Deutsches Ärzteblatt 1994: A-428

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MEDIZIN
DIE UBERSICHT
Stadiengerechte Therapie der
Meniäreschen Krankheit
Klaus Jahnke
D
ie Meniresche Krankheit ist
eine klinische Entität, die
gekennzeichnet ist durch
Drehschwindelanfälle, eine
eindeutige, anfangs fluktuierende
Schwerhörigkeit, Ohrensausen und
ein Druckgefühl in der Tiefe des erkrankten Ohres.
Der Symptomatik liegen Funktionsstörungen des Innenohres zugrunde, wie der französische Otologe
Prosper Menire 1861 bereits angenommen hatte, und nicht etwa eine
retrocochleäre Läsion, zum Beispiel
des Hirnstammes.
Pathophysiologie
Während noch viele Fragen zur
Ätiologie unbeantwortet sind, liegen
inzwischen zahlreiche Befunde zur
Pathogenese vor. Das charakteristische pathohistologische Substrat der
Erkrankung ist der endolymphatische Hydrops. Typisch ist vor allem
die starke Ausdehnung des Ductus
cochlearis im Bereich der Reissnerschen Membran (Abbildung 1). Ursache des Hydrops ist offensichtlich eine verminderte Resorption der kaliumreichen Endolymphe im Ductus
und vor allem im Saccus endolymphaticus.
Der Saccus endolymphaticus
liegt in einer Duraduplikatur der hinteren Schädelgrube, meist sublabyrinthär vorn (18). Häufig ist er hypoplastisch und weist eine subepitheliale Fibrose auf, mit deutlicher Reduktion der Zahl der Blutgefäße,
möglicherweise infolge abgelaufener
viraler oder bakterieller Infekte.
Der endolymphatische Hydrops
ist jedoch nicht mit der Menireschen Krankheit gleichzusetzen. Der
typische Anfall bedarf offensichtlich
eines auslösenden Faktors, eines
Triggers, seien es
Die Menibresche Krankheit ist durch
Drehschwindelanfälle von wenigen
Stunden Dauer charakterisiert, die
mit einer einseitigen Innenohrschwerhörigkeit, Tinnitus und einem
Druckgefühl in der Tiefe des Ohres
einhergehen. Das klassische pathohistologische Substrat ist der endolymphatische Hydrops des Innenohres.
Nach umfassender, vor allem audiologischer Diagnostik besteht der erste
therapeutische Ansatz in der Ausschaltung anfallauslösender Trigger
wie beispielsweise Streß, aber auch
septischer Herde. Die Basistherapie
ist medikamentös, unterstützt durch
eine Diät. Bei schlecht beeinflußbaren
Drehschwindelanfällen kann eine stadiengerechte chirurgische Therapie
die Lebensqualität des Patienten entscheidend verbessern.
—septische Herde, vor allem der
Kieferhöhle und der Zähne,
—streßbedingte Funktionsstörungen
des autonomen Nervensystems,
psychische Faktoren,
metabolische Störungen (seltener,
zum Beispiel Unterfunktionen endokriner Organe wie der Nebennierenrinde) oder
—immunpathologische Veränderungen.
So wurden beispielsweise erhöhte IgG-Werte und eine erhöhte spontane Lymphozytenproliferation als
Marker für einen möglichen Immunprozeß bei der Mehrzahl unserer
Meni&e-Kranken gefunden. Andere
Autoren konnten mit ähnlich erhöhter Häufigkeit zirkulierende Immunkomplexe nachweisen (2).
