Die Neuentdeckung des Unbewussten

Werbung
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Henning Meyer
Marken-Management
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Deutscher Fachverlag
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Die Neuentdeckung des Unbewussten:
Was wir von der Hirnforschung für
Markenführung und Marktforschung
lernen können
Christian Scheier und Dirk Held
Neuromarketing: alter Wein in neuen Schläuchen?
Es wird aktuell unter dem Schlagwort „Neuromarketing“ viel über den
Mehrwert der Hirnforschung für das Marketing diskutiert. Die Fach- und
Publikumspresse berichtet wöchentlich über die neuesten Erkenntnisse der
Hirnforscher und Neuromarketer, die einschlägigen Bücher sind Bestseller
und eine zunehmende Schar von „Neuro-Beratern“ bieten Unternehmen ihre Beratungs-Dienste an. Dabei reicht das Spektrum von (unberechtigten)
Hoffnungen und Versprechungen auf einen magischen Kaufknopf im Kopf
bis hin zu kritischen Stimmen, die im Neuromarketing einen neuen Aufguss
letztlich alter Ideen vermuten. In diesem Artikel zeigen wir, was wir von der
Hirnforschung – jenseits von einfachen Checklisten und falschen Versprechungen – tatsächlich für die Markenführung und -kommunikation lernen
können, wo die Chancen und die Grenzen dieses Ansatzes liegen, und vor allem, wie die Erkenntnisse in der konkreten Marketing-Praxis umgesetzt werden können.
Der Fokus liegt dabei auf einem der Hauptprobleme in der modernen Markenführung: der Implementierungslücke, also der Umsetzung von Positionierung,
Strategie und Konzept in konkrete Markenkontaktpunkte (z. B. Logo, Werbung,
Verpackung, Broschüren). Das folgende Zitat von Franz-Rudolf Esch bringt das
Thema auf den Punkt:
„Die Umsetzung der Markenpositionierung durch Kommunikation ist der zentrale
Engpass beim Aufbau starker Marken. Zwischen Konzept und Umsetzung klafft
meist eine Implementierungslücke“ (1)
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Kennzeichen der Implementierungslücke sind unter anderem austauschbare
Markenauftritte, also die mangelhafte Differenzierung in den Markenauftritten und damit hohe Verwechslungsraten. In einer Meta-Analyse über mehrere
Tausend Werbemittel aus den Jahren 2003-2006 ergab sich, dass bei etwa der
Hälfte (48 %) aller Werbemittel falsche oder keine Marken zugeordnet werden,
wenn das Markenlogo abgeblendet wird. Im Gehirn werden durch die falschen
Signale die Markennetzwerke der Wettbewerber aktiviert und aktualisiert. Zudem erschweren austauschbare Markenauftritte die Identifikation der Mitarbeiter mit dem jeweiligen Leitbild.
Dazu kommen die berühmten „Endlos-Diskussionen“ um das richtige Konzept, zum Beispiel die Frage, was beibehalten werden soll, welche Strategie die
Marke am wirksamsten weiter bringt, welches Storyboard den Markenkern
und die intendierte Botschaft am besten transportiert und vieles mehr. Allgemeine Werte wie „Sympathie“, „Sicherheit“ oder „Lifestyle“ sind zu offen, die
Anzahl möglicher Umsetzungen ist nahezu unbeschränkt.
Wenn wir also eine Marke mit „Frische“ oder „Lifestyle“ aufladen wollen,
bleibt oft völlig offen, wie genau die Frische oder der Lifestyle inszeniert und
umgesetzt werden soll. Welches Konzept zeigt die „richtige“ Frische, die also
zur Marke passt, von der Zielgruppe erkannt wird, als relevant erlebt wird,
und gleichzeitig vom Wettbewerb differenziert? Wie soll die Frische auf der
Verpackung inszeniert werden und wie im TV Spot? Welche bisherigen Botschaften müssen beibehalten, und wo muss verändert werden? Welches Storyboard und welche Idee implementieren den richtigen Lifestyle, der zum Markenkern passt und differenzierend ist, und welche Konzepte gehen zu weit?
Das sind in der Praxis die zentralen Fragen.
Dazu kommt, dass wir Kunden nicht einfach befragen können, ob etwa ein
Kampagnenkonzept zur Marke passt oder die richtige Umsetzung von „Frische“ darstellt. Denn Marken entfalten ihre Wirkung in Hirnregionen, auf
die Menschen meist keinen expliziten Zugriff haben. Hier sind neue, implizite Messverfahren gefragt, welche dieser Tatsache Rechnung tragen. Das
Neuromarketing muss sich daran messen lassen, ob es diese zentralen
Probleme in der Markenführung lösen kann und neue Ansätze für die Praxis bietet.
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Warum der neuropsychologische Ansatz kein
kurzfristiger Trend ist
Im Marketing erleben wir jedes Jahr neue Trends. Deshalb stellt sich auch beim
Neuromarketing-Trend zunächst die Frage, ob das Thema Hirnforschung bzw.
Neuropsychologie nächstes Jahr schon wieder außer Mode ist, oder uns längerfristig beschäftigen wird. Es gibt viele Gründe, die für Letzteres sprechen, also
dass die Hirnforschung einen nachhaltigen Platz im Marketing-Instrumentarium einnehmen und behalten wird. Erstens ist klar, dass das Gehirn die letztendliche Instanz für Marketingmaßnahmen ist, dahinter gibt es nichts mehr. Im
Gehirn ist das gesamte „Wissen“ um Marken und Produkte abgelegt, Marken
sind in neuronalen Netzwerken organisiert und auch die Kaufentscheidung
fällt im Gehirn des Kunden. Marken existieren zweitens in den Köpfen der
Kunden und die Hirnforschung sowie die moderne Psychologie bieten ein sehr
fundiertes Wissen, was in diesen Köpfen vor sich geht, und damit eine solide
Basis für die Markenführung und Markenkommunikation, die dem „Fisch und
nicht dem Angler schmeckt“.
Als Drittes kommt dazu, dass das menschliche Gehirn die einzige Konstante
bei einer sich ansonsten immer schneller verändernden Marketingwelt darstellt. Das Gehirn ist zwischen 30.000 und 50.000 Jahre alt, denn die Evolution
verändert den genetischen Setup des Menschen – der auch die Struktur und
Funktionsweise des Gehirns bestimmt – nicht jeden Tag oder jedes Jahr, sondern über viel längere Zeiträume hinweg. Mit anderen Worten: Das Gehirn des
modernen Kunden entspricht dem Gehirn der Jäger und Sammler, es ist an
diese Zeit angepasst und vor allem überdauert es jeden Marketing-Trend. Es ist
deshalb sinnvoll, das Wissen um die Funktionsweise des Gehirns in die Markenführung zu integrieren. Hier besteht ein signifikantes Potenzial, denn viele
der teilweise schon lange bestehenden Erkenntnisse haben noch zu wenig oder
keinen Eingang in das Marketing gefunden.
