Talcott Parsons Talcott Parsons (* 13. Dezember 1902 in Colorado Springs, Colorado; † 8. Mai 1979 in München) war nach dem Zweiten Weltkrieg der einflussreichste US-amerikanische soziologische Theoretiker. Talcott Parsons ist mit einer Handlungstheorie hervorgetreten, hat diese zum Strukturfunktionalismus weiter entwickelt und diesen schließlich zu einer Soziologischen Systemtheorie ausgebaut. Seine Soziologie reagiert auf den vorherrschenden Empirismus in der angelsächsischen Soziologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Parsons entwickelte eine allgemeine soziologische Theorie und stellte Zusammenhänge mit anderen Gesellschaftswissenschaften her, insbesondere zu Ökonomie, Politikwissenschaft, Psychologie und Anthropologie. Talcott Parsons wurde als Sohn des protestantischen Geistlichen und Präsidenten des Marietta College, Edward Smith Parsons Sr. und der Frauenrechtlerin Mary Augusta Parsons geboren. Er hatte eine Schwester. Mit seiner Frau, Helen B. Walker, die er 1927 heiratete, hatte er drei Kinder. Von 1920 bis 1924 studierte Parsons zunächst Biologie am Amherst College in Amherst, Massachusetts, um Arzt zu werden, wechselte dann aber an die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, wo er 1924 seinen B.A.-Abschluss erlangte. Von 1924 bis 1925 nahm er das Studium der Nationalökonomie an der London School of Economics and Political Science in London auf. Er ging dann für zwei Jahre nach Deutschland, wo er von 1925 bis 1927 an der Universität Heidelberg Nationalökonomie studierte. Dort beschäftigte er sich mit der deutschen soziologischen Tradition, etwa mit Max Weber, dessen Frau Parsons kennenlernte. 1927 wurde seine Dissertation „Capitalism“ in recent German literature: Sombart and Weber in Heidelberg angenommen. Betreuer der Dissertation war der Nationalökonom Edgar Salin. Nach dem Promotionsstudium in Deutschland begann für Parsons eine 46-jährige, von 1927 bis 1973 dauernde Karriere an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, wo er 1944 den Status eines „Full Professor of Sociology“ erlangte. 1937 erschien sein Hauptwerk The Structure of Social Action, das gewissermaßen eine Synthese aus Erkenntnistheorie (Alfred North Whitehead, Lawrence A. Henderson) und dem Stand der damaligen nationalökonomischen (Alfred Marshall, Vilfredo Pareto) und soziologischen (Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies, Max Weber) Theorien darstellt. Mit diesem Werk ist die voluntaristische Theorie des Handelns begründet worden. Er gründete an der Harvard-Universität 1946 das „Department of Social Relations“. 1973 wurde Parsons emeritiert. Zu seinen Förderern gehörte Pitirim A. Sorokin (1889-1968). Zu seinen Schülern gehörten u.a. Kingsley Davis (1908-1997), Robert K. Merton (1910-2003), Wilbert E. Moore (19141987), Albert K. Cohen (*1918) und Niklas Luhmann (1927-1998), der Parsons strukturfunktionalistischen Ansatz zunächst in einen funktional-strukturellen Ansatz weiterentwickelte. Gemeinsam mit Edward Shils führte Parsons insbesondere Max Webers Werk in die amerikanische Soziologiediskussion ein. Parsons starb am 8. Mai 1979 in München während einer Deutschlandreise anlässlich des 50. Jahrestags seiner Promotion in Heidelberg. Werke Phase I: Die voluntaristische Handlungstheorie [Bearbeiten] Es ist das Ziel der problemgeschichtlichen Studie The Structure of Social Action (1937), die notwendigen und hinreichenden Bausteine für eine allgemeine Theorie des sozialen Handelns zu ergründen. Dabei liefern festgestellte Konvergenzen in den Theorien der Vorgänger (Max Weber: Kultur/Gesellschaft, Emile Durkheim: soziale Integration, Sigmund Freud: Person/Gesellschaft, George Herbert Mead: Interaktion) Anhaltspunkte für einen theoretischen Fortschritt. Aus positivistisch und idealistisch verkürzten Theorien des Handelns entwickelt Parsons eine voluntaristische Theorie des Handelns, die die Frage (Hobbesian problem of order) beantworten soll, die bereits Thomas Hobbes aufgeworfen hat: Unter welchen Voraussetzungen ist soziale Ordnung möglich? In Values, Motives and Systems of Action (1951, mit Edward Shils) wird das Paradigma für die handlungstheoretische Analyse des „Handelnden (Akteur) in Handlungssituation“ zum Action Frame of Reference weiter ausgearbeitet. Die Pattern Variables dienen zur Klassifikation gleichermaßen von Bedürfnisdispositionen (Persönlichkeit), Rollen (Sozialsystem) und Wertmaßstäben (Kultursystem). Phase II: Strukturfunktionalismus [Bearbeiten] In The Social System (1951) wird der theoretische Bezugsrahmen „Aktor-Situation“ verlassen bzw. erweitert zu dem Bezugsrahmen „System-Umwelt“ (siehe dazu die Kritik von Robert Dubin, Parsons' Actor: Continuities in Social Theory, abgedr. in Parsons, Sociological Theory and Modern Society, S. 521 ff.). Mit dem AGIL-Schema werden zunächst die Grundweisen des Sozialsystems charakterisiert; dann wird es auch auf das Kultursystem, das Persönlichkeitssystem und den Verhaltensorganismus angewandt. Phase III: System, Evolution, Conditio Humana [Bearbeiten] Über die strukturfunktionalistische Theorie, die im Kern auf den von Robert F. Bales konzipierten Variablen der Handlungsorientierung beruht, aus der die vier Grundfunktionen des „sozialen Systems“ („AGIL-Schema“) abgeleitet sind, geht Parsons schließlich hinaus und ersetzt den Struktur-Begriff durch den Systembegriff. Der Strukturfunktionalismus wird zusehends in einen Systemfunktionalismus überführt. Die Komplexität der Austauschverhältnisse zwischen Wirtschaftssystem, Persönlichkeitssystem, Gemeinschaftsstrukturen (Familienhaushalten), politischem und sozio-kulturellem System wird in dem gemeinsam mit Neil J. Smelser verfassten Werk Economy and Society (1956) analytisch entfaltet. Gesellschaft erscheint als ein System, dessen Entwicklung Parsons mit evolutionstheoretischen Begriffen analysiert. Die Studie Societies (1966) beschäftigt sich mit primitiven und archaischen Formen, den als „Saatbeet-Gesellschaften“ bezeichneten Hochkulturen, die sich durch Schriftgebrauch auszeichnen. In The System of Modern Societies (1971) wird die Heraufkunft von Gegenwartsgesellschaften, die über Kenntnis des Rechts verfügen, im Prozess sozio-kultureller Evolution nachgezeichnet. Dabei unterteilt er Evolution in vier Subprozesse: 1) Differenzierung, d. h. die Entstehung funktionaler Teilsysteme der Gesellschaft; 2) Standardhebung durch Anpassung („adaptive upgrading“), wodurch diese Systeme ihre Effizienz steigern; 3) Inklusion, d. h. die Einbeziehung bislang ausgeschlossener Akteure in Subsysteme; 4) Wertgeneralisierung, d. h. die Herstellung einer breiteren Legitimationsbasis für immer komplexere Systeme. Vor dem Hintergrund der studentischen Unruhen der 1960er Jahre analysieren Parsons und der Psychologe Gerald M. Platt in der Studie The American University (1973) das in die Krise geratene US-Universitätssystem. Den theoretischen Bezugsrahmen gibt dabei das systemtheoretisch-kybernetische „Vier-Funktionen-Schema“ ab, das über soziale Systeme hinaus auf verschiedene Dimensionen menschlichen Verhaltens und Handelns angewendet wird. Die „Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikations- und Austauschmedien“ (Medientheorie) soll dabei dazu dienen, die vielfältigen sozialen Dynamiken zwischen z.B. Universität und Wirtschaftssystem, aber auch zwischen Bildung und Persönlichkeit transparent zu machen. In seinem Spätwerk (siehe auch die 1978 veröffentlichte Studie A Paradigm of the Human Condition) weitet Parsons seine Theorien auf die Humanwissenschaften insgesamt aus. Besonders in den Vordergrund tritt eine intensive Beschäftigung mit Fragen der Religion, besonders dem Tod und den „letzten Dingen“. Das Vier-Funktionen-Schema (AGIL) wird von Parsons über die Welt und den Menschen gespannt – von seiner stofflich-organischen Umwelt, seiner Psyche, sein Leben in Gesellschaft, bis zu den letzten, metaphysischen Seinsgründen. Émile Durkheim Émile Durkheim David Émile Durkheim (* 15. April 1858 in Épinal, Frankreich; † 15. November 1917 in Paris) war ein französischer Soziologe und Ethnologe. Er gilt als einer der Begründer der empirischen soziologischen Wissenschaft mit dem Vergleich als einer eigenständigen Methode, die nicht nur der Illustration von Hypothesen, sondern deren Beweis dient. Leben Émile Durkheim – Sohn eines Rabbiners in Épinal (Lothringen) – studierte in Paris an der École normale supérieure, nachdem er zweimal bei der Aufnahmeprüfung durchgefallen war. Er traf dort auf eine Reihe von später ebenfalls sehr renommierten Männern, darunter Lucien Lévy-Bruhl und den sozialistischen Politiker Jean Jaurès. Nach seinem Abschluss war Durkheim zunächst als Lehrer für Philosophie an Gymnasien tätig. Nach einem Studienaufenthalt in Deutschland in den Jahren 1885–1886 publizierte er zwei Artikel über seine Stipendienzeit in Berlin und Leipzig. Sie machten ihn bekannt und führten dazu, dass er vom Leiter der Hochschulabteilung im Erziehungsministerium 1887 einen Lehrauftrag für Sozialwissenschaft in Bordeaux erhielt, wo er schließlich Professor für Pädagogik und Soziologie wurde – die erste Dozentur für Soziologie an einer französischen Universität. In seiner Zeit in Bordeaux verfasste Durkheim drei seiner wichtigsten Schriften: Über soziale Arbeitsteilung (1893), Die Regeln der soziologischen Methode (1895) und Der Selbstmord (1897). 1896 gründete er die Zeitschrift L'Année Sociologique[1], von der er 12 Jahrgänge herausgab und zu der eine Gruppe von Gleichgesinnten und Durkheims Schülern wesentlich beitrugen. 1902 nahm Durkheim eine Lehrtätigkeit an der Pariser Universität Sorbonne auf, wo er 1906 einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft erhielt, der 1913 in Erziehungswissenschaft und Soziologie umbenannt wurde. Bekannte Schüler Durkheims waren u. a. Marcel Mauss, der Neffe Durkheims, und Maurice Halbwachs. Die Schule um Durkheim und die Année Sociologique wird manchmal dafür verantwortlich gemacht, dass Forscher, die Durkheim nicht folgten, wie Gabriel Tarde und Arnold van Gennep unverdient in Vergessenheit gerieten. Auch nach seinem Tod wirkte Durkheim in Frankreich auf zahlreiche Denker, unter anderem auf die Gründer des Collège de Sociologie (Georges Bataille, Michel Leiris, Roger Caillois) sowie Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault und andere Denker aus dem Umfeld des französischen Strukturalismus. Auch Pierre Bourdieu greift wiederholt auf Durkheim zurück. In Großbritannien setzte sich insbesondere die dortige auch als Sozialanthropologie bekannte Strömung der Ethnologie intensiv mit Durkheim auseinander. Insbesondere die funktionalistischen Spielarten der britischen Sozialanthropologie bei Bronisław Malinowski und Alfred Radcliffe-Brown setzten sich mit Durkheims Werk auseinander. Im deutschsprachigen Raum, wo Durkheim lange Zeit weniger rezipiert wurde als die deutschsprachigen Klassiker der Soziologie wie Max Weber und Karl Marx, haben insbesondere René König – unter anderem durch Übersetzung einiger Werke Durkheims - und Alphons Silbermann (Mitte der 1970er Jahre in Bordeaux) auf Durkheims Bedeutung hingewiesen. Werk [ Bereits in seiner ersten auf Lateinisch verfassten und 1892 abgeschlossenen Dissertation befasst sich Durkheim mit einem Thema, das ihn sein ganzes Leben begleiten wird: In der Auseinandersetzung mit Montesquieu, der von Durkheim wegen der Entdeckung der Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens gelobt wird, wird nach den theoretischen und methodischen Grundlagen der Soziologie gesucht. Über soziale Arbeitsteilung (1893) In De la division du travail social (Über die Teilung der sozialen Arbeit, 1893) wird ein grundlegendes Modell von Gesellschaft entlang der folgenden Frage entworfen: Was prägt die moderne Industriegesellschaft, in der ich aufwachse – und was unterscheidet sie von anderen Gesellschaften? Seine auf den Punkt gebrachte Antwort: die Arbeitsteilung. Durch die Arbeitsteilung und die daraus resultierende Spezialisierung der Fähigkeiten sind die Individuen aufeinander angewiesen und ergänzen sich gegenseitig. Nach Durkheim unterscheiden sich Gesellschaftsstrukturen durch unterschiedliche Formen der Solidarität, wobei er grob in zwei Erscheinungsformen unterteilt: • mechanische Solidarität: Diese Form kennzeichnet vor allem ältere, weniger gegliederte Gesellschaften und wird von diesen durch Tradition, Sitten und – damit verbun- den – Sanktionen aufrechterhalten. Kennzeichen sind daher gemeinsame Anschauungen und Gefühle. So geartete Kollektive bezeichnet Durkheim als „segmentäre“ Gesellschaften. Das Rechtssystem in solchen Gesellschaften ist ein repressives; die Bestrafung erfolgt also aufgrund eines Verstoßes gegen das Kollektiv(-bewusstsein). • organische Solidarität: Während in vormodernen Gesellschaften die Strukturen leicht durch mechanische Solidarität aufrechterhalten werden konnten, bedarf es in neuerer Zeit einer differenzierteren Form des Zusammenhalts. Diese neue Form ist nach Durkheim die sogenannte organische Solidarität. Sie ersetzt den (in Zeiten des Wettbewerbs und steigender Bevölkerungsdichte schwierig bis unmöglich gewordenen) mechanischen Zusammenhalt durch neue, kontraktuelle Strukturen (→ Arbeitsteilung), in denen der Einzelne in verschiedener Weise eingebunden ist. Dies bedeutet jedoch ausdrücklich nicht das komplette Verschwinden gemeinsamer Anschauungen; diese treten lediglich weiter in den Hintergrund. Das Prinzip der „organischen Solidarität“ versteht Durkheim als Gegenposition zum Utilitarismus, namentlich desjenigen Herbert Spencers. So geartete moderne Kollektive bezeichnet Durkheim als „nicht-segmentäre“ Gesellschaften. Die Industriegesellschaft hat nach Durkheim eine differenzierte, hochentwickelte und komplexe Arbeitsteilung von solchen Ausmaßen, dass der Einzelne sie nicht mehr überblicken kann. Tatsächlich ist der Einzelne in dieser arbeitsteiligen Gesellschaft überaus abhängig, jedoch entwickelt er eine Ideologie, die genau das Gegenteil sagt – nämlich den Individualismus. Durkheim zeigte dieses Paradoxon der Industriegesellschaft erstmals auf. Andere, wenig oder nicht-industrialisierte Gesellschaften kennzeichnet eine viel einfachere und überschaubarere Arbeitsteilung. Die Regeln der soziologischen Methode (1895) Nachdem Durkheim mit seinem Buch zur Arbeitsteilung grundlegende Konzepte und Theorieelemente der Soziologie beschrieben hatte, wendet er sich wieder methodischen Fragen zu, die bereits in seiner Dissertation von 1892 angeklungen waren. Er ging in seinem Werk: Die Regeln der soziologischen Methode davon aus, dass „soziale Fakten als Dinge (zu) behandeln“ sind, d. h. der soziale Tatbestand stellt für ihn die Grundlage aller soziologischen Analyse dar und ist keine bloße „Nebenerscheinung“ von menschlichem Zusammenleben, sondern als Struktur mit eigenem Stellenwert zu betrachten. Eine soziale Struktur erklärt sich also für Durkheim nicht aus der Summe der Vorstellungen der beteiligten Akteure und existiert unabhängig von denen, die sie erschaffen haben (Emergenzphänomen). Sie wirkt als „Gesellschaft“ von oben auf die Menschen ein und kann von der Soziologie als solche aufgedeckt und durch funktionale (=Wirkung) und historische (=Entstehung) Analyse erklärt werden. Nach Durkheim sind beide Aspekte unbedingt zu beachten. Die moderne Schichtung der Gesellschaft kann also zum Beispiel nicht lediglich dadurch erklärt werden, dass Berufspositionen mit verschiedenen Entlohnungen versehen werden, um sie attraktiver zu machen, weil dabei nur die Wirkung betrachtet würde. Durkheim gibt drei Kriterien für soziale Strukturen („Gesellschaft“) an: 1. Allgemeinheit: Die Regeln der geltenden Struktur gelten für alle Individuen, die in ihr interagieren. 2. Äußerlichkeit: Die Struktur wird als unabhängig von der eigenen Person empfunden und kann nicht als Summe der individuellen Vorstellungen der in ihr handelnden Akteure begriffen werden. 