Der Anfall wird nach heutigen
Kenntnissen am überzeugendsten als
Permeabilitätsstörung der Innenohrschranken interpretiert. Bisherige
Vorstellungen gingen davon aus, daß
die Anfälle durch Rupturen beispielsweise der überdehnten Reissnerschen Membran ausgelöst werden
(16, 19, 3). Eigene elektronenmikroskopische Untersuchungen lassen eine akut erhöhte Permeabilität der
gesamten Perilymph-EndolymphSchranke näherliegend erscheinen
(10). Durch indirekte oder direkte
Einwirkung eines Triggers werden —
bei bereits bestehendem endolymphatischen Hydrops — einzelne Zellmembranfusionslinien der Zonulae
occludentes durchlässig. Durch den
verstärkten Eintritt von kaliumreicher Endolymphe in die Perilymphe,
die in ihrer Zusammensetzung dem
Liquor cerebrospinalis- ähnelt, wird
die Bildung des Aktionspotentials
der afferenten Neuronen herabgesetzt, es werden aber auch die Haarzellen reversibel geschädigt (24). Andererseits ist die vom Ionenmilieu
der Endolymphe abhängige Bildung
des Rezeptorpotentiales der Haarzellen, der mechano-elektrische
Transduktionsmechanismus, durch
einen Natrium-Ionen-Einstrom in
den Endolymphraum beeinträchtigt
(10). Darüber hinaus führt nach tierexperimentellen Untersuchungen die
Erhöhung der Natrium- und vor allem der Kalzium-Ionen-Konzentrationen in der Endolymphe zu einer
Abkopplung der Stereozilien der Sinneszellen von der Tektorialmembran
(Abbildung 1).
Hals-, Nasen-, Ohrenklinik und Poliklinik
(Direktor: Univ.-Prof. Dr. med. Klaus Jahnke), Universitätsklinikum Essen
A-428 (44) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 7, 18. Februar 1994
Die Dauer des auf diese Weise
ausgelösten Menireschen Anfalles
dürfte einmal von der Regeneration
MEDIZIN
DIE UBERSICHT
der Perilymph-Endolymph-Schranke
abhängen, ferner von der Erholung
aktiver Transportmechanismen mit
Eliminierung beispielsweise von Natrium-Ionen aus der Endolymphe und
Kalium-Ionen aus der Perilymphe.
Diese—so ist zu hoffen—kann durch eine Verbesserung der Innenohrdurchblutung beschleunigt werden.
Diagnostik
Die Diagnose der Menireschen
Krankheit ergibt sich allgemein schon
durch die gründliche Anamnese mit
Fragen zur Häufigkeit, Art und Dauer der genannten Symptome. Bevorzugt erkranken Menschen mittleren
Lebensalters. Die Gleichgewichtsstörungen treten als Drehschwindelanfälle — selten als Schwankschwindelanfälle — mit Übelkeit und Erbrechen
auf, nie jedoch mit Bewußtseinsstörungen. Blässe, kalter Schweiß und
Kreislaufschwäche können den notfallbehandelnden Arzt primär dazu
verleiten, an eine Herz-Kreislauf-Erkrankung zu denken. Im Anfall wird
zu Beginn meist ein Reiznystagmus,
später ein Ausfallnystagmus zum gesunden Ohr hin beobachtet. Die
Schwindelanfälle setzen plötzlich ein,
erreichen innerhalb weniger Minuten
eine maximale Intensität und dauern
gewöhnlich eine halbe Stunde bis zu
zwei Stunden, selten einen Tag. Mehreren Anfällen innerhalb einer Woche kann sich ein monatelanges freies
Intervall anschließen.
