Einführung in die Verhaltenstherapie Katrin Endtner 19.4.2012 [email protected] Inhalte • Was versteht man unter Verhaltenstherapie (VT)? → Einführung in die Thematik • Die Breite des Feldes • Falldarstellung → Indikationsphase einer Therapie Historische Entwicklung I • Nicht eine Gründerperson – mehrere aus verschiedenen Ländern/Kontinenten z.B. Wolpe, Rachmann, Lazarus, Eysenck, Skinner • Wolpe: Entspannung + syst. Desensibilisierung • Eysenk: Kritik an der Wirksamkeit bisheriger psychotherapeutischer Verfahren • Skinner: Operanter Ansatz →Verhaltensmodifikation → Token Economies • Systematische Untersuchung der Effektivität von VTAnsätzen Historische Entwicklung II • Konsolidierung durch Fachgesellschaften • Kognitive Wende (ca. 1960) • Einführung kognitiver Faktoren, z.B.: - Konzepte des Dreiklangs von Selbstbeobachtung, Selbstbewertung und Selbstverstärkung - Bandura: Modelllernen, self-efficacy - Meichenbaum: Selbstinstruktionstraining - Beck und Ellis: kognitive und rational-emotive Therapie bei Depression Historische Entwicklung III • 1970-er Jahre: neue VT-Techniken für die Behandlung vieler Probleme werden entwickelt • Verbreiterung des VT-Ansatzes durch Verhaltensmedizin • Ca. 1970 wird der Drei-Komponenten-Ansatz eingeführt → verhaltensmässige-, kognitiv/affektive- und physiologische Reaktionssysteme verursachen verschiedene Störungen (Rachmann, Lang) • 1980-er Jahre: verhaltenstherapeutische und kognitive Ansätze werden zusammengeführt • 1990-er Jahre: Weiterentwicklung → Therapiemanuale Lernpsychologische Grundlagen der VT • Geschichte der VT ist eng verbunden mit der Psychologie des Lernens • Die experimentellen Befunde zur klassischen und operanten Konditionierung bilden die Grundlage für die Entwicklung von Modellen (SORKC-Modelle) → erklären die Entstehung psychischer Störungen → Grundlage für neue Interventionsmethoden • Alle Formen des Lernens → Informationsverarbeitung Lerntheorien I Klassische Konditionierung • Die klassische Konditionierung (Pawlow) ist ein Lernprozess, durch den ursprünglich neutrale Reize Reaktionen auslösen können, die sie vorher nicht auslösen konnten • Mehrmalige zeitliche und räumliche Koppelung des ursprünglich neutralen Reizes / Ratte mit einem sog. unkonditionierten Reiz / Lärm (UCS), der aufgrund seiner Eigenschaften eine biologisch vorprogrammierte, automatische Reaktion / Herzklopfen, Angst (unkonditionierte Reaktion, UCR) auslöst → konditionierte Reaktion (CR) / Herzklopfen, Angst wird allein durch konditionierten Stimulus (CS) / Ratte ausgelöst • Bsp. Chemotherapie bei KrebspatientInnen Lerntheorien II Operante Konditionierung • Die operante Konditionierung (Skinner) ist ein Lernprozess, bei dem die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhalten durch seine Konsequenzen erhöht oder verringert wird • Verschiedene Möglichkeiten: - Verstärkung - Konsequenzen, die die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhalten erhöhen (positive / negative Verstärkung) - Verstärkerpläne - Variationen in der Häufigkeit, mit der ein Verstärker auf fragliches Verhalten folgt (kontinuierlich / intermittierend) - Bestrafung - Konsequenzen reduzieren die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhalten - Löschung - ein unerwünschtes Verhalten wird abgebaut, indem es nicht verstärkt wird Weitere lerntheoretische Begriffe • Generalisierung: Neigung, auf verwandte Reize ähnlich zu reagieren • Diskriminationslernen: lernen, auf leicht unterschiedliche Situationen unterschiedlich zu reagieren • Habituation: Abnahme der