3. Zwang: Es ist dem Einzelnen nicht möglich, der sozialen Struktur entgegen zu wirken, da er dieser quasi unterworfen ist. Nichtbeachtung der gesellschaftlichen Regeln zieht mehr oder minder schwere Sanktionen nach sich. Die Determination des Handelns kann auch ohne Wissen der handelnden Personen geschehen, d. h. die Akteure müssen sich der gesellschaftlichen Regeln nicht unbedingt bewusst sein und befolgen diese mitunter intuitiv. Das kollektive Gewissen oder auch kollektive Bewusstsein („conscience collective“) der Gesellschaft, in der man geboren wurde, wird durch Erziehung in den Einzelnen hineingetragen und schlägt sich in dessen Moralvorstellungen, Sitten und Glauben nieder. Nach Durkheim ist der kollektive Zwang selbst in abweichendem, also regelwidrigen Verhalten erkennbar. Erst wenn diese Abweichung in der Gesellschaft zur Regel wird, das kollektive Gewissen also nicht mehr in der Lage ist, für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen, spricht man von „Anomie“. Dies bedeutet, dass die Gesellschaft vom „Normalen“ zum „Pathologischen“ geworden ist. Im sechsten Kapitel („Regeln der Beweisführung“) bestimmt Durkheim die vergleichende Methode als „die einzige, welche der Soziologie entspricht.“ (1991, S. 205), vgl. Vergleich (Philosophie). Im ersten Abschnitt (I) setzt sich Durkheim kritisch mit Comte und John Stuart Mill auseinander. Im zweiten Abschnitt (II) untersucht Durkheim vier verschiedene Verfahren der vergleichenden Methode: 1. 2. 3. 4. Methode der Residuen Methode der Konkordanz Methode der Differenz Methode der parallelen (konkomitanten) Variationen. Die ersten drei Verfahren eignen sich Durkheim zufolge nicht für die Untersuchung sozialer Phänomene, da solche Phänomene zu komplex sind. Dagegen hält Durkheim das Verfahren der parallelen Variationen für ein „ausgezeichnete[s] Instrument der soziologischen Forschung“ (1991, S. 211). Im dritten und letzten Abschnitt (III) behandelt Durkheim den Vergleich mehrerer Gesellschaften. Der Selbstmord (1897) Das vielleicht bekannteste Werk Durkheims ist Le suicide (Der Selbstmord bzw. Die Selbsttötung, 1897), in dem er verschiedene gängige Hypothesen zu den zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen abweichenden Suizidraten untersucht. Er macht sich dabei große Mengen von empirischen Daten aus den unterschiedlichsten Quellen zu Nutze und untersucht Korrelationen mit Parametern von der Konfession über den Berufs- und Vermögensstand der Betroffenen bis hin zum Wetter, zur Jahreszeit und zur Wirtschaftssituation des Landes. In diesem Werk entwickelt er auch den Begriff der Anomie, die er als Situation definiert, in der Verwirrung über soziale und/oder moralische Normen herrscht, diese unklar oder nicht vorhanden sind. Dies führt nach Durkheim zu abweichendem Verhalten. Der Wert des Werkes liegt weniger in seinen thematischen Erkenntnissen als in den neu gestifteten Begriffen, vor allem aber in der endgültigen Fundierung der soziologischen Arbeitsweise als Zusammenspiel von empirischer Sozialforschung und geisteswissenschaftlicher Theoriebildung. Durkheim nennt in diesem Zusammenhang drei Grundtypen (Idealtyp) des Suizids: den egoistischen, den anomischen, den altruistischen Selbstmord. Nur in einer Fußnote erwähnt Durkheim einen 4. Typ, den fatalistischen Selbstmord. Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912) Die 1912 erschienenen Les formes élémentaires de la vie religieuse (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) befassen sich mit der Frage nach dem Wesen der Religion. Mit diesem Werk bildet Durkheim die Grundlage für eine funktionalistische Betrachtung der Religion, indem er als ihr wesentliches Kernelement ihre Funktion zur Stiftung gesellschaftlichen Zusammenhalts und gesellschaftlicher Identität ausmacht. In Anschluss an Durkheim wird von einzelnen Vertretern der Religionssoziologie all das als Religion interpretiert, was in verschiedenen Gesellschaften eben derartige Funktionen erfüllt. Demgegenüber steht ein substantialer Religionsbegriff, der Religion an bestimmten inhaltlichen Merkmalen (Vorstellungen von Transzendenz, Ausbildung von Priesterrollen etc.) festmacht. Niklas Luhmann Niklas Luhmann (* 8. Dezember 1927 in Lüneburg; † 6. November 1998 in Oerlinghausen) war ein deutscher Soziologe, Philosoph, Jurist, Verwaltungsbeamter und Gesellschaftstheoretiker. Als einer der Begründer der soziologischen Systemtheorie gilt Luhmann als transdisziplinärer Sozialwissenschaftler. Seine zahlreichen Publikationen thematisieren philosophische, linguistische, literatur- und medienwissenschaftliche, juristische, ökonomische, biologische, theologische und pädagogische Probleme Leben Luhmann wurde 1927 in die Familie eines Brauereibesitzers in Lüneburg geboren und besuchte das heute noch bestehende Johanneum. Im Alter von 15 Jahren wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen und war bis September 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, zu der er in einem Interview einmal sagte: „[…] die Behandlung war – gelinde gesagt – nicht nach den Regeln der internationalen Konventionen.[1]“ Wie erst 2007 bekannt wurde, war Niklas Luhmann zwar als Mitglied der NSDAP verzeichnet, jedoch berichtete der Spiegel[2]: „Unterschriebene Aufnahmeanträge liegen in keinem Fall vor“[3], sodass es möglich ist, dass Luhmann und andere Betroffene seiner Generation der damals 16- oder 17-Jährigen von ihrer Mitgliedschaft nichts gewusst hatten. Luhmann studierte von 1946 bis 1949 Rechtswissenschaft in Freiburg im Breisgau. Es folgte bis 1953 eine Referendarausbildung in Lüneburg. 1954–1962 war er Verwaltungsbeamter in Lüneburg, 1954–1955 am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Assistent des Präsidenten. In dieser Zeit begann er auch mit dem Aufbau seiner Zettelkästen. 1960 heiratete er Ursula von Walter. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Seine Ehefrau verstarb 1977. 1960/1961 erhielt Luhmann ein Fortbildungs-Stipendium für die Harvard-Universität, das er nach erteilter Beurlaubung wahrnehmen konnte. Dort kam er in Kontakt mit Talcott Parsons und dessen strukturfunktionaler Systemtheorie. Nach seiner Tätigkeit als Referent an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer von 1962 bis 1965 und seiner Tätigkeit als Abteilungsleiter an der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund von 1965 bis 1968 (1965/66 daneben ein Semester Studium der Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster) promovierte er dort 1966 zum Dr. sc. pol. (Doktor der Sozialwissenschaften) mit dem bereits 1964 erschienenen Buch Funktionen und Folgen formaler Organisation und habilitierte sich fünf Monate später bei Dieter Claessens und Helmut Schelsky mit Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung. Eine verwaltungswissenschaftliche Untersuchung. 1968 bis 1993 lehrte er dann als Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. 1989 wurde er mit dem Hegel-Preis der Stadt Stuttgart ausgezeichnet, 1997 mit dem Premio Amalfi. Niklas Luhmann wohnte mehrere Jahrzehnte in Oerlinghausen bei Bielefeld, wo er 1998 starb. Zwei Jahre nach seinem Tod wurde im Jahre 2000 das vorherige „Städtische Gymnasium Oerlinghausen“ in „Niklas-Luhmann-Gymnasium“ umbenannt. Seit 2004 verleiht die Stiftung der Sparkasse Bielefeld alle zwei Jahre im Gedächtnis an Niklas Luhmann den mit 25.000 Euro dotierten Bielefelder Wissenschaftspreis. Die Geburtsstadt Niklas Luhmanns, die Hansestadt Lüneburg, hat ihm zu Ehren 2008 einer Straße in einem Neubaugebiet im Westen der Stadt seinen Namen verliehen.[4] Die Universität Bielefeld hat 2011 den Nachlass von Luhmann erworben und wird ein Luhmann-Archiv errichten.[5][6] Vorausgegangen war ein jahrelanger Rechtsstreit unter den drei Kindern des Soziologen. Wichtigster Teil des Nachlasses ist der sogenannte Zettelkasten, die Grundlage des umfangreichen Werkes.[7] Charakterisierung des Werks Luhmanns Systemtheorie versteht Gesellschaft nicht als eine Ansammlung von Menschen mit Blutkreisläufen und sonstigen, nicht-sozialen Systemen, sondern als einen operativ geschlossenen Prozess sozialer Kommunikation. Siehe auch den Hauptartikel Systemtheorie (Luhmann) Die Systemtheorie thematisiert selbstreferenzielle soziale Operationen (Kommunikation). Selbstreferenziell soll heißen, dass sich Systeme nur auf ihre internen Operationen beziehen und trotzdem kognitiv offen sind. Die Leitdifferenzen von gesellschaftlichen Funktionssystemen bezeichnet Luhmann als Codes (im Beispiel „Recht/Unrecht“ für das Rechtssystem). Die meisten Funktionssysteme orientieren sich an symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, die Wirtschaft etwa an Geld. Luhmanns Systemtheorie basiert auf der Gleichsetzung von Gesellschaft mit Kommunikation. Er behandelt Evolution von Kommunikation – von Oralität (mündlicher Kommunikation) über Schrift bis hin zu elektronischen Medien – und parallel auf der Evolution von Gesellschaft durch funktionale Ausdifferenzierung (siehe auch soziale Differenzierung). Daraus ergeben sich drei Stränge: 1. Systemtheorie als Gesellschaftstheorie, 2. Theorie der Interaktion (face-to-face-Kommunikation) und 3. Evolutionstheorie, die sich durch sein gesamtes Werk ziehen.[8] Seit den 1980er Jahren bezieht sich Luhmann grundlegend auf die Differenzlogik der Laws of Form des britischen Mathematikers George Spencer-Brown. Schriften Grundlegende funktionssystemübergreifende Hauptwerke • • Soziale Systeme (1984), ISBN 3-518-28266-2 Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997), ISBN 3-518-58240-2 o Rezension: Hauke Brunkhorst in Die Zeit, 13. Juni 1997. Monographien-Reihe über einzelne Funktionssysteme • • • • • • • • • Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988), ISBN 3-518-28752-4 Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990), ISBN 3-518-28601-3 Das Recht der Gesellschaft (1993), ISBN 3-518-28783-4 Die Realität der Massenmedien (1996), ISBN 3-531-12841-8 Die Kunst der Gesellschaft (1997), ISBN 3-518-28903-9 Die Politik der Gesellschaft (2000), ISBN 3-518-29182-3 Die Religion der Gesellschaft (2000), ISBN 3-518-29181-5 Das Erziehungssystem der Gesellschaft (2002), ISBN 3-518-29193-9 Die Moral der Gesellschaft (zusammen mit Detlef Horster, 2008), ISBN 978-3-51829471-0 Einführend • • • Einführung in die Systemtheorie (2002), ISBN 3-89670-292-0 Einführung in die Theorie der Gesellschaft (2005), ISBN 3-89670-477-X mit Raffaele De Giorgi Teoria della società (1992), ISBN 88-204-7299-6 Pierre Bourdieu • Pierre Félix Bourdieu (* 1. August 1930 in Denguin, Département PyrénéesAtlantiques; † 23. Januar 2002 in Paris) war ein französischer Soziologe Familie und Ausbildung Pierre Bourdieu stammte aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater Albert Bourdieu war Landwirt und später Postangestellter, seine Mutter, Noémie Bourdieu, geborene Duhau, Hausfrau. Bourdieu besuchte zunächst mit großem Erfolg das Lycée de Pau in seiner Heimatstadt und wechselte 1948 an das angesehene Lycée Louis-le-Grand in Paris. Danach studierte er im Hauptfach Philosophie an der Elitehochschule École Normale Supérieure (ENS) und erreichte 1954 die Agrégation. Während seines Studiums hörte er unter anderem Logik und Wissenschaftsgeschichte bei Gaston Bachelard und Georges Canguilhem, befasste sich mit Hegel und schrieb eine Abhandlung über Leibniz – dies alles vor dem Hintergrund der großen zeitgenössischen Bedeutung des Existentialismus in der französischen Philosophie. Militärdienst und Feldforschung in Algerien, Lehrtätigkeit und erste Veröffentlichungen Bourdieu begann mit einer Promotion an der ENS (1957 abgebrochen, um sich der soziologischen Feldforschung zu widmen) und nahm für ein Jahr eine Stelle als Gymnasiallehrer in der Auvergne an. 1955 zum Militärdienst eingezogen, wurde er für kurze Zeit in Versailles stationiert, aus disziplinarischen Gründen jedoch schnell im Algerienkrieg eingesetzt. Im Anschluss an seinen Militärdienst führte er von 1958 bis 1960 in der Kabylei im nördlichen Algerien Feldforschungen zur Kultur der Berber durch und unterrichtete in der philosophischen Abteilung der Universität von Algier. Bereits 1958 erschien seine erste Veröffentlichung über Algerien. Von 1960 bis 1961 war Bourdieu Assistent Raymond Arons an der philosophischen Fakultät der Sorbonne. Anschließend unterrichtete er bis 1964 Soziologie als Dozent an der Universität Lille. Er beschäftigte sich unter anderem mit Émile Durkheim, Max Weber und Alfred Schütz, mit amerikanischen Soziologen, der britischen Anthropologie sowie mit dem Linguisten Ferdinand de Saussure. Gleichzeitig betrieb er Studien der arabischen und berberischen Sprache, die er bereits in Algerien begonnen hatte. Bis 1964 verbrachte Bourdieu seine unterrichtsfreie Zeit jeweils in Algerien, um seine ethnologischen Feldstudien fortzusetzen. In der Zeit zwischen 1958 und 1964 entstanden rund 3000 Fotos über den Krieg und das Alltagsleben in Algerien, insbesondere in Algier, von denen nur noch ein Teil vorhanden ist. Erst kurz vor seinem Tod wurden die Fotodokumente veröffentlicht, einzelne Fotos hatten zuvor als Buchtitel gedient. In Hamburg wurde 2006 eine Ausstellung von Fotoarbeiten Bourdieus gezeigt. 1963 publizierte er gemeinsam mit Alain Darbel, Jean-Paul Revet und Claude Seibel Abhandlungen über die Entstehung der Lohnarbeit und eines städtischen Proletariats in Algier. 1964 erschien eine Arbeit über die Krise der traditionellen Landwirtschaft, die Zerstörung der Gesellschaft sowie die Umsiedlungsaktionen durch die französische Armee, die er gemeinsam mit Abdelmalek Sayad verfasst hatte. Auch andere Werke Bourdieus beziehen sich teilweise auf seine ethnologischen und soziologischen Forschungsergebnisse in Algerien, insbesondere seine Veröffentlichungen zur Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft im Jahr 1972 und Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft aus dem Jahr 1980, ebenso seine späte Arbeit Die männliche Herrschaft von 1998. École des Hautes Études en Sciences Sociales Bourdieu wechselte 1964 an die École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS). Mit dem Soziologen Jean-Claude Passeron verband ihn eine lange Zusammenarbeit. Sie publizierten im selben Jahr gemeinsam das Werk Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, das große Aufmerksamkeit in der Fachöffentlichkeit erregte und Bourdieu als Soziologen bekannt machte. 1968 gründete er an der EHESS mit Hilfe Raymond Arons, der dafür eine Förderung durch die Ford Foundation erhielt, das Centre de sociologie européenne (CSE). Von 1962 bis 1983 war Bourdieu mit Marie-Claire Brizard verheiratet. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor: Jérôme Bourdieu, Emmanuel Bourdieu und Laurent Bourdieu. Collège de France Seit 1981 hatte Bourdieu einen Lehrstuhl für Soziologie am Collège de France inne, eine der höchsten Positionen im französischen Universitätssystem. 