liszt britten reger - Münchner Philharmoniker

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LISZT
»Mazeppa«
BRITTEN
Serenade für Tenor,
Horn und Streicher
REGER
»Eine romantische Suite«
CARYDIS, Dirigent
STAPLES, Tenor
BRÜCKNER, Horn
Montag
10_10_2016 20 Uhr
Dienstag
11_10_2016 20 Uhr
Die ersten Veröffentlichungen
unseres neuen MPHIL Labels
Valery Gergiev
dirigiert Bruckner 4
& Mahler 2 zusammen
mit den Münchner
Philharmonikern
mphil.de
FRANZ LISZT
»Mazeppa«
Symphonische Dichtung Nr. 6 S 100
BENJAMIN BRITTEN
»Serenade for Tenor Solo,
Horn and Strings« op. 31
1. »Prologue«
2. »Pastoral«
3. »Nocturne«
4. »Elegy«
5. »Dirge«
6. »Hymn«
7. »Sonnet«
8. »Epilogue«
MAX REGER
»Eine romantische Suite«
nach Gedichten von Joseph von Eichendorff op. 125
1. »Notturno«: Molto sostenuto
2. »Scherzo«: Vivace
3. »Finale«: Molto sostenuto
CONSTANTINOS CARYDIS, Dirigent
ANDREW STAPLES, Tenor
JÖRG BRÜCKNER, Horn
Eine Aufzeichnung der Konzertserie durch den Bayerischen Rundfunk
wird am Samstag, dem 22. Oktober 2016, ab 20.05 Uhr auf BR-Klassik gesendet.
119. Spielzeit seit der Gründung 1893
VALERY GERGIEV, Chefdirigent
PAUL MÜLLER, Intendant
2
Todesritt und
Terzenstudie
MARCUS IMBSWEILER
FRANZ LISZT
(1811–1886)
»Mazeppa«
Symphonische Dichtung Nr. 6 S 100
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
Geboren am 22. Oktober 1811 im burgen­
ländischen Raiding (heute: Doborján / Un­
garn); gestorben am 31. Juli 1886 in Bay­
reuth.
TEXTVORLAGE
»Mazeppa« (1828), ein Text aus dem Ge­
dichtband »Les Orientales« (1829) von
Victor Hugo (1802–1885), der seinerseits
auf dem gleichnamigen Versepos (1819)
von Lord [George Gordon] Byron (1788–
1824) basiert.
ENTSTEHUNG
Während seiner Zeit als Hofkapellmeister
in Weimar (1843–1859) schrieb Liszt zwölf
Symphonische Dichtungen: programmati­
sche Orchesterwerke jenseits klassischer
Symphonik. Als Nr. 6 entstand im Jahr
1851 »Mazeppa«, das auf der gleichnami­
gen vierten der »Transzendentalen Etü­
den« für Klavier solo basiert. Die Entste­
hungsgeschichte dieser Etüde wiederum
reicht bis ins Jahr 1826 zurück, also bis zu
Liszts Anfängen als Komponist. Bei der
Ausarbeitung der Partitur stand ihm sein
langjähriger Assistent Joachim Raff zur
Seite.
URAUFFÜHRUNG
Am 16. April 1854 in Weimar im Großherzog­
lichen Hoftheater (GroßherzoglichWeimarische Hofkapelle unter Leitung von
Franz Liszt).
Franz Liszt: »Mazeppa«
3
Franz Liszt im Atelier von Franz Hanfstaengl in München (1858)
Franz Liszt: »Mazeppa«
4
EIN UKRAINER GEGEN RUSSLAND
Zwischen Symphonischer Dichtung und
Klavieretüde scheinen Welten zu liegen.
Hier die orchestrale Umsetzung einer pro­
grammatischen Idee, einer Erzählung oder
Bildfolge, dort die eher abstrakte Ausar­
beitung eines spieltechnischen Problems.
Dass es auch anders geht, dass Inhalt und
instrumentales Handwerk verschmelzen
können, dafür steht das Schaffen Franz
Liszts ein – besonders eindrucksvoll seine
Tondichtung »Mazeppa«.
Sie erzählt die Geschichte des Ukrainers
Iwan Stepanowitsch Mazepa (1639–1709),
der zur Strafe für einen Ehebruch nackt
auf ein Pferd gebunden und in der Steppe
seinem Schicksal überlassen wird. Kosaken
retten ihn vor dem sicheren Hungertod,
wählen ihn später sogar zu ihrem Anführer.
Einen Kosaken-Hetman namens Mazepa hat
es tatsächlich gegeben; zeitweise ein Ver­
bündeter Zar Peters des Großen, starb er
letztendlich im Kampf gegen die Russen.
Inwieweit auch der spektakuläre Todesritt
historischer Wahrheit entspricht, ist um­
stritten. Von Künstlern jedenfalls wurde
die Legende immer wieder aufgegriffen,
zunächst von Autoren wie Voltaire, Byron
und Puschkin, dann von Malern wie Géri­
cault, Vernet und Delacroix. Zur Vorlage
von Liszts Tondichtung wiederum wurde
ein Gedicht Victor Hugos aus dem Jahr
1828. Die Jahreszahl ist insofern von Inte­
resse, als die Entstehungsgeschichte der
Musik noch etwas früher einsetzt.
ETÜDEN-METAMORPHOSEN
1826 nämlich, mit gerade einmal 15 Jah­
ren, komponierte Liszt zwölf Klavier­
etüden, deren Nr. 4 eine eher schlichte
Terzenstudie in d-Moll darstellt. Elf Jahre
später, 1837, überarbeitete er sein Etü­
denwerk, mit zum Teil erheblichen Eingrif­
fen. So kommen die Terzpassagen der
Nr. 4 nun viel ungestümer daher und wer­
den von einer trotzigen Melodie überwölbt.
Noch einmal leicht verändert, veröffent­
lichte Liszt dieses Einzelstück separat,
und zwar unter dem Titel »Mazeppa«. Un­
schwer lassen sich die ursprünglich so bra­
ven, jetzt wild-bedrohlichen Terzfolgen
mit dem Todesritt Mazeppas in Verbindung
bringen und das packende d-Moll-Thema
mit dem unbeugsamen Charakter des Ver­
urteilten. Schon an diesem Punkt also löst
sich die Komposition vom rein Etüdenhaf­
ten – sie transportiert einen Inhalt.
Damit nicht genug, revidierte Liszt im Jahr
1851 die komplette Sammlung ein weiteres
Mal und gab ihr den Namen »Etudes d'exé­
cution transcendante«. »Transzendental«
muten ihre spieltechnischen Herausforde­
rungen an; darüber hinaus tragen nun alle
zwölf Einzelstücke eigene, charakteristi­
sche Überschriften. Zu den wichtigsten
Eingriffen bei der (nach wie vor »Mazeppa«
betitelten) Nr. 4 zählen eine kurze Einlei­
tung sowie eine marschartige Coda, der
Liszt die Schlussverse aus Hugos Gedicht
unterlegte: »Il tombe enfin ! … et se relève
Roi !« (»Noch einmal stürzt er … und steht
als König wieder auf.«) Nicht mehr nur der
Todesritt, sondern auch Rettung und
triumphale Rückkehr Mazeppas sind nun
Gegenstand der Musik.
DIE ORCHESTERFASSUNG
Im selben Jahr 1851 fertigte Liszt außer­
dem eine Orchesterversion von »Mazeppa«
an, die er seinem Zyklus Symphonischer
Dichtungen als Nr. 6 eingliederte. Aller­
Franz Liszt: »Mazeppa«
5
Horace Vernet: Mazeppa und die Wölfe (1826)
dings ist der Begriff »Version« mit Vorsicht
zu genießen, so einschneidend sind die Ver­
änderungen gegenüber sämtlichen Klavier­
fassungen. Die Terzpassagen der Ur­
sprungsetüde etwa fehlen vollständig und
sind durch alternative Bewegungschiffren
ersetzt: »stampfende« Triolenketten,
Tremoli, auf- und absteigende Tonleitern.
Etüdenhaft wirkt hier so gut wie nichts
mehr, alles ist plastische, detailgetreue
Darstellung. Zum Dreh- und Angelpunkt
der Komposition wird das »Mazeppa«Thema, das nicht nur in seiner trotzigdüsteren Variante erscheint, sondern auch
in einer schmerzlich-sehnsuchtsvollen
(»espressivo dolente«). Damit erweitert
Liszt gewissermaßen das Psychogramm
seines Helden, wechselt zwischen Innenund Außensicht.
Was den Aufbau des Werks angeht, lehnt
sich die Orchesterfassung an die Klavier­
version von 1851 an, führt die einzelnen
Teile aber deutlich breiter aus. Das betrifft
sowohl die Einleitung, die das Losstürmen
des Pferdes nach einem Peitschenhieb
schildert, als auch den Hauptteil mit dem
ständig variierten »Mazeppa«-Thema. Ein
Stocken der Bewegung bis hin zum totalen
Stillstand lässt sich als Zusammenbruch
Franz Liszt: »Mazeppa«
6
des Pferdes deuten, die folgende Andante-­
Passage als Mazeppas Todesahnungen.