Reaktionsbereitschaft auf einen mehrfach dargebotenen Reiz Lerntheorien III Modelllernen, Vermittlung von Wissen • Modelllernen (Bandura) ist ein Prozess, bei dem sich die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhalten bei einer Person erhöht, wenn sie dieses bei anderen Personen (Modell) beobachtet • Fehlinformationen können dazu beitragen, Störungen zu verursachen → gezielte Wissensvermittlung kann Belastungen verringern und Compliance erhöhen Lerntheorien IV Kognitive-, Kommunikationsmodelle • Personen mit psychischen Störungen weisen spezifische Besonderheiten in kognitiven Funktionen wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Problemlösen auf Diese tragen zur Entstehung und/oder Aufrechterhaltung der Störung bei • Kommunikationsverhalten wird in der VT dann als adaptiv beurteilt, wenn das jeweilige Verhalten zu einer Problemlösung beitragen kann Definition Verhaltenstherapie • Die Verhaltenstherapie ist eine auf der empirischen Psychologie basierende psychotherapeutische Grundorientierung • Sie umfasst störungsspezifische und -unspezifische Therapieverfahren, die aufgrund von möglichst hinreichend überprüftem Störungswissen und psychologischem Änderungswissen eine systematische Besserung der zu behandelnden Problematik anstreben • Die Massnahmen verfolgen konkrete und operationalisierte Ziele auf den verschiedenen Ebenen des Verhaltens und Erlebens. Sie leiten sich aus einer Störungsdiagnostik und individuellen Problemanalyse ab • und setzen an prädisponierenden, auslösenden und/oder aufrechterhaltenden Problemänderungen an • Die in ständiger Entwicklung befindliche Verhaltenstherapie hat den Anspruch, ihre Effektivität empirisch abzusichern (Margraf, 2000) Grundprinzipien • VT orientiert sich an empirischer Psychologie • VT ist problemorientiert • VT setzt an prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Problembedingungen an • VT ist ziel- und handlungsorientiert • VT begrenzt sich nicht auf das therapeutische Setting, soll Hilfe zur Selbsthilfe sein • VT ist transparent • VT bemüht sich um ständige Weiterentwicklung Wirksamkeitsforschung • Metaanalysen → Grawe et al. (1994) • Gut untersuchte Methoden: - Konfrontationsverfahren v.a. bei Agoraphobie, Zwängen, spezifischen Phobien - systematische Desensibilisierung - Training sozialer Kompetenz - kognitive Verfahren bei Depression • Direkter Wirksamkeitsvergleich verschiedener Therapieformen → Überlegenheit der VT-Ansätze Kritikpunkte und Problembereiche • Zu Symptom orientiert • Therapieverfahren sind störungsspezifisch → Behandlung unspezifischer oder undifferenzierter Beschwerden wird vernachlässigt • Starke Betonung von Veränderungsprozessen hat teilweise negative Konsequenzen (nicht alle Themen sollen verändert werden) • Keine Ansätze für die Aufgaben der allgemeinen Beratung Paradigma der VT • Psychischen Störungen liegt ein funktionaler Zusammenhang von problematischem Verhalten, Denken und Erleben zugrunde • Dieser geht einher mit vorausgehenden und nachfolgenden internen und externen Bedingungen Psychische Störungen sind das Resultat prädisponierender (vorexistierende genetische, somatische, psychische soziale Merkmale), auslösender (psychische, somatische, soziale Bedingungen) und aufrechterhaltender Faktoren (Reaktionen, anhaltende Belastungen) Praxis der Verhaltenstherapie Therapieindikation • Optimale Zuordnung von PatientInnen und Behandlung durch Laien, Professionelle (ausserhalb des Gesundheitssystems), Angehörige des Gesundheitssystems, PsychotherapeutInnen • Differentielle Indikationsfrage: „Für welche/n Patient/in mit welchen spezifischen Problemen ist unter welchen Umständen welche Behandlung durch welche/n Therapeutin/en am effektivsten?