1985 wurde er Direktor des CSE am Collège de France und der EHESS in Paris. Im selben Jahr bat ihn Staatspräsident François Mitterrand, Vorschläge zur Reform des französischen Bildungswesens auszuarbeiten. Bourdieu war auch, vor allem in späteren Jahren, ein politischer Intellektueller: Bekannt geworden ist seine Solidarisierung mit streikenden Bahnarbeitern auf einer Betriebsversammlung im Gare de Lyon am 13. Dezember 1995. Im Jahre 1998 unterstützte er die Arbeitslosenbewegung in Frankreich, war Mitbegründer der globalisierungskritischen Bewegung attac und trat im Mai 2000 für eine Vernetzung der sozialen Bewegungen in Europa gegen den Neoliberalismus ein. Die Tendenz zu politischen Stellungnahmen ist jedoch keine Spätentwicklung, sondern äußert sich bereits in seinen frühen Schriften zu Algerien. Obwohl ins Zentrum der akademischen Macht in Frankreich, dem Collège de France, vorgedrungen, blieb er, aus einfachsten Verhältnissen stammend, Zeit seines Lebens dem Gebaren und den Gepflogenheiten dieser Institution gegenüber innerlich distanziert. Seine kritischironische Antrittsvorlesung Leçon sur la leçon und die großangelegte Studie Homo academicus zeugen davon. Forschung Bourdieus soziologische Forschungen, zumeist im Alltagsleben verwurzelt, waren vorwiegend empirisch orientiert und können der Kultursoziologie zugeordnet werden. Anknüpfend an den Strukturalismus versuchte Bourdieu, subjektive Faktoren mit objektiven Gegebenheiten zu verbinden. Wissenschaftstheoretisch vertrat er unter anderem die Aufhebung des Dualismus von Subjektivismus und Objektivismus, zwischen Idealismus und Materialismus. Auch zum mittelalterlichen Universalienstreit nahm Bourdieu eine vermittelnde Position zwischen Nominalismus und Realismus ein. Bourdieu entwickelte seine theoretischen Begriffe unter Einbeziehung der Erfahrungen von Individuen. Er verwendete Leitbegriffe wie Habitus, sozialer Raum, soziales Feld, Kapital und Klasse. Alle diese in der Soziologie und Ökonomie verwendeten Begriffe entwickelte er so weiter, dass sie in der Zusammenschau eine neue empirisch begründete soziologische Theorie ergeben, die in den heutigen soziologischen Diskursen von großer Bedeutung ist und häufig als „Theorie der Praxis“ bezeichnet wird. Mit seinem Konzept einer praxeologischen Erkenntnisweise, das er aus seiner Kritik an der theoretischen Vernunft – den Erkenntnismöglichkeiten eines rein theoretisch arbeitenden Wissenschaftlers – formulierte, wollte er objektive Erkenntnis nicht negieren, sondern überschreiten. Die Kulturtheorie Bourdieus vergleicht Interaktionen des Alltagslebens mit einem Spiel. Die Individuen besitzen unterschiedlich viele Potentiale verschiedener Art, die sie einsetzen und teilweise umwandeln können: ökonomisches Kapital, soziales Kapital, symbolisches Kapital und kulturelles Kapital. Dabei gilt: Und jeder spielt entsprechend der Höhe seiner Chips. So kann der Erwerb kulturellen Kapitals beispielsweise zur Erhöhung des ökonomischen Kapitals dienen. Das soziale Feld differenziert er weiter und unterscheidet das politische und das literarische Feld. Die jeweiligen Felder sind mit einem bestimmten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema – also einem Habitus – verknüpft, worüber Individuen wiederum auf soziale Felder zurückwirken. Bourdieu vertritt somit weder einen Strukturdeterminismus noch einen individualistischen Ansatz. Schon in seinen frühen Schriften legte Bourdieu eine Theorie der symbolischen Formen und der symbolischen Gewalt vor, die er in seinen weiteren Studien verfeinerte. In seinem Hauptwerk Die feinen Unterschiede prägte Bourdieu den Begriff Distinktionsgewinn für die erfolgreiche Durchsetzung eines neuen vorherrschenden Geschmacks und Lebensstils als Mittel im Kampf um gesellschaftliche Positionen. Diese Kulturkämpfe zwischen den gesellschaftlichen Klassen finden in einem sogenannten Raum der Lebensstile statt. Dabei reproduzieren sich die hegemonialen Klassen in der Regel an die jeweiligen neuen Bedingungen angepasst. Nach Bourdieu gibt es für die menschliche Freiheit vielfältige Begrenzungen, unter anderem durch unbewusste verinnerlichte Faktoren, Illusionen, durch sozioökonomische Strukturen, historische Gegebenheiten, Geschlecht, Nationalität und Weltanschauung. Jedoch hat jeder Mensch innerhalb seiner Grenzen einen individuellen Handlungsspielraum, der umso größer ist, je komplexer die Gesellschaft organisiert ist. Nur vor diesem beschränkten Hintergrund gibt es sozialen Wandel und Innovation. Wissenschaftliche Vorläufer Bourdieus waren insbesondere Émile Durkheim, Max Weber und Karl Marx. Seine Sozial-Epistemologie ist von Émile Durkheim beeinflusst. Bourdieu verwendet wie dieser den Begriff der sozialen Tatsache und teilt die Grundeinsicht in die Bedeutung der Kultur- und Sozialanthropologie für die Soziologie. Mit Weber verband ihn der Ungleichheitsdiskurs, der sich an der subjektiv ausgerichteten Begriffstrias Klasse, Stand und Partei orientiert. Von Marx übernahm er Teile der objektiv ausgerichteten Konzepte Klasse, Klassenkampf und Kapital, die er über die ökonomischen Aspekte hinaus sehr stark erweiterte. Friedrich Nietzsches Zur Genealogie der Moral stand bei Bourdieus Diskussion des Verhältnisses zwischen dem Adel und den einfachen Leuten Pate. Sein wissenschaftliches Gesamtwerk zeichnet sich durch hohe Komplexität aus, da er nicht nur verschiedene Wissenschaftssysteme, sondern gleichzeitig eine Vielzahl von neu konnotierten Begrifflichkeiten miteinander verbindet. Bekannt war Bourdieu zudem als politisch engagierter Intellektueller, der sich gegen die herrschende Elite wandte. Die Aufgabe der neuen sozialen Bewegungen umschrieb er mit dem Begriff der ökonomischen Alphabetisierung. Politisch setzte er sich für Formen direkter Demokratie ein. Bei seinen Forschungsprojekten setzte Bourdieu qualitative und quantitative Methoden der empirischen Sozialforschung ein. In dem Werk Das Elend der Welt arbeitete er vor allem mit qualitativen Interviews. Um eine Feldanalyse durchzuführen, verwendete er oft das mathematische Verfahren der Korrespondenzanalyse, bei der kategoriale Variablen in einem zweioder mehrdimensionalen Raum verortet werden. Mittels des von Jean-Paul Benzécri entwickelten und in der französischen Statistik verbreiteten Verfahrens rekonstruierte er „soziale Felder“ und die ihnen zugrundeliegenden Dimensionen. In seinem späteren Werk homo academicus, aber auch in Die feinen Unterschiede ist dies ein von ihm häufig verwendetes Verfahren. Er setzte als Bezugspunkte auch die Ergebnisse seiner Feldforschung bei den Berbern ein, beispielsweise in seinem Spätwerk Die männliche Herrschaft. Einige Ergebnisse von Bourdieus empirischen Arbeiten: • Er zeigte, dass in Frankreich trotz der formalen Wahlfreiheit in Fragen des ästhetischen Geschmacks künstlerische Präferenzen – wie zum Beispiel klassische Musik, Rock und Chanson – stark mit der („kulturellen“) Klassenzugehörigkeit korrelieren. • • • Er wies – alltägliche Beobachtungen einbringend – nach, dass Feinheiten der Sprache wie Akzent, Grammatik, Aussprache und Stil einen wesentlichen Faktor in der sozialen Mobilität darstellen, beispielsweise beim Erreichen eines besser bezahlten und höherbewerteten Berufs. Die von Bildungspolitik und Arbeitslosigkeit ausgelöste Bildungsdynamik bezeichnete er als „Inflation der Bildungsabschlüsse“ oder „Bildungsexpansion“. Die Schulabschlüsse verlieren dadurch an Wert, und auch die Absolventen aus niedrigeren Schichten haben schlechte Möglichkeiten, ihr durch Schulbildung erworbenes kulturelles Kapital angemessen umzusetzen (vgl. Bildungsparadox). Durch die zunehmende neoliberale Globalisierung sind nach Bourdieu atypische Arbeitsverhältnisse zur Regel geworden. Diese Prekarisierung trifft nicht nur marginalisierte Gesellschaftsgruppen, sondern zunehmend auch solche mit noch gesichertem Einkommen. Das organisierte Gegeneinander der Lohnabhängigen ist Bestandteil der neoliberalen Hegemonie. Die „strukturelle Gewalt“ der Konkurrenz soll aufgegeben werden zu Gunsten eines Erkennens der gemeinsamen Interessen. An Bourdieu orientierte Forschung in Deutschland Mit Hilfe der Methoden und Begriffe, die Bourdieu in seinem Hauptwerk Die feinen Unterschiede verwendete, haben der Politologe Michael Vester und andere Forscher von der Universität Hannover 1992 eine sowohl qualitative wie auch quantitative Untersuchung in westlichen Bundesländern durchgeführt, die die Klassen weiter in soziale Milieus gliedert und diese charakterisiert. Es handelt sich um die Erforschung sozialer Gruppen, die erstmals 1993 unter dem Titel Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung veröffentlicht wurde. 1995 erschien das von Michael Vester und anderen herausgegebene ergänzende Werk Soziale Milieus in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Strukturen zwischen Zerfall und Neubildung. Eine Fortschreibung dieser Studien stellt die überarbeitete Neuauflage Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung aus dem Jahr 2001 dar (→ Literatur). Einen anderen Ansatz verfolgte eine Gruppe von dreißig Forschern, die von 2002 bis 2004, koordiniert von der Universität Genf, fünfzig qualitative Interviews mit Menschen verschiedener Tätigkeitsfelder und Arbeitslosen auf der Grundlage der Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu durchführte. Die Ergebnisse der Studie, die sich an Bourdieus Forschungsergebnisse, publiziert in Das Elend der Welt, anschließen, zeigen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Entwicklung in Frankreich und Deutschland. Das von Franz Schultheis und Kristina Schulz 2005 herausgegebene Werk Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag zeigt, dass die meisten Probleme in den ostdeutschen Bundesländern bestehen, aber auch im Westen die relative Sicherheit der Sozialen Marktwirtschaft immer mehr zugunsten ungleicher Verteilung von Arbeit und Gütern in den Hintergrund tritt und das Selbstbewusstsein durch mangelnde Anerkennung und Respekt erschüttert wird. Ergebnis sind prekäre Arbeitsverhältnisse und eine verstärkte Verwundbarkeit der Menschen, die durch Individualisierung im Sinne so genannter Selbstverantwortung an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, durch weniger Einkommen und schlechtere Arbeitsbedingungen sowie physischen und psychischen Stress ihre Beheimatung nach und nach verlieren. Der Althistoriker an der Universität Rostock Egon Flaig bedient sich in seiner fächerübergreifenden Forschung der Methoden Bourdieus und betont seine Distanz zum überkommenen Instrumentarium der Alten Geschichte. Werke Hauptwerk [Bearbeiten] • La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979 o deutsch: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1982 ISBN 351828-258-1. Beruht auf empirischen Untersuchungen in Frankreich in den 1960er Jahren. Karl Heinrich Marx (* 5. Mai 1818 in Trier; † 14. März 1883 in London) war deutscher Philosoph, Gesellschaftstheoretiker, politischer Journalist, Protagonist der Arbeiterbewegung, Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, der deutschen idealistischen Philosophie und der politischen Ökonomie. Er strebte eine wissenschaftliche Analyse und Kritik des Kapitalismus an und gilt als einflussreichster Theoretiker des Sozialismus und Kommunismus. Seine Theorien werden bis heute kontrovers diskutiert. 1867: Karl Marx in Hannover, Foto von Friedrich Karl Wunder Karl Heinrich Marx (* 5. Mai 1818 in Trier; † 14. März 1883 in London) Jugend und politische Anfänge (1818–1843) Karl Marx wurde 1818 als drittes Kind des Anwaltes Heinrich (Heschel) Marx (* 1777; † 1838) und Henriette Marx (* 1788; † 1863; geborene Presburg) in Trier geboren.[3] Heinrich Marx stammte aus einer bedeutenden Rabbinerfamilie (ursprünglich Marx Levi)[4]. 1816 (oder 1817) konvertierte der Vater zum Protestantismus, da er als Jude unter der preußischen Obrigkeit sein unter napoleonischer Regierung angetretenes Amt als Justizrat nicht hätte weiterführen dürfen. 1824 wurden die Kinder, auch Karl, konvertiert. Von 1830 bis 1835 besuchte Karl Marx das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Trier, wo er zusammen mit seinem Freund und späteren Schwager Edgar Freiherr von Westphalen mit 17 Jahren das Abitur mit einem Durchschnitt von 2, 4[5] ablegte. 1836 verlobte er sich in Trier mit Edgars Schwester Jenny von Westphalen (1814–1881). 1835 ging er zum Jurastudium nach Bonn, wo er der „Landsmannschaft der Treveraner“ (Trierer) beitrat. In Bonn besuchte der juristische Vorlesungen bei Ferdinand Walter, Eduard Puggé und Vorlesungen bei Friedrich Gottlieb Welcker und August Wilhelm Schlegel. Ein Jahr später an die Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität) nach Berlin und besuchte juristische Vorlesungen bei Eduard Gans, Friedrich Carl von Savigny und anderen, aber er ließ das Jura-Studium gegenüber Philosophie und Geschichte in den Hintergrund treten. Hier stieß Marx zum Kreis der Jung- oder Linkshegelianer, deren bedeutendste Vertreter die Brüder Bruno Bauer und Edgar Bauer waren. Freundschaft knüpfte er mit Karl Friedrich Köppen und mit Adolf Rutenberg. Hegel, der 1831 starb, hatte zu seiner Zeit einen starken Einfluss auf das geistige Leben in Deutschland. Das Hegelianische Establishment (auch bekannt als „Alt- oder Rechtshegelianer“) meinte, dass im preußischen Staat die Serie der dialektischen Entwicklungen ein Ende gefunden habe: eine effiziente Bürokratie, gute Universitäten, Industrialisierung und ein hoher Beschäftigungsgrad. Die Linkshegelianer, zu denen Marx gehörte, erwarteten weitere dialektische Änderungen, eine Weiterentwicklung der preußischen Gesellschaft, die sich mit Problemen wie Armut, staatlicher Zensur und der Diskriminierung der Menschen, die sich nicht zum lutherischen Glauben bekannten, zu befassen hatte. 1841 wurde Marx in absentia an der Universität Jena mit einer Arbeit zur Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie[6] zum Doktor der Philosophie promoviert. Auf eine Professur rechnend zog Marx hierauf nach Bonn; doch verwehrte die Politik der preußischen Regierung ihm – wie Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer u. a. – die akademische Laufbahn, galt Marx doch als ein führender Kopf der oppositionellen Linkshegelianer. Um diese Zeit gründeten liberale Bürger in Köln die „Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe“ als gemeinsames Organ der verschiedenen oppositionellen Strömungen von monarchistischen Liberalen bis zu radikalen Demokraten; Marx wurde ein Hauptmitarbeiter des Blattes, das am 1. Januar 1842 erstmals erschien. Im Oktober 1842 übernahm Marx die Leitung der Zeitung, welche von da an einen radikal oppositionellen Standpunkt vertrat. Marx, Arnold Ruge und Georg Herwegh gerieten zu dieser Zeit in einen politischen Dissens zu dem Kreis um ihren Berliner Korrespondenten Bruno Bauer, dem sie vorwarfen, das Blatt für „theologische Propaganda und Atheismus usw. statt für politische Diskussion und Aktion“[7] einsetzen zu wollen. Als Friedrich Engels, der als ein Freund und Parteigänger der Berliner Linkshegelianer galt, am 16. November 1842 die Kölner Redaktion besuchte und erstmals mit Marx zusammentraf verlief die Begegnung daher relativ kühl.[8] Auf Grund der Karlsbader Beschlüsse unterlag das gesamte Pressewesen der Zensur, die hinsichtlich der Rheinischen Zeitung besonders streng war. Die preußische Obrigkeit schickte zunächst einen Spezialzensor aus Berlin und, als dies nicht half, musste jede Ausgabe in zweiter Instanz dem Kölner Regierungspräsidenten vorgelegt werden. Weil Marx’ Redaktion auch diese doppelte Zensur regelmäßig unterlief, wurde schließlich das Erscheinen der Zeitung zum 1. April 1843 untersagt. Marx trat am 17. März als Mitarbeiter und Redakteur zurück, weil die Eigentümer hofften, durch Änderung der Linie des Blattes bei der Zensurbehörde eine Aufhebung des Verbotes erreichen zu können.[9] Übergang zum Kommunismus (1843–1849) [ Ebenfalls 1843 heiratete Marx seine vier Jahre ältere Verlobte Jenny von Westphalen in der Kreuznacher Pauluskirche. Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor, von denen nur die drei Töchter Jenny, Laura und Eleanor überlebten. Im Herbst des gleichen Jahres ging Marx nach Paris und begann dort, zusammen mit Arnold Ruge, die Deutsch-Französischen Jahrbücher herauszugeben. Während dieser Arbeit begann auch der briefliche Kontakt mit Friedrich Engels, der zwei Artikel beigetragen hatte.[10] Von der Zeitschrift erschien allerdings nur die erste Ausgabe und diese auch nur in deutscher Sprache, weil die katholisch geprägten französischen Sozialisten und Kommunisten mit den deutschen Atheisten unter Marx nicht zusammenarbeiten wollten. Die Fortsetzung scheiterte teils an den Schwierigkeiten einer heimlichen Verbreitung in Deutschland, teils an den bald zutage tretenden prinzipiellen Differenzen zwischen den beiden Redakteuren. Ruge blieb der Hegelschen Philosophie und der bürgerlichen Demokratie verpflichtet; Marx begann, sich mit politischer Ökonomie zu beschäftigen und durch Kritik an den französischen Sozialisten einen eigenständigen kommunistischen Standpunkt zu entwickeln. Ende 1843 lernte Marx in Paris den Dichter Heinrich Heine kennen. Zeitlebens blieben sie freundschaftlich verbunden. Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844 sind Marx’ erster Entwurf eines ökonomischen Systems, der zugleich die philosophische Inspiration deutlich macht. Marx entwickelt dort erstmals ausführlich seine an Hegel angelehnte Theorie der „entfremdeten Arbeit“. Allerdings beendete Marx diese so genannten „Pariser Manuskripte“ nicht, sondern verfasste kurz darauf auf dem Höhepunkt der zeitgenössischen Diskussion um den Junghegelianismus zusammen mit Friedrich Engels das Werk Die heilige Familie. Über die gemeinsame Arbeit an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern hatte sich mit Engels – der ihn im September 1844 auch einige Tage besuchte – ein reger Briefwechsel entwickelt, der schließlich zu einer lebenslangen Freundschaft sowie einer engen politischen und publizistischen Zusammenarbeit führte. Deren erstes Ergebnis war die im März 1845 veröffentlichte Schrift Die heilige Familie, die sich als Streitschrift „gegen B.[runo] Bauer und Konsorten“ verstand, zu der Engels allerdings nur zehn Seiten beigetragen hat. Marx polemisiert hier gegen die Berliner Junghegelianer um seinen ehemaligen Mentor Bruno Bauer; einen wichtigen Angehörigen dieser Gruppe erwähnt er zunächst aber nicht: Max Stirner, dessen Buch Der Einzige und sein Eigentum im Oktober 1844 erschienen war und von Engels in einem Brief an Marx (19. Nov.) zunächst vorwiegend positiv eingeschätzt wurde. Marx sah Stirners Buch kritischer als Engels und überzeugte diesen in einer Antwort auf den genannten Brief von seiner Auffassung. Gleichwohl schien er sich Stirners Kritik an Feuerbach partiell zu eigen zu machen und verfasste im Frühjahr 1845 seine berühmten, aber erst postum veröffentlichten Thesen über Feuerbach. Erst im Herbst 1845, nachdem Marx die Verteidigung Feuerbachs gegen die Kritik Stirners an ihm sowie Stirners Replik darauf gese- hen hatte, entschloss er sich, selbst eine Kritik Stirners zu verfassen, das Kapitel „Sankt Max“ in der 1845–1846 gemeinsam verfassten Streitschrift Die deutsche Ideologie, das aber erst nach Marx’ Tod veröffentlicht wurde. Im ersten, der Kritik des junghegelianischen Religionskritikers Ludwig Feuerbach gewidmeten Kapitel der Deutschen Ideologie entwickeln Marx und Engels ein Modell des „praktischen Entwicklungsprozesses“ der menschlichen Geschichte, die sie im Gegensatz zu den Hegelianern nicht als Entwicklungsgang des Geistes, sondern als Geschichte menschlicher Praxis und der sozialen Beziehungen verstehen: „es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt.“ (MEW 3:26) Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei der Moment der Teilung der Arbeit als des bestimmenden Faktors der geschichtlichen Entwicklung. Dem ebenfalls materialistisch argumentierenden Feuerbach werfen sie dabei vor, den Menschen als etwas Wesenhaftes, nicht aber als Subjekt sinnlich-praktischer Tätigkeit verstanden zu haben. Die weiteren Kapitel der Deutschen Ideologie beinhalten eine scharfe Kritik der übrigen Junghegelianer als Vertreter einer – so Marx und Engels – wesentlich idealistischen Gesellschaftskritik. Auch den Vertretern des sogenannten „wahren Sozialismus“ (v.a. Karl Grün) ist ein Kapitel gewidmet. Zu Lebzeiten Marx’ wurde allerdings – nach einigen fehlgeschlagenen Veröffentlichungsversuchen – nur das Kapitel über Karl Grün abgedruckt (1847 in der Zeitschrift Das Westphälische Dampfboot), das vollständige Werk erschien erst 1932 im Rahmen der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Marx’ und Engels’ in Abgrenzung gegen die zeitgenössischen sozialistischen und junghegelianischen Strömungen entworfene Grundlegung eines „historischen Materialismus“ stellt durch die Betonung der sozialen und materiellen Triebkräfte der Geschichte einen unmittelbaren Vorläufer der Soziologie dar. Marx hatte sich außerdem an der Redaktion des in Paris erscheinenden deutschen Wochenblattes Vorwärts! beteiligt, das den Absolutismus der deutschen Länder – besonders Preußens – angriff, unter Marx’ Einfluss bald mit deutlich sozialistischer Ausrichtung. Die preußische Regierung setzte deswegen seine Ausweisung aus Frankreich durch, so dass Marx Anfang 1845 nach Brüssel übersiedeln musste, wohin Engels ihm folgte. Bei einer gemeinsamen Studienreise nach England im Sommer 1845 knüpften sie Verbindungen zum revolutionären Flügel der Chartisten. Marx gab im Dezember 1845 die preußische Staatsbürgerschaft auf, nachdem er erfahren hatte, dass die preußische Regierung vom belgischen Staat seine Ausweisung erwirken wollte. In Brüssel veröffentlichte Marx 1847 die Schrift Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons „Philosophie des Elends“ (Original französisch als Misère de la philosophie. Réponse à la philosophie de la misère de M. Proudhon), eine Kritik der ökonomischen Theorie Pierre-Joseph Proudhons und darüber hinausgehend der kapitalistischen Gesellschaft selbst. Außerdem schrieb er gelegentlich Artikel für die Deutsche-Brüsseler-Zeitung. Anfang 1846 gründeten Marx und Engels in Brüssel das Kommunistische KorrespondenzKomitee, dessen Ziel die inhaltliche Einigung und der organisatorische Zusammenschluss der revolutionären Kommunisten und Arbeiter Deutschlands und anderer Länder war; so wollten sie den Boden für die Bildung einer proletarischen Partei bereiten. So traten sie schließlich in Verbindung mit Wilhelm Weitlings sozialistischem Bund der Gerechten, in dem Marx 1847 Mitglied wurde. Noch im selben Jahr setzte er die Umgründung zum Bund der Kommunisten durch und erhielt den Auftrag, dessen Manifest zu verfassen. Es wurde im Revolutionsjahr 1848 veröffentlicht und ging als Kommunistisches Manifest (eigentlich: Manifest der Kommunistischen Partei) in die Geschichte ein. Im September 1850 wurden Marx und Engels aus dem Bund ausgeschlossen, weil sie mit der Gründung einer eigenen Zentralbehörde in Köln gegen die Statuten verstoßen hatten und die übrigen Mitglieder ihnen „halbgelehrte politische Träumereien“ vorwarfen. Kurz darauf löste die französische Februarrevolution 1848 in ganz Europa politische Erschütterungen aus; als diese Brüssel erreichten, wurde Marx verhaftet und aus Belgien ausgewiesen. Da ihn inzwischen die neu eingesetzte provisorische Regierung der französischen Republik wieder nach Paris eingeladen hatte, kehrte er dorthin zurück; nach Ausbruch der deutschen Märzrevolution ging Marx nach Köln. Dort war er einer der Führer der revolutionären Bewegung in der preußischen Rheinprovinz und gab die Neue Rheinische Zeitung. Organ der Demokratie heraus, in der unter anderen erstmals die unvollendet gebliebene Schrift Lohnarbeit und Kapital abgedruckt wurde. Die Zeitung konnte am 19. Mai 1849 zum letzten Mal erscheinen, bevor die preußische Reaktion ihr Erscheinen unterband und Marx zum Staatenlosen erklärte. Londoner Exil (1849–1864) Marx kehrte zunächst nach Paris zurück, wurde aber schon einen Monat später vor die Wahl gestellt, sich entweder in der Bretagne internieren zu lassen oder Frankreich zu verlassen. Marx ging daraufhin mit seiner Familie ins Exil nach London, wo er vor allem anfangs in dürftigen Verhältnissen von journalistischer Tätigkeit sowie finanzieller Unterstützung vor allem von Engels überlebte, welcher Marx nach England folgte. Politisch widmete er sich der internationalen Agitation für den Kommunismus und erarbeitete den endgültigen Stand seiner Kritik des Kapitalismus. In London erschien zunächst Marx’ Werk Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 (als Artikelreihe 1849–1850); daran anknüpfend Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852) zur Machtergreifung Napoleons III.. Von 1852 an war Marx Londoner Korrespondent der New York Tribune und jahrelang deren Redakteur für Europa. Die Artikel sind keine gewöhnlichen Berichte, sondern umfassende Analysen der politischen und ökonomischen Lage einzelner europäischer Länder, oft als ganze Artikelreihe. Die Mitarbeit an der „Tribune“ endete, nachdem Charles Dana die Mitarbeit von Marx, wegen inneramerikanischer Angelegenheiten am 28. März 1862 kündigte. Marx schreibt für die Wiener "Die Presse" und stürzt in die das Studium der politischen Ökonomie. Marx versucht 1862, auch mit gerichtlichen Mitteln, und unterstützt von Ferdinand Lassalle seine preußische Staatsbürgerschaft wieder zu erlangen. Die preußische Regierung verweigert dies schließlich. Als 1863 in Polen ein Aufstand ausbricht hat Marx Kontakt zu polnischen Aufständischen und veranlasst den Londoner Arbeiterbildungs Verein sich an der Unterstützung der Polen zu beteiligen. Arbeit am "Kapital" und die Internationale In der Folge entstanden Marx’ ökonomische Hauptwerke. Als erste systematische Darstellung der Marx’schen ökonomischen Grundgedanken erschien 1859 Zur Kritik der politischen Ökonomie. Eigentlich als erstes Heft zur Fortsetzung bestimmt, entdeckte Marx bald, dass er mit der Detail-Ausführung des Gesamtplans noch unzufrieden war. So begann er seine Arbeit von neuem, und erst 1867 erschien der erste der drei Bände seines Hauptwerks Das Kapital. Im selben Jahr hielt sich Marx von April bis Mai als Gast des Arztes Louis Kugelmann in Hannover auf[11]; hier entstanden zwei Portrait-Fotografien durch Friedrich Karl Wunder. Während er das Kapital ausarbeitete, bot sich Marx auch wieder Gelegenheit zu praktischer Tätigkeit in der Arbeiterbewegung: 1864 beteiligt er sich federführend an der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation (kurz Erste Internationale) und nimmt in ihr bis zur faktischen Auflösung 1872 (durch Verlegung der Zentrale in die USA, formeller Auflösungsbeschluss 1876) die leitende Position ein. Marx entwarf die Statuten und das grundlegende Programm, die „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation“, unter denen so disparate Sektionen wie deutsche Kommunisten, englische Gewerkschafter, schweizer Anarchisten und französische Proudhonisten zusammenwirkten. Aus zwei 1865 gehaltenen Vorträgen bei Sitzungen des Generalrats entstand die von seiner Tochter Eleanor 1898 veröffentlichte Schrift Lohn, Preis und Profit. In den deutschen Staaten trieb Marx zunächst die Schaffung einer revolutionären sozialistischen Partei voran; dies geschah in Abgrenzung zum sozialreformerisch ausgerichteten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ des früheren Marx-„Schülers“ Ferdinand Lassalle, mit dem er sich in den politischen Zielen entzweit hatte. In Verbindung mit Marx gründete Wilhelm Liebknecht 1869 die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“, welche sich 1875 mit den Lassalleianern zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ vereinigte, der späteren „Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ (SPD). Ab 1871 arbeitete er an der von Liebknecht herausgegebenen Zeitschrift Der Volksstaat mit. Auch nach der Auflösung der Ersten Internationale blieb Marx in ständiger Verbindung mit fast allen wichtigen Figuren der europäischen und amerikanischen Arbeiterbewegung, die ihn oft für wichtige Fragen persönlich zu Rate zogen. Die drei Töchter Eleanor, Jenny und Laura waren wie ihre Eltern in der sozialistischen Bewegung tätig. Laura heiratete 1868 Paul Lafargue, Jenny 1872 Charles Longuet, Eleanor lebte ab 1883 zusammen mit Edward Aveling; alle drei Schwiegersöhne Marx’ betätigten sich als sozialistische Agitatoren, die ersten beiden in Frankreich, der dritte in Großbritannien. Gerüchten zufolge war Marx auch der Vater des unehelichen Sohns seiner aus Deutschland stammenden Haushälterin Helene Demuth; die Vaterschaft übernahm offiziell Friedrich Engels. An der Vollendung seiner stetig vorangetriebenen ökonomischen Arbeiten hinderte Marx seine zunehmende Kränklichkeit. In den Jahren von 1862 bis 1874 litt er an einer Hautkrankheit, die ihn stark behinderte. Heutzutage wird angenommen, dass es sich dabei um Hidradenitis suppurativa handelte.[12] 1881 starb Jenny Marx, 1883 Tochter Jenny Longuet. Insgesamt sind fünf von Marx’ Kindern vor ihm selbst verstorben; die beiden ihn überlebenden Töchter beendeten ihr Leben durch Freitod. Marx verstarb am 14. März 1883 im Alter von 64 Jahren in London und wurde – unter Anwesenheit von elf Trauergästen – auf dem Highgate Cemetery begraben. Hier errichtete 1954 die Kommunistische Partei Großbritanniens einen Gedenkstein mit der Inschrift: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ („Workers of all lands, unite!“). Überblick über das Denken Karl Marx gilt als einflussreichster Theoretiker des Kommunismus, dessen Schriften die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhundert und 20. Jahrhunderts weltweit, von der SPD bis zur KPD, von den sozialistisch-kommunistischen Bewegungen Lateinamerikas, Russlands bis nach Ostasien, entscheidend, wenngleich auf sehr unterschiedliche Weise, geprägt haben. In der modernen Volkswirtschaftslehre wird er den Nationalökonomen zugeordnet. Auch die Philosophie und andere Geisteswissenschaften sowie die Sozialwissenschaften beeinflusste Marx, wobei die Anhänger seiner Theorie in verschiedenen Disziplinen oft unter dem Begriff des Marxismus zusammengefasst werden. Kommunismus und klassenlose Gesellschaft Zusammen mit seinem lebenslangen Freund und Mitstreiter Friedrich Engels bemühte sich Marx um die Entwicklung eines „wissenschaftlichen Sozialismus“, den er vor allem gegen die idealistischen Utopien des Frühsozialismus abgrenzt. Marx versucht nicht, eine fertige Utopie des Kommunismus zu entwerfen,[13] sondern begreift das Ziel des Kommunismus als etwas, welches sich aus den materiellen und historischen Bedingungen entwickelt. Die kommunistische Bewegung begreift Marx dabei als „die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ (Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4:472). Träger einer notwendigen revolutionären Umwälzung sei das in einer Arbeiterpartei organisierte Proletariat (die Arbeiterklasse), welches die Pflicht habe die politische Macht zu erobern[14] und die Kapitalistenklasse zu enteignen. Diese Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln (Boden, Fabriken, Maschinen etc.) sei die Hauptbedingung für eine Entwicklung zum Kommunismus. Nach und nach würden die Klassengegensätze und die Klassen selbst verschwinden. Die genauen Konturen einer kommunistischen, klassenlosen Gesellschaft wurden dabei aber oft nur vage umrissen; eine berühmte Formel lautet: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Um die Bedingungen für eine kommunistische Bewegung zu erfassen, aber auch, um die bestehenden Verhältnisse adäquat kritisieren und damit bekämpfen zu können, bemüht sich Marx Zeit seines Lebens um eine grundlegende ökonomische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. In seinem insgesamt 2200 Seiten umfassenden dreibändigen Hauptwerk Das Kapital (Bd. 1: 1867, Bd. 2 und 3 postum) unternimmt Marx eine fundamentale „Kritik der politischen Ökonomie“. Dies beinhaltet einerseits die Analyse der Warenform, des Kapitals, des Geldes und der kapitalistischen Produktions- und Besitzverhältnisse, in welche die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums in der bürgerlichen (d. h. kapitalistischen) Gesellschaft eingebettet ist. Andererseits beinhaltet die Kritik der bürgerlichen Ökonomie auch die Kritik an den klassischen bürgerlichen Theoretikern der Ökonomie wie Adam Smith oder David Ricardo, die Marx mit zum Teil scharfer Polemik angreift. Eine der zentralen Thesen der Marxschen Theorie des Kapitalismus ist der unversöhnliche Klassengegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie, auf dem der innerhalb der bestehenden Verhältnisse unüberwindbare Antagonismus der kapitalistischen Gesellschaft beruhe. Geschichtsphilosophie Die Marx’sche Geschichtsphilosophie wurde als Historischer Materialismus bekannt. Nicht die Ideen werden als grundlegende Bewegungskraft der Geschichte angesehen, sondern die materiellen Verhältnisse, die die Hervorbringung der Ideen grundsätzlich bestimmen: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ – Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13:9 Das bedeutet jedoch keinen Determinismus des Materiellen, sondern eine dialektische Wechselbeziehung zwischen Sein und Bewusstsein, Notwendigkeit und Freiheit: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ – Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8:115 Vom Historischen Materialismus wird der Dialektische Materialismus unterschieden; siehe auch Dialektik bei Marx und Engels. Die sozioökonomische Entwicklung soll gleichsam naturgesetzlich von der „freien“ Urgesellschaft über Sklavenhalter- und Feudalgesellschaft, zur bourgeoisen (industriellen kapitalistischen) Gesellschaft über den durch Revolution zu erreichenden Sozialismus hin zum Kommunismus führen. Befördert wird dies durch dialektische Sprünge in Form zunehmender Macht- und Kapitalkonzentration (Akkumulation). Spiegelbildlich zur durch arbeitsteilige Wirtschaftsorgansisation zunehmenden Selbstentfremdung der Ausgebeuteten organisiert sich das Kapital in Monopolen und repressiven Überbaustrukturen (Staat), welche durch Klassenkampf und Revolution in der industriellen Gesellschaft überwunden werden. Philosophie und Religionskritik Die Aufgabe der Philosophen, die Marx als Ideenproduzenten beschreibt,[15] sieht er in der Aufhebung der Philosophie, das heißt in ihrer praktischen Verwirklichung: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.