Der vierte Aspekt, der für einen nachhaltigen Platz des neuropsychologischen
Ansatzes im Marketing spricht, ist die Tatsache, dass der „Neuro-Trend“ weit
über das Marketing hinaus reicht und zum Beispiel auch die Ökonomie erreicht
hat. Unter dem Schlagwort „Neuroeconomics“ ist eine sehr ernst zu nehmende
neue Disziplin entstanden, an der die weltweit renommiertesten Universitäten
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(u. a. MIT, Caltech, Harvard) beteiligt sind. In diesem Zuge sind die Ökonomen
gerade dabei, ihr Bild des „Homo oeconomicus“, also des rational entscheidenden Individuums, über Bord zu werfen. An seine Stelle tritt das Bild eines fundamental sozialen Menschen, ein Herdentier, dessen Verhalten zu einem signifikanten Teil aus nicht-reflektierten, so genannten impliziten Prozessen
bestimmt wird – etwa positiven oder negativen Vorurteilen gegenüber Menschen, Marken und Produkten. (2)
Der fünfte Aspekt sind die direkt marketingrelevanten Themen, welche die
Hirnforscher inzwischen untersuchen. Zum Beispiel welche Hirnregionen
beim Kauf oder Verkauf von Produkten und bei der Wahrnehmung von Preisen eine Rolle spielen (u. a. die Schmerzzentren), wie das Gehirn auf starke
Marken oder POS Displays reagiert (u. a. Hirnareale für intuitives Entscheiden) oder welche Hirnareale für Kundenloyalität verantwortlich sind (u. a. die
Belohnungszentren). Insgesamt hat die Hirnforschung in den letzten 10 Jahren
mehr über das Gehirn und seine Funktionsweise gelernt als in den 100 Jahren
davor. Die Grundlagen vieler etablierter Marken-Modelle (z. B. Markeneisberg) und Messverfahren (z. B. Werbetests) sind jedoch älter als ein Jahrzehnt.
In der Hinterfragung gängiger Annahmen, Konzepte und Modelle liegt neben
neuen Management-Tools ein weiterer großer Mehrwert des neuropsychologischen Ansatzes. Die so gewonnenen Erkenntnisse haben teilweise weit reichende Konsequenzen für die Marketing-Praxis.
Mehrwert der Hirnforschung für das Marketing
Schauen wir also, welche Marketing-Konzepte und -Paradigmen durch den
Abgleich mit neuropsychologischen Erkenntnissen profitieren können. Wir
wollen im Folgenden aus Platzgründen nur einige Beispiele herausgreifen.
Hemisphären-Modell
Das Hemisphären-Modell, wonach die rechte Hirnhälfte emotional und die
linke Hirnhälfte rational arbeitet, ist so verbreitet wie falsch. Die Unterscheidung ist wissenschaftlich nicht haltbar und vor allem für die Marketingpraxis
wenig hilfreich, weil hier von einem Gegensatz (Emotion versus Ratio) ausge-
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gangen wird, den es im Gehirn nicht gibt. Schon vor 30 Jahren schrieben die
Hirnforscher Steklis und Harnad: „Die Idee einer Zweiteilung im Gehirn hat
so viel mit den bekannten Fakten über die Hirnfunktionen zu tun wie die Astrologie mit der Astronomie.“ (3) Tatsächlich ist jedoch das Hemisphären-Modell integraler Teil des modernen Marketings und zieht sich bis zur täglichen
Diskussion, ob Kunden sachlich-rational und textlastig oder emotional und
bildhaft angesprochen werden sollen. Wenn es eine Unterscheidung in „Emotion“ und „Ratio“ im Gehirn aber so nicht gibt, können solche Diskussionen
nicht zielführend und die entsprechenden Marken- und Kommunikationsmodelle nicht genügend aussagekräftig sein.
Wirkung ohne Aufmerksamkeit
Das AIDA-Modell der Werbewirkung wird zwar von den meisten Experten als
veraltet und falsch beschrieben, findet sich in der Praxis aber an vielen Stellen,
nicht zuletzt bei vielen Aus- und Weiterbildungsstätten sowie der Mehrheit
gängiger Pretest-Verfahren. Das AIDA-Modell impliziert unter anderem, dass
ohne bewusste Aufmerksamkeit keine Wirkung entsteht. So gilt der Kampf um
die Aufmerksamkeit der Kunden als ein zentrales Problem im Marketing des
21. Jahrhunderts. Die Hirnforschung zeigt aber, dass Signale – z. B. Werbung –
auch dann wirken, wenn sie nicht explizit und bewusst gesehen werden, weil
sie etwa nur peripher oder nebenbei (low involvement) verarbeitet werden.
Das Gehirn verarbeitet beispielsweise Reize am Bildschirmrand auch dann,
wenn Probanden auf die Mitte des Bildschirms fixieren. Nur durch die periphere Wahrnehmung außerhalb des Scheinwerfers der bewussten Aufmerksamkeit kann das Gehirn überhaupt bestimmen, wohin sich die Aufmerksamkeit als nächstes bewegen soll!
Die moderne Hirnforschung hat insgesamt die Macht unbewusster Vorgänge,
zum Beispiel in der Wahrnehmung und Speicherung von Botschaften, neu
entdeckt. Die aus der AIDA-Formel abgeleitete (falsche) „Impact-Maxime“,
also der Kampf um das knappe Gut der bewussten Aufmerksamkeit, führt bei
der Umsetzung zum Einsatz von Aufmerksamkeitswaffen (z. B. Tabubrüche,
Sex, Prominente) die wenig oder nichts mit der Marke zu tun haben und letztlich die Wirkung von Markenkommunikation massiv behindern (z. B. VampirEffekt).
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Wirkung ohne Erinnerung
Genauso wie es Wirkung ohne bewusste Aufmerksamkeit gibt, können Signale auch wirken, wenn sie nicht explizit erinnert werden. Das folgende
Fallbeispiel, eine TV Kampagne der Food-Marke Amoy, zeigt eine „unsichtbare“ Werbewirkung: Der Spot „Straight to Wok” (STW) bewirbt Amoy Nudeln und zeigt in einem Close-up, wie ein Nudelgericht in einem Wok zubereitet wird. Die Zugabe der STW-Nudeln wird in Slow Motion gezeigt. Die
Kernbotschaft: Mit den STW-Nudeln kann man ein leckeres Gericht so
schnell zu bereiten, dass man den Vorgang in Slow Motion zeigen muss. Die
Erinnerungswerte an den Spot waren katastrophal. Die Werbeerinnerung
betrug 15 %, deutlich unter dem Amoy-Benchmark. Auch nach Vorlage von
Key Visuals aus dem Spot stieg die Erinnerung nicht erheblich an (20 %). Anders sah es bei den Verkaufszahlen aus: Während der Spot geschaltet war,
stiegen die Verkäufe signifikant um 17 % an. Und zwar nach jedem Flight.
Auch der zentrale Markenwert „authentisch“ stieg signifikant an, genauso
wie die Markenbekanntheit.
Diese Zahlen zeigen, dass die Zielgruppe etwas über die Marke bzw. das
Produkt gelernt hat, nur der Zugriff auf die Quelle (den Spot) ging verloren.
Der Grund: Das Gehirn speichert gelernte Inhalte und Bedeutungen an anderer Stelle als die Quelle, von der die Inhalte stammen. Inhalte werden im
semantischen Gedächtnis, die Quellen im episodischen Gedächtnis gespeichert. So kann es leicht zu einer Quellen-Amnesie kommen, d. h. wir uns
also an etwas erinnern, aber vergessen, woher wir dieses Wissen haben. Obwohl wir alle wissen, dass 1+1 die Summe 2 ergibt, erinnern sich die wenigsten, von wem und wann sie diese Regel gelernt haben. Werbung ist also um
ein Vielfaches wirksamer, als die üblichen Umfragen und Studien (z. B. Recall bzw. Awareness-Messungen in Trackings) nahe legen. Es muss also darum gehen, auch und insbesondere die implizite Wirkung von Werbung abzubilden.
