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Europäische Hochschulschriften / European University Studies / Publications Universitaires Européennes
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Der moderne Zauberlehrling
Pro und Contra Carlos Castaneda
Bearbeitet von
Rudolf Niederhuemer
1. Auflage 2013. Taschenbuch. 167 S. Paperback
ISBN 978 3 631 62453 1
Format (B x L): 14,8 x 21 cm
Gewicht: 230 g
Weitere Fachgebiete > Religion > Religionswissenschaft Allgemein >
Religionssoziologie und -psychologie, Spiritualität
Zu Inhaltsverzeichnis
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Hauptteil I: Voraussetzungen zum Verständnis von Don Juans Lehren
Einleitende Erklärungen
Ich möchte in dieser erweiterten Einleitung beginnen, die Begriffe, die zum Verständnis der Anderen Realität wichtig sind, zu erläutern. Viele Fragen werden
nun schon auf die Beantwortung warten, weil ich nicht vorweg alle Krieger-,
Pirsch- und Traumerlebnisse und Formen der Wahrnehmungen aus Castanedas
Welt definieren konnte.
Der Grundlage des ersten Buchs „Die Lehren des Don Juan“ 1973 entsprechen Erfahrungen mit psychotropen Pflanzen, mit Halluzinogenen. Dementsprechend werde ich ein Teilkapitel diesen Pflanzen widmen, obwohl in den späteren Büchern kein Gebrauch mehr davon gemacht wird.
Don Juan bezeichnete die Notwendigkeit des Verwendens solcher Pflanzen
als seinen Weg, Carlos Castanedas „Stupidität“ aufzubrechen und diesem die
Möglichkeiten von veränderten Wahrnehmungen und die Wichtigkeit dieser
Alternativen zu zeigen.
Bei anderer Gelegenheit, von der „Reise nach Ixtlan“ 1976 ausgehend, werden die Basiskonzepte der Lebensweise eines Kriegers und deren Auswirkungen
gezeigt.
Was ist nun ein Krieger und wieso sind diese martialischen Ausdrücke und
phantasievollen Wendungen für die Bezeichnung gerechtfertigt?
Castaneda wird in seiner Lehrzeit in das Wissenssystem der brujos (Zauberer), eingeführt und die wahren Ziele der Tolteken werden ihm offenbart (Claßen 1994:14).
Bei Graciela Corvalán im Interview kann man lesen, daß das Wort „toltekisch“ eine sehr umfassende Bedeutungseinheit darstellt (Corvalán 1987:31 ff.).
Menschen werden als Tolteke bezeichnet, wie andere als Demokraten oder Philosophen. Das Wort hat nichts mit der bekannten anthropologischen Bedeutung zu
tun. „Tolteke“ ist der, wer die Geheimnisse des Pirschens und Träumens kennt.
Sie stellen eine kleine Gruppe dar, die die Tradition von 3000 Jahren lebendig erhalten konnte (Claßen 1994:15).
Nach dem Mexiko-Forscher Wolfgang Cordan ist bei Nachfolgevölkern der
historischen Tolteken wie den Azteken der Name Tolteke so etwas wie Gebildeter und Künstler. Der Historiker Henri Stierlin nennt sie einfach „Wissende“
(Claßen 1994:15).
Zu dem Begriffe des Pirschens:
Man kann es als System der Kontrolle und Nutzung alltäglichen Verhaltens
benennen, welches die Ausübenden befähigt, aus jeder denkbaren Situation das
Beste zu machen.
Einleitende Erklärungen
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Zum Träumen läßt sich sagen: Es ist pragmatische Kontrolle des Traumgeschehens, was zur allgemeinen Beherrschung des Bewußtseins führt.
Beiden Systemen ist ein praktischer Verhaltens-Kodex mit Namen „die Regel“ gemeinsam zugeordnet, welchen die Praktiker durch Übung verinnerlichen.
Ein drittes System, das eher das zentrale Thema meiner Arbeit darstellt, die
„Bemeisterung der Absicht“, handelt vom direkten Kontakt des Menschen mit
der Schicksalsmacht, die von den Tolteken „Absicht“, „Geist“ oder „Nagual“
genannt wird (Claßen 1994:16).
Die genannten drei Systeme – Pirschen, Träumen, Absicht – basieren auf
abstraktem Wissen der Tolteken über menschliche Wahrnehmung und Bewußtheit. Und, was mir sehr wichtig erscheint, der treffende Name für dieses
Wissen ist nach Don Juan „Nagualismus“ (Claßen 1994:16).