“ Marx kritisiert zugleich alle Formen einer idealistischen Philosophie und insbesondere der Religion, die nach Marx nur dazu dient, die Existenz des Menschen durch Träumereien und Trost im Jenseits erträglich zu machen und so das faktische Elend zu verlängern und zu legitimieren. In einem berühmten Ausspruch bezeichnet Marx die Religion deshalb als „Opium des Volkes“.[16] Marx zählt damit zusammen mit Ludwig Feuerbach, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud zu den bedeutendsten Religionskritikern der Neuzeit. Religion ist für ihn, wie bereits für Feuerbach, dessen Religionskritik Marx übernimmt und weiterführt, ein ideologisches Hirngespinst der von sich selbst entfremdeten Menschen:[16] „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.“ Die Überwindung dieses Hirngespinstes bedarf jedoch nicht nur der theoretischen Kritik, sondern der materiellen Veränderung jenes Lebens, das die Religion als „Stoßseufzer der bedrängten Kreatur“ erst nötig macht:[17] „Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.“ Klassenkampf und Revolution „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ – Titelblatt der Originalausgabe des Manifests der Kommunistischen Partei (1848) Das Subjekt der Veränderung der Welt erblickt Marx in der sozialen Klasse des Proletariats, das als diejenige Klasse der Gesellschaft, die auch ihre Güter produziert, als einzige die Macht besitze, eine kommunistische Umwälzung erfolgreich zu vollziehen. Auch sei das Proletariat diejenige Klasse mit dem größten Interesse an einer Revolution, da es durch die kapitalistischen Verhältnisse strukturell und praktisch unterdrückt, ausgebeutet und entfremdet sei. So endet das programmatische Manifest der kommunistischen Partei von 1848 mit den Worten: „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunis- tischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“ – MEW 4:493 Der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie vollzieht sich nach Marx als „Diktatur des Proletariats“, als Herrschaft der unterdrückten Mehrheit über die ehemaligen Unterdrücker, als „Expropriation der Expropriateure“, d. h. als „Enteignung der Enteigner“. Die Übergangsphase der Diktatur des Proletariats setzt Marx auch mit dem Sozialismus gleich; der Begriff des Kommunismus ist einem fortgeschrittenen Stadium der klassenlosen Gesellschaft vorbehalten, in welchem der Staat und mit ihm alle Unterdrückungsgewalt unnötig geworden und abgestorben ist und die sich „auf ihre Fahne“ geschrieben hat: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ – Kritik des Gothaer Programms, MEW 19:21 Überblick über das Werk Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, veröffentlicht in der Zeitschrift „Die Revolution“, New York 1852. Marx’ Werk wird oft in zwei Phasen unterteilt: „Frühschriften“ (bis 1848) und „reifer Marx“, wobei umstritten ist, inwieweit diese beiden Phasen einen wirklichen Bruch im Denken darstellen. Während lange Zeit sowohl von der Sozialdemokratie wie vom LeninismusStalinismus nur die späteren, vorwiegend ökonomisch orientierten Schriften rezipiert wurden, hat insbesondere die Neue Linke um 1968 die philosophisch orientierten Frühschriften wiederentdeckt, die zum Teil erst 1932 veröffentlicht worden waren. Im Zentrum der Frühschriften stehen Fragestellungen in der Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels, insbesondere die Frage nach der Entfremdung des Menschen und der Möglichkeit ihrer Aufhebung zugunsten einer politischen Emanzipation. Bedeutende Werke des frühen Marx – zum Teil gemeinsam mit Friedrich Engels verfasst – sind: • • • • • • Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844, MEW 1) Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (MEW Ergänzungsband I) das gegen Bruno Bauer gerichtete Die heilige Familie (mit Engels, 1844, MEW 2) das gegen Max Stirner gerichtete Die deutsche Ideologie (mit Engels, 1844, MEW 3) die kurzen elf Thesen über Feuerbach von 1845 (MEW 3) sowie die gegen Pierre-Joseph Proudhon verfasste Streitschrift Das Elend der Philosophie (1847, MEW 4). Gelegentlich ebenfalls zu den Frühschriften gerechnet wird das mit Engels im Revolutionsjahr 1848 verfasste Manifest der Kommunistischen Partei (MEW 4), das durch seinen programmatischen Charakter jedoch eine Sonderstellung im Marx’schen Werk einnimmt. Wichtige Werke des späteren Marx, in denen mehr und mehr ökonomische Fragestellungen ins Zentrum rückten, sind: • • • • • Lohnarbeit und Kapital (1849, MEW 6) Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (kurz: Grundrisse, auch: Ökonomische Manuskripte, 1857/58, MEW 42) Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859, MEW 13) die kurze Schrift Lohn, Preis und Profit (1865, MEW 16) sowie als Hauptwerk die drei Bände von Das Kapital, von denen nur der erste zu Marx Lebzeiten veröffentlicht wurde: o Bd. 1: Der Produktionsprocess des Kapitals (1867, MEW 23) o Bd. 2: Der Circulationsprocess des Kapitals (hrsg. von Friedrich Engels, 1885, MEW 24) o Bd. 3: Der Gesammtprocess der kapitalistischen Produktion (hrsg. von Engels, 1894, MEW 25). Außerdem existieren einige Schriften, in denen Marx Geschichte und Zeitgeschichte untersucht: • • • • Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 (1850, MEW 7) Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852, MEW 8) Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871, MEW 17) über die Pariser Kommune, in der Marx eine Form der Diktatur des Proletariats erkennt Die gegen das „Gothaer Programm“ der SPD vor dem sogenannten „Gothaer Parteitag“ (1875) verfasste Kritik des Gothaer Programms (1875, MEW 19), die einige detailliertere Ausführungen zur sozialistischen und kommunistischen Gesellschaftsform beinhaltet. Auguste Comte Isidore Marie Auguste François Xavier Comte (* 19. Januar 1798 in Montpellier; † 5. September 1857 in Paris) war ein französischer Mathematiker, Philosoph und Religionskritiker. Vor allem ist er jedoch als einer der Mitbegründer der Soziologie bekannt, deren Benennung auf Comte zurückgeht. Leben Sein Vater war der Steuerbeamte Louis-Auguste-Xavier Comte, seine Mutter Félicité-Rosalie Comte. Auguste hatte drei jüngere Geschwister. Nach dem Besuch der Schule in Montpellier studierte Auguste Comte an dem Eliteinstitut École Polytechnique in Paris. Die École Polytechnique widmete sich den französischen und republikanischen Idealen, vor allem dem Fortschrittsgedanken. 1816 kam es zu einer Studentenrevolte, die École schloss vorübergehend. Die Kursteilnehmer konnten eine Neuzulassung zu einem späteren Zeitpunkt beantragen. So musste Comte die École verlassen und setzte seine Studien an der medizinischen Schule in Montpellier fort. Als die École später wiedereröffnet wurde, versuchte Comte nicht, sich erneut einzuschreiben. Bald sah er unüberbrückbare Differenzen mit seiner katholisch-monarchistisch geprägten Familie und zog nach Paris, wo er seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeiten, u.a. als Privatlehrer für Mathematik bestritt. Als teilweiser Autodidakt war er sehr belesen, studierte weite Felder historischer und philosophischer Literatur, holte sich Anregungen bei so unterschiedlichen Autoren wie dem Physiokraten Turgot, bei Condorcet, Montesquieu, bei führenden philosophischen Aufklärern wie David Hume und Immanuel Kant, aber auch bei Ultrakonservativen wie Joseph de Maistre. Darüber hinaus beschäftigte er sich auch mit klerikalen Denkern der Scholastik. Er wurde Student, Freund und Sekretär des bedeutenden Industrie- und Sozialtheoretikers Graf Claude-Henri Comte de Saint-Simon, der seinen Schüler in intellektuelle Gesellschaft brachte. In Saint-Simons Zeitschriften publizierte Comte seine ersten journalistischen Arbeiten. 1824 verließ er Saint-Simon wegen nicht beizulegender Meinungsverschiedenheiten. 1822 veröffentlichte Comte die Schrift Plan de traveaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société als grundlegendes Werk der Philosophie des Positivismus. Er bemühte sich vergeblich um eine akademische Anstellung. Ein Lehrstuhl blieb ihm „wegen der unmoralischen Falschheit seines mathematisierenden Materialismus“ versagt. Selbst eine bescheidene Stelle als Mathematik-Repetitor verlor er später wegen seiner strittigen Schriften. Sein Lebensunterhalt hing von Förderern und von finanzieller Hilfe seiner Freunde ab. In seiner Pri- vatwohnung hielt er Vorträge, die auch von bekannten Wissenschaftlern seiner Zeit besucht wurden. Comte war bekannt als arrogante, energische und mitreißende Persönlichkeit. 1826 erkrankte er und wurde in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen, welche er jedoch wieder verließ, ohne kuriert worden zu sein. Im April 1827 misslang ihm ein Selbstmordversuch. Er heiratete Caroline Massin, eine ehemalige Prostituierte. Stabilisiert durch seine Ehefrau, konnte er wieder wissenschaftlich arbeiten und Vorlesungen halten. Seit April 1826 bis zu seiner Scheidung im Jahr 1842 veröffentlichte er sein Hauptwerk, die sechs Bände seines Cours de philosophie positive, basierend auf seinen Vorlesungen als Privatgelehrter. Ab 1841 wohnte er in der Rue Monsieur-le-Prince Nr. 10, heute Sitz eines Comte-Museums. Hier referierte er u.a. über Astronomie. Von 1844 an verehrte Comte die Großbürgersgattin Clotilde de Vaux, ein Verhältnis, das platonisch blieb. Nach ihrem Tod 1846 wurde diese Liebe quasi-religiös und Comte sah sich als Gründer und Prophet einer neuen „Religion der Menschlichkeit“. Der ehemals vor allem den strengen „Tatsachenwissenschaften“ anhängende Comte rief damit praktisch eine neue Theokratie aus. Kritiker sahen in seinen Bestrebungen einen „gottlosen Katholizismus“. Er veröffentlichte vier Ausgaben des Système de politique positive (1851–1854). Als einer der wenigen Wissenschaftler im 19. Jahrhundert plädierte Auguste Comte für eine Emanzipation der Frauen – allerdings transportierten seine Vorstellungen ein teilweise sehr traditionelles Bild: der Mann habe sich im „Lebenskampf“ und in den „Professionen“ zu bewähren, die Frau müsste aus dem häuslichen Kreis heraus moralisch und ethisch in die Gesellschaft hinein wirken. „Sie ist weniger als der Mann für die Stetigkeit und die Wirksamkeit der geistigen Arbeit geeignet, da ihre geistigen Fähigkeiten eine geringere innere Kraft haben; es folgt dies aus ihrer lebhafteren moralischen und physischen Empfänglichkeit.“ (in: Die Soziologie - Positive Philosophie, hrsg. von H. Blaschke, Stuttgart 1974) Es bildeten sich einzelne „comtistische“ Gemeinschaften in Frankreich, Großbritannien, Schweden und in den USA. Comte hinterließ ein etwa 500 Seiten starkes „Testament“. Seine wissenschaftlichen Theorien Comte unterschied zwei Universalgesetze in allen Wissenschaften: • • Das Gesetz der drei Phasen („kindliche“ Religion, „jungenhafte“ Metaphysik, schließlich „männliche“ positive Wissenschaft) Das enzyklopädische Gesetz. Indem er diese Theoreme kombinierte, entwickelte Comte eine systematische und hierarchische Klassifikation aller Wissenschaften, einschließlich der anorganischen Physik (Astronomie, Geowissenschaft und Chemie), der organischen Physik (Biologie), vor allem jedoch der neuartigen „sozialen Physik“, die er später Soziologie genannt hat. Nach Comte schloss diese Wissenschaft auch proto-behaviouristische Psychologie und Ethik ein. Diese Idee einer speziellen Wissenschaft - weder Geisteswissenschaft, noch Metaphysik - für das Soziale war im 19. Jahrhundert weit verbreitet und ging nicht speziell von Comte aus. Die ehrgeizige - viele würden sagen überzogene - Weise, in der Comte dies vorstellte, war ihm jedoch einzigartig. Comte sah diesen neuen Forschungszweig, die Soziologie, als die letzte und die größte aller Wissenschaften, eine Disziplin, die alle weiteren Wissenschaften umfassen würde und die ihre Entdeckungen in ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes integrieren und beziehen würde. Die Soziologie ist Comte zufolge die Wissenschaft, die die Methoden aller anderen weniger komplexen - Wissenschaften benutzt, nämlich Beobachtung, Experiment, Klassifikation und Vergleich sowie zusätzlich die historische Methode. Die historische Methode ist "[d]ie Vergleichung der geschichtlich einander folgenden Zustände der Menschheit" (Die Soziologie, 1974, S. 109). Diese Vergleichung ist für Comte "das wichtigste wissenschaftliche Hilfsmittel der Soziologie" (ebd.). Comtes Ansatz barg durchaus Widersprüche: einerseits die Orientierung an „harten Fakten“ und nachgewiesenen wissenschaftlichen Erkenntnissen („unwandelbare Naturgesetze“, siehe Positivismus), andererseits die Voraussetzung eines bald mystisch gefärbten Gemeinschaftsgeistes (esprit d'ensemble), der „Zweifelsucht“, egoistischen Individualismus und Liberalismus des vorangegangenen „metaphysischen“ Zeitalters durch Altruismus ersetzen sollte. Wirkung Obgleich seine Theorien während seiner Lebenszeit und auch noch danach sehr einflussreich waren, sind sie doch bald umstritten gewesen. Comte prägte bereits 1838 die Bezeichnung „Soziologie“; Forschung auf „soziologischem“ Gebiet gab es aber durchaus schon vorher, nur existierte bis Comte kein verbindlicher Begriff dafür. Comtes besondere Hervorhebung des gegenseitigen Verbundenseins der unterschiedlichen Sozialelemente gilt heute als Vorwegnahme des modernen Funktionalismus. Dennoch: mit wenigen Ausnahmen wird seine Arbeit inzwischen als exzentrisch, mechanistisch und wissenschaftlich überholt betrachtet. Die teilweise naive Erkenntnistheorie des Positivismus, sein Verifikationismus, wurde z. B. von dem Physiker Max Planck kritisiert. Die Devise Ordem e Progresso ("Ordnung und Fortschritt") in der Flagge Brasiliens geht auf Comtianer unter den Revolutionären von 1890 zurück, die die Monarchie stürzten. Comte hatte gesagt: L'amour pour principe et l'ordre pour base; le progrès pour but ("Liebe als Grundsatz und Ordnung als Grundlage; Fortschritt als Ziel"). Trotzdem sollte man Comtes bleibenden Einfluss gerade in Frankreich und anderen Nationen mit industriellen und katholischen Tendenzen (Polen, Brasilien u. A.) nicht unterschätzen. Emile Durkheims objektive Methode der „sozialen Fakten“, die sich stark von Max Webers methodologischem Individualismus unterscheidet, verdankt Comtes Positivismus wahrscheinlich einiges. Auch die Naturwissenschaftlerin und Nobelpreisträgerin Marie Curie begeisterte sich für Aspekte des Positivismus. Die frühe wissenschaftliche Kriminologie Italiens wurde ebenfalls stark von der „positiven Philosophie“ beeinflusst, darunter der Kriminologe und Physiognomiker Cesare Lombroso, den Nietzsche eifrig rezipierte. Selbst bei Albert Camus findet sich noch eine Unterscheidung zwischen dem eher abstrakten, idealistischen, dem Absoluten verpflichteten deutschen Denken „des ewigen Jünglings“ und der „mittelmeerischen Tradition... männlicher Stärke“, die sich eher der Natur und der konkreten Erfahrung als der Geschichtsphilosophie verpflichtet fühlt. Comtes Gesetz der drei Phasen klingt hier unüberhörbar an, obwohl es eigentlich