Relevant Set
Die Idee eines Relevant Sets im Kopf der Kunden ist fester Bestandteil der
Marketingtheorie und -praxis. Die zugrunde liegende Annahme lautet etwa
so: „Kommunikation hat das Ziel, unser Produkt oder unsere Marke in der
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Einkaufsliste stetig nach oben zu bringen.“ Werbung soll den Rangplatz im
Kopf des Konsumenten verbessern. Eine Verbesserung im Rangplatz gilt deshalb als wichtiges Erfolgskriterium für Marketing und Werbung. Auf der Idee
des „Relevant Sets“ basieren viele Messinstrumente zur Erfolgsmessung von
Werbekampagnen (zum Beispiel das sogenannte Werbe-Tracking). Solche Verfahren messen letztlich nichts anderes als den Rangplatz einer Marke oder eines Produkts auf der Einkaufsliste im Kopf der Kunden.
Die Annahme einer Rangordnung im
Gehirn ist aber nach aktueller Forschungslage falsch. Es gibt nur zwei
Plätze im Kopf der Konsumenten:
erster Platz oder dahinter. In den neurowissenschaftlichen Studien wird
deutlich, dass die durch starke Marken ausgelöste kortikale Entlastung
im Kopf ausschließlich bei der Lieblingsmarke auftritt, der Nummer 1.
Nur die Nummer 1 Marke bewirkt eine emotionale Reaktion, alle anderen
Marken nicht. Es spielt also keine Rolle, ob eine Marke an zweiter oder dritAbb. 1
ter Position liegt – „the winner takes it
all“! Dieser sogenannte Winner-Take-All-Mechanismus (WTA) findet sich an
vielen anderen Stellen im Gehirn, zum Beispiel in der Wahrnehmung. Bei den
bekannten doppeldeutigen Bildern können wir z. B. jeweils nur eines der beiden Bilder sehen (z. B. Vase oder Gesicht).
Wer kennt schon den zweiten Menschen, der den Mond betrat? Der Grund für
den WTA im Gehirn ist Effizienz. Bei 50.000 beworbenen Marken macht es
Sinn, sich für jeweils eine Marke zu entscheiden, statt im Supermarkt bei jeder
Markenentscheidung neu nachzudenken. Anstatt also zu versuchen mit vielen
Werbekontakten den Rangplatz in den Köpfen vieler Konsumenten um einen
Platz zu verbessern, scheint es aussichtsreicher, mit wenigen gezielten Kontakten diejenigen zu überzeugen, bei denen die Chance auf den ersten Platz besteht. Ähnliches finden wir auch in der Kundenloyalitätsforschung: Sehr zufriedene Kunden generieren bis zu sechsmal mehr Umsatz als zufriedene
Kunden.
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Zusammenfassend zeigt sich, dass die Hirnforschung und die Psychologie aufgrund neuer Erkenntnisse uns in relevanten Bereichen der Markenführung einen wichtigen Schritt weiterbringen können. Dabei gilt es nun, die Erkenntnisse in die Marketingpraxis umzusetzen und nutzbar zu machen. Das ist der
Fokus der folgenden Abschnitte, wobei wir zunächst einige der wichtigsten Erkenntnisse für die Markenführung erläutern, um dann den Brand Code Management-Ansatz anhand konkreter Praxisbeispiele darzustellen.
Die Neuentdeckung des Unbewussten:
der Autopilot im Kopf
Sie hören den Satz: „Die Sonne scheint.“ Das dauert etwa eine Sekunde. Was
in dieser Sekunde alles passiert ist aber weit mehr als die Verarbeitung dieser
einfachen Botschaft. Genau in dieser Sekunde verarbeitet Ihr Gehirn mit allen
seinen Sinnen sage und schreibe elf Millionen Sinneseindrücke (Bits). Aber nur
40 Bits – das entspricht in etwa diesem Satz – davon finden Eingang ins Bewusstsein, der große Rest wird unbewusst verarbeitet. Jede nonverbale Reaktion, die Wärme auf der Haut, blauer Himmel, Ihre fröhliche Stimmung etc. gelangt unbewusst, also implizit in Ihr Gehirn. Genau so verhält es sich mit
Markenkommunikation: Der Großteil wird implizit verarbeitet.
Wir nehmen den ganzen Tag unzählige Informationen auf und speichern sie explizit oder implizit in unserem Gehirn ab. So entsteht ein unglaubliches Datenmaterial, ein implizites Wissen, das seine Wirkung entfaltet, wenn man spontan
entscheidet. Wer nachdenkt, ruft ein anderes, deutlich geringeres Datenmaterial
ab, das „nur” aus den Informationen besteht, die bewusst gespeichert wurden.
Diese können aber sehr verzerrt sein, weil oft nur Auffälliges gespeichert wird.
Eine besonders praxisrelevante Erkenntnis ist, dass es im Gehirn zwei fundamental verschiedene Systeme gibt. Das eine, evolutionär ältere System, verarbeitet pro Sekunde 11 Millionen Bits (Informationseinheiten) und ist in erster
Linie für effiziente Entscheidungen und Handlungen gebaut. Der Code dieses
Systems ist „ACTION“. Daneben gibt es ein zweites System, das nur 40 Bits
verarbeitet und in erster Linie dem Nachdenken („THINK“) dient. Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman nennt diese beiden Systeme
„System 1“ und „System 2“.
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Overload
Komplexität
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Pilot
Bewusst-explizite
Verarbeitung
5–10 %
Markensignale
Autopilot
Zeitdruck
Automatisch-implizite
Verarbeitung
Action
90–95 %
Low
involvement
Abb. 2
1. Das implizite System – der Autopilot (System 1): Dieses System arbeitet
hoch effizient und weitgehend unbewusst. Dazu gehören die Sinneswahrnehmung, viele Lernvorgänge (z. B. bei Werbung), Emotionen, Faustregeln,
Stereotypen, Automatismen, Marken-Assoziationen, unbewusste Markenimages, spontanes Verhalten und intuitive Entscheidungen. Das implizite
System regelt unter anderem die gesamte nonverbale Kommunikation, das
Lernen von Markenbotschaften und hier entfalten (starke) Marken ihre Wirkung. Um sich von älteren Konzepten des Unbewussten (z. B. von Freud) abzugrenzen, sprechen Forscher heute lieber von „impliziten“ Vorgängen.
Letztlich bedeutet aber „implizit“, dass ein Vorgang vor- bzw. unbewusst
und nicht reflektiert abläuft.
2. Das explizite System – der Pilot (System 2): Mit dem expliziten System denken wir nach (Arbeitsgedächtnis), verarbeiten den Satz „die Sonne scheint“,
erstellen Kosten-Nutzen-Analysen und planen in die Zukunft. Dieses System gibt bei Konsumenten-Befragungen die Antwort „Ich habe Preise verglichen und mir das beste Angebot rausgesucht“ oder „Ich verstehe diese Werbung nicht“.
