ) (rn wie weiter oben definiert.). 4 Mit s1 := 1, sn+1 := 1 + 1+s für alle n ∈ N ist 5 := (sn ) usw. Es gibt aber – was einzusehen n einige Mühe kostet – auch neue Zahlen, deren Quadrat oder sonstige Potenz nicht rational ist (z.B. π und e). 5.4 Die Anordnung der reellen Zahlen Definition 7 Eine reelle Zahl α = (an ) heißt positiv, wenn es ein ε > 0 und einen Index k ∈ N gibt, so dass an > ε für alle n > k. R+ bezeichnet die Menge der positiven reellen Zahlen, R− = −R+ entsprechend die Menge der negativen reellen Zahlen. Bemerkungen: 1. Auch hier ist wiederum die Repräsentantenunabhängigkeit dieser Definition zu zeigen. 2. R+ ist bezüglich + und · abgeschlossen. Man hat damit die Darstellung R = R− ∪ {0} ∪ R+ als disjunkte Vereinigung. Damit kann die Ordnung wie folgt erklärt werden: Definition 8 (Anordnung in R) Auf R werden die Relationen ≤“ und <“ (sowie ≥“ und ” ” ” >“) wie folgt erklärt (α, β ∈ R): ” 1. Für alle α, β ∈ R sei α ≤ β (bzw. β ≥ α) :⇔ β − α ∈ R+ ∪ {0}. 2. Wir schreiben α < β (bzw. β > α) genau dann, wenn α ≤ β und α 6= β. Bemerkung: Die so definierte totale Anordnung auf R stimmt auf Q mit der früher definierten Anordnung überein. Satz 6 (Archimedizität von R) Für alle positiven reellen Zahlen α, β ∈ R existiert eine natürliche Zahl n ∈ N, so dass β < n · α. (R ist archimedisch geordnet.) Beweis: (entfällt) Bisher haben wir nur Eigenschaften für R festgestellt, die auch auf Q zutreffen. Die folgende Eigenschaft unterscheidet die beiden Mengen voneinander. Hierzu betrachten wir nun Fundamentalfolgen in R, was gedanklich bzw. konzeptionell etwas aufwendig ist, da es sich dabei um Folgen von Folgen handelt, schließlich ist jede reelle Zahl eine Äquivalenzklasse von rationalen Fundamentalfolgen. Definition 9 Sei (αn ) eine reelle Folge, also eine Abbildung N → R. (αn ) heißt reelle Fundamentalfolge oder reelle Cauchy-Folge, wenn es zu jedem ε > 0 einen Index k ∈ N gibt, so dass für alle m, n ≥ k gilt, dass |αm − αn | < ε ist. Satz 7 (Vollständigkeit von R) Jede reelle Fundamentalfolge hat einen reellen Grenzwert. Man sagt: R ist vollständig. Beweisidee: Aufgrund der Definition von R gibt es zu jedem Folgenglied der reellen Fundamentalfolge (αn ) ein Folgenglied an einer rationalen Folge (an ) mit |αn − an | < n1 . Da die rationale Folge (an ) konvergiert, etwa limn→∞ an = α ∈ R, muss aufgrund der Konstruktion von (an ) α auch Grenzwert der reellen Folge (αn ) sein. Bemerkung: Man unterscheide zwischen vollständig geordnet“ und vollständig“. Das erste ” ” bezieht sich auf die Vergleichbarkeit zweier beliebiger Elemente (auch linear geordnet oder total geordnet); das zweite ist die Eigenschaft, dass Cauchy-Folgen stets konvergieren, also einen Grenzwert haben. 5.5 Zusammenfassung Der gerade konstruierte Zahlbereich R ist also ein vollständiger, archimedisch und vollständig geordneter Körper, der Q als Unterkörper enthält. Es ist in der Tat in einem gewissen Sinne der einzige Körper, für den dies gilt, d. h. jeder Körper, der diese Eigenschaften erfüllt, ist isomorph zu R. Wir werden im nächsten Kapitel eine weitere Zahlbereichserweierung kennenlernen, für die wir eine dieser Eigenschaften aufgeben müssen. 5.6 Übungen 1. Wiederholen Sie den klassischen Beweis der Irrationalität von √ 2. b 2. Bestimmen Sie den Grenzwert der rekursiv definierten Folge r1 := 1, rn+1 := a + a+r für n n ∈ N. Welche Bedingungen müssen a und b erfüllen? q Geben Sie eine rekursiv definierte rationale Zahlenfolge mit dem Grenzwert 37 an. 3. Geben Sie möglichst viele Repräsentanten aus F für die reellen Zahlen 1, 5 6 und −2,4 an. 4. Welche Eigenschaften hat die Menge F der rationalen Fundamentalfolgen mit den Verknüpfungen + und ·, wenn diese für je zwei Folgen gliedweise definiert sind? Ist (F, +, ·) ein Ring (mit evtl. weiteren Eigenschaften) oder sogar ein Körper?