In früheren Stadien ist ein fluktuierendes Hörvermögen vor allem in
den tiefen Frequenzen charakteristisch: Es nimmt im zeitlichen Zusammenhang mit den Schwindelanfällen ab, um sich nach dem Anfall zu
erholen, anfangs vollständig (Stadium I), später nur teilweise (Stadium
IIA). Im Stadium IIB ist eine Hörverbesserung zum Teil noch durch Gabe
hyperosmotischer Substanzen (zum
Beispiel Glycerol oral) oder von Diuretika (Lasixtest in nicht ototoxischer Dosierung, siehe unten) zu erreichen. Im weiteren Verlauf findet
sich meist ein pancochleärer Hörverlust von 50 bis 60 dB ohne Fluktua-
tionen (Stadium III). Ohrensausen,
unter dem die Patienten oft mehr als
unter der Hörminderung leiden, und
Endolymphe
K 144 mmo1/1
Na 5 mmol/I
P 41 mmol/I
Perilymphe
K 10 mmol/I
Na 140 mmol/I
P 65-130 mmol/I
Abbildung 1: Cochleawindung, endolymphatischer
Hydrops mit Aufweitung der Reissnerschen Membran (Rm). Der Meniäre-Anfall kann als generalisierte Innenohr-Schranken-Störung definiert werden: reversible Kalium-Intoxikation (K+) der Sinneszellen (Sterne) und der afferenten Neurone
auf der Perilymphseite, Abkoppelung der Tektorialmembran (Tm) durch Kalzium- und Natriumioneneinstrom (Co+ +, Na+) in die Endolymphe
Tabelle 1: Stadien der MeniäreKrankheit
1. fluktuierendes Hörvermögen,
das sich spontan nach dem
Anfall normalisiert
2. fluktuierendes Hörvermögen,
a) das sich spontan bessert,
aber nicht mehr normalisiert,
b) das sich nur nach osmotischer Therapie (zum Beispiel Glycerol-Test) bessert
Hörminderung
3. deutliche
ohne Fluktuation, weiterhin
aber Schwindelanfälle
4. ausgebrannte Meniresche
Krankheit
das Druckgefühl in der Tiefe des
kranken Ohres nehmen vor oder mit
dem Anfall zu (Tabelle 1).
Audiologisch und otoneurologisch kann ohne Schwierigkeiten
nachgewiesen werden, daß es sich um
eine Erkrankung des Innenohres
selbst handelt. Das Recruitment
(Lautheitsausgleich) ist beim Menire-Kranken als Zeichen des Haarzellschadens immer positiv. Mit der
allerdings aufwendigen Elektrocochleographie kann verhältnismäßig sicher ein endolymphatischer Hydrops
nachgewiesen und seine Beeinflussung durch therapeutische Maßnahmen beurteilt werden.
Differentialdiagnostisch müssen
zahlreiche unterschiedliche Ursachen cochleovestibulärer Störungen
ausgeschlossen werden, deren wichtigste in Tabelle 2 zusammengefaßt
sind. Neurologische und neuroradiologische Zusatzuntersuchungen sind
von großer Bedeutung. Schwierigkeiten bereiten insbesondere Anfangsstadien der Men&reschen Krankheit,
in denen noch nicht alle Symptome
ausgeprägt sind. Die Krankheit kann
sowohl mit Drehschwindelanfällen
als auch mit akut auftretenden Hörminderungen im Sinne eines Hörsturzes oder mit einem Ohrensausen
beginnen. Einzelne Symptome können den übrigen um Monate oder
Jahre vorausgehen.
Therapie
Nach gesicherter Diagnose zielt
die Behandlung zunächst darauf hin,
auslösende Faktoren, Trigger, auszu-
Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 7, 18. Februar 1994 (45) A-429
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schalten. Vielfach läßt sich bereits
dadurch eine Linderung oder seltener die Heilung erreichen.
Die medikamentöse Behandlung
(Tabelle 3) ist in vielen Punkten symptomatisch. Im Menire-Anfall ist eine stationäre Aufnahme sinnvoll.
Zur Linderung des starken Schwindels werden zentral dämpfende Antiemetika oder Sedativa gegeben (beispielsweise Triflupromazin = Psyquil® 10 mg i. v., oder Diazepam =
Valium® 5 mg i. v.). Anschließend
werden zur Förderung der Innenohrdurchblutung Infusionen gegeben, in
unserer Klinik zumeist Procain in
aufsteigender Dosierung (400 bis
1000 mg Novocain) in sechsprozentiger Hydroxyaethylstärke-Lösung, für
etwa eine Woche, unter Beachtung
der Kautelen (zum Beispiel Flüssigkeitszufuhr) und Kontraindikationen
(zum Beispiel Nieren- oder dekompensierte Herz-Insuffizienz)*. Liegt
ein klassischer Hydropsbefund vor,
so werden 20 mg Furosemid (Lasix®)
intravenös als diagnostische und therapeutische Maßnahme (siehe oben)
appliziert. Zeigt das Tonschwellenaudiogramm nach Lasix-Gabe eine
Besserung, so infundieren wir für eine Woche 500 ml Mannitol-Lösung
(Osmofundin®) pro Tag.