Dann der Umschwung: Trompetensignale
künden von der Rettung des Helden. Die
Coda schließlich ist zu einem eigenen Groß­
abschnitt angewachsen, der, so Liszt, auch
separat aufgeführt werden kann. Es han­
delt sich um einen Triumphmarsch slawi­
schen Kolorits, thematisch an den »Arbei­
terchor« Liszts aus dem Revolutionsjahr
1848 angelehnt. Orientalische Stimmung
verbreitet der Mittelteil des Marschs, der
hohe Holzbläser mit Triangel und Becken
kombiniert.
»MAZEPPA« ALS
KÜNSTLER-ALLEGORIE
Lässt man die verschiedenen Entwick­
lungsstufen der »Mazeppa«-Komposition
Revue passieren, fällt auf, wie sich der
Schwerpunkt der Darstellung verlagert:
von der reinen Schilderung dramatischen
Geschehens hin zur epischen Erzählung
über Strafe und Belohnung, Tod und Auf­
erstehung. Dies durchaus im Sinne Victor
Hugos, dessen Mazeppa allegorisch für
das Schicksal des Künstlers steht. Im
zweiten Teil seines Gedichts vergleicht er
das galoppierende Pferd mit dem Genius
der Kreativität, der über die Grenzen un­
serer Welt hinausträgt. Indem der Künst­
ler Leiden erduldet, erreicht er eine neue
Ebene der Genialität: »Er steht als König
wieder auf.« Eben diese allegorische Auf­
fassung der Legende macht Mazeppa zu
einem romantischen Helden, weshalb Liszt
ihn nur zu gerne in eine Reihe mit den üb­
rigen Heroen seiner Tondichtungen stellte:
Tasso, Orpheus, Prometheus.
vom »dissonirenden Geheul« der Musik.
Aus heutiger Sicht liegt gerade hier, in der
Modernität ihrer Tonsprache, eine Stärke
der Partitur. Auf die überbordende Bild­
fülle des Gedichts antwortet Liszt mit
einem höchst differenzierten Orchester­
satz. Die Streicher sind streckenweise
elffach geteilt, unter die Seufzerfiguren
in den Bläsern mischen sich naturalisti­
sche Geräuscheffekte durch Spielanwei­
sungen wie pizzicato (gezupft) und col
legno (mit dem Bogenholz). Wie neu diese
Effekte für zeitgenössische Hörer waren,
berichtet Liszts Biographin Lisa Ramann:
»Bei der ersten Aufführung des Werkes,
in Weimar, unter Liszt, war die Wirkung
von solcher Naturwahrheit, daß mehrere
Zuhörer ihre Blicke plötzlich zur Höhe
wandten, vermeinend, Nachtvögel hätten
sich dahin verirrt.«
Nicht alle waren bereit, ihm hierin zu fol­
gen. Kritiker wie der Wiener Eduard Hans­
lick zeigten sich regelrecht abgestoßen
Franz Liszt: »Mazeppa«
GEDENKKONZERT FÜR
PETER SADLO
KAMMERORCHESTER DER
MÜNCHNER PHILHARMONIKER
(Leitung: Lorenz Nasturica-Herschcowici)
SCHLAGZEUGER DER
MÜNCHNER PHILHARMONIKER
Werke von
BACH, BARBA UND REICH
Sonntag
30_10_2016
—
17 Uhr
HIMMELFAHRTSKIRCHE
München-Sendling
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8
Wenn es
Nacht wird
WOLFGANG STÄHR
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
BENJAMIN BRITTEN
(1913–1976)
»Serenade for Tenor Solo, Horn and
Strings« op. 31
1. »Prologue«
2. »Pastoral«
3. »Nocturne«
4. »Elegy«
5. »Dirge«
6. »Hymn«
7. »Sonnet«
8. »Epilogue«
Geboren am 22. November 1913 in Lowe­
stoft (East Suffolk / England); gestorben
am 4. Dezember 1976 in Aldeburgh.
TEXTVORLAGEN
Brittens Serenade besteht aus einer Folge
von sechs altenglischen Dichtungen, deren
Spektrum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert
reicht: eine Pastorale von Charles Cotton
(1630–1687), ein Nocturne von Alfred Ten­
nyson (1809–1892), eine Elegie von William
Blake (1757–1827) aus dessen Sammlung
»Songs of Experience«, ein anonymer
Grabgesang aus dem 15. Jahrhundert, eine
»Hymn to Diana« von Ben Jonson (1572–
1637) sowie ein Sonett von John Keats
(1795–1821).
ENTSTEHUNG
Benjamin Britten lernte im Sommer 1942
den jungen britischen Hornisten Dennis
Brain (1921–1957) kennen, für den er ur­
sprünglich ein Hornkonzert schreiben woll­
te, bevor er die Anregung seines Verlegers
aufnahm, einen Liedzyklus zu komponie­
Benjamin Britten: Serenade
9
ren: für Tenor, Solohorn und (Streich-)
Orchester; der Tenorpart sollte natürlich
Peter Pears vorbehalten sein, Brittens
Lebensgefährten. Im Frühjahr 1943 war die
von einem instrumentalen Pro- und einem
Epilog gerahmte Vertonung der sechs eng­
lischen Gedichte vollendet: Brittens »Se­
renade for Tenor Solo, Horn and Strings«
op. 31.
WIDMUNG
»To Edward Sackville-West«. Baron Edward
Charles Sackville-West (1901–1965) war
ein britischer Romanschriftsteller, Musik­
kritiker, Vorstandsmitglied des Royal Ope­
ra House und in seinen späten Jahren Mit­
glied des House of Lords; in seinen diversen
Funktionen förderte er vor allem das
Schaffen seiner homosexuellen Freunde
Benjamin Britten und Michael Tippett.
URAUFFÜHRUNG
Am 15. Oktober 1943 in London in der Wig­
more Hall (Dirigent: Walter Goehr; Tenor:
Peter Pears; Horn: Dennis Brain).
UNTER FREUNDEN
Das Komponieren für bestimmte Instru­
mentalisten, Sänger oder Ensembles, fern­
ab der Routinezwänge eines Auftrags, war
für Benjamin Britten nicht nur anregend,
weil es seine Kreativität bündelte und auf
eine bekannte oder befreundete Persön­
lichkeit konzentrierte: Überblickt man sein
Lebenswerk, erscheint es fast als zwingen­
de Vorbedingung. Allein die Opernpartien
und Liedzyklen aufzuzählen, die er für sei­
nen Lebensgefährten, den Tenor Peter
Pears schuf, würde den Rahmen eines sol­
chen Artikels sprengen. Auch die Sänger
Janet Baker, Dietrich Fischer-Dieskau und
John Shirley-Quirk gehören als Adressaten
und Widmungsträger zur Entstehungsge­
schichte wichtiger Vokalkompositionen
Brittens. Der tiefen und herzlichen Freund­
schaft, die Britten mit dem russischen Cel­
listen Mstislaw Rostropowitsch verband,
verdanken wir eine ganze Reihe der bedeu­
tendsten Cellowerke des 20. Jahrhunderts:
die Sonate für Cello und Klavier, drei Solo­
suiten und die grandiose, in Moskau urauf­
geführte Symphonie für Cello und Orches­
ter.
Aus der Begegnung mit dem jungen, da­
mals 21-jährigen Hornisten Dennis Brain
im Sommer 1942 resultierte die Serenade
Opus 31. Ursprünglich hatte Britten an die
Komposition eines Hornkonzerts für Brain
gedacht, aber da er zu jener Zeit ganz im
Bann der Vorbereitungen zu seiner Oper
»Peter Grimes« stand, widerstrebte es
ihm, ein Werk jenseits der Vokalmusik zu
beginnen. Aus diesem Dilemma befreite ihn
ein Vorschlag des aus Wien emigrierten
Schönberg-Schülers Erwin Stein, der da­
mals für den Musikverlag Boosey & Hawkes
tätig war: Er legte Britten nahe, einen Lied­
zyklus zu komponieren für Tenor (dieser
Benjamin Britten: Serenade
10
Benjamin Britten (um 1940)
Benjamin Britten: Serenade
11
Solopart musste zwangsläufig für Pears,
den künftigen Peter Grimes, bestimmt
sein), Orchester und – um Dennis Brain ge­
recht zu werden – obligates Solohorn.
DIE HEIMKEHR NACH ENGLAND
Die Serenade, deren Titel zunächst »Noc­
turne« oder »Nocturnes« lauten sollte –
den verbindenden Gedanken der um Däm­
merung, Dunkel, Tod und Schlaf und die
Nachtseiten der Seele kreisenden Gedichte
angemessen –, markiert Brittens Rückkehr
nach England. Im buchstäblichen Sinne wa­
ren Britten und Pears tatsächlich gerade
– im April 1942 – von einem dreijährigen
Aufenthalt in Nordamerika heimgekehrt.
Nachdem sich Britten mit französischer
(»Les Illuminations« nach Rimbaud, 1939)
und italienischer Dichtung (»Seven Son­
nets of Michelangelo«, 1940) musikalisch
auseinandergesetzt hatte, wandte er sich
nun englischer Lyrik zu: einem anonymen
Grabgesang aus dem 15. Jahrhundert,
einer Hymne an Diana aus der Feder des
begnadeten Dramatikers Ben Jonson
(1572–1637), einem Hirtenidyll von Charles
Cotton (1630–1687), den kühnen Visionen
des Dichters, Malers und Kupferstechers
William Blake (1757–1827), einem Sonett
des Romantikers John Keats (1795–1821)
und der erlesenen Wortkunst Alfred Tenny­
sons (1809–1892). Von ihm, Lord Tenny­
son, vertonte Britten noch ein anderes
Gedicht, »Now sleeps the crimson petal«.