Nun, da ist also das verzauberte Wort, das von vielen Forschern teils mit
dem Nagual-Tier, also einer Art Doppelgänger psychischer Kraft, teils einem
Sprachbegriff, von „nahualli“ her, teils einem alten Begriff aus der Zeit der Azteken verbunden wird (Claßen 1994:79 und Hirschberg 1988:334).
In Dr. Walter Hirschberg’s Wörterbuch der Völkerkunde kann man unter
„Nagualismus“ lesen, daß es ein wissenschaftlicher Begriff für Alter Ego-Vorstellungen ist, und daß auch der Tonalismus dazugehört. Unter nagual/tonal, das
aus der Nahuatlsprache abgeleitet ist, seien auch synonym benutzte Bedeutungen gemeint. Das „tonal“ sei der tierische Doppelgänger, der jedem Menschen
ab seiner Geburt gegeben sei. Das Alter Ego-Tier erfahre in entsprechender
Weise, was der Mensch erlebt und wenn der Mensch sterbe, dann auch das Tier
und umgekehrt. Das „nagual“ sei nur Mächtigen verfügbar und solchen, die mit
metaphysischen Wesen Kontakt aufnehmen können. Besonders sei noch nach G.
M. Foster die Fähigkeit, sich in ein Tier zu verwandeln, „nagual“ genannt (Foster in Hirschberg 1988:334), zu erwähnen.
Ich halte das alles im Sinne der Lehren Don Juans für unzulässige Einschränkungen und Verwirrungen, vor allem, was das Tier betrifft, denn das „tonal“ wird ganz anders beschrieben und es ergab mir auch keinen Sinn, nach
Bedenken der Vielfalt von Funktionen des Doppelgängers, ihn „tonal“ zu
nennen.
Das „nagual“ aber ist ein umfassender vernetzter Zusammenhang, der das
Wissen jener Tolteken beschreibt. Und es ist also auch eine Kraft, die Schicksalsmacht genannt gehört. Nur wird uns dieses Nagual noch in mehreren Handlungszusammenhängen erscheinen, wo der noch etwas vage Begriff präzisiert
wird.
Zudem will ich gleich den Begriff des Tonals bei Castaneda erläutern.
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Hauptteil I: Voraussetzungen zum Verständnis von Don Juans Lehren
Das Tonal
Don Juan erläutert es folgendermaßen:
„Das Tonal ist der Organisator der Welt... Vielleicht kann man seine gewaltige Arbeit am besten beschreiben, wenn man sagt, daß auf seinen Schultern die
Aufgabe ruht, das Chaos der Welt zu ordnen. Es ist nicht zu weit hergeholt,
wenn man – wie die Zauberer – behauptet, daß alles, was wir als Menschen wissen und tun, das Werk des Tonal sei... Das Tonal, das ist alles, was wir sind...
Schau dich um! Alles, wofür wir Wörter haben, ist das Tonal. Und da das Tonal
nichts anderes ist als sein eigenes Tun, muß folglich alles in seine Sphäre fallen“
(Claßen 1994:42 zit. Castaneda 1978:136).
Das Tonal ist der eine Teil des „echten Paars“, oder des ursprünglichen, zusammen mit dem Nagual. Nach toltekischer Lehre nehmen beide zusammen bei
der Geburt des Kindes ihre Existenz auf. Wir besitzen also von Geburt an zwei
verschiedene Arten von Bewußtsein (Claßen 1994:42).
Das Tonal wird entwickelt im Rahmen der Ausbildung und ist anerzogen.
Man kann es auch unser „Ich“ nennen, oder unsere Person. Das Tonal ist eine
Insel und Don Juan erläutert das im „Ring der Kraft“ anhand eines Restauranttisches. Die Tischplatte ist das Tonal, gleichsam eine Person. Hierauf befinden
sich alle möglichen Gegenstände, alle Dinge der Welt ebendieser Person.
Verbindungen zu Edmund Husserl’s Erkenntnistheorie
Auch bei Edmund Husserl finden wir in seiner Philosophie diese reduzierte Vorstellung der „Welt als Ich“.