Immer werden die Patienten
diätetisch beraten: Es wird eine natriumarme, kaliumreiche Kost empfohlen, die möglichst keine künstlichen Zusätze wie Farbstoffe und Stabilisatoren enthalten soll. Vom Rauchen wird abgeraten. Außerdem wird
auf die Bedeutung der Vermeidung
von Streß und psychischen Belastungen hingewiesen. Ein Kraftfahrzeug
soll wegen der eigenen Gefährdung
und der anderer Verkehrsteilnehmer
nicht geführt werden.
Zur langfristigen medikamentösen Therapie werden durchblutungsfördernde Medikamente verabreicht,
wie Betahistin (Vasomotal®, Aequamen® 3 x ein bis zwei Tabletten/die)
oder bei schlechter Verträglichkeit
ein Pentoxifyllin-Präparat. Besonderer Wert wird auf das Verschreiben
*Bekanntgabe der Arzneimittelkommission
der Deutschen Ärzteschaft „Vorsicht bei Hämodilutionstherapie mit Hydroxethylstärke
(HES)", Dtsch. Arztebl. 90 (1993)-A 1 2260
(Heft 34)35)
Tobelle 2: Differentialdiagnose des
Morbus Meniere
1.
2.
3.
4.
Akustikusneurinom u. a.
Kranio-zervikale Dysplasie
Hirnstammläsionen
vaskuläre Kompression des
VIII. Hirnnerven
5. Ruptur der runden Fenstermembran
6. Hörsturz
7. Neuronopathia vestibularis
8 Immunkrankheiten des Innenohres (zum Beispiel
Cogan-Syndrom)
9. nichtprogressiver Hydrops
10. Lermoyez-Syndrom
Tabelle 3: Konservative Therapie der
Meniäre-Krankheit
1. Natriumarme, kaliumreiche
Kost
2. Genußmittelreduktion
(Rauchverbot)
3. Vermeidung von Streß und
psychischen Belastungen
4. Diuretika (zum Beispiel
Hydrochlorothiazid)
5. Durchblutungsfördernde
Maßnahmen (Procain in
HAES-Infusion, Osmofundin-Infusion,
Betahistin,
Pentoxifyllin)
6. Antiemetika und Sedativa
im Anfall
7. Gleichgewichtsübungen
in Erprobung: H1-Inhibitoren (Astemizol), Kortikoide
eines Diuretikums gelegt. Wir ziehen
Hydrochlorothiazid vor (zum Beispiel Esidrix® Tabl.), gegebenenfalls
mit Triamteren (zum Beispiel Dytide
H®) kombiniert, das der Patient zunächst jeden zweiten Tag unter hausärztlicher oder internistischer Kontrolle einnimmt, aber auch bei verstärktem Druckgefühl in der Tiefe
des Ohres zur Verfügung haben soll.
Dieses Medikament vermittelt ihm
erfahrungsgemäß ein Gefühl der Sicherheit vor erneuten Anfällen. Die-
A-432 (48) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 7, 18. Februar 1994
se Basistherapie wird praktisch in allen Stadien der Menireschen
Krankheit eingesetzt, dosiert abhängig von der Ausprägung und Häufigkeit der Schwindelanfälle und abhängig von einer möglichen Hörverschlechterung. Die Wirkung von Kortikoiden, die auch im Hinblick auf eine immunologische Ursache der
Krankheit gelegentlich appliziert
werden, ist statistisch noch nicht gesichert. Gleiches gilt für den in Erprobung befindlichen H1-Inhibitor Astemizol (Hismanal®). Bei bereits nachweisbarer Schädigung des peripheren
Gleichgewichtsapparates und besonders bei verzögerter zentraler Kompensation sind zusätzliche Gleichgewichtsübungen sehr sinnvoll.
Die diätetische und medikamentöse Langzeitbehandlung führt in der
Mehrzahl der Fälle zu einer wesentlichen Besserung des Krankheitsbildes. Große Bedeutung kommt dabei
der Beziehung Patient-Arzt zu. Der
Patient muß darüber aufgeklärt sein,
daß die Krankheit zwar sehr beeinträchtigend sein kann, aber nicht lebensbedrohlich ist.