Erst 1987 wurde das Manuskript im Nach­
lass von Erwin Stein entdeckt. Warum der
Komponist dieses Lied am Ende doch nicht
für seinen Zyklus berücksichtigte, darüber
lässt sich nur spekulieren.
»DAS ANTLITZ DES BÖSEN«
Brittens Serenade gleicht aber nicht allein
einer Heimkehr zum englischen Wort, son­
dern auch zur englischen Musik, denn der
deklamatorische Duktus der Tenorpartie,
rhythmisch agil und zwischen Rezitativ und
Arioso bruchlos wechselnd, verrät das Vor­
bild des von Britten bewunderten Henry
Purcell. Ebenfalls an Purcell gemahnt die
Kompositionskunst des »English ground«,
die Britten für die Vertonung des Grab­
gesangs (»Dirge«) wählte: Der Tenor singt
ein (unangenehm hoch liegendes) Ostinato
von sechs Takten, das die Streicher mit
einem trauermarschartig rhythmisierten
Fugato einfassen. Der späte Einsatz des
Solohorns auf dem Höhepunkt des Satzes
lässt einem wahrlich das Blut in den Adern
gefrieren. Edward Sackville-West, der
Dichter und Kritiker – und Widmungsträger
der Serenade –, erahnte in dieser Kompo­
sition das »Antlitz des Bösen«, das »Ge­
fühl der Sünde im menschlichen Herzen«.
Die Hymne, das sich unmittelbar anschlie­
ßende Lied, lässt uns wieder frei atmen:
mit scherzohafter, schwereloser, elfen­
leicht schwebender Bewegung, »presto e
leggiero«.
Das ergreifendste, quälend ausdrucks­
stärkste Stück des Zyklus ist wohl die Ele­
gie nach Versen von William Blake, ein kur­
zes, düsteres Rezitativ des Tenors, das
gerahmt wird vom Vor- und Nachspiel des
Orchesters, und diese jeweils 17 Takte sind
erfüllt von einer unheilvollen, nahezu un­
erträglichen Spannung. Gewalt und Über­
wältigung, die Zerstörung der Reinheit und
Unschuld, die Bedrohung durch das Böse
– Brittens Lebensthemen – sprechen wort­
los und unmissverständlich aus dieser Mu­
Benjamin Britten: Serenade
12
sik. Anfang und Ende der Serenade, in der
Partitur als Prolog und Epilog überschrie­
ben, werden vom Hornisten allein bestrit­
ten. Britten beschränkte sich bei der Kom­
position dieser Soli auf die Töne der Natur­
tonreihe des Horns, die folglich auch auf
einem ventillosen Naturhorn geblasen wer­
den können. Romantisch-sehnsuchtsvolle
Assoziationen an Wald und Jagd, an Ferne
und Unendlichkeit ruft der Hörnerschall
wach, insbesondere im Epilog, der »off
stage«, hinter der Bühne, gespielt werden
soll: »Blow, bugle, blow, set the wild echoes
flying.«
sich auch hier nach und nach andere ein,
die über die Technik verfügten, es eben­
falls zu spielen.«
Der berühmteste Nachfolger des 1957 bei
einem Autounfall ums Leben gekommenen
Dennis Brain ist ohne Zweifel der australi­
sche Hornist Barry Tuckwell. Britten
schätzte ihn als Solisten seiner Serenade
so sehr, dass er ihn für die zweite Aufnah­
me der Komposition unter seiner Leitung,
die im Mai 1963 entstand, verpflichtete –
zusammen mit Pears und den Streichern
des London Symphony Orchestra.
DAS SPIEL DES UNSPIELBAREN
Dennis Brain war nicht nur der Solist der
Uraufführung am 15. Oktober 1943 in der
Londoner Wigmore Hall (mit Peter Pears
und einem kurzfristig zusammengestellten
Streichorchester unter Leitung von Walter
Goehr) und der ersten Schallplattenein­
spielung, die Britten selbst im Mai 1944 in
London dirigierte: Er war zuvor auch, hel­
fend und beratend, am Entstehungspro­
zess der Serenade wesentlich beteiligt.
»Er war stets sehr vorsichtig, ehe er
Änderungswünsche unterbreitete«, erin­
nerte sich Britten. »Abschnitte, die, selbst
angesichts seiner ungeheuren Fähigkeiten,
unspielbar schienen, wurden wieder und
wieder geübt: Dann erst entschloss er sich,
mir einen kompositorischen Eingriff vorzu­
schlagen. Sein Respekt vor den Ideen eines
Komponisten war grenzenlos. Eine Zeitlang
schien es, als ob niemand außer ihm jemals
fähig sein würde, sie [die Serenade Opus
31] adäquat zu spielen. Aber wie es ge­
wöhnlich geschieht, wenn ein Stück exis­
tiert und ein meisterlicher Musiker, der
zeigt, dass man es spielen kann, fanden
Benjamin Britten: Serenade
13
»Serenade«
BENJAMIN BRITTEN
1. »PROLOGUE«
(Solohorn)
1. »PROLOG«
2. »PASTORAL«
2. »PASTORALE«
The day’s grown old; the fainting sun
Has but a little way to run,
And yet his steeds, with all his skill,
Scarce lug the chariot down the hill.
Der Tag ist alt geworden, die bleichende Sonne
Hat nur noch einen kurzen Lauf vor sich.
Doch Phöbus’ Rosse, trotz seiner Kunst,
Ziehen den Wagen nur mühsam hinab.
The shadows now so long do grow,
That brambles like tall cedars show;
Mole hills seem mountains, and the ant
Appears a monstrous elephant.
Die Schatten wachsen jetzt so lang,
Dass Sträucher hoch wie Zedern aussehen;
Maulwurfshügel sind wie Berge, und die Ameise
Erscheint wie ein ungeheurer Elefant.
A very little, little flock
Shades thrice the ground that it would stock;
Whilst the small stripling following them
Appears a mighty Polypheme.
Eine winzig kleine Herde
Beschattet dreimal mehr an Boden als sonst,
Und der kleine Knabe, der ihr folgt,
Erscheint wie ein mächtiger Polyphem.
And now on benches all are sat,
In the cool air to sit and chat,
Till Phoebus, dipping in the west,
Shall lead the world the way to rest.
Nun haben sich alle auf Bänke gesetzt,
Um in der kühlen Luft zu sitzen und zu plaudern,
Bis Phöbus im Westen untertaucht
Und der Welt den Weg zur Ruhe weist.
Charles Cotton (1630–1687)
»Serenade«: Die Gesangstexte
14
3. »NOCTURNE«
3. »NOCTURNO«
The splendour falls on castle walls
And snowy summits old in story:
The long light shakes across the lakes,
And the wild cataract leaps in glory:
Blow, bugle, blow, set the wild echoes
flying,
Bugle, blow; answer, echoes,
answer dying, dying, dying.
Der Glanz fällt auf die Mauern des Schlosses
Und schneeige Gipfel, sagenhaft alt;
Die lange Nacht zieht über die Seen,
Der wilde Wasserfall springt herrlich auf;
Blas, Hifthorn, blas ! Lass die wilden Echos
fliegen !
Blas, Hifthorn ! Gebt Antwort, Echos,
ersterbend !
O hark, O hear ! how thin and clear,
And thinner, clearer, farther going !
O sweet and far from cliff and scar
The horns of Elfland faintly blowing !
Blow, let us hear the purple glens
replying:
Bugle, blow; answer, echoes, answer, dying, dying, dying.
O horch, o hör, wie fein und klar,
Und feiner, klarer, weiter fort !
Wie süß und fern von Klippen und Felsen
Die Hörner Elflands leise herüberblasen.
Blas, lass die purpurnen Schluchten
widerhallen.
Blas, Hifthorn ! Gebt Antwort, Echos,
ersterbend !
O love, they die in yon rich sky,
They faint on hill or field or river:
Our echoes roll from soul to soul,
And grow for ever and for ever.
Blow, bugle, blow, set the wild echoes
flying,
And answer, echoes, answer, dying, dying,
dying.
O Lieb, sie sterben in dem reichen Himmel,
Verklingen über Hügeln, Feldern und Flüssen;
Unsere Echos hallen von Seele zu Seele
Und wachsen immerfort.
Blas, Hifthorn, blas ! Lass die wilden Echos
fliegen !
Gebt Antwort, Echos,
ersterbend !
Alfred Tennyson (1809–1892)
4. »ELEGY
4. »ELEGIE
O Rose, thou art sick !
The invisible worm,
That flies in the night
In the howling storm,
Has found out thy bed
Of crimson joy:
And his dark secret love
Does thy life destroy.
O Rose, du bist krank !
Der unsichtbare Wurm,
Der in der Nacht fliegt,
Im heulenden Sturm,
Entdeckte dein Bett
Der roten Freuden,
Und seine dunkle, heimliche Liebe
Zerstört dein Leben.
William Blake (1757–1827)
»Serenade«: Die Gesangstexte
15
5. »DIRGE«
5. »TRAUERGESANG«
This ae nighte, this ae nighte,
Every nighte and alle,
Fire and fleet and candlelighte,
And Christe receive thy saule.