Die Bedeutung des impliziten Systems – des unbewussten Autopiloten im
Kopf – wurde lange unterschätzt, heute jedoch ist klar: Dieses System ist entscheidend für Verhalten, seine Bedeutung für das Marketing ist enorm. Das
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implizite System im Kopf übernimmt die Führung, wenn Konsumenten a) unter Zeitdruck, b) mit Informationen überlastet (Overload), c) wenig interessiert
und d) unsicher hinsichtlich einer Entscheidung sind, zum Beispiel weil sich
zwei Marken stark ähneln oder die Entscheidung sehr komplex ist und damit
die begrenzten Kapazitäten des expliziten Systems nicht ausreichen. Kurz: Der
Autopilot ist beim Kontakt mit Marken, bei der Markenwahl und bei Kaufentscheidungen insgesamt entscheidend. Dies gilt zum Beispiel auch für den
Buchmarkt, bei dem aufgrund der Angebotsfülle inzwischen 70 % der Kaufentscheidungen am POS, also spontan und intuitiv, erfolgen. Der renommierte
Harvardprofessor Gerald Zaltman geht davon aus, dass das implizite System
bis zu 95 Prozent des (Kauf-) Verhaltens steuert.
Meistens arbeiten Pilot und Autopilot gut zusammen, deswegen erleben wir
sie auch nicht als zwei getrennte Systeme. Um beide Systeme zu erleben, müssen wir einen Konflikt zwischen ihnen konstruieren. Genau das ist der Sinn
des folgenden Experiments. Gehen Sie die folgende Tabelle spaltenweise durch
und nennen Sie dabei so schnell wie möglich die Farben der Wörter (Sie beginnen also links oben mit „grün“, „blau“, „gelb“ ...). Wichtig: Sie sollen nicht die
Wörter selbst vorlesen, sondern nur die Schriftfarben nennen!
Abb. 3
Das explizite und das implizite System im Gehirn greifen auf unterschiedliche
neuronale Strukturen und Netzwerke zurück. Beide Systeme können deshalb
jeweils andere Dinge über eine Marke lernen. Die Konsequenz: Explizite und
implizite Einstellungen und Assoziationen zu einer Marke klaffen oft auseinander. Eine Meta-Analyse über 126 Studien zeigt, dass explizite und implizite Ein-
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stellungen zu Menschen oder Marken nur sehr gering korrelieren (r = .24). Hier
liegt also eine große Chance für die Markenführung: Durch implizite ImageMessungen können nun erstmalig auch tiefer liegende, implizite und besonders
verhaltensbestimmende Einstellungen und Assoziationen zu Marken quantitativ abgebildet und damit gesteuert werden. Durch die Verschränkung der impliziten mit den explizit erhobenen Daten ergibt sich ein komplettes Bild über
das bewusste und unbewusste Markenbild. Häufig zeigen solche integrierten
Analysen auch, was sich wirklich hinter bestimmten expliziten Äußerungen
von Kunden verbirgt (z. B. ein negatives, aber implizites Vorurteil, welches die
Image-Bewertung einer Marke massiv beeinflusst).
Abweichungen zwischen impliziten und expliziten Marken-Präferenzen und Assoziationen entstehen, weil Probanden ihre „wahren“ Einstellungen nicht
preisgeben wollen, weil sie ihnen peinlich sind, weil sie keinen bewussten Zugriff auf sie haben oder weil der Autopilot im Kopf andere Dinge über eine
Marke gelernt hat als der Pilot. So finden wir häufig, dass explizite Markenimages wenig differenzieren, implizite Markenimages aber deutliche und signifikante Unterschiede herausstellen.
Aufgrund der teilweise massiven Abweichungen zwischen explizitem und
implizitem Marken-Image und aufgrund der großen Bedeutung des impliziten Systems im Marketing müssen wir also in der Markenführung neben
dem expliziten vor allem das implizite Marken-Image erfassen und steuern.
Implizite Markenimage-Messungen sollten ebenso wie die implizite Wirkung der Marke insgesamt, des Brandings sowie der Kernbotschaften in
Pretests und Marken- und Kommunikationstrackings integriert werden, um
ein vollständiges Bild des Erfolges bzw. der erzielten Veränderungen zu erhalten.
Wie das implizite System funktioniert
Schauen wir uns nun die Hirnstrukturen im Autopiloten näher an. Dabei ergeben sich relevante Einblicke in die Art und Weise, wie die Implementierungslücke mithilfe neuropsychologischer Erkenntnisse geschlossen werden kann.
Wichtig ist festzuhalten, dass die genannten Hirnregionen nie isoliert arbeiten,
sondern in Form neuronaler Netzwerke organisiert sind, also in permanentem
und dynamischem Austausch sind.
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A
B
C
LTC
MTL A
PPC
LPFC
OFC
MTL A
LTC
C
dAC
MPFC
BG
OFC
A
LTC
Implizites
System
(Autopilot)
PPO
rACC
MTL
Explizites
System
(Pilot)
Abb. 4
Lateraler Temporal-Kortex (LTC): Der laterale Temporal-Kortex verarbeitet die
Bedeutung (engl. Meaning) von Sinneseindrücken. Er weist der Farbe Blau in
einer Anzeige die Bedeutung „Kühle“, und „Sachlichkeit“ zu, oder der Farbe
Magenta die Marke Telekom. Diese Zuordnung erfolgt implizit, wir müssen
nicht erst nachdenken, die Farbe entfaltet ihre Bedeutung unmittelbar. Gelernt
werden die Bedeutungen von Sinneseindrücken über implizites Kulturlernen.
So steht der Hirsch in der Jägermeister-Werbung für Erhabenheit, aber auch
für Tradition und Heimatverbundenheit. Diese Bedeutung haben wir nicht
explizit in der Schule gelernt, sondern implizit durch unsere Einbettung in eine Kultur.
Basalganglien (BG): Die Basalganglien sind Muster-Experten. Sie erkennen etwa
aufgrund der Mimik, Gestik und Tonlage das nonverbale Gesamtmuster und
decodieren die in diesem Muster enthaltende Bedeutung („Er ist verärgert“).
Genauso erkennen sie die Bedeutung in Kommunikationsmustern, die Marken
aussenden. Diese Hirnstruktur ist, zusammen mit dem unteren Stirnhirn, auch
die Basis für das, was wir gemeinhin als „Intuition“ oder „Bauchgefühl“ bezeichnen. Der Kern von Intuition ist das (implizite) Erkennen von Mustern.
Amygdala (A): Der sogenannte Mandelkern ist Teil der Emotionszentren im
Gehirn. Emotionen sind ein wichtiger Teil des impliziten Systems. Die Amygdala reagiert auf die emotionale Bedeutung von Mustern, erkennt ihren emotionalen Gehalt. Sie verändert zudem direkt die Wahrnehmung von Signalen,
färbt unsere Wahrnehmung also je nach Motivlage und Stimmung anders ein.
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Emotionen und Wahrnehmungen beeinflussen sich also gegenseitig. Sie reden
sozusagen miteinander. Hier liegt ein Grund, warum das AIDA-Modell falsch
ist: Emotionen führen zu Aufmerksamkeit und nicht umgekehrt!