Chirurgische Therapie
Sind vor allem die Drehschwindelattacken durch konservative Maßnahmen in einem Zeitraum von bis
zu sechs Monaten nicht entscheidend
zu beeinflussen, so ist eine chirurgische Behandlung indiziert. In unserem stark selektierten Krankengut
von weit über 1000 Menire-Patienten, die in den letzten 20 Jahren von
unserer Arbeitsgruppe in Tübingen,
Gießen und jetzt in Essen betreut
wurden, wurden fast 40 Prozent chirurgisch behandelt. Grundsätzlich ist
zwischen labyrintherhaltenden und
labyrinthzerstörenden Maßnahmen
zu unterscheiden.
Unser Vorgehen hängt vom
—Krankheitsstadium,
—Alter und
— Allgemeinzustand des Patienten
und nicht zuletzt vom
—Zustand des anderen Ohres ab.
Bei noch geringem und fluktuierendem Hörverlust, das heißt in den
Stadien II A und B, wird die Dekompression des Saccus endolymphaticus
durchgeführt (Abbildung 2). Hierbei
MEDIZIN
DIE UBERSICHT
wird retroaurikulär vorgegangen:
Nach Ausräumung des Mastoids werden die Schale des Sinus sigmoideus
und die Tabula interna unterhalb des
hinteren Bogenganges glattgeschliffen. Nach Freilegen der Dura der
hinteren Schädelgrube zwischen Sinus und Bogengangsmassiv findet
sich der Saccus meistens relativ weit
vorn. Die Zielsetzung ist ein verbesserter Lymph- und Blutabfluß dieser
Region, also indirekt eine Zunahme
der Resorption der Endolymphe im
Saccus, weniger die direkte Drainage
des Saccus. Durch intraoperative
Messung der endocochleären Summations- und Aktionspotentiale wurde gezeigt (8), daß schon die Dekompression einen sofortigen Einfluß auf
den endolymphatischen Hydrops haben kann. Der Eingriff wird in Lokalanästhesie durchgeführt, dauert weniger als eine Stunde und ist ausgesprochen risikoarm. Auch langfristig,
das heißt für mehr als drei Jahre,
konnten wir weit über 70 Prozent der
Patienten, die nicht auf eine medikamentöse Behandlung angesprochen
hatten, zu einer deutlichen Besserung des Krankheitsbildes verhelfen.
Die Eröffnung, also eine Drainage des Saccus endolymphaticus
halten wir im allgemeinen nicht für
indiziert, da mit diesem Eingriff zusätzliche Risiken für das Innenohr
entstehen. Die Drainage des Saccus
endolymphaticus kann außerdem
aufgrund seiner variablen Anatomie
sehr schwierig oder sogar unmöglich
sein (4). Eingesetzte Kunststoffe
können zu Abstoßungsreaktionen
oder zu fibrotischen Abkapselungen
führen (20).
Ursprünglich nur bei sehr
schlechtem, nicht mehr fluktuierendem Hörvermögen und wiederholten
Drehschwindelattacken (Stadium
III), seit einiger Zeit wegen der guten
Erfolge auch schon im Stadium II B,
streben wir die selektive Ausschaltung oder die Dämpfung des Vestibularapparates durch eine transtympanale Gentamicin-Applikation an.
Das Ertaubungsrisiko liegt bei der
herkömmlichen Technik bei etwa
zehn Prozent (15, 14). Dabei wird das
ototoxische Antibiotikum über ein
liegendes Paukenröhrchen oder einen Katheter in mehreren kleinen
Einzeldosen vier bis fünf Tage lang in
Abbildung 2: Computertomogramm des linken Felsenbeines (Op).
