Suizidgefährdung bei Demenzkranken

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Fortbildung
Das unterschätzte Risiko
Suizidgefährdung bei Demenzkranken
Auch wenn in Statistiken vollendete Suizide von Menschen mit Demenzerkrankung eher selten
dokumentiert werden, muss die Suizidgefährdung dieser Patienten ernst genommen werden.
Gerade in der Frühdiagnostik geistiger Abbauprozesse sollte eine mögliche Suizidgefährdung
evaluiert werden.
TILLMANN SUPPRIAN, DÜSSELDORF
ie Vorstellung, dass Menschen mit
einer Demenzerkrankung infolge
ihrer kognitiven Störungen zur Planung
und Durchführung einer Suizidhandlung nicht in der Lage seien, ist falsch.
Da der Anteil älterer Menschen rasch
wächst, steigt die Zahl von Demenzkranken in der Gesamtbevölkerung.
Die Angst vor Demenz ist weit verbreitet und die Erkrankung wird häufig mit
Abhängigkeit und Hilflosigkeit assoziiert. Behandlungskonzepte für Menschen mit Demenz sollten daher auch
eine mögliche Suizidgefährdung berücksichtigen. Wichtig sind eine Entstigmatisierung der Demenzerkrankungen sowie besondere Achtsamkeit im
Umgang mit depressiver Symptomatik
bei diesen Patienten.
Suizidepidemiologie
Der Grund für die seit den 1980er-Jahren insgesamt rückläufigen Suizidraten
wird in ­
einer verbesserten medizinischen und psychosozialen Versorgung
in Deutschland gesehen. Diese positive
Entwicklung steht aber möglicherweise
vor einer Trendwende. Im Jahr 2010
stieg die Anzahl vollendeter Suizide in
Deutschland wieder an und liegt damit
bei etwa 10.000. In Deutschland gibt es
erhebliche regionale Unterschiede. Östliche Bundesländer wie Sachsen und
Thüringen haben die höchsten Suizidziffern, in Nordrhein-Westfalen und
dem Saarland sind die Zahlen hingegen
relativ niedrig.
Die offiziellen Statistiken führen Sui­
zide auf, die aufgrund der ­äußeren Umstände eindeutig als Selbsttötung identifiziert werden können. Es besteht aber
eine Dunkelziffer durch tödlich verlauNeuroTransmitter 2013; 24 (3) fende Unfallereignisse, die nicht als Suizid erkannt werden. Auch sogenannte
indirekte Suizidhandlungen, etwa die
Verweigerung notwendiger medizinischer Behandlungen mit dem Ziel, den
eigenen Tod herbeizuführen – wie es bei
hochaltrigen Menschen beobachtet werden kann –, werden mitunter nicht als
Suizid erfasst.
Neben den vollendeten Suiziden spielen Suizidversuche für die medizinischen Versorgungssysteme eine große
Rolle. Es wird geschätzt, dass pro Jahr
mehr als 100.000 Suizidversuche verübt
werden, die für die Betroffenen bisweilen schwere Folgen haben. Infolge der
Selbsttötungsversuche kann es zu bleibenden Schädigungen und Funktionsbeeinträchtigungen kommen, die bislang unter sozio-ökonomischen Aspekten kaum erfasst werden.
Suizidprävention erfordert nationale
Anstrengungen – nicht nur wegen der
hohen Rate vollendeter Suizide, sondern
auch wegen der großen Zahl von Suizidversuchen. Nach einem Suizidversuch ist
das Risiko für weitere Suizidhandlungen
deutlich erhöht.
Die Anzahl vollendeter Suizide steigt
mit dem Lebensalter. Männer im höheren Lebensalter weisen derzeit eine mehr
als doppelt so hohe Suizidrate wie jüngere Männer auf. In den letzten Jahren
wächst allerdings auch der Anteil älterer
Frauen an der Gesamtzahl der Suizide.
Fast jede zweite Frau, die Suizid begeht,
ist über 60 Jahre alt. [8].
Demenzdiagnose und suizidales
Verhalten
Untersuchungen zur Mortalität bei Demenzerkrankungen haben für das Sui-
Die Suizidgefährdung von
Patienten mit
Demenzerkrankungen wird
häufig unterschätzt.
©© Christian Charisius / dpa
D
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Fortbildung
zidrisiko im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung keine höhere Gefährdung in
dieser Patientengruppe aufgezeigt. In
Verlaufsuntersuchungen wurden bei weniger als 1 % der Demenzpatienten Suizidversuche beobachtet [9]. Ein möglicher Grund für die relativ niedrige Anzahl vollendeter Suizide bei Patienten
mit manifester Demenzerkrankung
könnte darin liegen, dass die Betroffenen entweder durch Familienangehörige oder in Pflegeeinrichtungen relativ
intensiv betreut werden und viel Zuwendung erfahren. In einer Untersuchung
von Burns et al. [2] an 178 Demenzpatienten fand sich unter 84 Todesfällen
kein einziger Suizid. Auch in einer Untersuchung von Knopman et al. [5] wurde unter 20 Todesfällen kein Suizid festgestellt. Allerdings fanden Erlangsen et
al. [3] in einer skandinavischen Untersuchung bei Patienten, die älter als 70 Jahre alt waren und eine Demenz aufwiesen,
im Vergleich zu Menschen ohne eine
Demenz ein dreifach erhöhtes Suizidrisiko. Sie identifizierten 136 Suizide von
Patienten, bei denen eine Demenz diagnostiziert worden war. 26 % der männli-
Demenz und Suizidgefährdung
chen und 40 % der weiblichen Suizidopfer verstarben in den ersten drei Monaten nach Stellen der Diagnose Demenz.