Die Amygdala ist Teil des limbischen Systems, in dem die zentralen Motive des
Menschen reguliert werden. Das limbische System und damit die Motive des
Menschen sind die wahren Treiber des (Kauf-)Verhaltens. Sie versorgen Markennetzwerke mit der nötigen Energie und damit Marken mit Relevanz.
dACC: Das dorsale, anteriore Cingulum überprüft die Passung von Mustern
zum bisher Gelernten und zu den Erwartungen. Diese Hirnstruktur ist für unser Bauchgefühl verantwortlich, dass etwas irgendwie nicht stimmt, und gibt
bei Turbulenzen Alarm, sodass sich das explizite System – das Nachdenken –
zuschaltet. Störungen dieser Art aktivieren in der Regel eine kritische Verfassung, ein Störgefühl, das in der Marktforschung häufig zur Ablehnung kreativer Ansätze führt. Die Dislikes im Werbetest steigen und werden zum „Kreativitäts-Killer“. Ohne diese Irritation, ohne das Durchbrechen erwarteter Muster,
findet aber kein Umlernen statt: Wird der Autopilot nicht gestört, macht er weiter wie bisher und lernt nichts Neues über die Marke. Die Konsequenz ist, dass
wir sehr vorsichtig mit Verbrauchermeinungen sein müssen – im schlimmsten
Fall führt das zur Zementierung einer Marke, weil die Widerstände beim Verbraucher gegenüber Veränderungen der Marke zu groß sind und alle abweichenden Konzepte in der Marktforschung durchfallen.
Unteres Stirnhirn (orbito-frontaler (OFC) und ventro-medialer Kortex (VMPC)):
Dieser Teil des impliziten Systems ist ein inneres Belohnungssystem, das vorne im Gehirn, direkt hinter den Augen im unteren Stirnhirn sitzt und beim Betrachten starker Marken aufleuchtet. Starke Marken aktivieren das untere
Stirnhirn, führen so zu einer inneren Belohnungsreaktion und wirken damit im
wahrsten Sinn des Wortes anziehend. Das untere Stirnhirn ist gleichzeitig eine
der wichtigsten Hirnregionen für sozialen Austausch. Fällt diese Hirnregion
etwa durch einen Unfall oder eine Krankheit aus, können sich die Betroffenen
nicht mehr sozial angepasst verhalten, ihre Persönlichkeit verändert sich dramatisch. Dass Marken von diesen sozialen Netzwerken reguliert werden zeigt:
Marken haben in erster Linie eine soziale Bedeutung, sie sind soziale nicht individuelle Konstrukte. Marken erhalten ihre Kraft dadurch, dass sie kulturell
und über sozialen Austausch mit Bedeutung aufgeladen werden und dadurch
die sozialen Netzwerke im Kopf der Kunden aktivieren.
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Insgesamt sind die Motive im limbischen System sozialer Natur, sogar das Bedürfnis nach Abgrenzung (Autonomie) ist ein soziales Motiv. Der Mensch ist
ein Herdentier, der Autopilot und das implizite System mit seinen Motiven
und Mustererkennungs-Netzwerken sind letztlich und in erster Linie für den
sozialen Austausch gebaut.
Fassen wir zusammen: (starke) Marken und Kommunikation wirken zu 95 %
im impliziten System. In diesem verarbeiten Hirnstrukturen nicht die einzelnen Bestandteile, sondern die Bedeutung des Kommunikationsmusters. Deshalb ist das implizite System für die Implementierung von Markenstrategien
entscheidend. Relevant wird eine Marke bzw. die von ihr transportiere Bedeutung, wenn sie an die Motivsysteme im limbischen System anschließt. Da diese Motive sozial sind, haben starke Marken eine soziale Bedeutung, einen sozialen Mehrwert (social value).
Diese Erkenntnisse haben fundamentale Konsequenzen für die Entwicklung
von Innovationen und die Führung von Marken. Um die Erkenntnisse im Marketingalltag nutzbar machen zu können, haben wir mit dem Brand Code Management einen Ansatz zur effizienten Markenführung und zur Schließung
der Implementierungslücke entwickelt.
Brand Code Management
Das Brand Code Management (BCM) ist ein Ansatz zur Markenführung, der
auf den eben beschriebenen neuropsychologischen Erkenntnissen basiert.
BCM dient der systematischen Steuerung der impliziten Bedeutung von Marken und Markenkommunikation. Im Zentrum des BCM stehen sogenannte
Codes, also mit kultureller Bedeutung aufgeladene Signale, welche den Kern
einer Marke implizit codieren und transportieren. Brand Code Management
integriert in einem Modell die Strategieformulierung, Umsetzung und Evaluation und sichert somit eine effiziente Implementierung.
Basis für das BCM ist die neuropsychologische Sichtweise, dass Marken in
neuronalen Netzwerken abgelegt und somit dynamisch sind. Anders als bei
anderen Markenmodellen (z. B. Zwiebel-/Dreick-/Eisberg-Modelle) ist die
Marke in diesem Ansatz nicht statisch, sondern das Markennetzwerk und die
darin angelegte Bedeutung kann durch neue Verknüpfungen gezielt verändert
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und damit gesteuert werden. Markenführung bedeutet in diesem Kontext die
Steuerung des Markennetzwerkes und der darin enthaltenen Bedeutung. Die
Relevanz und Einzigartigkeit des Markennetzwerkes bestimmt den Erfolg der
Marke. Die folgende Grafik zeigt ein solches Markennetzwerk.
Abb. 5: Markennetzwerk
Das Markennetzwerk besteht aus zwei Ebenen: Die Ebene der Motive (Amygdala, limbisches System), die für die differenzierende Positionierung und die
Relevanz der Positionierung notwendig sind und die Ebene der in den Markenkontaktpunkten (Kommunikation, Packaging, Messen usw.) gesendeten
Markensignale (Codes), die durch ihre implizite Bedeutung eine Brücke zu den
Motiven bilden. Die indirekte Ansprache der Motive über die Codes ist notwendig, da eine direkte Ansprache der Motive zu Widerständen führen würde: Kein Verwender von Blackberry möchte wirklich hören, dass er sich damit
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für den Businesskrieg rüstet und kein Porsche-Fahrer möchte sich seiner tiefer
liegenden Motive bewusst werden.
Am Beispiel Mobilfunk-Anbieter zeigen wir nun, wie das Brand Code Management in der Markenführung eingesetzt wird.
Prinzip 1: Die Marken-Positionierung erfolgt auf den Motiven
Die Ebene der Motive ist eine tief im Gehirn liegende Ebene (limbisches System). Motive sind die wahren Treiber des Kaufverhaltens. Sie entfalten ihre
Wirkung im Autopiloten und steuern unbewusst unser Verhalten. Psychologen
sprechen deshalb auch von impliziten Motiven. Eine Markenpositionierung ist
nur dann nachhaltig relevant – also verhaltenssteuernd – wenn sie auf den
grundlegenden, impliziten Motiven beruht. Der Grund dafür liegt in der eigentlichen Funktion von Konsum.