selbst teleologisch ist und in die Geschichtsphilosophie fällt. Und auch ein bekannter Soziologe wie Pierre Bourdieu zitierte noch 1968 in einem Fachlehrbuch mehrmals Auguste Comte, dabei nicht immer nur in kritischer Absicht. Der Soziologie Norbert Elias würdigte Comte als Klassiker, der noch die wesentliche Frage nach der langfristigen gesellschaftlichen Entwicklung gestellt hat, auch wenn Elias Comtes Antworten auf diese Frage für anregend, aber unzureichend hält. Comtes Idee der Soziologie als Königin aller Wissenschaften wurde nie verwirklicht. Dagegen gilt Comte heute vielen als typischer Vertreter des ungebrochenen und übersteigerten Fortschrittsglaubens des 19. Jahrhunderts und der frühen Moderne. Ferner wurde Comtes Wortprägung „Positivismus“ von Kritikern seither zur Bezeichnung unhinterfragter Wissenschaftsgläubigkeit und zügelloser Sozialtechnologie verwendet, wobei der Begriff teilweise inflationär gebraucht wurde: bereits Karl Marx verwendete die Bezeichnung „Positivismus“ in sehr allgemeiner, kritischer Absicht und keineswegs nur bezogen auf ursprüngliche „echte“ Positivisten wie Comte. Der spätere sogenannte „logische Positivismus“ hat auch keine unmittelbaren Bezüge zu Auguste Comte (vgl. Positivismusstreit). Neben seinen Theorien hat Comte außerdem verschiedene Kalender-Systeme entworfen, z. B. den Positivisten-Kalender. Comtes Motto „Savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir“ ("Wissen, um vorherzusehen, vorherzusehen, um handeln zu können") könnte heute noch als Motto der Wissenschaften dienen, auch der Umfrage- und Marktforschung; allerdings wäre dabei an Comtes ausgeprägten Determinismus, seinen Instrumentalismus (so schien ihm die Untersuchung ferner Galaxi- en irrelevant, da dies belanglos für menschliche Interessen sei und einfache Naturgesetze unnötig kompliziere) oder seine Vorstellung einer Herrschaft der Experten zu denken. Comtes Devise „Ordnung und Fortschritt“ erscheint in der Flagge Brasiliens (siehe oben). Norbert Elias Norbert Elias (* 22. Juni 1897 in Breslau; † 1. August 1990 in Amsterdam) war ein Soziologe deutsch-jüdischer Herkunft, der seit seiner Emigration 1933 hauptsächlich in England und den Niederlanden lebte. Elias war ein einflussreicher Soziologe des 20. Jahrhunderts. Lange Zeit unbeachtet, wird sein Werk seit den 1970er Jahren breit rezipiert. Mit seinem Namen sind die Begriffe „Figuration“ sowie „Prozess- und Figurationssoziologie“ verbunden, die eine methodologische Neuprägung der Soziologie in Anknüpfung an Karl Mannheim bezeichnen. Sein bedeutendstes Werk ist die Studie Über den Prozeß der Zivilisation aus dem Jahre 1939 (Neuauflage: 1969 / 1976). Leben Norbert Elias wurde am 22. Juni 1897 in Breslau geboren.[1] Sein Vater Hermann Elias besaß dort eine Textilfabrik am Ring 16. Norbert wuchs als Einzelkind auf und besuchte von 1907 bis 1915 das humanistische Johannes-Gymnasium in Breslau. Nach dem Abitur 1915 leistete er als Kriegsfreiwilliger in einer Funkereinheit Kriegsdienst.[1] Ab 1917 war er nicht mehr felddienstfähig und wurde Sanitätssoldat in Breslau.[1] Studium 1918 begann Elias ein Studium der Philosophie und der Medizin, letzteres nur bis zum Physikum 1919, an der Universität Breslau. Er unterbrach sein Studium durch Studienaufenthalte an der Universität Heidelberg im Sommersemester 1919 und der Universität Freiburg im Breisgau im Sommersemester 1920. Während seiner gesamten Studienzeit, bis 1925, war Elias engagiertes Mitglied in der zionistischen Jugendbewegung „Blau-Weiß“. Er war seit Beginn des Wintersemesters 1915/16 auch Mitglied der zionistischen Breslauer Verbindung Jüdischer Studenten im „Kartell Jüdischer Verbindungen“ (K. J. V.). Bereits aus jenen Tagen kannte er viele gleichaltrige deutsch-jüdische Intellektuelle wie Erich Fromm, Leo Strauss oder Leo Löwenthal. Ab 1922 arbeitete Elias in einer Fabrik zur Herstellung von Kleineisenteilen als Leiter der Exportabteilung, um dadurch sein Studium zu finanzieren. 1924 erfolgte seine Promotion zum Dr. phil. an der Universität Breslau. Der Titel seiner Dissertation ist Idee und Individuum; sein Doktorvater war Richard Hönigswald, der jedoch wegen kantkritischer Passagen die Annahme der Dissertation zunächst ablehnte. Nach längerem Streit beugte sich Elias und entfernte notgedrungen die strittigen Passagen. Im Jahr 1924 zog Elias nach Heidelberg und setzte dort sein Studium der Soziologie fort. Von Alfred Weber, dem Bruder Max Webers, wurde er für eine Habilitation akzeptiert. Die Arbeit über Die Bedeutung der Florentiner Gesellschaft und Kultur für die Entstehung der Wissenschaft galt der Entstehung der modernen Naturwissenschaften. 1930 brach Elias sein Habilitationsprojekt ab und folgte Karl Mannheim nach Frankfurt am Main. Er arbeitete als dessen Assistent an der dortigen Universität und begann seine Habilitation mit der Schrift Der höfische Mensch. Emigration Die Habilitationsschrift war bereits eingereicht und Mannheim als Gutachter bestimmt, als im März 1933 im Zug der nationalsozialistischen Herrschaft das Institut für Soziologie geschlossen und damit auch Elias' Habilitationsverfahren abgebrochen wurde. Die Schrift erschien erst 1969 in veränderter Form unter dem Titel Die höfische Gesellschaft. Elias ging noch 1933 ins Exil, zunächst nach Paris, 1935 nach Großbritannien, dessen Staatsbürgerschaft er später annahm. Während seiner achtmonatigen Internierung als Deutscher brachte Elias 1940 im Internierungslager ein selbst verfasstes Drama Die Ballade vom armen Jakob zur Aufführung. University of Leicester & University of Ghana Von 1954 bis 1962 hatte Elias eine Dozentenstelle am neugegründeten Department of Sociology der University of Leicester (Schüler waren u. a. Martin Albrow und Anthony Giddens) inne. Davor war er lange Zeit in der Erwachsenenbildung tätig. 1962 bis 1964 war er Soziologieprofessor an der University of Ghana in Accra (Schüler war Willie B. Lamousé-Smith), anschließend kehrte er nach England zurück, wo er als Privatgelehrter lebte. Späte Anerkennung in Deutschland Seit 1975 hatte er seinen festen Wohnsitz in Amsterdam und Gastprofessuren in verschiedenen Städten Deutschlands. Erst jetzt – und insbesondere mit dem Erfolg der Taschenbuchausgabe von Über den Prozeß der Zivilisation (1976) – wurde Elias’ Arbeit in Deutschland wahrgenommen und allgemein anerkannt. 1977 erhielt Elias den zum ersten Mal vergebenen Theodor-W.-Adorno-Preis. Von 1978 bis 1984 arbeitete er u. a. an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Bielefeld, insbesondere am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF). 1980 verlieh ihm die Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld die Ehrendoktorwürde. 1986 zeichnete ihn der Bundespräsident mit dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland aus. Anlässlich seines 90. Geburtstages 1987 wurde er durch die Königin der Niederlande zum Kommandeur des Oranien-Nassau-Ordens ernannt. Im selben Jahr erhielt er den Premio Amalfi. Am 1. August 1990 starb Norbert Elias in Amsterdam. Werk Die zentralen Motive seines Ansatzes kommen in den Begriffsprägungen Prozesssoziologie bzw. Figurationssoziologie zum Ausdruck: • • Figurationssoziologie: Um soziale Prozesse in wirklichkeitsgerechten Theorien abbilden zu können, sind Theorien unzureichend, die „Gesellschaft“ vom Individuum her denken, aber auch solche Theorien, die vom Individuum absehen und vom „Ganzen“ ausgehen. Vielmehr müssen im Mittelpunkt jeder soziologischen Forschung die Menschen und die dynamischen gesellschaftlichen Verflechtungen stehen, die sie miteinander bilden: „Die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von ‚außen‘ an den Menschen herankommt; die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.“ (Elias in: Über den Prozess der Zivilisation, 2. Bd.). Unter Figuration versteht Elias ein Bild menschlicher Gesellschaften, das die Einseitigkeit von „Teil“ oder „Ganzem“ vermeidet, indem es die Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft abbildet, d. h. eine gegenseitige Abhängigkeit auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft. Dabei können Gesellschaften im Lauf ihrer Entwicklung komplexer werden, ineinander verschachtelte Ebenen haben. Dieselben Menschen können verschiedene Figurationen bilden. Beispielsweise erläutert er anhand der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Etablierten und Außenseitern eine Figuration, die noch weiter ausdifferenziert werden kann in das Verhältnis zwischen In- und Ausländern. Prozesssoziologie: Soziologische Theorien, in denen gesellschaftliche Prozesse statisch gedacht, also auf Zustände reduziert werden und gesellschaftlicher Wandel als eine Abfolge von scheinbar stabilen Zuständen betrachtet wird, zwischen denen es Phasen des Wandels gebe, können nach Elias nicht realitätsgerecht sein. Dies hat er beispielsweise an der Schule des Soziologen Talcott Parsons kritisiert. Eine realistische Grundannahme ist stattdessen, dass Realität (und damit Gesellschaften) keine Zustände kennt, sondern ständig in Bewegung ist. Es ist also notwendig, stets Prozesse zu beschreiben, um soziologische Theorien bilden zu können. Eine seiner Folgerungen ist, dass kein einzelnes gesellschaftliches Phänomen ohne eine Theorie eines langfristigen Wandels zu verstehen oder zu erklären sei. Er fordert die Erarbeitung einer empirisch fundierten Theorie der soziokulturellen Evolution und sieht sich nur als Wegbereiter dafür. Elias bricht durch seine Theorie mit der langen Denktradition, in der „die Gesellschaft“ dem „als selbständig gedachten Individuum“ gegenübergestellt wurde. Seine Gedanken über das Verhältnis von „Gesellschaft“ und „Individuum“, die sich in nahezu allen seinen Werken finden, führen in letzter Konsequenz zu einer Neudefinition von Begriffen wie „Identität“ und „Selbstwert“ und zu einer in der Geschichte der Soziologie relativ neuartigen Sichtweise auf die Menschen als Akteure mit einem gewissen Freiheitsspielraum im Rahmen der Figurationen, die sie in sozialen Prozessen miteinander bilden. Zudem überwindet Elias damit auch die traditionelle wissenschaftliche Trennung zwischen Psychologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft. Insbesondere der Geschichtswissenschaft hat Elias in seinen Untersuchungen neue Perspektiven eröffnet: Die Entwicklung vom Feudalismus zur Territorialisierung in Deutschland, die Herausbildung des Königsmechanismus, die Erforschung von Mentalitäten, die die französische Historikerschule um Georges Duby und die Zeitschrift Annales ausgebaut hat, und viele weitere Erkenntnisse sind ihm zu verdanken. Elias legt ausdrücklich Wert auf eine verständliche Wissenschaftssprache, die er selbst nach Abschluss seiner Doktorarbeit (die er diesbezüglich später skeptisch sah) zunehmend entwickelte. Sein Anliegen war dabei auch die Schaffung von Begriffen, die der von ihm vertretenen neuen Sichtweise als angemessene, also genaue, „Sprachwerkzeuge“ dienen können. Jürgen Habermas Jürgen Habermas (* 18. Juni 1929 in Düsseldorf) ist einer der weltweit meist rezipierten Philosophen und Soziologen der Gegenwart. Er wurde bekannt durch Arbeiten zur Sozialphilosophie mit diskurs-, handlungs- und rationalitätstheoretischen Beiträgen, mit denen er die Kritische Theorie auf einer neuen Basis weiterführte. Für Habermas bilden die Grundlage der Gesellschaft kommunikative Interaktionen, in denen rationale Geltungsgründe erhoben und anerkannt werden. Überblick Nicht zuletzt durch regelmäßige Lehrtätigkeiten an ausländischen Universitäten, vor allem in den USA, sowie aufgrund von Übersetzungen seiner wichtigsten Arbeiten werden seine Theorien weltweit diskutiert. Er ist der bekannteste Vertreter der nachfolgenden Generation der Kritischen Theorie. Vom hegelianisch-marxistischen Ursprung der Frankfurter Schule hat er sich durch die Rezeption und Integration eines breiten Spektrums neuerer Theorien gelöst. Wegen der Vielfalt seiner philosophischen und sozialwissenschaftlichen Aktivitäten gilt Habermas als ein produktiver und engagierter Intellektueller.[1] Er verband den historischen Materialismus von Marx mit dem amerikanischen Pragmatismus, der Entwicklungstheorie von Piaget und Kohlberg und der Psychoanalyse von Freud. Zudem beeinflusste er maßgeblich die deutschen Sozialwissenschaften, die Moral- und Sozialphilosophie. Meilensteine waren vor allem seine Theorie des kommunikativen Handelns und, wiederholt inspiriert durch die diskurstheoretische Auseinandersetzung mit Karl-Otto Apel, seine Diskurstheorie der Moral und des Rechts. Als übergeordnetes Motiv seines multidisziplinären Werks gilt ihm „die Versöhnung der mit sich selber zerfallenden Moderne“.[2] Dazu verfolgt er die Strategie, anders als Apel generell auf Letztbegründungen zu verzichten und „die universalistischen Fragestellungen der Transzendentalphilosophie, bei gleichzeitiger Detranszendentalisierung des Vorgehens und der Beweisziele, aufzunehmen“.[3] Habermas war an allen großen theoretischen Debatten der Bundesrepublik beteiligt und bezog zu gesellschaftspolitischen Kontroversen, wie Historiker- streit, Bioethik, deutsche Vereinigung, Europäische Verfassung und Irak-Krieg, mit dem Engagement eines „öffentlichen Intellektuellen“[4] prononciert Stellung. Leben Jugend und Studium Jürgen Habermas wurde in Düsseldorf geboren, wuchs aber in der nahe gelegenen Kleinstadt Gummersbach auf, wo sein Vater, Ernst Habermas, Geschäftsführer der dortigen Geschäftsstelle der Industrie- und Handelskammer zu Köln war. Das politische Klima in seinem Elternhaus beschreibt er als „geprägt durch eine bürgerliche Anpassung an eine politische Umgebung, mit der man sich nicht voll identifizierte, die man aber auch nicht ernsthaft kritisierte“.[5] Habermas’ Vater war Mitglied der NSDAP seit 1933. Er selbst war, wie alle Kinder ab 10 Jahren in der Nazizeit, per Gesetz gedrängt, Mitglied der Hitlerjugend, und wurde im Herbst 1944 als Fronthelfer an den Westwall geschickt. Seine Tätigkeit in der Hitlerjugend bildete im Jahr 2006 den Anlass zu einer heftigen Polemik. Joachim Fest hatte Habermas in seiner postum erschienenen Autobiographie als einen „dem Regime in allen Fasern seiner Existenz verbundenen HJ-Führer“ bezeichnet.[6] Der Vorwurf, der vom Magazin Cicero veröffentlicht und von Habermas als „Denunziation“ zurückgewiesen wurde, erschien schließlich nach einer Zeugenaussage von Hans-Ulrich Wehler als haltlos.[7] Zwischen 1949 und 1954 studierte Habermas an den Universitäten Göttingen (1949/50), Zürich (1950/51) und Bonn (1951–54). Er befasste sich mit Philosophie, Geschichte, Psychologie, deutscher Literatur und Ökonomie. Zu seinen Lehrern gehörten Nicolai Hartmann, Wilhelm Keller, Theodor Litt, Erich Rothacker, Johannes Thyssen und Hermann Wein. Im Wintersemester 1950/51 begegnete Habermas erstmals Karl-Otto Apel, dessen „engagiertes Denken“[8] und Interesse für den amerikanischen Pragmatismus für seine weitere philosophische Entwicklung von großer Bedeutung wurde. Habermas erregte 1953 erstmals öffentliches Aufsehen, als er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Rezension zu Heideggers „Einführung in die Metaphysik“ verfasste, einer Vorlesung mit gleichem Titel im Sommersemester 1935, die 1953 erstmals im Druck erschienen war. Heidegger hatte für den Druck das Wort von der „innere[n] Wahrheit und Größe“ der nationalsozialistischen Bewegung nicht gestrichen, was Habermas als Teil der „fortgesetzten Rehabilitation“ des Nationalsozialismus durch „die Masse, voran die Verantwortlichen von einst und jetzt“ scharf verurteilte. Zumal das inkriminierte Wort aus dem Zusammenhang der Vorlesung sich ergebe und „da diese Sätze 1953 ohne Anmerkung erstmals veröffentlicht wurden“ dürfe unterstellt werden, „dass sie unverändert Heideggers heutige Auffassung wiedergeben.“[9] Im Jahre 1954 wurde Habermas in Bonn mit seiner Arbeit Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken von Erich Rothacker und Oskar Becker promo- viert. Danach betätigte er sich als freier Journalist für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Merkur, die Frankfurter Hefte und das Düsseldorfer Handelsblatt. 