In einer neuropathologischen Untersuchung von Rubio et al. [7] wurde dem
Zusammenhang zwischen hippokampalen Amyloidablagerungen und neurofibrillären Bündeln sowie vollendeten
Sui­
ziden in einer Fallkontrollstudie
durch semiquantitative Auswertung
nachge­gangen. Ausgeprägte alzheimertypische neuropathologische Befunde
waren in der Gruppe älterer Patienten
mit vollendeten Suiziden überrepräsentiert. In einer Literaturübersicht von
Haw et al. [4] wurden als mögliche Risikofaktoren für Suizidhandlungen bei
Demenzpatienten Depression, Hoffnungslosigkeit, leichte kognitive Störung, erhaltene Krankheitseinsicht, junges Lebensalter und fehlende Response
auf eine antidementive Pharmakotherapie genannt.
Frühdiagnostik und Suizidrisiko
Verbesserte Möglichkeiten in der Frühdiagnostik demenzieller Erkrankungen
führen zu einer steigenden Inanspruch-
Suizidprävention mit Antidepressiva?
Die Manifestation einer signifikanten depressiven Symptomatik erscheint auch bei
­Demenzpatienten als wichtiger Risikofaktor für suizidale Gefährdung. Unklar ist noch,
in welchem Umfang pharmakotherapeutische und psychotherapeutische Interventio­
nen in Bezug auf die depressive Symptomatik bei Demenzpatienten suizidpräventiv
sein könnten. Die Annahme, dass eine antidepressive Pharmakotherapie auch bei
­Alzheimer-Demenz klinisch wirksam ist, wurde jüngst durch zwei Studien in Zweifel
­gezogen: Bislang wurde der Einsatz von SRI als Mittel der ersten Wahl zur Behandlung
depressiver Störung bei depressiven Demenzpatien­ten genannt [10]. In der HTA-SADDStudie (Health Technology Assessment Study into the Use of Antidepressants for De­
pression in Dementia) [1] wurde die Wirksamkeit von Sertralin und Mirtazapin zur Be­
handlung depressiver Symptomatik bei Demenzpatienten jedoch infrage gestellt und
auf ein erhöhtes Risiko unerwünschter Arzneimittelwirkungen hingewiesen. Auch die
DIADS-II-Studie (Depression in Alzheimer Dis­ease Study) [6] fand keinen Beleg für eine
Wirksamkeit von Sertralin und ebenfalls ein erhöhtes Risiko unerwünschter Arzneimit­
telwirkungen.
Es ist weiterhin ungeklärt, ob eine antidepressive medikamentöse Therapie bei De­
menzpatienten Einfluss auf die Häufigkeit von Suizidversuchen oder vollendeten
­Suiziden hat. Kontrollierte Studien mit großen Patientenpopulationen in frühen Krank­
heitsstadien wären zur Klärung dieser Frage erforderlich.
Aus Sicht des Autors darf an Demenz erkrankten Patienten bei schwerer depressiver
Symptomatik eine antidepressive Pharmakotherapie nicht vorenthalten werden. Neben
Medikamenten sind auch andere unterstützende Interventionen und Hilfen bei diesen
Patienten unerlässlich. Im Hinblick auf die Tendenz zur „Singularisierung“ älterer Men­
schen (1-Personen-Haushalte) in vielen Regionen Deutschlands ist zu befürchten, dass
ein Zusammenwirken von Einsamkeit, Fehlen sozialer Unterstützung und beginnenden
Demenzerkrankungen das Suizidrisiko älterer Menschen weiter anwachsen lässt.
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Internetlinks zum Thema
­Suizidprävention
Informationen und Unterstützung bie­
ten die Deutsche Gesellschaft für Sui­
zidprävention (www.suizidprophylaxe.
de) und das Nationale Suizidpräventi­
onsprogramm (www.suizidpraeven­
tion-deutschland.de).
nahme von Gedächtnisambulanzen und
spezialisierten Einrichtungen. Die zurzeit verfügbaren symptomatischen Therapien der Alzheimer-Demenz werden
leitliniengestützt empfohlen, bieten den
Patienten aber nur sehr selten subjektiv
wahrnehmbare therapeutische Effekte.
Überzogene Erwartungen und eine daraus resultierende Enttäuschung im Therapieverlauf können Anlass für Suizidversuche von demenziell erkrankten Patienten in frühen Krankheitsstadien
sein. Bei Patienten mit gut erhaltener
Selbstwahrnehmung und großer Angst
vor der Progredienz des Demenzsyndroms (verbunden mit der erwarteten
Hilflosigkeit und Abhängigkeit) ist besondere Achtsamkeit bezüglich suizidaler Impulse geboten. Insbesondere wenn
die Einschaltung von Angehörigen in
das Gesamtbehandlungskonzept abgelehnt wird, sollte an eine mögliche suizidale Gefährdung der Betroffenen gedacht werden.
Die Frühdiagnostik demenzieller Syndrome erfordert grundsätzlich auch eine
behutsame Evaluation der Einstellung
zur Erkrankung und ­einer Suizidgefährdung. LITERATUR
unter springermedizin.de/neurotransmitter
Prof. Dr. med. Tillmann Supprian
Abteilungsarzt Gerontopsychiatrie
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie
und Psychotherapie
LVR-Klinikum Düsseldorf
Kliniken der Heinrich-Heine-Universität
Düsseldorf, Medizinische Fakultät
Bergische Landstr. 2, 40629 Düsseldorf
E-Mail: [email protected]
NeuroTransmitter 2013; 24 (3)
Literatur
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or Mirtazapin for depression in dementia
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