Aber auch in der Psychologie bei Sigmund Freud und C. G. Jung findet man
die Allegorie des „Ich als Insel“ (Claßen 1994:43). Doch es gibt den Tolteken
zufolge auch ein kollektives „Tonal der Zeit“ für alle. Auf diesen vorhingenannten Tischen stehen verschiedene Teller mit mannigfachen Speisen, aber
die Tische gleichen einander doch stark. So ähneln sich auch die persönlichen
Tonals. Es gibt beispielsweise die Tendenz zur Ordnung in Paaren im Tonal.
Dies geschieht folgendermaßen: „Wir fühlen unsere zwei Seiten, aber wir stellen
sie uns immer nur anhand von Gegenständen des Tonals vor. So sagen wir, daß
unsere zwei Seiten Körper und Seele sind. Oder Geist und Materie. Oder Gut
und Böse, Gott und Satan. Aber nie erkennen wir, daß wir nur Gegenstände unserer Insel zu Paaren zusammenfassen, ganz ähnlich wie wenn wir Kaffee und
Tee, Brot und Tortillas, Chilli und Senf paarweise bezeichnen“ (Claßen 1994:44
zit. Castaneda 1978:143).
Die Zitate sind zur Erläuterung sehr wertvoll. In Europa zum Beispiel haben
wir uns sehr an das dualistische Wertsystem gewöhnt. Die Aymara sagen eher:
Tun der Strategie
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„Wenn wir etwas als „gut“ oder „böse“ beurteilen, sollten wir uns der Relativität
einer solchen Wertung bewußt sein“ (Claßen 1994:44 zit. Miranda-Luizaga
1985:185).
Don Juan weist seine Schüler auf eine Art der Handhabe des Tonals hin,
wobei andere Menschen nur als Tonal betrachtet werden. So kann man den anderen weder moralisch verurteilen, noch aus Mitleid entschuldigen. Wir finden
hier die typische Haltung eines Zeugen. Wir haben natürlich die Macht, die Fassade unserer Insel des Tonal umzuändern. Allerdings ändert der Durchschnittsmensch diese Fassade fast niemals. Meistens wird die erlernte Beschreibung der
Welt zu einem kleinkarierten, despotischen Ich aufgebaut, welches durch seinen
monotonen inneren Dialog die eigenen Strukturen verfestigt, bis diese nahezu
unabänderlich sind und verhärten.
Man nennt diese Zusammenwirkungen in der Psychologie „Ichkomplex“
(Claßen 1994:45).
Bei den Tolteken werden „Transformationen des Tonal“ bevorzugt, zum
Beispiel mit der Kunst des Pirschens und dem Nicht-Tun und dem Anhalten des
inneren Dialogs. Dadurch wird eine Veränderung im Inhalt der wichtigeren Dinge
im Vordergrund erzielt, während weniger Wertvolles im Hintergrund verbleibt.
Zwei Strategien sind zu diesem Zweck erforderlich: das „Tun der Strategie“ und
der „Weg mit Herz“.
Tun der Strategie
Die erstere geht davon aus, daß das Tonal wesentlich eine Liste von Dingen und
Verhaltensweisen seiner selbst, also ein Inventar ist. Der Eigendünkel und die
eigene Wichtigkeit sind meistens im Vordergrund dieser Liste. Diese beiden
zeigen auch den geringsten Überlebenswert und verbrauchen die meiste Energie.
Durch Selbstdisziplin und Techniken wie das „Nicht-Tun der eigenen Wichtigkeit“ werden solche unsinnigen Fehlordnungen korrigiert bei den Tolteken.
Der Weg mit Herz
Der „Weg mit Herz“ geht davon aus, daß die Dinge des Tonals zum Schutz vor
den Ausbrüchen des Naguals als Schilde funktionieren. Don Juan meint, daß das
gesamte Tun des Durchschnittsmenschen ein solcher Schild gegen die Kräfte
des Naguals sei. Durch unsere Entwicklung haben wir uns von diesem Teil unseres Gesamt-Selbst, dem Nagual, abgespalten.
Für die Tolteken, die mit dem Nagual umzugehen wissen, sind solche
Schilde von besonderer Wichtigkeit, da sie im richtigen Moment Schutz bieten
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Hauptteil I: Voraussetzungen zum Verständnis von Don Juans Lehren
müssen. Der „Weg mit Herz“ stellt nun eine Anzahl von Verhaltensweisen, die
Frieden und Freude schenken dar, um von drohenden Nagualteilen wie Furcht
und Zweifel abzulenken.