“ (Paul, 1967) • Mischung von differentieller Indikation, allgemeinen Wirkfaktoren und praktischer Erfahrung Phasen des Therapieprozesses • Diagnostik von prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen → individuell zugeschnittenes Modell der Störung • Vermitteln des Erklärungsmodells • Ableiten der therapeutischen Interventionen (Fokus meist auf der Veränderung aufrechterhaltender und/oder prädisponierender Bedingungen) Diagnostik • Störungsdiagnostik steht in einem grösseren (diagnostischen) Kontext: - a) Beziehungsaufbau, allgemeiner Eindruck - b) klassifikatorische/kategoriale Diagnostik - c) organische Ursachen und Komplikationen - d) Analyse des Problemverhaltens - e) weitere diagnostische Massnahmen vor und während der Behandlung a) Beziehungsaufbau Allgemeiner Eindruck • Beziehungsgestaltung (Grawe) • Gegenseitiges kennen lernen durch Informationsaustausch → Kontakt aufnehmen, Probleme werden dargestellt, gezielt fragen, Gelegenheit zu Fragen an TherapeutIn geben • Rolle als TherapeutIn vermitteln, Empathie, Vertrauen erwecken • Erste therapeutische Effekte → klare Absprachen treffen, Prozess in Gang bringen b) Klassifikatorische/kategoriale Diagnostik • Störungsdiagnostik im engeren Sinn mittels strukturierter Interviews (z.B. SKID-I, ICD-10) • Endgültige Diagnosen erst nach Abschluss der Interviews - multiaxiale Diagnostik - Unterscheidung klassische ↔ klinische Diagnostik - multiple Diagnosestellung / Komorbidität - Gewichtungen vornehmen (Primärdiagnose) - vermerken früherer Episoden c) Organische Ursachen und Komplikationen • Abklären möglicher organischer Ursachen und Komplikationen von psychischen Beschwerden (z.B. bei Schmerz- oder Angststörungen) d) Analyse des Problemverhaltens • Klassifikatorische Einordnung (DSM-IV, ICD-10) • Kognitiv-emotionale, physiologische und verhaltensbezogene Reaktionen eruieren • Organische Bedingungen • Bedingungen erarbeiten, die die Störung aufrechterhalten • Entstehungsbedingungen, Komorbidität • Subjektive Erklärungskonzepte einbeziehen • Ressourcen, Kompetenzen der PatientInnen erfragen e) Weitere diagnostische Massnahmen vor und während der Behandlung • Erfragen von: - Bewältigungsversuchen und –strategien - Hilfesuchendem Verhalten - Früheren Behandlungserfahrungen - Erklärungsmodellen der PatientInnen - Grundannahmen über das Selbst oder die Welt - Lebensereignissen und Belastungen - Wissen und Reaktionen der Umfeld - Therapiezielen Verschiedene Verfahren in der VT • Unterscheidung in drei Gruppen: - a) Basisfertigkeiten (Gesprächsführung, Beziehungsgestaltung, Motivationsarbeit) - b) Störungsübergreifende verhaltenstherapeutische Massnahmen (z.B. Konfrontations-, Entspannungsverfahren) - c) Störungsspezifische Therapieprogramme (z.B. für Angststörungen, Depressionen) b) Störungsübergreifende VTTechniken I • Techniken der Stimuluskontrolle: - Exposition & Reaktionsverhinderung - Reizüberflutungsverfahren - Systematische Desensibilisierung (in sensu/in vivo) • Techniken der Konsequenzkontrolle: - Reaktionskontingente Verstärkung - Operante Löschung - Münzökonomien, Bestrafungsverfahren b) Störungsübergreifende VTTechniken II • Techniken des Modelllernens - Modelllernen in vivo • Entspannungsverfahren - PM / autogenes Training • Techniken der Selbstkontrolle - Selbstbeobachtung - Aufstellen von Verträgen • Kognitive Verfahren - Selbstinstruktionstraining b) Störungsübergreifende