Diese Nacht, vielleicht schon diese Nacht –
Jede Nacht und alle !
Liegst du im Sarg bei Kerzenlicht,
Und Christus nehme deine Seele auf.
When thou from hence away art past,
Every nighte and alle,
To Whinnymuir thou com’st at last;
And Christe receive thy saule.
Wenn du von hinnen gefahren bist –
Jede Nacht und alle !
So kommst du auf die Dornenheide,
Und Christus nehme deine Seele auf.
If ever thou gavest hosen and shoon,
Every nighte and alle,
Sit thee down and put them on;
And Christe receive thy saule.
Wenn du jemals Rode und Schuhe schenktest –
Jede Nacht und alle !
Setz dich nieder und zieh sie an,
Und Christus nehme deine Seele auf.
If hosen and shoon thou ne’er gav’st nane
Every nighte and alle,
The whinnes sall prick thee
to the bare bane;
And Christe receive thy saule.
Wenn du niemals Rock und Schuhe schenktest –
Jede Nacht und alle !
Werden die Dornen dich
bis auf die Knochen stechen,
Und Christus nehme deine Seele auf.
From Whinnymuir when thou may’st pass,
Every nighte and alle,
To Brig o’ Dread thou com’st at last;
And Christe receive thy saule.
Wenn du die Dornenheide verlassen darfst –
Jede Nacht und alle !
Kommst du zur Brücke des Schreckens,
Und Christus nehme deine Seele auf.
From Brig o’ Dread
when thou may’st pass,
Every nighte and alle,
To Purgatory fire thou com’st at last;
And Christe receive thy saule.
Wenn du die Brücke des Schreckens
verlassen darfst –
Jede Nacht und alle !
Kommst du ins Fegefeuer,
Und Christus nehme deine Seele auf.
If ever thou gavest meat
or drink,
Every nighte and alle,
The fire sall never make thee shrink;
And Christe receive thy saule.
Wenn du jemals zu essen
und trinken schenktest –
Jede Nacht und alle !
Wird das Feuer dich nicht versengen,
Und Christus nehme deine Seele auf.
»Serenade«: Die Gesangstexte
16
If meat or drink
thou ne’er gav’st nane,
Every nighte and alle,
The fire will burn thee
to the bare bane;
And Christe receive thy saule.
Wenn du niemals zu essen
und trinken schenktest –
Jede Nacht und alle !
Wird das Feuer dich
bis auf die Knochen brennen,
Und Christus nehme deine Seele auf.
This ae nighte, this ae nighte,
Every nighte and alle,
Fire and fleet and candlelighte,
And Christe receive thy saule.
Diese Nacht, vielleicht schon diese Nacht –
Jede Nacht und alle !
Liegst du im Sarg bei Kerzenlicht,
Und Christus nehme deine Seele auf.
Anonymus (15. Jahrhundert)
6. »HYMN«
6. »HYMNE«
Queen and huntress, chaste and fair,
Now the sun is laid to sleep,
Seated in thy silver chair,
State in wonted manner keep:
Hesperus entreats thy light,
Goddess excellently bright.
Königin und Jägerin, keusch und schön,
Da nun die Sonne schlafen ging,
Von deinem silbernen Thron aus
Herrsche in gewohnter Weise;
Hesperus ersehnt dein Licht,
Du leuchtend helle Göttin !
Earth, let not thy envious shade
Dare itself to interpose;
Cynthia’s shining orb was made
Heav’n to clear when day did close:
Bless us then with wished sight,
Goddess excellently bright.
Erde, lass deinen neidischen Schatten
Nicht kühn dazwischen treten;
Cynthias heller Kreis ist bestimmt
Den Himmel zu erhellen, wenn der Tag vorüber ist;
Beglücke uns mit dem erwünschten Anblick,
Du leuchtend helle Göttin !
Lay thy bow of pearl apart,
And thy crystal shining quiver;
Give unto the flying hart
Space to breathe, how short so-ever:
Thou that mak’st a day of night,
Goddess excellently bright.
Leg deinen Perlenbogen beiseite,
Und deinen kristallglänzenden Köcher,
Lass dem fliehenden Hirschen
Zeit zum Atemholen, sei's auch kurz,
Die du zum Tag die Nacht machst,
Du leuchtend helle Göttin !
Ben Jonson (1572–1637)
»Serenade«: Die Gesangstexte
17
Dennis Brain, Hornist und Uraufführungssolist der Serenade
»Serenade«: Die Gesangstexte
18
7. »SONNET«
7. »SONETT«
O soft embalmer
of the still midnight,
Shutting, with careful fingers and benign,
Our gloompleas’d eyes,
embower’d from the light,
Enshaded in forgetfulness divine:
O soothest Sleep ! if so it please thee, close,
In midst of this thine hymn
my willing eyes.
Or wait the »Amen«
ere thy poppy throws
Around my bed its lulling charities.
Then save me,
or the passed day will shine
Upon my pillow, breeding many woes,
Save me from curious conscience,
that still lords
Its strength for darkness,
burrowing like a mole;
Turn the key deftly in the oiled wards,
And seal the hushed casket
of my Soul.
Du linder Balsamspender
der stillen Mitternacht,
Du schließest uns mit sanfter Hand und gütig
Die Augen, vom Dunkel beglückt,
vorm Licht geschützt,
Umschattet von göttlichem Vergessen.
O milder Schlaf ! Gefällt es dir,
so schließ
Mir mitten in deinem Preislied
die willigen Augen,
Oder erwarte das Amen,
ehe deine Mohnblüte
Um mein Bett ihre einschläfernden Gaben
ausstreut.
Dann schütze mich,
sonst scheint der vergangene Tag
Auf meine Kissen, brütet manchen Jammer;
Schütz mich vor dem nagenden Gewissen,
Das seine Kraft noch bis zur Dunkelheit
zurückhält und wie ein Maulwurf wühlt;
Dreh flink den Schlüssel im geölten Schloss um
Und versiegle den verstummten Schrein
meiner Seele.
John Keats (1795–1821)
8. »EPILOGUE«
(Solohorn »off stage«)
8. »EPILOG«
Übersetzungen ins Deutsche:
Gerd Ueckermann
»Serenade«: Die Gesangstexte
19
Mondnacht,
Elfentanz
und Helios
MICHAEL KUBE
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
MAX REGER
(1873–1916)
»Eine romantische Suite«
nach Gedichten von
Joseph von Eichendorff op. 125
1. »Notturno«: Molto sostenuto
2. »Scherzo«: Vivace
3. »Finale«: Molto sostenuto
Geboren am 19. März 1873 in Brand / Ober­
pfalz; gestorben am 11. Mai 1916 in Leip­
zig.
ENTSTEHUNG
Nicht erst während seiner Anstellung als
Meininger Hofkapellmeister nutzte Max
Reger vor allem die von Konzerten weitge­
hend freien Frühjahrs- und Sommermonate
zur Niederschrift neuer Werke. Für das
Jahr 1912 hatte er bereits am 3. März Her­
zog Georg II. von Sachsen-Meiningen
brieflich von seinem Plan in Kenntnis ge­
setzt, neben anderem auch ein dreisätzi­
ges Orchesterwerk komponieren zu wollen.
Die von ihm zunächst noch als »Eine Nacht­
musik« bezeichnete Partitur wurde zwi­
schen Ende Mai und Ende Juli 1912 in
Schneewinkl bei Berchtesgaden und in Mei­
ningen vollständig ausgearbeitet. Am 16.
September erschien das Werk bereits im
Druck.
WIDMUNG
Reger widmete seine »Romantische Suite«
dem Dirigenten Hugo Grüters (1851–
Max Reger: »Eine romantische Suite«
20
1928), der zwischen 1898 und 1922 als
Städtischer Musikdirektor in Bonn wirkte.
Grüters, mit dem Reger häufig auch vier­
händig spielte, hatte in dieser Funktion
mehrfach erfolgreich Orchesterwerke so­
wie Chor- und Kammermusik von Reger zur
Aufführung gebracht.
URAUFFÜHRUNG
Am 11. Oktober 1912 in Dresden (Königlich
Sächsische Hofkapelle [heute: Sächsische
Staatskapelle Dresden] unter Leitung von
Ernst von Schuch; auf dem Programm stan­
den ferner Schumanns »Genoveva«Ouvertüre und Bruckners 5. Symphonie.
Bereits in der Saison 1912/13 kam es zu
30 (!) weiteren Aufführungen der »Roman­
tischen Suite« in Deutschland, vielfach
durch die von Reger selbst geleitete Mei­
ninger Hofkapelle.
ZWISCHEN SPÄTROMANTIK UND
BACH’SCHER STRENGE
Gemeinhin haftet dem Œuvre von Max
Reger der Makel des Übermäßigen und Un­
verständlichen an – ein Vorwurf, der ins­
besondere durch die kompositorisch dicht
gefügten, formal wie klanglich ausufern­
den Werke der Münchner Jahre befördert
wurde. So waren es neben einer Vielzahl
von Liedern und Orgelstücken vor allem der
»Gesang der Verklärten« op. 71, das
Streichquartett d-Moll op. 74, später dann
auch die Sinfonietta op. 90, deren groß­
flächig angelegtes avanciertes Wechsel­
spiel zwischen spätromantischer Harmonik
und kontrapunktischer Durchdringung für
Irritationen und teilweise massiv vorgetra­
gene Kritik sorgten. Überhört wurden da­
bei freilich all jene Themen, Passagen,
Sätze oder auch Werke, in denen eine ganz
andere, nachgerade empfindsame Seite
des Komponisten zum Vorschein kommt.