„Die ständige Entscheidung, dem Weg mit Herz zu folgen, ist es, was den
Krieger vom Durchschnittsmenschen unterscheidet... Die Dinge, die ein Krieger
zu seinen Schilden wählt, sind die Dinge eines Weges mit Herz“ (Claßen
1994:46 zit. Castaneda 1975:186).
Der Weg mit Herz ist ein sehr individueller, vom Empfinden des einzelnen
abhängiger Maßstab der Veränderung des Tonals.
Harmonie im Tonal
Die „Harmonie im Tonal“ bildet ein weiteres Ziel eines Tolteken (Claßen
1994:46).
Dazu zählt die Fähigkeit eines korrekten Tonal, nach seinen Entscheidungen
und Urteilen zu handeln. Also, wenn wir eine Wahrheit als solche begriffen haben, dann sollten wir auch versuchen, das praktisch in unserem Leben zu verwirklichen. Kämpfe im Tonal sind nach Don Juan das sinnloseste Gefecht, das
er sich vorstellen kann. Also wenn „Ich“ nicht mit „mir“ zufrieden bin, weil ich
nicht tat, was „meine“ Ziele „mir“ vorschreiben etc.
Der erste Ring der Kraft
Der „erste Ring der Kraft“, oder auch die „erste Aufmerksamkeit“ hilft uns, unsere alltägliche Welt wahrzunehmen. Wir verleihen ihr damit auch Sinn und
Wirklichkeit. Nach Don Juan schließt sich dieser Ring nach unserer Geburt und
er stellt die Vernunft dar, begleitet durch das Sprechen. Die Welt, die wir kennen, ist eine Beschreibung mit dogmatischen Regeln, welche die Vernunft zu
verteidigen und akzeptieren gelernt hat (Castaneda 1978:112).
Um nun zum Kapitel von vorhin anzuknüpfen, beginne ich mit einigen Voraussetzungen für einen Lehrling.
Don Juan will Carlos vor allem klarmachen, daß unsere Welt nicht so fest
und wirklich sei, wie man gemeinhin glaubt. Dazu wird auch die Festigkeit des
eigenen Selbst in Zweifel gezogen (Claßen 1994:24).
Zu abendländischen Parallelen
Denker des erkenntnistheoretischen Skeptizismus gibt und gab es auch beispielsweise im Abendland: Platon, Descartes und Kant, Berkeley und Husserl.
Zu abendländischen Parallelen
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Hier werden die Leistungen des menschlichen Erkenntnisvermögens kritisch
unter die Lupe genommen.
Der deutsche Mathematiker und Philosoph Edmund Husserl (1859 – 1938)
war mit seiner phänomenologischen Lehre ein Hauptvertreter dieses Skeptizismus. Ich will im Teil von den Philosophischen Erklärungen diese Lehre und
verschiedene Querverbindungen zur Gegenwartsphilosophie erläutern.
Im Interview mit Graciela Corvalán hat Carlos Castaneda Husserls Phänomenologie als für ihn brauchbarsten philosophischen Ansatz zur Erklärung der
Lehren Don Juans angegeben (Claßen 1994:24 und Corvalán 1987:43).
„Die durch Edmund Husserl begründete Phänomenologie hat die Philosophie und eine Reihe von Wissenschaften im ersten Drittel unseres Jahrhunderts in
vielfältiger Weise bereichert und zum Teil maßgebend beeinflußt“ (Zit. Husserl
1986:5). Husserl begann 1913 (Husserl 1985:8) im „Jahrbuch für Philosophie
und phänomenologische Forschung“ eine Art Sammelwerk zur phänomenologischen Forschungsarbeit herauszugeben. Hierin war sein programmatisches Werk
„Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“
mit beabsichtigten drei Teilen, von denen nur Teil 1 zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde, dargelegt. Verschiedene Vorträge wie 1929 – als er die „Cartesianischen Meditationen, die 1931 als Einführung in die Phänomenologie herauskamen, vorbereitete –, führten zu erklärenden und weiterführenden Werken.
Das vollständige Werk erschien erst 1950, also lange nach seinem Tod, als
„Husserliana“ auf Grund des Nachlasses, oder vom Husserl-Archiv der Universität Köln (Husserl 1985:293) und in Überarbeitung teils von ehemaligen
Schülern Husserls.