Der Saccus endolymphaticus (Se) liegt in
einer Duraduplikatur
der hinteren Schädelgrube. Er wird nach
Ausräumen von Mastoidzellen (M) zwischen Labyrinthblock
(L) und Sinus sigmoideus (Ss) dekomprimiert. G = äußerer
Gehörgang
das Mittelohr injiziert. Es diffundiert
vornehmlich über die Membran des
runden Fensters in das Innenohr. Bei
diesem potentiell destruktiven Verfahren ist grundsätzlich zu berücksichtigen, daß nach Literaturangaben
etwa 15 bis 40 Prozent der Patienten
im Laufe von Jahren oder Jahrzehnten unabhängig von der Therapie
auch am anderen Ohr erkranken.
Zur Protektion der Cochlea
führten wir 1984 eine neue Technik
ein, bei der in einem kleinen Eingriff
in Lokalanästhesie die Nische des
runden Fensters temporär mit Bindegewebe obliteriert wird (13). Zugleich wird die Permeabilität des ovalen Fensters erhöht. Damit soll das
ototoxische Medikament — intraoperativ und an den folgenden Tagen
über ein Paukenröhrchen gegeben —
direkt den peripheren Vestibularapparat erreichen, ohne zuvor durch
die gesamte Cochlea zu diffundieren.
Die bisherigen Ergebnisse der Gentamicin-Therapie mit Cochleaprotektion sind günstig. Die Schwindelanfälle werden in über 90 Prozent der
Fälle verhindert oder deutlich abge-
mildert. Gegebenenfalls kann auch
später noch — meist ambulant — zusätzlich an einigen aufeinanderfolgenden Tagen Gentamicin in das
Mittelohr appliziert werden. Eine
deutliche Hörverschlechterung trat
bisher nur in weniger als fünf Prozent
der Fälle auf. In Zukunft könnte die
Applikation eines Schutzfaktors —
beispielsweise Glutathion — als Langzeitdepot vor dem runden Fenster
das ototoxische Risiko zusätzlich
mindern.
Nur bei Versagen aller bereits
aufgeführten therapeutischen Maßnahmen ist ein endokranieller Eingriff zur Exzision des Ganglion Scarpae des Nervus vestibularis oder zur
Durchtrennung des Gleichgewichtsnerven indiziert. Dafür stehen grundsätzlich vier Zugangswege zur Verfügung. Bei erhaltenem Hörvermögen
wird transtemporal extradural, retrolabyrinthär oder — mit Neurochirurgen — subokzipital retrosigmoidal
vorgegangen. Nach letzterem Eingriff leiden etwa zehn Prozent der
Patienten auch langfristig an verhältnismäßig starken Kopfschmerzen. D
Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 7, 18. Februar 1994 (51) A-433
MEDIZIN
DIE UBERSICHT / KONGRESSBERICHT
Ist die Hörfunktion ausgefallen,
kann für den Patienten weniger belastend unter Zerstörung des Innenohres der innere Gehörgang auf direktem Weg translabyrinthär eröffnet
und das Ganglion Scarpae entfernt
werden.
Die elektronenmikroskopischen
Untersuchungen der Innenohrgewebe, die bei derartigen Eingriffen gewonnen werden konnten, ergaben
wichtige Hinweise für die Pathologie
der Spätstadien der Meniereschen
Krankheit. Neben erheblichen degenerativen Veränderungen, zum Beispiel vakuoliger Degeneration und
Lipofuszin-Ansammlungen in unterschiedlichen Zelltypen, fanden wir
interessanterweise eine deutliche
Diskrepanz zwischen ausgeprägten
Sinneszell-Schäden mit Verlust der
Stereozilien und einer großen Zahl
gut erhaltener sub- und intraepithelialer Nervenfasern (12). Dies unterstreicht, daß in den Spätstadien der
einseitigen Meniereschen Krankheit
die translabyrinthäre Vestibularisneurektomie der alleinigen Labyrinthektomie vorzuziehen ist.
Postoperativ tritt nach Vestibularisneurektomie Schwindel auf, der
meist nach wenigen Tagen verschwunden ist. War das Labyrinth
präoperativ thermisch noch gut erregbar oder handelt es sich um ältere
Patienten, so können die Schwindelbeschwerden auch Wochen oder Monate anhalten, da die zentrale Kompensation verzögert ist. In diesen
Fällen sind intensive Gleichgewichtsübungen von größtem Wert, sedierende Maßnahmen kontraindiziert
(weitere Verzögerung der zentralen
Kompensation). Selbstverständlich
muß auch eine Erkrankung des anderen Ohres ausgeschlossen werden.