Wir konsumieren, um unsere Motive zu regulieren. Produkte und Marken, die
unsere Motive und Bedürfnislagen bedienen, lösen neuronale Belohnungsreaktionen aus. Deshalb leuchten beim Anblick starker Marken die Belohnungszentren im Gehirn auf. Die neuroökonomische Forschung belegt, dass es dabei
einen Widerstreit zwischen zwei Tendenzen gibt: das „Haben-Wollen“ (Motive, limbisches System) und eine kritische Prüfung des Preisniveaus (Insula). Ist
das Haben-Wollen (die Marke) stark genug, werden auch höhere Preise akzeptiert. Eine Marke, die keines der Motive regulieren kann, ist nicht relevant oder
wird nur aufgrund von Preisvergleichen gekauft. Sie hat keine Bedeutung für
den Konsumenten. Die Relevanz der Marken-Muster ist auf drei grundlegende Motivklassen zurückzuführen:
• Sicherheit (Geborgenheit, Fürsorge, Zusammensein, Tradition)
• Erregung (Abwechslung, Stimulanz, Spiel-Trieb)
• Autonomie (Abgrenzung, Macht, Kontrolle, Leistung)
Diese drei Motivkomplexe wurden unter anderem vom renommierten Deutschen Psychologen Norbert Bischof (der für sein Lebenswerk mit dem Deutschen Psychologie Preis geehrt wurde) und dem Hirnforscher Jan Panksepp
intensiv erforscht, von Hans-Georg Häusel für das Marketing umgesetzt und
von Decode erstmals für den gesamten Prozess der Markenführung, insbe-
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sondere auch der Implementierung, aufbereitet. Die Aufgabe der Markenführung ist es, in allen Markenkontaktpunkten aufzuzeigen, welche Motive mit
diesem oder jenem Produkt reguliert werden können. Neben den grundlegenden drei Motivklassen gibt es Mischformen, die sich aus zwei jeweils angrenzenden Motivklassen ergeben. Insgesamt ergibt sich so der folgende MotivRaum:
Abb. 6: Motivraum
Die Positionierung der Marke in diesem Motivraum bildet die Basis für das Brand
Code Management. Dazu wird im ersten Schritt analysiert, wie sich die Motive in
der relevanten Produktkategorie ausgestalten, d.h wie und wodurch die Produktkategorie die Motive reguliert. Jede Kategorie reguliert die Motive unterschiedlich.
Autonomie bedeutet bei Kosmetik etwas anderes als bei Automobilen. Sicherheit
kann bei einem Automobil eine „sichere Hülle“ oder eine „Quelle von Geselligkeit“ sein, bei Getränken ein „gemeinsam mit Freunden“ oder „sich Fallen lassen“
sein, und bei Zahnbürsten „Verlässlichkeit“ und „Vertrauen“.
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Im Mobilfunk wird das Autonomiemotiv im Sinne einer Ausrüstung, eines Sichrüstens reguliert. Ein Beispiel dafür ist der Blackberry-Service und das Blackberry-Handy. Telefonieren per se ist ein Verhalten, das Distanzen überwindet, ein
persönliches Gespräch mit Bekannten ersetzt, also das Sicherheitsmotiv anspricht. Allerdings wird das Handy auch dafür genutzt, sich zu distanzieren,
schlechte Nachrichten oder Terminabsagen per SMS zu versenden. Das Handy
zu nutzen ist aber natürlich auch einfach praktisch (Funktionalität). Durch die
Musik, immer neue Features und Fotofunktionen wird das Erregungsmotiv
angesprochen.
Die Grafik zeigt, dass in der Produktkategorie Mobilfunk, der Motivraum
„Disziplin“ im Vordergrund steht. Das mag auf den ersten Blick verwundern,
wird doch überall mit Fotohandys, Actions und Lifestyle für Handys und Mobilfunkanbieter geworben. Schaut man sich an, welche Dimensionen hier verantwortlich sind, so wird das Ergebnis sehr plausibel: Die hohe Ausprägung
des Disziplin-Motivs wird getrieben von „Funktionalität“ und „Effizienz“.
Abb. 7: Produktkategorie Mobilfunk
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Funktionalität ist also der Core Value dieser Kategorie, Handys müssen für
den Autopiloten, das implizite System im Kopf, in erster Linie ihre Arbeit leisten und praktisch sein, also Telefonate und SMS möglichst mühelos ermöglichen. Diesen Core Value müssen die Anbieter bedienen. Da aber die Qualität
der Handys sich im Wesentlichen gleicht, muss die Differenzierung zum Wettbewerb über andere Motive bzw. Core Values erfolgen.
Dazu wird die Marke und ausgewählte Wettbewerber in den Motivraum abgebildet. Abbildung 8 zeigt eine solche Motivverortung zweier Mobilfunkmarken.
Beide Marken bedienen den Kernwert der Kategorie gleichermaßen (gleich hohe Ladung bei „Disziplin“). Es wird aber deutlich, worin sich die Marken unterscheiden.
Bedient die Marke A (blau) vor allem das Erregungsmotiv, so reguliert Marke B (grün) vor allem das Sicherheitsmotiv. Wichtig ist hier, dass es kein gut
oder schlecht gibt, sondern dass es nur darum geht, das Markennetzwerk offen
Abb. 8
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zu legen und die Kernmotive (Core Values) einer Marke zu identifizieren. Eine vergleichbare explizite Image-Messung der beiden Marken zeigte keine relevanten Unterschiede, die beiden explizit erhobenen Image-Profile korrelierten hoch signifikant (r = 0.74). Die implizite Messung des Markenkerns über
die Motive ist also deutlich sensitiver und zeigt die wahren Unterschiede im
psychologischen Profil der Marken.
Basierend auf dieser IST-Analyse wird dann die SOLL-Positionierung der Marke definiert. Ziel ist es festzulegen, welche Motive im Markennetzwerk gestärkt und welche reduziert werden sollen, um eine möglichst potenzialträchtige und differenzierende Positionierung zu erhalten (Potenzialanalyse).
Marke A (blau) hat zum Beispiel mehrere Optionen. Sie kann zum einen versuchen, zusätzlich das Motiv „Sicherheit“ stärker anzusprechen, etwa mit einem
Spot mit dem Versprechen „Nähe schenken“, um damit das Potenzial des Wettbewerbers anzugreifen. Die Differenzierung wäre immer noch vorhanden, da
immer die Einzigartigkeit des Gesamtmusters entscheidend ist und die Marke
auf dem Erregungsmotiv differenziert. Das bedeutet, dass diese Marke in der
Implementierung in jedem Fall das Erregungsmotiv ansprechen muss, etwa
durch eine unkonventionelle Inszenierung des Versprechens „Nähe schenken“.
Eine andere Alternative wäre, den Erregungsaspekt der Marke zu stärken. Sie
würde sich dann weiter vom Wettbewerber weg bewegen und wäre damit weniger angreifbar. Egal was die Marke aber tut, sie darf das Kernmotiv, die Erregung, nicht schwächen. Der Motivraum ist ein idealer Referenzrahmen um
die Marke nicht nur zu verorten (IST) sondern sie darin auch zu bewegen, d. h
die Marke zu führen.
Da der Fokus in diesem Artikel auf der Implementierungslücke liegt, wollen
wir uns nun der Frage zuwenden, wie die Implementierung einer Positionierung umgesetzt wird.
Prinzip 2: Implementierung erfolgt über Codes
Die Ebene der Codes ist das Gesicht der Marke, der Markenauftritt mit allen
vom Kunden wahrnehmbaren Signalen. Die Codes bilden die Schnittstelle
zum Kunden. Über die Codes werden die Bedeutungen transportiert, über sie
muss der Kunde die erwünschte Positionierung „lernen“.