1955 heiratete er Ute Wesselhoeft; ihre gemeinsamen Kinder heißen Tilmann (* 1956), Rebekka (* 1959) und Judith (* 1967). Der Sohn Tilmann Habermas ist seit 2002 Professor für Psychoanalyse an der Universität Frankfurt am Main, die Tochter Rebekka Habermas seit 2000 Professorin für Geschichte an der Universität Göttingen. Assistent in Frankfurt, Habilitation und Außerordentlicher Professor Ein Stipendium brachte Habermas 1956 nach Frankfurt ans Institut für Sozialforschung. In der Zeit als Forschungsassistent bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno machte er sich mit den (zum Teil unter Verschluss gehaltenen) Schriften seiner beiden Direktoren und anderer Vertreter der Kritischen Theorie aus der Vorkriegszeit vertraut. In besonderem Maße wurde er von Herbert Marcuse beeinflusst, dem er erstmals 1956 begegnete. Unter dessen Einfluss orientierte sich seine Auffassung vom Marxismus am Denken von Freud und dem jungen Marx. Sein politisches Engagement in der Bewegung „Kampf dem Atomtod“ und seine als radikaldemokratisch rezipierte Einleitung zu der Instituts-Studie „Student und Politik“ lösten bei Horkheimer heftige Reaktionen aus, gegen die ihn Adorno zu verteidigen suchte. Der absehbare Konflikt um seine anstehende Habilitationsschrift bewog ihn zum Wechsel nach Marburg. Dank eines Habilitationsstipendiums der DFG konnte er 1961 in Marburg bei Wolfgang Abendroth mit der vielbeachteten Schrift Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft habilitieren. Bereits 1961, noch vor Abschluss seines Habilitationsverfahrens, wurde Habermas nach Vermittlung von Gadamer außerordentlicher Professor an der Universität Heidelberg, wo er bis 1964 lehrte. Der Kontakt mit Gadamer hatte die Auseinandersetzung mit dessen Hermeneutik zur Folge. Zugleich beschäftigte sich Habermas mit der Analytischen Philosophie – vor allem der Spätphilosophie Wittgensteins – und dem amerikanischen Pragmatismus, besonders Peirce, Mead und Dewey. In den Jahren 1963–1965 beteiligte sich Habermas am Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, der ihn zu einer folgenreichen Abhandlung über den erkenntnistheoretischen Status der Sozialwissenschaften motivierte. In dieser Auseinandersetzung entstanden diverse Aufsätze und eine seiner einflussreichsten Arbeiten, Erkenntnis und Interesse (1968). Professor für Philosophie und Soziologie Im Jahr 1964 wurde Habermas auf Horkheimers Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt berufen. Für seine Antrittsvorlesung „Erkenntnis und Interesse“ wählte er Horkheimers Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ (1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen) als Anknüpfungspunkt. Diese wissenschaftstheoretischen Argumentation entwickelte Habermas in dem – mit der Vorlesung gleichnamigen – Buch Erkenntnis und Interesse (1968) weiter. Er führte den Begriff des „erkenntnisleitenden Interesses“ ein, um Unterschiede in wissenschaftlichen Methoden und Theorien zu erklären. Gemeint ist damit keineswegs, wie häufig unterstellt, eine durch partikulare Gruppen- oder Klas- sen-Interessen gefärbte Erkenntnis. Vielmehr seien der menschlichen Gattung drei grundlegende Interessen eigen, die mit unterschiedlichen Methoden und Theorien verknüpft seien: das Interesse an technischer Verfügung über objektive Prozesse (empirisch-analytische Wissenschaften), das Interesse an lebenspraktischer Verständigung in der Kommunikationsgemeinschaft (Hermeneutik) und das Interesse an der Emanzipation von naturwüchsigem Zwang (sozialwissenschaftliche Ideologiekritik und Psychoanalyse). Die ihm angebotene Leitung des Instituts für Sozialforschung lehnte er ab; stattdessen übernahm er mit Ludwig von Friedeburg die Leitung des „Seminars für Soziologie“, eine auf die Lehre beschränkte Dependance des Instituts. Seine Vorlesungen und Seminare bot er jeweils für Soziologen und Philosophen an.[10] Während der in Frankfurt erlebten Studentenrevolte spielte er eine exponierte Rolle. Bereits in den 1950er Jahren war Habermas für demokratische Reformen des Bildungswesens und der Hochschulen eingetreten und wurde als Vertreter der „Linken“ zu einem geistigen Anreger der Studentenbewegung 1967/68. Mit Rudi Dutschke u.a. nahm er in Hannover am Kongress „Bedingung und Organisation des Widerstands“ teil.[11] Zur Konfrontation zwischen Habermas und radikalen Studenten kam es aufgrund unterschiedlicher Einschätzungen der gesellschaftspolitischen Situation. Wähnten sich der SDS und seine Anhänger in einer (vor)revolutionären Situation, warnte Habermas vor der „verhängnisvollen Strategie“, die „Polarisierung der Kräfte um jeden Preis“ zu suchen und sprach von der „Scheinrevolution und ihren Kindern“.[12] Schon Ende der 1960er Jahre hatte er die Position der sogenannten „verfassungsloyalen“ Linken entscheidend mitgeprägt. Nun ging er zunehmend auf Distanz zu den radikalen Studentengruppen um Rudi Dutschke, denen er einen rhetorisch leichtfertigen Umgang mit der Gewalt vorhielt, mit der Gefahr eines linken Faschismus, eine Wortwahl, die er später bedauerte.[13] Ko-Direktor des Starnberger Max-Planck-Instituts Er wechselte 1971 nach Starnberg bei München, wo er bis 1981 gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt leitete. Im selben Jahr fand die Debatte mit Niklas Luhmann über dessen Systemtheorie statt. 1973 wurde Habermas der Hegel-Preis der Stadt Stuttgart, 1976 der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa verliehen. Im sogenannten „Deutschen Herbst“ 1977 nahm Habermas verstärkt zu tagespolitischen Streitpunkten Stellung. So wandte er sich gegen die Ausweitung des „Radikalenerlasses“ von 1972 und setzte sich mit der Theorie des Neokonservatismus und seiner Kritik an der Moderne auseinander. 1980 erhielt er den Theodor-W.-Adorno-Preis. 1981 veröffentlichte er sein Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns, in dem er sich unter anderem auf George Herbert Mead, Max Weber, Émile Durkheim, Talcott Parsons, Georg Lukács und Theodor W. Adorno Helmut Schelsky Helmut Wilhelm Friedrich Schelsky (* 14. Oktober 1912 in Chemnitz; † 24. Februar 1984 in Münster) war einer der einflussreichsten Soziologen der westdeutschen Nachkriegszeit bis Ende der 1960er-Jahre. Leben Schelsky studierte Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Königsberg und ab 1931 Philosophie an der Universität Leipzig. Hans Freyer und Arnold Gehlen entdeckten sein Talent und förderten ihn (siehe Leipziger Schule). Er wurde 1935 mit der philosophischen Arbeit „Theorie der Gemeinschaft nach Fichtes Naturrecht von 1796“ in Leipzig promoviert. 1932 trat er in die SA, 1933 in den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) und 1937 in die NSDAP ein. [1] Von 1938 bis 1940 war er Assistent Gehlens in Königsberg, wo er sich 1939 in Soziologie mit einer erst 1981 veröffentlichten Schrift über Thomas Hobbes, „Die politische Lehre von Thomas Hobbes“, habilitiert. Er war anschließend Dozent in Königsberg und 1940/41 Assistent von Hans Freyer an der Universität Budapest. Der überzeugte Nationalsozialist schrieb 1934 in einem Beitrag für die Schriftenreihe Bildung und Nation: „Wahrer [National-]Sozialismus ist es, Leute, die für das Volk ihre Leistung nicht erbringen oder es gar schädigen, auszuschalten oder sie sogar zu vernichten. Eine sozialistische Tat ist so zum Beispiel die Unfruchtbarmachung von unheilbar belasteten Menschen oder die Erziehung einer Presse, die ihre Aufgabe für die Volksgemeinschaft nicht erfüllt, durch Zensur.“ 1941 wurde er als Soldat eingezogen, übernahm aber 1942 eine Lehrstuhlvertretung an der Universität Leipzig. 1943 wurde er als außerordentlicher Professor der Soziologie und Staatsphilosophie an die nationalsozialistische Reichsuniversität Straßburg berufen,[3] konnte das Amt jedoch nicht mehr antreten. 1944 heiratete er Hildegard Brettle. Sie hatten zwei Söhne, darunter Wilhelm Schelsky. Als Verwundeter kam er in den letzten Kriegstagen 1945 nach Schleswig-Holstein und baute unmittelbar nach Kriegsende den „Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes“ auf.[4] 1949 wurde er als Professor für Soziologie an die „Akademie für Gemeinwirtschaft“ nach Hamburg berufen. 1953 wechselte er zur Universität Hamburg. 1960 rief ihn die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Münster. In dieser Position leitete er zugleich die renommierteste empirisch-soziologische Forschungsstätte jener Jahre, die Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund. Er war der Spiritus Rector, der für die in Bielefeld neu gegründete Reform-Universität kämpfte und dafür sorgte, dass dort die erste „Soziologische Fakultät“ der Bundesrepublik errichtet wurde. Bereits in diesem Kampf um den ostwestfälischen Standort von der Paderborner CDU als ehedem nationalsozialistischer Student enttarnt, trat er sofort von allen Ämtern zurück - zumal von dem als Vorsitzender des Planungsbeirats Nordrhein-Westfalen für die Entwicklung des Hochschulwesens. Er wurde jedoch zurückgerufen und 1970 als Professor an die Bielefelder Universität berufen. Dort leitete er am Standort Rheda das als ein ‚deutsches Princeton‘ angelegte „Zentrum für interdisziplinäre Forschung“. Er überwarf sich aber mit den Kollegen in seiner eigenen Gründung und kehrte enttäuscht 1973 nach Münster zurück, wo er 1978 emeritiert wurde.[5] Er schrieb noch kämpferische und zunehmend als rechtsintellektuell einzuschätzende [6] [7] Großessays gegen die in seinen Augen eine utopische Erziehungsdiktatur anstrebenden Soziologen der 1968er-Generation, vereinsamte aber bis zu seinem Tod. Wirkung Von der Leipziger Schule um Hans Freyer war Schelsky gefördert und gelenkt worden. Schelsky suchte zwischen so bedeutenden Köpfen wie dem rechtshegelianischen Philosophen Hans Freyer, dem Philosophischen Anthropologen Arnold Gehlen und dem später emigrierten Philosophen und Logiker Gotthard Günther ein eigenes Arbeitsfeld und kam so auf die Soziologie. Seine künftig (auch für die Rechtswissenschaft) wirkungsreiche Theorie der Institutionen schrieb er sehr bald nach Kriegsende, danach auch Grundsätzliches zur Schichtung. Er verfasste in Hamburg eine Reihe anwendungsorientierter und viel gelesener Veröffentlichungen über die westdeutschen Aufbauprobleme. Sie widmeten sich sämtlich aktuellen Entwicklungen, die er voraussah. Er veröffentlichte Werke zur Familiensoziologie, dann zur Soziologie der Sexualität, zur Industriesoziologie, zur Jugendsoziologie, zur Soziologie der Erziehung und zur Soziologie und Ideengeschichte der deutschen Universität, die vielfach neu aufgelegt wurden. Viel Zustimmung und auch Kontroversen erregte seine These, dass moderne Gesellschaften zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ tendierten. In Dortmund leitete er zugleich eine empirieorientierte ‚Talentschmiede‘ der Soziologie, die sich erst in den 1970er-Jahren an den deutschen Hochschulen durchsetzte. Persönlich habilitierte er 17 Soziologen. Er war ein liberaler und gelegentlich zynischer Talentaufspürer, auffällig desinteressiert am Aufbau einer eigenen „Schule“ und für viele sehr unterschiedliche neue Talente attraktiv, so z. B. für Heinz Hartmann, Dieter Claessens, Franz-Xaver Kaufmann und Niklas Luhmann. Damit war er professionspolitisch, auch was kommende Lehrstuhlbesetzungen betraf, für die deutsche Soziologie einflussreicher als die nach 1945 zurückgekehrten renommierten René König (vgl. die „Kölner Schule“) und Otto Stammer, während sich die Frankfurter Schule erst nach 1968 durchzusetzen vermochte. Schelsky widmete sich auch der Kritik marxistischer Klassenanalyse. Aufsehen erregte er 1975 mit seinem Buch "Die Arbeit tun die anderen - Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen", in dem er die Ansicht vertritt, dass die linksorientierten Intellektuellen nicht die Interessen der Arbeiter verträten. In seinem Buch "Die Hoffnung Bloch" setzte er sich kritisch mit Ernst Bloch, den er als Galionsfigur dieser Intellektuellen sah, und dessen Wirkung auseinander. In "Funktionäre - Gefährden sie das Gemeinwohl" kritisiert er das Überhandnehmen des Funktionärstypus und die seiner Meinung nach ideologische und zu deduktive Richtung der Soziologie der Frankfurter Schule: "Der Umschwung in der bundesdeutschen Soziologie von der ‚induktiven‘ empirischen Sozialforschung der 50er und Anfang der 60er Jahre zu der wieder deduktiv vorgehenden Theorienlehre der ‚Frankfurter Schule‘, des Neomarxismus oder des funktionalistischen Systems eines Niclas Luhmann [sic!] hat nicht zuletzt zu einer Reideologisierung der bundesdeutschen Politik beigetragen." [8] Dass seine eigene Gründung, die Universität Bielefeld, auf ihn nicht mehr hören wollte, zeichnete ihn – trotz hohen Anklangs seiner daraus resultierenden Intellektuellenkritik in konservativen Kreisen – für den Rest seines Lebens tief. Seine Analysen wurden gerade wegen ihres Aktualitätswertes in den ‚Goldenen Jahren‘ der Bundesrepublik Deutschland danach fast vergessen und fanden erst um die Jahrtausendwende wieder einige Beachtung. Ausgewählte Publikationen • • • • • Sozialistische Lebenshaltung. Eichblatt/Max Zedler, Leipzig 1934 [= Bildung und Nation. Schriftenreihe zur nationalpolitischen Erziehung Bd. 11/13], 41 S. Theorie der Gemeinschaft nach Fichtes „Naturrecht“ von 1796 (1935 - ausgehend vom ich-philosophischen Verhältnis zweier vernünftiger Individuen als Gemeinschaft Fichtes ufert die - stark vom Denken Gotthard Günthers beeinflusste - Dissertation hochabstrakt beim im „Leibesgeschehen“ verankerten objektiven Bewusstwerden des Anderen als „Gemeinschaft“) Schellings Philosophie des Willens und der Existenz. in: Helmut Schelsky und Gotthard Günther: Christliche Metaphysik und das Schicksal des modernen Bewußtseins. S. Hirzel, Leipzig 1937, S. 47–108. Die polnische Philosophie und der deutsche Idealismus. In: Die Tatwelt, Band 13, S. 45–50. Die Totalität des Staates bei Hobbes. In: ARSP, Band 31, 1937/38, S. 176–193. George Herbert Mead George Herbert Mead (* 27. Februar 1863 in South Hadley, Massachusetts, USA; † 26. April 1931 in Chicago, USA) war ein US-amerikanischer Philosoph und Psychologe. Er studierte unter anderem in Leipzig und Berlin und war von 1894 bis zu seinem Tode Professor für Philosophie und Sozialpsychologie an der Universität Chicago. Biografie George Herbert Mead wurde am 27. Februar 1863 in South Hadley, Massachusetts, als Sohn von Hiram Mead, einem kongregationalistischen Geistlichen, und dessen Ehefrau Elizabeth Storr Billings geboren. Als der Vater 1869 zum Professor für Predigtwissenschaft am religiös orthodoxen Oberlin College in Ohio berufen wurde, siedelte die Familie dorthin um. Mead selbst trat 1879 als Student ins Oberlin College ein. Nach dem Tod des Vaters 1881 arbeitete Meads Mutter als Dozentin in Oberlin. Während seines Studiums beschäftigte sich Mead unter anderen mit der Evolutionstheorie Charles Darwins. Die damit einhergehenden Spannungen zu seiner religiösen Erziehung prägten seine Entwicklung am College. Ihm ging es vor allem um eine mögliche Begründung eines sozial engagierten Christentums angesichts der neuen und umwälzenden Entwicklungen in den Naturwissenschaften in seiner Zeit. 1882 wurde Mead zusammen mit seinem Freund Henry Castle zum Herausgeber des Oberlin Review gewählt, beide traten in dieser Position für ein naturwissenschaftlich aufgeklärtes Christentum ein. Nach seiner Graduierung im Jahr 1883 nahm Mead eine Stelle als Lehrer an, ihm wurde jedoch aufgrund disziplinarischer Schwierigkeiten mit den Schülern nach vier Monaten gekündigt. Daraufhin arbeitete Mead drei Jahre als Vermessungsingenieur bei der Wisconsin Central Railroad Company und war am Bau der 1100 Meilen langen Eisenbahnstrecke von Minneapolis nach Moose Jaw beteiligt. 1887 begann Mead ein zweites Studium an der Harvard University. Er studierte Philosophie bei Josiah Royce, George H. Palmer und Francis Bowen. Gleichzeitig nahm er eine Stelle als Hauslehrer bei William James an, um sich die Finanzierung seines Studiums zu erleichtern. Mead spezialisierte sich auf physiologische Psychologie und erhielt zum Wintersemester 1888/89 ein Stipendium für den Besuch der Universität Leipzig. Dort studierte er bei Wilhelm Wundt, bevor er 1889 nach Berlin wechselte und Schüler von Wilhelm Dilthey, Hermann Ebbinghaus, Gustav Schmoller und Friedrich Paulsen wurde und über Wundt und Paulsen auch auf Ferdinand Tönnies gelenkt.