Bei beidseitiger Menierescher
Krankheit muß die Indikation zu
operativen Eingriffen sehr kritisch
gestellt werden. Hier bewährt sich eine parenterale Applikation von Gentamicin im Sinne einer Titration zur
Dämpfung der Gleichgewichtsapparate. Aufgrund experimenteller Studien ist davon auszugehen, daß der
Vestibularapparat etwa vierfach sensibler als die Sinneszellen im CortiOrgan reagiert. Andererseits wissen
wir, daß die Cochlea bei endolymphatischem Hydrops eher durch otoA 434
-
toxische Medikamente geschädigt
wird. Dieser Gesichtspunkt muß im
übrigen auch bei der Applikation
ototoxischer Medikamente aus anderer Indikation berücksichtigt werden.
Bei der Titration mit Gentamicin
muß besonderer Wert auf tägliche
Audiometriekontrollen gelegt werden, um eine unerwünschte Hörschädigung möglichst frühzeitig erfassen
zu können.
Das geschilderte stadienadäquate Behandlungskonzept erlaubt es
verständlicherweise nicht, die unterschiedlichen Verfahren miteinander
zu vergleichen. Jede statistische Auswertung muß sich auf den Ausgangsbefund und das jeweilige Stadium beziehen. In die Interpretation der Resultate muß der natürliche Verlauf
der Krankheit eingehen. In den Spätstadien der Meniereschen Krankheit
ist es unsere wichtigste Aufgabe, bei
weitgehender Schonung des Resthör-
vermögens die Phase der unvermittelt auftretenden schweren Schwindelanfälle mit den dargestellten operativen Eingriffen erheblich abzukürzen und damit die Lebensqualität der
Patienten deutlich zu verbessern.
Hormone
formen
Strukturen
klar, daß die morphologisch erkennbaren Fehlbildungen Neugeborener
nur einen Bruchteil der kindlichen
Störungen ausmachen. Wesentlich
häufiger sind funktionelle Fehlentwicklungen, die allenfalls geringfügige morphologische Korrelate besitzen.
37. Symposium
der Deutschen Gesellschaft
für Endokrinologie 1993,
Berlin
D
ie optimale medizinische Betreuung von Schwangerschaft und Geburt wird in einer Zeit sinkender Geburtenrate und umfassender Planung
des Nachwuchses ständig wichtiger.
Immer mehr Frauen unterziehen sich
einer pränatalen Diagnostik, um
kindliche Störungen frühzeitig zu
entdecken und sich gegebenenfalls
für einen Abbruch der Schwangerschaft zu entscheiden.
Beim 37. Symposium der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie in Berlin, das von W. Rohde (Charite) ausgerichtet wurde, wurde nun
(52) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 7, 18. Februar 1994
Deutsches
Ärzteblatt
91 (1994) A-428-434 [Heft 7]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis im Sonderdruck,
anzufordern über den Verfasser.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Klaus Jahnke
Universitäts-HNO-Klinik
Hufelandstraße 55
45147 Essen
Entwicklungsneuroendokrinologie
R. Gorski (Los Angeles) berichtete über das aus Tierversuchen abgeleitete Konzept, daß während der
Schwangerschaft die sexuelle Differenzierung des Gehirns unter dem
Einfluß gonadaler Steroide entsteht.
Es wird angenommen, daß das Säugetiergehirn inhärent weiblich ausgerichtet ist und für die Ausbildung
männlicher Verhaltensstrukturen
während seiner Entwicklung dem
Einfluß von Androgenen ausgesetzt
sein muß. Die Arbeitsgruppe von
Gorski stellte 1978 Geschlechtsunterschiede in der Struktur des Rattenhirns fest. Mittlerweile wurde
auch im menschlichen Gehirn ein sexueller Dimorphismus nachgewiesen.
Im vorderen Hypothalamus wurden
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