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Insgesamt zeigt die neuropsychologische Forschung, dass es vier Träger von
Bedeutung gibt, die als Codes bei der Implementierung einer Markenpositionierung zur Verfügung stehen:
• Sensorische Codes: alle sensorischen Erlebnisse, die in der Kommunikation
vermittelt werden: die Farben, Formen, Geräusche, Lichtverhältnisse, die
Typografie, die Haptik – also alles, was wir ganz konkret wahrnehmen, was
unsere Sinne unmittelbar stimuliert
• Episodische Codes: die erzählten Geschichten und gezeigten Episoden
• Symbolische Codes: die Protagonisten (zum Beispiel Herr Kaiser), die Figuren,
Gesten, Handlungsplätze (zum Beispiel das offene Meer), die Marken-Logos
und vieles mehr
• Sprachliche Codes: das geschriebene oder gesagte Wort
Jeder Brand Code, jedes Markensignal, hat eine in unserer Kultur durch Sozialisation gelernte Bedeutung. Die Implementierung der Markenpositionierung
muss an diese kulturell gelernten Bedeutungen anknüpfen. Die Bier-Marke
„Beck’s“ nutzt beispielsweise die implizite, kulturell gelernte Bedeutung des
Dreimasters, um die Bedeutung „Neues entdecken“ und damit das Motiv
Abenteuer in das Markenetzwerk zu integrieren. Der Dreimaster ist also ein
symbolischer Code, der an das Abenteuermotiv anschließt. Im Falle des Vodafone-Spots „Nähe schenken“ (s. unten) ist es in erster Linie der episodische
Code, die erzählte Geschichte, welche die relevante Bedeutung transportiert.
In einem Briefing-Workshop wird nun in einem ersten Implementierungsschritt einem Team aus Markenverantwortlichen aus Unternehmen und
Agentur die Motivpositionierung vorgestellt. Diese wird durch eine gezielte
Analyse vergangener Kommunikationsmittel ergänzt. In der Regel analysieren wir die implizite Bedeutung der Brand Codes in 1–3 zentralen Spots der
Vergangenheit. Über diese Bedeutungsanalyse wird erklärt, warum die Marke eine bestimmtes Motiv-Profil aufweist, welche Signale beibehalten werden
müssen (Brand Codes) und welche Codes verändert werden können. So kann
zum Beispiel deutlich werden, dass der episodische Code, die erzählte Geschichte, gleich bleiben soll, weil dieser Code zum Markenkern gehört, etwa
„Freude am Fahren“ bei BMW. Nun kann diese Geschichte über veränderte
und differenzierende symbolische Codes neu erzählt werden, zum Beispiel
über Kermit den Frosch, der in Spots von Jung von Matt erfolgreich für BMW
eingesetzt wurde. Kermit überträgt als kulturell gelerntes Symbol eine für
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BMW, als Marke auf dem Erregungsmotiv positioniert, relevante Bedeutung
und differenziert zudem von anderen Markenauftritten. Die Erfahrung zeigt,
dass Agenturen insgesamt sehr offen für das Implizite Marketing sind, weil
hier nicht die Verbrauchermeinung über ein Kommunikationskonzept entscheidet, sondern die erzielte implizite Wirkung.
Fallbeispiel Vodafone
Anhand von TV Spots zeigen wir nun, wie in einem weiteren Implementierungsschritt Storyboards und finale TV Spots auf ihre Ansprache des SOLLMotivprofils überprüft werden können. Dabei haben wir exemplarisch zwei
Spots der Marke Vodafone untersucht: den Spot „Nähe schenken“ und den
Spot „Eintagsfliege“ (Zugriff: www.implicit-marketing.de/markentechnik).
Abb. 9: Spot „Eintagsfliege“
Abb. 10: Spot „Nähe schenken“
Die implizite Wirkung der beiden Spots wurde mit einem Priming-Paradigma (implizites Testverfahren) analysiert (siehe nächster Abschnitt). Die Veränderungen, welche die Spots im Vodafone-Markennetzwerk hervorgerufen
haben, sind in der Abbildung 11 dargestellt. Das Code-Muster des Spots „Nähe schenken“ transportiert vor allem Bedeutungen, die in das Sicherheitsmotiv einzahlen, der Spot „Eintagsfliege“ bahnt dagegen vor allem das Erregungsmotiv.
Die interessante Frage ist nun, wodurch, durch welche Codes diese Wirkung
entstanden ist. Grundlage für das Warum der Wirkung, das in gängigen PretestVerfahren meist offen bleibt, ist die Code-Analyse, ein integratives Verfahren,
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Abb. 11
das kulturwissenschaftliche Verfahren mit psychologischen Verfahren kombiniert. In einem ersten Schritt werden mithilfe der objektiven Hermeneutik die
kulturelle Bedeutung der Codes offen gelegt. Zum Beispiel welche implizite Bedeutung die Musik, die Geschichte, der Protagonist oder das Voice-Over in einem TV Spot transportieren. Weil die Bedeutung dieser Codes kulturell gelernt
ist, werden an dieser Stelle kulturwissenschaftliche Verfahren wie die objektive
Hermeneutik eingesetzt. Anschließend werden zur Verifikation der hermeneutischen Analyse qualitative Interviews mit der Zielgruppe geführt. Dieser Prozess sichert die objektiv hermeneutisch analysierte, implizite Bedeutung der
Codes ab und ist sensibel gegenüber kulturellen Unterschieden, die zum Beispiel zwischen Hausfrauen und Jugendlichen existieren sowie Veränderungen
von Bedeutungen über die Zeit hinweg (z. B. die Trends in der Bedeutung von
Farben, Formen, Symbolen).
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Die Code-Analyse (hier stark verkürzt dargestellt) differenziert die Bedeutung
des Spots „Nähe schenken“ in die vier Codes und zeigt, wie die Gesamtwirkung entsteht.
• Sprache: Der Protagonist wünscht „Eine wunderbare Zeit“ und einen „grandiosen Tag“. Geschrieben steht „Für alle, die gerne unbegrenzt Nähe schenken“;
„Mit der SuperFlat 30 Mio. Vodafone-Kunden erreichen“. Alle diese sprachlichen Signale bedienen das Sicherheitsmotiv. Die Verbindung zu 30 Mio. Kunden entspricht sehr genau der psychologischen Triebfeder dieses Motivs: die
Nähe zur eigenen Herde.
• Geschichte: Die Geschichte „Nähe schenken“ spricht das Sicherheitsmotiv an.
Das unkonventionelle Verhalten des Protagonisten transportieren die Motive
Erregung und Abenteuer.
• Symbole: Der Protagonist selbst wirkt natürlich, die Handlungsplätze sind
aus dem Alltag gegriffen und dem Betrachter vertraut, was die Gesamtwirkung unterstützt.
• Sensorik: Die Stimme des Protagonisten klingt weich und sanft. Auch sie
zahlt – wie die Musik – in das Sicherheitsmotiv ein.
Über diese Art der Code-Analyse wird deutlich, welche Codes das in der quantitativen Verortung des Spots etablierte Motiv-Profil bestimmen.
Für die Marke zentrale Brand Codes (z. B. Key Visuals, Musik, Branding-Signale) werden in der Regel quantitativ auf ihre implizite Wirkung hin untersucht. So wird deutlich, welche Exekutionselemente wie stark die Wirkung bestimmen und welche eher unwichtig sind. Zur Illustration haben wir als
sensorischen Code die Musik des Spots „Nähe schenken“ analysiert. Die Musik zum Beispiel aktiviert vor allem diejenigen Bedeutungen (z. B. Geborgenheit), die mit dem Sicherheitsmotiv verbunden sind. Im Vergleich mit dem Gesamtspot, unterstützt die Musik daher vor allem das Sicherheitsmotiv, das
Motiv Abenteuer ist in der Musik nicht enthalten.