Auch nach Husserls Erkenntnistheorie ist die Welt ein Geheimnis, was die
Grundidee des Pirschens als Basis der toltekischen Lehren für die abendländische Analyse absichert. Husserls Lehre vom „Erscheinenden“ und „Sich-Zeigenden“ befaßt sich mit allem, was uns als Objekt der Erkenntnis gegenübertritt
(Claßen 1994:25).
Es gehören auch Objekte der Vorstellung, wie Erinnerung und denkendes
Urteil dazu. Alles, was also unser Bewußtsein von der Welt ausmacht.
Den sinngebenden Bezug des Bewußtseins auf einen vermeintlichen Inhalt
nennt Husserl „Intentionalität“.
Etwas beabsichtigen, oder das Streben auf etwas richten bedeutet dieses
„intendere“: der Wortkern von Intentionalität.
Jedes Bewußtwerden ist untrennbar mit jener Intentionalität verbunden, die
uns dem Inhalt Bedeutung verleihen läßt. Husserl schreibt:
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Hauptteil I: Voraussetzungen zum Verständnis von Don Juans Lehren
„Die Intentionalität ist es, die Bewußtsein im prägnanten Sinne charakterisiert, und die es rechtfertigt, zugleich den ganzen Erlebnisstrom als Bewußtseinsstrom und als Einheit eines Bewußtseins zu bezeichnen“ (Husserl
1976:187).
Die Welt der Objekte, die die naive Denkhaltung annimmt, ist auch Folge
einer Intention. Husserl kritisiert diese auch von den klassischen Naturwissenschaften angenommene Grundhaltung als nicht abgesichert. Die Naturwissenschaft nimmt eine jenseits und unabhängig vom Bewußtsein existierende Hinterwelt, die als wirklich vorgestellt wird, an (Claßen 1994:25).
Eine solche Welt könnten wir aber nicht wahrnehmen. Erst in unserem Bewußtsein konstituieren sich Erkenntnisse zu dieser Welt der Objekte.
Zu diesem Thema weise ich auf ein sehr ausführliches, interessantes Buch,
das ich später noch besonders behandeln werde: „Zen denken“ von Benjamin
und Amy Radcliff 1995 im Herder-Verlag. Denn das japanische Zen ist eine
Denkweise, die das Unwirkliche unserer „objektiven“ Erkenntnis einer „Hinterwelt“ genau anvisiert und nicht zuletzt in Koans karikiert.
Der „natürliche“ Denkvorgang eines Befindens in der Welt wird so immer
gebrochen und praktisch manipulierbar, um zum Beispiel unseren Eigendünkel
der Überlegenheit und des ermöglichten „Einordnens“ von allem zu sichern.
Husserl jedenfalls versuchte in seinen Werken offenzulegen, welche Möglichkeiten es gibt, die „Welt“ in unserem Bewußtsein mit einer wahren Welt zur Deckung zu bringen, beziehungsweise, ob das überhaupt geht.
Es ist die Grundfrage der Erkenntnistheorie: die Frage nach dem Zusammenhang zwischen wahrem Sein und Erkennen.
„Sein als Bewußtsein“ ist Grundgedanke der Phänomenologie. Man kann
nun mannigfache Beispiele vorbringen: immer muß man sich klar sein, daß ein
Objekt kein wirkliches Objekt ist, sondern im Bewußtsein konstituiert.
Ich habe hier verschiedene Einwände. Ein so tiefgreifendes Gedankengebäude muß auch ethische Ideen wie den freien Willen berücksichtigen. Edmund Husserl als Wissenschaftler erkannte Dinge; wenn die ganze Theorie aber
nur in seinem Bewußtsein besteht, bin ich vielleicht drauf und dran, sie auch nur
für mein Bewußtsein etwas umzuändern. Man sollte bedenken, daß es sich um
Erkenntnistheorie handelt. Seine Schüler waren oft in Kontroversen mit ihm
verwickelt.
Das Bewußtsein ist nicht leicht als Zentrum des Erkennens definierbar. Nur
soviel ist also klar, daß wir die Konstruktionsregeln des Objektes kennen und so
zu einer bildlichen Vorstellung kommen, und dieses in unserem Bewußtsein.
Vielleicht wird alles klarer, wenn wir uns daran halten, daß eben technische
Objekte nicht das Hauptsächliche sind, worum es Husserl ging. Er meint beson-
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