[1] Ohne Promotion wurde Mead 1891 als Dozent für Psychologie, Philosophie und Evolutionstheorie an die University of Michigan berufen. Inhaltlich befasste er sich mit den psychologischen Konsequenzen der Erkenntnistheorie sowie den Beziehungen von Organismen und Umwelt; besondere Themen waren das Problem der Aufmerksamkeit und die Wahrnehmung von Druck und Temperatur sowie der Begriff der Liebe, wie ihn William James in seiner Emotionstheorie verwendete. Dort lernte er Charles H. Cooley und John Dewey kennen; letzterer wurde für Mead zu einem lebenslangen Freund. Als Dewey 1894 an die kurz zuvor gegründete University of Chicago wechselte, folgte ihm Mead und erhielt eine Stelle als Assistenzprofessor in der Abteilung für Philosophie und Psychologie. Neben seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit engagierte sich Mead in Chicago stark in sozialreformerischen Projekten. So war er zeitweise als Schatzmeister für das Hull House tätig, einem Projekt mit-lebender Sozialarbeit vor Ort, durch das die übliche Distanz des Sozialarbeiters, der normalerweise nicht im Problemfeld der von ihm Betreuten lebte, durchbrochen werden sollte. Im Hull House wurden auch intellektuelle Diskussionsrunden organisiert. Mead engagierte sich zudem für Frauenrechte und setzte sich für eine pädagogisch orientierte Reform des Jugendstrafrechts ein. Er war Mitglied verschiedener Streikschlichtungskommissionen und mehrerer lokaler Reformkommissionen. Er war Mitglied und zeitweise Präsident des City Club, einer reformorientierten Vereinigung von Unternehmern und Intellektuellen, die sich bei der Demokratisierung der Lokalverwaltung, im Gesundheitswesen, bei der Integration von Zuwanderern und in der Berufsbildung einsetzte. Letzterem Thema galt seine besondere Aufmerksamkeit, so als zeitweiliger Herausgeber der Zeitschrift „Elementary School Teacher“, als Mitarbeiter der reformpädagogischen Versuchsschule der Universität Chicago oder als Präsident der Versuchsschule für verhaltensgestörte Kinder. Auch setzte er sich öffentlich für die umstrittene Reformorientierung der Universität von Wisconsin in Madison ein. Hans Joas bezeichnet all diese Aktivitäten als wichtige Einflussfaktoren auf das sozialpsychologische Werk von Mead.[2] Chicagoer Schule – Wirkung auf den Symbolischen Interaktionismus Mead zählt zu den amerikanischen Pragmatisten und Vertretern der Chicagoer Schule. In Abgrenzung zum deutschen Idealismus (Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel), dem Mead „solipsistischen Spuk“ vorwarf, versteht Mead – inspiriert von der Evolutionstheorie Darwins – das Bewusstsein des Menschen als evolutionäres Produkt der Auseinandersetzung des Organismus mit seiner Umwelt und nicht als Gabe, die dem Menschen etwa in die Wiege gelegt wäre und in Aprioris der Erkenntnis zu beschreiben wäre. Dabei setzt man, so Mead, das zu Erklärende bereits voraus. Meads Schüler Charles W. Morris (1903–1979) veröffentlichte 1934 auf der Basis von Vorlesungsmitschriften von Studierenden das später viel beachtete Werk: „Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist“. Mead selbst hat seine Theorie nie systematisch niedergelegt. Die Entwicklung des Symbolischen Interaktionismus durch seinen Schüler Herbert Blumer geht auf Meads Arbeiten zur Theorie der symbolvermittelten Kommunikation zurück, die Mead in jener Vorlesung über Sozialpsychologie, die er von 1900 bis 1930 in Chicago hielt, ausgearbeitet hat. Meads Hauptwerk: „Geist, Identität und Gesellschaft“ Mead beschäftigt sich in seinem Werk „Geist, Identität und Gesellschaft“ mit der Frage, wie die menschliche Identität zustande kommt und welchen Einfluss darauf die Gesellschaft, aber auch das Denken und der Geist des einzelnen Menschen, haben. Er beschreibt zunächst „Die Entstehung der Identität“, dann „Die Identität und das Subjektive“ und erklärt anschließend „Das Ich und das ICH“. Die Entstehung der Identität Laut Mead entsteht die Identität durch drei Medien: durch Sprache, Spiel und Wettkampf. Zuerst geht er genauer auf die Sprache ein: Es gibt die Sprache der Worte, der Gesten und der Mimik, damit kann man bestimmte Reaktionen bei sich selbst und bei anderen auslösen. Dabei kann man durch die Sprache Hinweise auf sich selbst geben (z. B. durch einen bestimmten Gesichtsausdruck oder gesprochene Worte) und so bei sich selbst und beim Anderen Reaktionen auslösen. Manchmal löst man bei sich selbst andere Reaktionen aus als beim Anderen (dies passiert, wenn man jemanden erschreckt), oft aber löst man in den anderen Organismen die gleichen Reaktionen aus wie bei sich selbst. Dafür muss die Bedingung gegeben sein, dass der gesellschaftliche Reiz auf das Individuum die gleiche Wirkung ausübt wie auf andere (wie z. B. in der Sprache, wo jeder den gleichen Sinn erfasst). Der Sinn von Gesten ist, dass eine zweite Geste auf die vorausgegangene erste Geste angemessen reagiert. Der Denkprozess (die nach innen verlegte Übermittlung von Gesten), der dem Kommunikationsprozess vorausgeht, findet grundsätzlich mit Symbolen statt (wir verbinden Wörter mit Objekten). Dabei müssen diese Symbole beim Denkenden und beim Anderen die gleiche Reaktion hervorrufen, damit die Kommunikation gelingt. Dies bedingt, dass unsere Symbole Allgemeinbegriffe sind. Es gilt dabei zu beachten, dass es Situationen gibt, in denen man in der eigenen Identität nicht die gleiche Reaktion auslöst wie beim Anderen (vgl. Schauspieler). Die zweite Art, auf die Identität entsteht, ist das Spiel. Hierzu zieht Mead das Beispiel der spielenden Kinder heran. Er unterscheidet das Rollenspiel vom nachahmenden und vom Wettspiel und bezeichnet diese als die einfachsten Formen der Identitätsbildung. Beim Rollenspiel schaffen sich Kinder in der Phantasie Spielgefährten. Sie versetzen sich in verschiedene Rollen und lernen so unterschiedliche Reaktionen kennen. Beim nachahmenden Spiel, z. B. Indianer-Spiel, passiert das Gleiche, auch hier setzen sich die Kinder mit verschiedenen Reiz-Reaktionen auseinander. Anders ist es beim Wettspiel. Dort hat das Kind viele Reize in sich, die in ihm selbst die gleichen Reaktionen auslöst wie in den anderen, und während es sich beim einfachen Spiel nur in eine andere Person hineinversetzten muss, muss es hier die Rolle aller anderen Mitspieler übernehmen können. In Anknüpfung an das Wettspiel beschreibt Mead die Entstehung der Identität im Wettkampf. Hierzu benutzt er das Beispiel des Ballspiels. Im Ballspiel wird jede eigene Handlung von den Annahmen über die voraussichtlichen Handlungen der anderen Spieler bestimmt. Jeder Spieler ist gleichzeitig auch jeder andere Spieler, denn alle sind durch ein gemeinsames Ziel verbunden. Dabei wird die gesellschaftliche Gruppe (in diesem Fall die Mannschaft), die dem Einzelnen seine Identität gibt, „der (das) generalisierte Andere“ genannt. Nur, indem der Einzelne die Haltung des generalisierten Anderen gegenüber sich selbst einnimmt, kann er denken. Dabei müssen jedoch bei allen Mitgliedern einer Gemeinschaft die gleichen Haltungen (organisierten Reaktionsgruppen) vorhanden sein (z. B. die Auffassung, dass man jemand anderem nicht den Ball entreißt). Durch den „generalisierten Anderen“ übt die Gemeinschaft folglich Kontrolle über das Verhalten des Individuums aus; die Gemeinschaft formt die Identität des Einzelnen. Ein Mensch hat also eine Persönlichkeit, weil er einer Gemeinschaft angehört (ob Sportmannschaft, Schulklasse oder Gesamtgesellschaft) und weil er die Institutionen dieser Gemeinschaft in sein eigenes Verhalten hereinnimmt (z. B. durch Sprache). Die Identität und das Subjektive Mead unterscheidet Identität von Bewusstsein. Bewusstsein im Sinne von Denken oder reflexiver Intelligenz ist nur für das Individuum selbst zugänglich, es hat einen subjektiven Charakter und beschreibt die Art, wie ein Organismus handelt. Im Gegensatz dazu erläutert er Identität als eine Struktur, die sich aus dem gesellschaftlichen Verhalten entwickelt und nicht aus der subjektiven Erfahrung des Organismus. Die hier gemeinte Identität entwickelt sich dann, wenn die Übermittlung von Gesten in das Verhalten des Einzelnen hereingenommen wird. Beide – Identität und Bewusstsein – sind phasenweise nur dem Einzelnen zugänglich, können aber veröffentlicht werden. Ein Beispiel ist das Aufstellen einer Theorie, die zunächst nur intern, mit Veröffentlichung allgemein zugänglich ist. Meads Gedanken zur Gemeinschaft sind folgende: Eine Gemeinschaft entwickelt sich weiter, wenn eine wechselseitige Beeinflussung zwischen den Individuen stattfindet, wenn die Reaktion der Gemeinschaft auf den Einzelnen institutionalisiert wird, also die ganze Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen gleich handelt. Jeder Mensch nimmt die Haltung der Gemeinschaft sich selbst gegenüber an, kann aber auch der Gemeinschaft antworten und darauf bestehen, die Normen der Gemeinschaft zu verbessern. Jeder steht also in einem Dialog mit der Gemeinschaft. Ein Beispiel für diesen Dialog wäre, wenn jemand vor Gericht zum Publikum spricht und seine Tat rechtfertigt. Wenn jemand nicht mit den Haltungen der Gemeinschaft einverstanden ist, kann er sich der ganzen Umwelt in den Weg stellen, indem er auf die Vernunft hört und dabei die Vergangenheit und die Zukunft in sein Denken mit einbezieht. Des Weiteren unterscheidet Mead Bewusstsein von Selbstbewusstsein (Identitätsbewusstsein). Bewusstsein ist Erfahrung, ein kognitives Phänomen, Selbstbewusstsein die Erkenntnis einer Identität als Objekt, ein emotionales Phänomen. Durch das Erfühlen der Haltung des Anderen gegenüber sich selbst entsteht ein Selbstbewusstsein, mit dem der einzelne Organismus in seinen Umweltsbereich eintritt. Dieses Selbstbewusstsein löst Handlungen im Individuum aus, die es auch in anderen auslöst, und es entwickelt damit insoweit eine Identität, als dass es die Haltung anderer einnehmen und sich selbst gegenüber so wie gegenüber anderen handeln kann. Selbst-bewusst, identitätsbewusst sein, heißt im Grunde, dank der gesellschaftlichen Beziehungen zu anderen für seine eigene Identität zum Objekt zu werden. Das „impulsive Ich“ und das „reflektierte Ich“ Als „impulsives Ich“ (″I″) bezeichnet Mead die persönliche, vorsoziale und subjektive Instanz der Persönlichkeit, „reflektiertes Ich“ („Me“') meint die von der Gesellschaft geprägte (gespiegelte) Seite der Persönlichkeit. Dabei ist das „I“ das, womit man sich identifiziert; die Reaktion des Organismus auf die Haltungen anderer. Es tritt nicht äußerlich hervor, dennoch reagiert es auf die Identität, die sich durch die Übernahme der Haltungen anderer entwickelt. Die Reaktion des „I“ ist unbestimmt und spontan. Auf das „I“ ist es zurückzuführen, dass wir uns niemals ganz unserer selbst bewusst sind, dass wir uns durch unsere eigenen Aktionen überraschen. Die Übernahme der organisierten Haltungen anderer und die Erinnerung geben dem Individuum sein „Me“ (z. B. weiß ein Fußballspieler, dass er den Ball anderen zuspielen muss). Dieses tritt auf, um die Pflicht des „I“ zu erfüllen. Dabei ist das „Me“ gegeben, die Reaktion darauf aber noch nicht. Das „I“ ruft also das „Me“ hervor und reagiert darauf. Zusammen bilden sie eine Persönlichkeit, welche durch ein gefestigtes Zusammenspiel beider Instanzen entsteht. Die Identität ist somit ein Prozess, der aus diesen beiden unterscheidbaren Phasen besteht. Theorien Meads – Gegenstimmen All diese Theorien haben Meads Schaffen geprägt, aber er konnte bei der Formulierung seiner anthropologischen Theorie zur Genese von Bewusstsein ganz besonders an Dewey – ein guter Freund Meads – anknüpfen und hat sich wiederholt sehr ausdrücklich von John B. Watson abgegrenzt. Wie Dewey versteht er Bewusstsein als ein Produkt der Kooperation von Individuen, das der (molekulare oder klassische) Behaviorismus, der jegliches Handeln in unverbundene Reiz-Reaktions-Phasen zerlegt, gar nicht fassen kann. Handeln versteht der Behaviorismus in den Begriffen Reiz, Reaktion und bedingte Konditionierung (später erweitert durch Skinner um die operante Konditionierung). Der Sozialbehaviorismus Meads dagegen sieht die Entwicklung von Bewusstsein einhergehen mit der Entwicklung signifikanter Symbole (Sprache). Symbole – Optimierung Symbole entstehen aus der Optimierung der Kooperation von Subjekten: Der Mensch nimmt wahr, dass sein Verhalten der Reiz für das Verhalten anderer ist. Indem er sein Verhalten kontrolliert, kann er das der anderen kontrollieren, so dass sich Kooperationsprozesse optimieren lassen. Diese Optimierung ist nur möglich über die Sprache, denn nur die stimmliche Geste können wir ebenso wahrnehmen wie unser Gegenüber. Daher können wir mit unserer Geste die Reaktion des Gegenübers verbinden, der Sinn unserer Geste liegt in der Reaktion des Anderen – unsere Geste ist damit eine signifikante Geste, d. h.: ein (signifikantes) Symbol. Über Symbole können wir unser Verhalten kontrollieren. Damit entsteht auch die Möglichkeit zum Selbstbewusstsein: Indem man sein Verhalten aus der Perspektive anderer kontrollieren kann, ist man aus dem Status des nur handelnden Subjekts entlassen. Man kann sich selbst zum Objekt werden aus der Perspektive der anderen mittels der Sprache, man kann sich in die Lage der Anderen versetzen, um sein Verhalten zu beurteilen. Dies ist notwendig für das Selbstbewusstsein, weil der Mensch sich als Subjekt seines Handelns nicht erfahren kann: Das Erleben des eigenen Erlebens erlebt man nicht aus der Perspektive des gerade Erlebenden. Phasen Mead nennt diese Phase der Reflexion das ME. Im ME sieht man sich aus der Perspektive des (generalisierten) Anderen. Das Handeln ist durch die eigene Reaktion auf das ME geprägt, durch die verinnerlichten Erwartungen der Anderen. Jene Phase des Handelns, der Reaktion des Subjekts auf die Hereinnahme der Haltungen des (generalisierten) Anderen nennt Mead I. I und ME bilden die Einheit der Differenz des SELF (Selbst, Identität). Die Identität bildet sich individualbiographisch durch das Durchleben des Kindes zweier Spielphasen: PLAY und GAME. In diesen lernt das Kind die Haltung anderer zu übernehmen, sein Verhalten nach deren Erwartungen abzustimmen. Zunächst im freien und naiven Spiel mit sich selbst (PLAY), dann im organisierten Wettkampf mit vielen Anderen (GAME). Das Kind übt eine Selbstkontrolle auf sich aus und unterliegt damit der sozialen Kontrolle der Gemeinschaften, denen es angehört und nach denen sich die soziale Struktur der Identität (ME) ausgebildet hat. Die unterschiedlichen Ansprüche verschiedener Gruppen zu koordinieren, das heißt verschiedene verinnerlichte Gruppenhaltungen zu synthetisieren, also die Einheit der Differenz von MEs herzustellen, ist eine der Aufgaben der Identität. Aus den daraus entstehenden moralischen Konflikten entwickelt Mead seine Theorie der Ethik und des Sozialen Wandels, die jedoch weit weniger beachtet wurden als seine Theorie der symbolvermittelten Kommunikation und der Entstehung von Identität und Bewusstsein. Werke Mead hat Zeit seines Lebens keine Bücher veröffentlicht. Jedoch sind nach seinem Tod vier Bücher erschienen, für die Texte aus seinen Vorlesungen (teilweise Mitschriften der Studenten), verschiedenen Aufsätzen und Arbeiten aus dem Nachlass verwendet wurden. Das bekannteste Buch ist: • Mind, Self, and Society. Edited by Charles W. Morris. Chicago 1934. (Deutsche Übersetzung: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1968, ISBN 0-226-51668-7) Die anderen drei Bücher: • • • The Philosophy of the Act. Edited by Charles W. Morris et al. Chicago 1938 The Philosophy of the Present. Herausgegeben von Arthur E. Murphy. La Salle (Illinois) 1932 (Neuausgabe 2002: Prometheus Books, Amherst, New York) Movements of Thought in the Nineteenth Century. Edited by Meritt H. Moore. Chicago 1936