VT- Techniken I - Exposition • In der Exposition/Reizkonfrontation werden PatientInnen mit Angststörungen direkt den gefürchteten Reizen ausgesetzt → wichtig: Reaktionsverhinderung - Flooding (Reizüberflutung): Konfrontation mit direktem Angstreiz, in vivo, in höchster Intensität - Habituationstraining: Konfrontation mit dem direkten Angstreiz, aber in abgestufter Weise - Systematische Desensibilisierung: vorsichtige Konfrontation mit dem Angstreiz b) Störungsübergreifende VTTechniken I - Konsequenzkontrolle • Reaktionskontingente Verstärkung: - Erwünschtes Verhalten wird sofort nach Auftreten positiv verstärkt (z.B. Süssigkeiten, Zuwendung) - Negative Verstärkung: Verhalten wird belohnt, indem ein unangenehmes Ergebnis ausbleibt • Operante Löschung: Ein Verhalten soll abgebaut werden, indem es nicht verstärkt wird • Münzökonomien: Das gewünschte Verhalten wird belohnt durch Münzen, mit denen man erwünschte Dinge erwerben kann b) Störungsübergreifende VTTechniken II - Selbstbeobachtung • PatientInnen lernen, problematische Verhaltensweisen genauer zu registrieren und zu protokollieren (wird u. a. zu späteren Analysen verwendet) - Schmerztagebuch - Essstörungstagebuch - Schlafprotokoll - Protokoll negativer Gedanken b) Störungsübergreifende VT-Techniken II - Selbstinstruktionstraining • Ausgangspunkt: Menschliches Handeln und Erleben wird begleitet von einem selbstreflexiven inneren Dialog → Dinge werden bewertet → positive Verstärkung / Bestrafung • 3 Phasen: - verstehen der Denk-/Bewertungsmuster - PatientIn lernt, „Selbstaussagen“/Bewertungen wahrzunehmen (Unterschied Ereignisse ↔ Bewertungen) - verändern von „Selbstaussagen“ c) Störungsspezifische Therapieprogramme • Kognitive Therapie der Depression (Beck et al., 1994) • Integriertes psychologisches Therapieprogramm für schizophrene PatientInnen IPT (Roder et al., 1992) • Kognitive Verhaltenstherapie bei Anorexia & Bulimia nervosa (Jacobi, Thiel & Paul, 1996) • Gruppentraining sozialer Kompetenzen GSK (Pfingsten & Hinsch, 1991) Pharmakotherapie • Antidepresssiva: - trizyklische → depressive Störungen, Panikstörungen, generalisierte Angststörung, Bulimie - SSRI → depressive Störungen, Zwangs-, Panikstörungen, Bulimie, Impulskontrollstörungen - Lithium → Phasenprophylaxe bei affektiven Störungen • Neuroleptika: schizophrene Störungen, BPS • Benzodiazepine: eingeschränkte Indikation bei Angstund Schlafstörungen VT und Psychopharmaka I • Psychopharmaka sollen Zielsymptome im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans positiv beeinflussen • Kombination von VT und Pharmakotherapie ist mehr als eine simultane Anwendung zweier Behandlungsstrategien • Dreieck „PatientIn-PsychotherapeutIn-Arzt/ Ärztin“ • → Konsens, Kontakt, Wissen VT und Psychopharmaka II • Resultate von Studien, die die Kombination von VT und Psychopharmakobehandlung geprüft haben: - Zwangsbehandlung → SSRI + Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinderung - Angststörungen → alleinige VT-Konfrontation in vivo - unipolare Depressionen → AD + interpers. Therapie / kognitive VT Literatur • Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band I Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen. J. Margraf, S. Schneider (Hrsg), 2009, 3. Auflage, Springer • Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band II Störungen im Erwachsenenalter – Spezielle Indikationen – Glossar. J. Margraf, S. Schneider (Hrsg), 2009, 3. Auflage, Springer • Psychotherapie im Wandel - Von der Konfession zur Profession K. Grawe, R. Donati, F. Bernauer, 1994, Hogrefe