Dass die Musik ein wichtiger Bedeutungsträger ist, ist offensichtlich. Aber wie
wichtig ist die Musik? Um diese Frage zu beantworten, haben wir den Spot ohne Musik getestet und konnten so das Gewicht der Musik für die Gesamtwirkung feststellen: Ohne Musik wird das Sicherheitsmotiv signifikant weniger aktiviert als mit der Musik. Die Musik passt also nicht nur zur Geschichte, sie ist in
diesem Fall für die implizite Wirkung des Spots sogar von zentraler Bedeutung.
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Insgesamt ermöglichen diese Analysen die gezielte Steuerung des Markennetzwerkes, sowohl im Vorfeld (Konzeptphase, Pretest) als auch nach der Schaltung
(Posttest, Tracking) der Markenkommunikation. Durch den Abgleich der Kommunikationsmuster (z. B. TV Spots) bzw. des Markenkerns mit den SOLL-Motivprofilen ist zu jedem Zeitpunkt sicher gestellt, dass die entsprechende Implementierung zielführend und effizient ist. Die zugrunde liegenden analytischen
Verfahren beschreibt der nächste Abschnitt.
Prinzip 3: Die Erfolgskontrolle erfolgt über implizite
Messverfahren
Die Erfolgskontrolle erfolgt durch verschiedene, implizite Messverfahren.
Das Ziel ist, sicher zu stellen, dass Positionierung und Implementierung konsistent sind und die Markenführung damit effizient ist. Ein besonders relevantes Verfahren sind dabei die sogenannten Reaktionszeit-Verfahren, die in
der neuropsychologischen Forschung genutzt werden, um implizite Wirkung
zu messen, die aber bislang noch keinen Eingang in die Markenführung gefunden haben.
Der entscheidende Vorteil von Reaktionszeit-Verfahren: sie „unterlaufen“ den
Piloten, das explizite System, weil hier spontan und intuitiv entschieden werden muss und keine Zeit zum Nachdenken besteht. Ferner haben Reaktionszeiten, im Unterschied zu herkömmlichen Skalen, Intervallskala-Niveau und
sind sehr hoch aufgelöst und damit bei entsprechenden Testdesigns deutlich
sensitiver als übliche Befragungsinstrumente. Im Gegensatz zu „langsamen“
Verfahren wie klassischen Ratingskalen und projektiven Methoden messen
implizite Messverfahren also das spontane, unkontrollierte Verhalten der Probanden (Autopilot) ohne „Beteiligung“ des expliziten Systems (Pilot). Auf
diese Weise können wir erstmals quantitativ die spontanen, unbewussten Assoziationen, Einstellungen und Bewertungen zu einer Marke messen, und damit steuern.
Psychologen nutzen Reaktionszeit-Verfahren schon lange, um etwa soziale Vorurteile zu messen. Weiße Amerikaner reagieren z. B. deutlich schneller, wenn
das Bild eines weißen Menschen mit dem Label „gut“ gezeigt wird, als wenn
dieses Label mit dem Bild eines farbigen Menschen verknüpft wird. Damit bewerten sie weiße Menschen positiver als farbige Menschen. Allerdings nur unbewusst, denn nahezu alle Probanden verneinen die explizite Frage, ob sie
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Vorurteile gegenüber farbigen Menschen hätten. Die renommierte Neurowissenschaftlerin Elizabeth Phelphs führte diesen „Impliziten Rassismus“-Test im
Hirnscanner durch und es zeigte sich, dass die Reaktionszeiten mit der neuronalen Aktivierung in der sogenannten Amygdala korrelierten. Diese Hirnstruktur ist Teil der emotionalen Hirnzentren, gehört zum Autopiloten im Kopf und
arbeitet weitgehend unbewusst. Die Aktivierung der Amygdala korrelierte mit
den Reaktionszeiten, aber nicht mit den Ergebnissen der expliziten Befragung
mittels Fragebogen.
Dieses Prinzip kann auch auf Kommunikationsmittel und ihre implizite, also unbewusste Wirkung angewendet werden. Dazu nutzen wir ein Untersuchungsdesign, in dem über Reaktionszeiten die implizite Wirkung des Werbemittels auf
das Markennetzwerk erhoben wird. Mit einem sog. Priming-Paradigma wird
das Werbemittel als Reiz in das Markennetzwerk hineingegeben und die Wirkung wird mittels Reaktionszeiten erfasst. Bedeutungen, die durch das Werbemittel geprimed (gebahnt bzw. aktiviert) werden, werden dann schneller mit der
Marke assoziiert. Die Reaktionszeit sinkt also nach Betrachten des Spots. Bedeutungen, die durch das Werbemittel aus dem Markennetzwerk entfernt werden,
lassen die Reaktionszeiten nach oben schnellen.
Neben den quantitativen Reaktionszeit-Verfahren kommen im Brand Code
Management wie schon beschrieben eine Reihe von kulturwissenschaftlichen
und tiefenpsychologischen Verfahren zum Einsatz. Erst die Kombination impliziter qualitativer und quantitativer Daten ermöglicht die vollständige und
zielführende Analyse für die Steuerung eines Markennetzwerks, da nicht nur
die Wirkung analysiert wird, sondern auch offen gelegt wird, welche Codes für
die Wirkung verantwortlich sind.
Fazit
Der neuropsychologische Ansatz im Marketing, das implizite Marketing, wird
den aktuellen Hype um das Neuromarketing überdauern, und zu einem festen
Bestandteil des Marketing-Instrumentariums werden. Die Fülle der vorliegenden Erkenntnisse über das Gehirn und seine Funktionsweise ermöglichen
schon heute eine neue Herangehensweise an Marken, Markenkommunikation
und Marktforschung. Letztlich muss sich der neue Ansatz an zentralen Fragen
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des Marketings messen lassen. In diesem Artikel haben wir am Beispiel der Implementierungslücke gezeigt, welche neuen Möglichkeiten sich hier bieten,
wenn man auf neuropsychologische Konzepte und Tools zurückgreift. Konkret
haben wir das Brand Code Management skizziert, einer auf neuropsychologischen Erkenntnissen basierenden Plattform von der Strategieentwicklung,
über die Exekution bis hin zur Evaluation, mit der die Implementierungslücke
geschlossen werden kann. Der Prozess sichert eine zielgenaue Implementierung der Strategie und ist durch die impliziten Messverfahren sensitiv genug,
die implizite Wirkung der Kommunikation abzubilden. Er ermöglicht zudem,
die Markenkommunikation ganz gezielt – zum Beispiel je nach Zielgruppe,
Verfassung oder Kanal – zu steuern. Mit dem impliziten Marketing steht damit
ein gleichzeitig innovativer wie valider Ansatz für die Marketing-Praxis zur
Verfügung.
Anmerkungen
Vertiefend dargestellt ist das Thema im Buch der Autoren: „Wie Werbung
wirkt. Erkenntnisse des Neuromarketing.“ Haufe, 2006
(1) Esch, F-R.: Strategie und Technik der Markenführung, 2.Auflage; Vahlen,
2004
(2) Siehe z.B. das aktuelle Buch von Gerd Gigerenzer, Max-Planck-Institut Berlin,
zum Thema „Bauchentscheidungen. Die Macht der Intuition“, 2007
(3) Steklis/Harnad, 1976, S. 450
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