Sie erweist sich nicht nur als zart fühlend,
sondern fast als zerbrechlich und klingt
mit ihren modalen Wendungen wie ein von
innen kommendes romantisches Schweben,
das die äußerliche Kraft und Komplexität
der Werke als schützende Hülle erscheinen
lässt. Dies betrifft auch die drei oben ge­
nannten Werke, nur dass es einer Neuaus­
richtung des Hörens bedarf, um diese Mo­
mente nicht mehr länger nur als Kontrast,
sondern als Kern zu begreifen.
»VON ELEKTRISCHEN FUNKEN
UMWIRBELTE GENIALITÄT«
Diese beiden klingenden Pole muten letzt­
lich wie ein Spiegel von Regers gebroche­
ner Psyche an, wie sie etwa der deutsche
Literat Max Brod anlässlich eines Prager
Gastspiels im Dezember 1910 erlebt und
festgehalten hat: »Wir sitzen und trinken.
Max Reger: »Eine romantische Suite«
21
Heinrich Hübner: Max Reger (1936)
Max Reger: »Eine romantische Suite«
22
Besonders eifrig trinkt Reger. Daheim
überwacht ihn seine Frau, so erzählt er
unbefangen; auf Konzertreise fühlt er sich
frei. […] Aus dionysischen Freuden verfällt
er in bitteres Schluchzen. Die Arme liegen
auf dem Tisch, das rote Gesicht tränen­
überströmt auf den Armen. »Meine arme
Mutter. O Gott, meine Mutter. Sie ist im
Irrenhaus.« […] Am nächsten Tag […] zeig­
ten [wir] ihm die Prager Burg. Jetzt war er
ernst und großartig. Nie wieder habe ich
so stark das Gefühl gehabt, dass um eine
geniale Person die elektrischen Funken wir­
belnd toll zur Erde knistern. […] Am Abend
[…] wurde mir die Ehre zuteil, den Halbgott
ins Konzert zu lotsen. […] Reger saß in sei­
nem Zimmer bei Cognac, er war nicht mehr
in schlichtmenschlichen Regionen. […] Nun,
das wird ja heute abend im Konzert schön
werden, dachte ich herzensbekümmert.
Und dann, im großen Saal, spielte Reger mit
einer Zartheit, einer gottergriffenen Innig­
keit, einer Feinheit und Präzision, wie ich
zeitlebens nie wieder Klavier spielen ge­
hört habe.«
AUF DEM WEG ZUR SYMPHONIE
Gleichermaßen Komponist wie Interpret,
bestimmten und stimulierten bei Reger
biographische Konstellationen und künst­
lerische Erfolge den jeweiligen Schwer­
punkt seines Schaffens. Dies betrifft nicht
nur die Zeit nach der Rückkehr in das
Elternhaus nach Weiden (1898), während
der, neben zahlreichen Bearbeitungen, Lie­
dern und Orgelstücken, ein Fundus an eige­
nen Kammermusikwerken angelegt wurde,
sondern mehr auch der Wechsel nach Mün­
chen (1901), später die Berufung nach
Leipzig zum Universitätsmusikdirektor
(1907). Vier Jahre später wurde Reger
schließlich zum Kapellmeister der Meinin­
ger Hofkapelle ernannt, für die er dann
auch die meisten seiner Orchesterwerke
schrieb. Hier hatte er, protegiert durch
den kunstliebenden aber tauben (!) Herzog
Georg II., einen ebenso traditionsreichen
wie hochkarätigen Klangkörper zur Verfü­
gung, mit dem die eigenen Werke in vorbild­
lichen Interpretationen einstudiert und
aufgeführt werden konnten. Kurios mutet
es allerdings an, dass sich Reger zeitlebens
zu keiner Symphonie durchringen konnte,
obwohl ein solches Werk von Beginn seiner
Komponistenlaufbahn an als Ziel anvisiert
war. Ungeklärt ist bis heute, ob ein als
Opus 18 vorgesehenes Werk aus dem Jahre
1896 wirklich fertig gestellt wurde und
möglicherweise auf dem Postweg an einen
Londoner Verleger verloren ging. Gleich­
wohl kommt die in München entstandene
Sinfonietta op. 90 (1904/05) in vieler Hin­
sicht dem Anspruch der Gattung sehr nahe.
Auch die »Vier Tondichtungen nach Arnold
Böcklin« op. 128 (1913) sind in diesem
Kontext als symphonischer Entwurf zu ver­
stehen, so wie es Reger selbst seinem
Freund Karl Straube, dem Leipziger Tho­
maskantor, in einem Brief vom Dezember
1912 mitteilte: Er wollte »im nächsten
Sommer ›als Vorbereitung‹ zur Symphonie
außer den Tondichtungen ›noch etwas un­
endlich Graziöses‹ schreiben« – und mein­
te damit die aus sechs kleiner disponierten
Sätzen bestehende »Ballettsuite« op. 130.
NACHTMUSIKEN,
LITERARISCH ILLUSTRIERT
In diesem Kontext nimmt die »Romantische
Suite« op. 125 eine singuläre Stellung ein
– hat Reger den Sätzen doch jeweils ein
Gedicht von Joseph von Eichendorff
(1788–1857) vorangestellt und bestand
bei Aufführungen auch auf deren vollstän­
digen Abdruck im Programmheft. Fraglich
ist allerdings, auf welche Weise diese lyri­
Max Reger: »Eine romantische Suite«
23
schen Texte mit der Komposition verbun­
den sind. So griff Reger bei der endgültigen
mehr musikalisch-sachlichen Bezeichnung
der drei Sätze (nämlich als »Notturno«,
»Scherzo« und »Finale«) weder auf die
originalen Titel der Gedichte zurück (diese
lauten »Nachtzauber«, »Elfe« und »Adler«),
noch auf die von ihm zwischenzeitlich er­
wogenen Überschriften »Mondnacht«, »El­
fentanz« und »Helios«. Darüber hinaus
griff Reger – wie dies auch andere Kompo­
nisten, z. B. Mahler, taten – massiv in die
ausgewählten Dichtungen ein: Indem er aus
Eichendorffs »Nachtzauber« die zweite,
auf eine vergangene Liebe verweisende
Strophe ebenso strich wie die gesamte
zweite Hälfte des »Adler«, richtete er die
beiden rahmenden Texte im Sinne einer Na­
turschilderung ein, die als solche auch dem
musikalischen Charakter der beiden Sätze
entspricht.
»MONDNACHT«, »ELFENTANZ«
UND »SONNENAUFGANG«
Offen bleiben muss, wie weit Eichendorffs
Verse, die Reger offenbar schon frühzeitig
ausgewählt hatte, wirklich als eine Art
dichterischer Konkretisierung selbst er­
fahrener Inspirationsquellen dienten. So
heißt es am 29. Juni 1912 in einem Brief an
den Verlag mit humoristischem Unterton:
»Satz I (Notturno – eine thüringische
Mondnacht) und Satz II (Scherzo – Elfen­
tanz !) in Partitur fix u. fertig; nun arbeite
ich an Satz III (letzter !) (Helios – Sonnen­
aufgang !) Das ganze Werk nach Gedichten
von Eichendorff als ›Programm‹ ! Ich habe
ja bei meinen Leipziger Fahrten, wenn ich
auf der nächtlichen Heimreise durch den
Thüringer Wald fahre, so recht Gelegen­
heit, Thüringer Mondnacht kennen zu ler­
nen.« In diesem Sinne kann dann auch jene
Anekdote verstanden werden, die in der
Überlieferung auf unterschiedliche Werke
bezogen wird, jedoch auch für die »Roman­
tische Suite« gelten kann: Als Richard
Strauss bemerkte: »Reger, noch einen
Schritt weiter, dann Sie sind bei uns !«,
erwiderte dieser: »Genau diesen Schritt
werde ich eben nicht tun...«
AUFSCHWUNG ZU LEUCHTENDER
VERKLÄRUNG
Folglich bleibt sich Reger in der komposi­
torischen Substanz, der Ausarbeitung und
Instrumentation der »Romantischen Sui­
te« treu, auch wenn der Anfang des ersten
Satzes nahezu impressionistisch anmutet.
Dies zeigt sich an den mehr poetischen,
sich über einem dicht gewobenen Begleit­
stimmensatz entfaltenden Gesten der Vio­
linen, denen zwar in den Hörnern mehrfach
ein fahl abgetöntes B-A-C-H-Motiv entge­
gentritt, die sich aber immer wieder zu
einer leuchtenden Verklärung aufschwin­
gen. Im Scherzo entfaltet Reger dann einen
ungeahnt leichten, an Webers »Oberon«
erinnernden und nach geträumter Som­
mernacht duftenden Satz, der nicht weit
vom Wellenspiel der Najaden aus der nur
ein Jahr später entstandenen »BöcklinSuite« entfernt ist. Mit der Wiederkehr
der ersten Takte aus dem »Notturno« zu
Beginn des »Finale« schafft Reger einen
zyklischen Zusammenhang, strebt nun
aber mit einer Intensivierung der Bewe­
gung und einer Beschleunigung des Tempos
den Höhepunkten rascher zu. Über dem
echoartigen Widerhall der Nacht erhebt
sich am Ende ein strahlendes E-Dur.
Max Reger: »Eine romantische Suite«
24
Joseph von Eichendorff (Radierung nach einer Zeichnung von Franz Kugler)
Max Reger: »Eine romantische Suite«
25
»Eine
romantische
Suite«
MAX REGER
1. »NOTTURNO«
3. »FINALE«
Hörst du nicht die Quellen gehen
Zwischen Stein und Blumen weit
Nach den stillen Waldesseen,
Wo die Marmorbilder stehen
In der schönen Einsamkeit ?
Von den Bergen sacht hernieder,
Weckend die uralten Lieder,
Steigt die wunderbare Nacht,
Und die Gründe glänzen wieder,
Wie du’s oft im Traum gedacht.
Steig nur, Sonne,
Auf die Höhn !
Schauer wehn,
Und die Erde bebt vor Wonne.
Kühn nach oben
Greift aus Nacht
Waldespracht,
Noch von Träumen kühl durchwoben.
Joseph von Eichendorff: »Adler«
Joseph von Eichendorff: »Nachtzauber«
2. »SCHERZO«
Bleib bei uns ! Wir haben den Tanzplan im Tal
Bedeckt mit Mondesglanze,
Johanniswürmchen erleuchten den Saal,
Die Heimchen spielen im Tanze.
Die Freude, das schöne leichtgläubige Kind,
Es wiegt sich in Abendwinden:
Wo Silber auf Zweigen und Büschen rinnt,
Da wirst du die Schönste finden !
Joseph von Eichendorff: »Elfe«
»Eine romantische Suite«: Gedichttexte
26
Maximaler Reger –
über einen Riesen
in der Musik
MICHAEL KUBE
»Ob meine Sachen etwas taugen oder
nicht, das wird die Geschichte entschei­
den.« Künstlerische Egomanie oder ästhe­
tische Esoterik waren ihm fremd, und doch
sah sich Max Reger (1873–1916) mit sei­
nem vielfältigen Schaffen und grenzen­
losen schöpferischen Vermögen selbst­
bewusst in der Nachfolge von Bach, Mozart
und Brahms – kompositorische Bezugs­
punkte, die auch heute noch – in Hinblick
auf einzelne Besetzungen und Gattungen
– hörend nachvollziehbar sind. Umso über­
raschender ist es, dass man sich mit seiner
Musik so oft schwer tut. Dabei sind es ge­
rade nicht die fein ausgesponnenen und
eng gestrickten kontrapunktischen Linien
oder die mit Chromatik gespickten, durch
den Quintenzirkel dahinrasenden Harmo­
nien, die so manches Werk musikalisch äch­
zen lassen. Vielmehr fehlt es allzu häufig
an gestaltungsfreudigen Interpreten, die
Regers lange Bögen auch einmal ruhig at­
men lassen, die die kadenzierenden Ziel­
punkte weiträumiger Passagen bewusst
ansteuern oder die mit roter Tinte bezeich­
nete, genau kalkulierte Agogik und Dyna­
mik wachen Ohres befolgen.
Vollkommen unumstritten war Reger nie,
vielmehr regte seine Musik zur Parteinah­
me an. Dennoch blieben große Skandale
ebenso aus, wie die schon zu Lebzeiten von
Freunden und Mitstreitern veranstalteten
Reger-Feste keine nachhaltige Wirkung
entfalteten. Konnten sich noch Teile der in
den 1920er Jahren auftretenden jungen
Generation mit ihm als wichtigem, Grenzen
auslotenden Meister der spätromantischen
Moderne identifizieren, brach diese kurze
Tradition bald nach 1945 fast vollständig
zusammen – oder beschränkte sich eine
Zeitlang noch auf gefällige Schmonzetten
wie die für nahezu jedes Instrument mit
Klavierbegleitung arrangierte Romanze
G-Dur oder »Mariä Wiegenlied« (aus den
»Schlichten Weisen« op. 76). Umso mehr
gilt daher immer noch jene Einschätzung,
die Arnold Schönberg, der ja auch den lan­
ge als konservativ geschmähten Brahms
als fortschrittlich einschätzte, im Jahre
1922 seinem Schwager Alexander Zemlins­
ky ans Herz legte: »Reger muss meines
Erachtens viel gebracht werden: erstens,
weil er viel geschrieben hat, zweitens, weil
er schon tot ist und man immer noch nicht
Klarheit über ihn besitzt – ich halte ihn für
ein Genie.«
Max Reger: Komponistenportrait
27
Regers Konzertkalender vom 2. bis 15. November 1913 mit zwölf verschiedenen Stationen
MUT ZUR ANNÄHERUNG
Wie sich also Reger nähern und verstehen ?
Die Antwort ist – wie kann es anders sein
– kompliziert und auf mehreren Ebenen zu
suchen. Da wäre zunächst der Tonsatz
selbst, den Reger in einer so hochvirtuo­
sen, kontrapunktisch wie harmonisch dicht
gefügten Art und Weise gestaltet, dass sie
selbst einem weidlich geübten Musiker zu­
nächst das Fürchten lehrt. Wer sich mit
den Noten vertraut machen will, muss sich
tatsächlich erst einmal mühsam einen
Überblick verschaffen über die Form und
die Eckpunkte des Verlaufs, über die weit
tragenden melodischen Linien und die Har­
monien, deren Richtung und Ziel nicht im­
mer sofort ersichtlich sind. Somit regt
Reger auch zum grundsätzlichen Nachden­
ken darüber an, wie ein musikalischer Satz
aus sich heraus zu gestalten ist – mit all
seinen Aspekten (um nicht Parametern zu
sagen). Schon früh von seinen Antipoden
in aller Öffentlichkeit mit solcherlei Ein­
wänden konfrontiert, konnte Reger indes
nahezu unbeeindruckt erwidern: »Mit
einem flüchtigen Durchlesen wird man bei
meinen Sachen nie Glück haben ! Meine Mu­
sik verzichtet auf jeden sogenannten billi­
gen Effekt – ich gehe jeder nur im gerings­
ten banalen Wendung mit Bewusstsein aus
dem Wege.«
Max Reger: Komponistenportrait
28
STATIONEN
Diese Äußerung stammt aus dem Jahr
1900, und die Kritik bezog sich auf ein auf­
trumpfendes Schaffen, das sich zu jenem
Zeitpunkt neben zahlreichen Brotarbeiten
(Klavierstücke und Lieder) vor allem auf
Werke für große Orgel erstreckte, darunter
die Choralfantasien op. 40 und op. 52 und
die erschütternde »Symphonische Fanta­
sie und Fuge« op. 57. Es ist diesen Werken
wirklich nicht anzumerken, dass sie im ab­
gelegenen oberpfälzischen Weiden ent­
standen, wohin sich Reger nach reichlich
ausschweifender Studienzeit in Wiesbaden
auf Druck seiner Eltern hatte zurückziehen
müssen. Gleichwohl empfand er die Studien­
jahre als verlorene Zeit, wovor er später
Fritz Stein vorsorglich warnte: »Ferner:
nach Tübingen würde ich an Deiner Stelle
niemals gehen ! […] Ich schreibe Dir das,
weil ich 8 Jahre meines Lebens in ähnlicher
Lage sozusagen ›umsonst‹ gelebt habe.«
Eine deutliche Sichtweise, jedoch lässt
sich in Regers weiterem Œuvre tatsächlich
eine gewisse Abhängigkeit von Wirkungsort
und schöpferischem Ertrag festmachen:
Der erlösende Wechsel nach München
(1901) wurde begleitet von einer ganzen
Reihe von Kompositionen (etwa dem
Streichquartett d-Moll op. 74), in denen
Reger reichlich Extreme auslotete, auch
hinsichtlich des Ausdruckscharakters. Mit
der Berufung nach Leipzig zum Universi­
tätsmusikdirektor (1907) nahm er sich nun
erstmals großformatiger Partituren an wie
den »Hiller-Variationen« op. 100, dem
Violinkonzert op. 101, dem 100. Psalm
op. 106 (zur Einweihung der Jahrhundert­
halle in Breslau) und dem »Symphonischen
Prolog zu einer Tragödie« op. 108. Weitere
Orchesterwerke entstanden nach Regers
Ernennung zum Kapellmeister der Meinin­
ger Hofkapelle (1911) – einer Tätigkeit, die
er für etwas mehr als zwei Jahre bis zu
einem verheerenden Nervenzusammen­
bruch mit geradezu besessenem Eifer und
nicht enden wollenden Konzertreisen aus­
übte. Nach Sanatorium und Kur sollte der
Neuanfang in Jena (1915) schon bald wie­
der alte Energien freisetzen und ins ge­
wohnte Gleis führen. Und dennoch beginnt
Reger mit einem nach innerer Klarheit und
äußerem Ausgleich strebenden Stil etwas
Neues, wie er es auch Karl Straube gegen­
über programmatisch formulierte: »Jetzt
beginnt der freie, jenaische Stil bei Re­
ger.«
MOZART IM BLICK
Tatsächlich muten die letzten Werke, vor
allem das Klarinettenquintett op. 146, auf
eigentümliche Weise entspannter in der
Struktur und gelöster im Tonfall an. Doch
sollte diese Wendung hin zu durchsichtiger
Kantabilität und harmonischer Wärme
nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit
kaum mehr als nur eine der vielfältigen
Ausdrucksmöglichkeiten von Regers Perso­
nalstil in den Vordergrund trat. So notier­
te er schon 1904 mit anhaltender Überzeu­
gung seine Vorstellung von einer mehr sich
beschränkenden klassizistischen Haltung:
»Mir ist’s absolut klar, was unserer heuti­
gen Musik mangelt: ein Mozart !« Als »ers­
te Früchte dieser Erkenntnis« nannte Re­
ger gegenüber seinem Verlag das Streich­
trio op. 77b und die Serenade op. 77a für
Flöte, Violine und Viola, die er zuvor schon
als »etwas allerleichtestes, einfachstes u.
sehr melodiöses« angekündigt hatte. Dabei
handelt es sich auch um eine Gegenreakti­
on, mit der Reger letztlich dem Unwillen
Max Reger: Komponistenportrait
29
gegen Richard Strauss, der arg privaten
»Sinfonia Domestica« und deren Erfolg bei
einer Amerika-Tournee Luft machen wollte.
MELANCHOLIE DES VERMÖGENS
Hört man auch nur eines seiner vor kompo­
sitorischem Vermögen nur so strotzenden
Werke, so überrascht es, wie unsicher sich
Reger seiner Schöpfungen war. Dies be­
trifft nicht nur das Frühwerk (bis op. 20),
das er gelegentlich als »wertvollen Mist«
bezeichnete, sondern auch all jene groß­
formatigen Kompositionen, die er mit dem
eng befreundeten, aber auch stark Ein­
fluss nehmenden Thomaskantor Karl
Straube durchsprach – und im Anschluss
die Partituren entweder umarbeitete,
»wohltätige« Kürzungen vornahm oder gar
(wie im Fall des atemberaubenden Lateini­
schen Requiems) abbrach; eine Symphonie
hat er übrigens nach einigen Versuchen nie
vollendet, und eine Oper lässt sich bei Max
Reger gar nicht erst vorstellen. Auf der
anderen Seite war es ihm als rastlos um­
herreisendem Interpreten darum zu tun,
eine Aufführungstradition seiner Werke zu
etablieren. Denn so schwierig sich manche
seiner überzeichneten Partituren auch
lesen mögen, so gibt es doch einen poeti­
schen Kern, den es nicht nur zu erfassen,
sondern auch herauszuarbeiten gilt. Wenn
dies gelingt, bedarf es dann auch nicht
mehr der auf vielen Fotos festgehaltenen
körperlichen Präsenz des Komponisten
oder seines legendär derben oberpfälzer
Humors. So waren die im schön gebunde­
nen, 1923 herausgegebenen »Max Reger-­
Brevier« dokumentierten Witze und Bon­
mots selbst bei den Apologeten lange Zeit
beliebter als viele der unzweifelhaft mit
einer Melancholie des Vermögens geschrie­
benen Werke. Und als Ernst Bloch in den
kontrapunktisch durchwirkten Partituren
lediglich eine »Fingerfertigkeit höherer
Ordnung« erblickte (»Geist der Utopie«,
1923), hatte Paul Bekker längst auf ihre
Funktion als Katalysator für die sich for­
mierende Neue Musik (1919) hingewiesen.
Verborgen blieb beiden freilich die mensch­
liche Tragik, die Reger physisch geradezu
spiralförmig in den Abgrund trieb. So starb
er, bis zuletzt ein (wie er sich selbst be­
zeichnete) »Akkordarbeiter«, im Alter von
43 Jahren am 11. Mai 1916 in einem Leip­
ziger Hotelzimmer mitten in der Arbeit
über einer neuen Komposition. Heute muss
die tatsächliche Bedeutung seines Schaf­
fens erst wieder klar­gestellt werden. Wie
wichtig er aber mit seinen Kompositionen
für die nachfolgende Generation des musi­
kalischen Aufbruchs gewesen war, fasste
bereits Paul Hindemith zusammen: »Max
Reger war der letzte Riese in der Musik. Ich
bin ohne ihn gar nicht zu denken.«
Max Reger: Komponistenportrait
30
Constantinos
Carydis
DIRIGENT
Gärtnerplatz und an die Staatsoper Stutt­
gart. Als Operndirigent gab er wiederholt
Gastdirigate an der Frankfurter Oper (»Dido
und Aeneas«, »Herzog Blaubarts Burg«),
den Staatsopern in Wien (»Don Giovanni«,
»Carmen«, »La Bohème«), Berlin (»Il Turco
in Italia«) und München (»Don Giovanni«,
»Pelléas et Mélisande«), an der Amsterda­
mer Nederlandse Opera (»Le Nozze di Figa­
ro«, »Don Giovanni«, »Entführung aus dem
Serail«), an der Opera de Lyon (»A Midsum­
mer Night’s Dream«) und am Royal Opera
House Covent Garden (»Don Giovanni«,
»Carmen«).
Constantinos Carydis wurde 1974 in Athen
geboren und studierte zunächst Musik­
theorie und Klavier am Konservatorium sei­
ner Heimatstadt. Anschließend setzte er
seine Ausbildung mit einem Dirigierstudium
bei Michael Hermann an der Hochschule für
Musik und Theater in München fort. Als
Pianist konzertierte er mit verschiedenen
Orchestern in Griechenland und trat bei
Klavier- und Kammermusikabenden auf.
Erste Festengagements als Dirigent führ­
ten ihn an das Münchner Staatstheater am
Konzertengagements führten ihn u. a. zum
Israel Philharmonic Orchestra, dem Sympho­
nieorchester des Bayerischen Rundfunks,
dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di
Santa Cecilia in Rom, dem Bayerischen
Staatsorchester, dem Mahler Chamber
Orchestra, dem Tonhalle-Orchester Zürich,
dem Mozarteumorchester Salzburg, dem
Konzerthausorchester Berlin, dem Orches­
ter des Maggio Musicale Fiorentino und
zum Edingburgh Festival.
2011 erhielt Constantinos Carydis den
erstmals verliehenen Carlos-Kleiber-Preis
der Gesellschaft der Freunde des National­
theaters München.
Die Künstler
31
Andrew
Jörg
Staples Brückner
TENOR
HORN
Als ehemaliger Chorknabe der St. Paul's
Cathedral in London studierte Andrew Sta­
ples am King's College in Cambridge. Er
erhielt das Peter-Pears-Stipendium der
Britten Pears Foundation, mit dem er seine
Ausbildung am Royal College of Music in
London fortsetzte. Als Jaquino (»Fidelio«)
debütierte er am Royal Opera House Covent
Garden. Er sang u. a. am Théâtre de la
Monnaie in Brüssel, an der Staatsoper
Hamburg und bei den Salzburger Festspie­
len. Außerdem war er als Tamino in von ihm
selbst inszenierten und von Daniel Harding
dirigierten Produktionen beim Lucerne
Festival (halbszenisch) und in Drott­
ningholm zu erleben. Besondere Aufmerk­
samkeit erregte Andrew Staples mit sei­
nem Projekt »Opera for Change«, in dessen
Rahmen »Die Zauberflöte« in zehn afrika­
nischen Ländern in Zusammenarbeit mit
lokalen Künstlern aufgeführt wurde.
Der in Leipzig geborene Hornist studierte
bei Rainer Heimbuch und Karl Biehlig an der
Hochschule für Musik »Franz Liszt« in Wei­
mar und bei Hermann Märker in Leipzig.
Nach Abschluss seiner Studien wurde Jörg
Brückner als 3. Hornist im Gewandhaus­
orchester Leipzig unter Kurt Masur enga­
giert, von wo er 1997 als Solohornist zum
Orchester der Dresdner Philharmonie
wechselte. Bei namhaften Orchestern war
er als Orchesteraushilfe tätig, 2009 spiel­
te er während der Salzburger Osterfest­
spiele bei den Berliner Philharmonikern
Solohorn. Als Solist konzertierte er unter
Dirigenten wie Jeffrey Tate, Walter Weller,
Simone Young und Rafael Frühbeck de Bur­
gos. Seit 2006 hat Jörg Brückner eine Pro­
fessur für Horn an der Hochschule für Mu­
sik »Franz Liszt« in Weimar, seit 2008 ist
er erster Solohornist bei den Münchner
Philharmonikern.
Die Künstler
32
Münchner
Klangbilder
DIE KONZERTPLAKATE DER
SPIELZEIT 2016/17
TITELGESTALTUNG ZUM
HEUTIGEN KONZERTPROGRAMM
»Eine junge, hübsche Frau, sinnbildlich für
die heutige Zeit, in einem alten, sehr rus­
tikalen Haus, welches die klassische Musik
darstellt. Beides zusammen ergibt eine
skurrile aber doch harmonische Verbindung
und spiegelt die ruhige Eleganz, das Dra­
matische und die Poesie der ›Serenade für
Tenor, Horn und Streicher‹ von Benjamin
Britten wider.« (Sebastian Schuster, 2016)
Für dieses Motiv hat sich Sebastian Schus­
ter zusammen mit seinem Kollegen Davide
Mirabella auf die Suche nach einer perfekt
geeigneten Location gemacht und ist
schließlich in Berchtesgaden fündig gewor­
den: eine alte, seit über 20 Jahren verlas­
sene Nervenheilanstalt und ehemaliges
Lazarett. In Zusammenarbeit mit einem
Modell aus der Modeschule in Hallein ent­
stand schließlich dieses Bildmotiv, das den
Kon­trast zwischen alt und neu auf seine
eigene Art porträtiert.
DER KÜNSTLER
Sebastian Schuster (28) ist gebürtiger
Berchtesgadener und rutschte 2015 als
Quereinsteiger in das erste Semester der
Akademie U5 in München. Davor arbeitete
er als gelernter Holzbildhauer mit Ab­
schluss an der Holzfachschule für Bildhau­
erei und Schreinerei in Berchtesgaden. An
der Akademie U5 möchte er seine Ideen und
Begabungen weiterentwickeln und sich
kreativ fortbilden.
DIE HOCHSCHULE
Die Akademie U5 an der Einsteinstraße in
München bildet seit mehr als 40 Jahren
junge Kreative zu gestandenen Kommuni­
kations-Designern aus. Die älteste deut­
sche Hochschule für werbliches Gestalten
hegt das Motto: »Unsere Studenten sollen
Wirklichkeit studieren.« Im Laufe von sechs
Semestern erlernt man alles um nach dem
Diplom-Abschluss in der Gestaltungsbran­
che Fuß zu fassen.
Sebastian Schuster
33
Mittwoch
26_10_2016 20 Uhr a
Donnerstag
27_10_2016 20 Uhr b
Freitag
28_10_2016 20 Uhr g4
Mittwoch
26_10_2016 10 Uhr
Öffentliche Generalprobe
LUDWIG VAN BEETHOVEN
Konzert für Klavier und
Orchester Nr. 1 C-Dur op. 15
DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
Symphonie Nr. 10 e-Moll op. 93
DAVID AFKHAM, Dirigent
RADU LUPU, Klavier
Freitag
04_11_2016 20 Uhr k4
Samstag
05_11_2016 19 Uhr d
Sonntag
06_11_2016 11 Uhr m
Freitag
04_11_2016 10 Uhr
Öffentliche Generalprobe
Sonntag
20_11_2016 11 Uhr
2. KAMMERKONZERT
Festsaal im Münchner Künstlerhaus
»Garten von Freuden
und Traurigkeiten«
CAMILLE SAINT-SAËNS
»Fantaisie« für Flöte und Harfe
A-Dur op. 124
SOFIA GUBAIDULINA
»Garten von Freuden und Traurigkeiten«
für Flöte, Viola, Harfe und Sprecher
ARNOLD BAX
Fantasy Sonata für Viola und Harfe
CLAUDE DEBUSSY
Sonate für Flöte, Viola und Harfe F-Dur
MICHAEL MARTIN KOFLER, Flöte
BURKHARD SIGL, Viola
TERESA ZIMMERMANN, Harfe
GOTTFRIED FRANZ KASPAREK, Sprecher
HECTOR BERLIOZ
Konzertouvertüre »Le Corsaire« op. 21
MARC-ANDRÉ DALBAVIE
Konzert für Flöte und Orchester
ANTONÍN DVOŘÁK
Symphonie Nr. 5 F-Dur op. 76
LIONEL BRINGUIER, Dirigent
HERMAN VAN KOGELENBERG, Flöte
Vorschau
34
Die Münchner
Philharmoniker
1. VIOLINEN
Sreten Krstič, Konzertmeister
Lorenz Nasturica-Herschcowici,
Konzertmeister
Julian Shevlin, Konzertmeister
Odette Couch, stv. Konzertmeisterin
Claudia Sutil
Philip Middleman
Nenad Daleore
Peter Becher
Regina Matthes
Wolfram Lohschütz
Martin Manz
Céline Vaudé
Yusi Chen
Iason Keramidis
Florentine Lenz
Vladimir Tolpygo
Georg Pfirsch
2. VIOLINEN
Simon Fordham, Stimmführer
Alexander Möck, Stimmführer
IIona Cudek, stv. Stimmführerin
Matthias Löhlein, Vorspieler
Katharina Reichstaller
Nils Schad
Clara Bergius-Bühl
Esther Merz
Katharina Schmitz
Ana Vladanovic-Lebedinski
Bernhard Metz
Namiko Fuse
Qi Zhou
Clément Courtin
Traudel Reich
Asami Yamada
BRATSCHEN
Jano Lisboa, Solo
Burkhard Sigl, stv. Solo
Max Spenger
Herbert Stoiber
Wolfgang Stingl
Gunter Pretzel
Wolfgang Berg
Beate Springorum
Konstantin Sellheim
Julio López
Valentin Eichler
VIOLONCELLI
Michael Hell, Konzertmeister
Floris Mijnders, Solo
Stephan Haack, stv. Solo
Thomas Ruge, stv. Solo
Herbert Heim
Veit Wenk-Wolff
Sissy Schmidhuber
Elke Funk-Hoever
Manuel von der Nahmer
Isolde Hayer
Sven Faulian
David Hausdorf
Joachim Wohlgemuth
Das Orchester
35
KONTRABÄSSE
Sławomir Grenda, Solo
Fora Baltacigil, Solo
Alexander Preuß, stv. Solo
Holger Herrmann
Stepan Kratochvil
Shengni Guo
Emilio Yepes Martinez
Ulrich Zeller
FLÖTEN
Alois Schlemer
Hubert Pilstl
Mia Aselmeyer
TROMPETEN
Guido Segers, Solo
Bernhard Peschl, stv. Solo
Franz Unterrainer
Markus Rainer
Florian Klingler
Michael Martin Kofler, Solo
Herman van Kogelenberg, Solo
Burkhard Jäckle, stv. Solo
Martin Belič
Gabriele Krötz, Piccoloflöte
POSAUNEN
OBOEN
PAUKEN
Ulrich Becker, Solo
Marie-Luise Modersohn, Solo
Lisa Outred
Bernhard Berwanger
Kai Rapsch, Englischhorn
Stefan Gagelmann, Solo
Guido Rückel, Solo
KLARINETTEN
Alexandra Gruber, Solo
László Kuti, Solo
Annette Maucher, stv. Solo
Matthias Ambrosius
Albert Osterhammer, Bassklarinette
FAGOTTE
Dany Bonvin, Solo
Matthias Fischer, stv. Solo
Quirin Willert
Benjamin Appel, Bassposaune
SCHLAGZEUG
Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger
Jörg Hannabach
Michael Leopold
HARFE
Teresa Zimmermann, Solo
CHEFDIRIGENT
Valery Gergiev
Jürgen Popp
Johannes Hofbauer
Jörg Urbach, Kontrafagott
EHRENDIRIGENT
HÖRNER
INTENDANT
Jörg Brückner, Solo
Matias Piñeira, Solo
Ulrich Haider, stv. Solo
Maria Teiwes, stv. Solo
Robert Ross
Paul Müller
Zubin Mehta
ORCHESTERVORSTAND
Stephan Haack
Matthias Ambrosius
Konstantin Sellheim
Das Orchester
36
IMPRESSUM
TEXTNACHWEISE
BILDNACHWEISE
Herausgeber:
Direktion der Münchner
Philharmoniker
Paul Müller, Intendant
Kellerstraße 4
81667 München
Lektorat:
Christine Möller
Corporate Design:
HEYE GmbH
München
Graphik:
dm druckmedien gmbh
München
Druck:
Gebr. Geiselberger GmbH
Martin-Moser-Straße 23
84503 Altötting
Marcus Imbsweiler, Wolf­
gang Stähr und Michael
Kube schrieben ihre Texte
als Originalbeiträge für
die Programmhefte der
Münchner Philharmoniker.
Stephan Kohler verfasste
die lexikalischen Werkan­
gaben und Kurzkommenta­
re zu den aufgeführten
Werken. Künstlerbiogra­
phien: nach Agenturvorla­
gen. Alle Rechte bei den
Autorinnen und Autoren;
jeder Nachdruck ist sei­
tens der Urheber genehmi­
gungs- und kostenpflich­
tig.
Abbildungen zu Franz
Liszt: Ernst Burger, Franz
Liszt in der Photographie
seiner Zeit, München 2003;
Wikimedia Commons. Abbil­
dungen zu Benjamin Brit­
ten: Heinrich Lindlar
(Hrsg.), Benjamin Britten
– das Opernwerk, Bonn
1955; alchetron.com. Ab­
bildungen zu Max Reger:
Fritz Stein, Max Reger,
Laaber 1980; Wikimedia
Commons; Susanne Popp /
Susanne Shigihara, Max
Reger am Wendepunkt zur
Moderne – Ein Bildband mit
Dokumenten aus den Be­
ständen des Max-RegerInstitus, Bonn 1 987.
Künstlerphotographien:
Thomas Brill (Carydis),
Agenturmaterial (Staples),
wildundleise.de (Brück­
ner).
Gedruckt auf holzfreiem und
FSC-Mix zertifiziertem Papier
der Sorte LuxoArt Samt
Impressum
In freundschaftlicher
Zusammenarbeit mit
DAS FESTIVAL
FÜR FAMILIEN
FAMILIENKONZERT
»Peter und der Wolf«
EDUCATION
TANZPROJEKT
»Romeo & Julia«
COMMUNITY
MUSIC
Performances
für Groß und Klein
Samstag
12_11_2016
—
GASTEIG
mphil.de
18 B
G JA IS
RA H
TI RE
S
’16
’17
DAS ORCHESTER DER STADT
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