Rodion Schtschedrins Klavierzyklen – Polystilistik in der Polyphonie?(Arbeitstitel) I. Thematischer Aufriss Als auslösendes Moment für die 24 Präludien und Fugen für Klavier von Rodion Schtschedrin (*1932) kann der gleichnamige Zyklus von Dmitrij Schostakowitsch (1906– 1975) gelten, den dieser dem Publikum im Jahre 1951 erstmals in Auszügen vorstellte. Schtschedrin, damals Klavier- und Kompositionsstudent in Moskau, wohnte diesem Konzert als Zuhörer bei und erinnert sich wie folgt daran: „[…] Auf mich machte Schostakowitschs Werk einen solch starken Eindruck, daß in mir der Wunsch wach wurde, einen ähnlichen Zyklus zu schreiben […]“1. Als überaus beeindruckend empfand der junge Künstler dabei den Umstand, dass Schostakowitsch in den letzten Jahren des stalinistischen Unterdrückungsapparates nicht nur den Mut aufbrachte, ,absolute’ Musik in Gestalt eines Präludien-Fugen-Zirkels – der als westliches Genre galt – zu komponieren, sondern auch selbst öffentlich vorzutragen. Neben dieser gleichsam politischen Komponente, die von Schtschedrin adaptiert worden ist, scheint für Schostakowitsch bei der Komposition der 24 Präludien und Fugen op. 87 (1950/51) der Wunsch entscheidend gewesen zu sein, dem Wohltemperierten Klavier (1722/1744 BWV 846-893) von Johann Sebastian Bach (1685–1750) ein zeitgenössisches russisches Äquivalent entgegenzusetzen2. Nach dem geschilderten – für Schtschedrin zutiefst inspirierenden – Konzerterlebnis verstrichen allerdings noch zwölf Jahre des schöpferischen Reifens, bis dieser mit der Arbeit an seinem eigenen Präludien-Fugen-Zyklus begann, der ähnlich wie das Vorbild des älteren Freundes als persönliches Bekenntniswerk in bewusster Opposition gegen die offizielle Parteilinie gelten kann. 1963/64 entstand der erste Band (Nr. I-XII), dessen Uraufführung am 20. April 1965 in Moskau stattfand; Interpret war der Komponist höchstpersönlich. An gleicher Stelle bot Schtschedrin am 27. Januar auch den zweiten Band (Nr. XIII-XXIV) konzertant dar3. Ebenso wenig systemkonform, jedoch wesentlich dissonanzenreicher und radikaler in extreme musikalische Ausdrucksbereiche vorstoßend als Schostakowitsch – 1 Rodion Schtschedrin, „Laut gewordene Gedanken beim Hören der Präludien und Fugen“, in: Booklet der CD Polyphonic Notebook für Piano. 24 Preludes ans Fugues for Piano (BMG 74321 26906 2), 1996, S. 14-15. 2 Mstislaw Smirnow, „Klaviermusik von Schostakowitsch im Kontext der russischen musikalischen Kultur“, in: Bericht über das Internationale Dmitri-Schostakowitsch-Symposion Köln 1985, hrsg. von Wolfgang Niemöller und Vsevolod Zaderackij, Regensburg 1986, S. 210. 3 Hannelore Gerlach, Zum Schaffen von Rodion Schtschedrin, Berlin 1982, S. 35. dessen polyphone Zirkelkomposition ist vielfach von der russischen Oper respektive Folklore inspiriert und überwiegend kirchentonal gefärbt4 –, gelangten die Schtschedrinschen Präludien und Fugen während der Ära Breschnew (1964–82) nur selten in die sowjetrussischen Konzertsäle. Dem Vater Konstantin Michailowitsch gewidmet, verfolgt der Klavierzyklus vornehmlich zwei didaktische Grundziele: Darstellung historischer und moderner polyphoner Techniken einerseits, pianistische Schulung andererseits. Da die praktischen Anforderungen an den Interpretierenden enorm sind, kommt die Aufführung auch nur eines Bandes einem pianistischen Kraftakt gleich5. Bei den 25 Präludien seines Polyphonen Spielhefts (1972) legte Schtschedrin den Akzent noch stärker auf die pädagogische Seite und schuf, alle ihm vertrauten polyphonen Gestaltungsmöglichkeiten exemplarisch anwendend, eine zweite kontrapunktische Zirkelkomposition, die gewissermaßen Lehrbuchcharakter trägt6. Deren tonale Disposition sieht einen vom a ausgehenden chromatischen Rundgang der Zentraltöne vor; zunächst abwärts (Nr. 1-13), dann aufwärts (Nr. 14-25). Demnach wird im letzten Stück wieder die zyklische Basistonalität erreicht. Dabei handelt es sich um eine komplexe polythematische Form, die alle 24 Anfangsfragmente der vorangegangenen Miniaturen im Sinne einer finalen Synthese montiert7. Die Satzpaare der 24 Präludien und Fugen orientieren sich hingegen – etwa der tonalen Anlage der 24 Préludes pour le piano forte (1839) von Frédéric Chopin (1810–1846) folgend – am Quintenzirkel. Im stetigen Wechsel zwischen Dur- und paralleler Moll-,Tonart’ behandelt Band 1 somit die Kreuz-,Tonarten’, während der zweiten Zyklushälfte ausschließlich die Be-,Tonarten’ vorbehalten sind. Diese Konzeption ist jedoch mehr im Sinne einer ,Hülle’ zu verstehen, da sich die Musik, lediglich die Generalvorzeichen einhaltend, allenfalls auf jeweils einen oder zwei Basistöne stützt. Vor allem der zweite Band wartet mit weiten, sozusagen frei atonalen Passagen auf, die durch eine Gleichberechtigung aller zwölf Halbtönen gekennzeichnet sind8. Dieser ,ausgehöhlten’ Tonalitätsordnung stellt der zeitgenössische russische Künstler – gewissermaßen als stabilisierendes Gegengewicht – eine Geschlossenheit in der zyklischen Anlage gegenüber, die in erster Linie auf der rahmenden Korrespondenz zwischen initialem 4 Maria Biesold, Dmitrij Schostakowitsch. Klaviermusik der Neuen Sachlichkeit, Wittmund 1988, S. 98-117. Valentina Cholopova, Der Weg im Zentrum. Annäherungen an den Komponisten Rodion Schtschedrin, Mainz 2002 (deutsche Übersetzung von Gabriele Leupold), S. 45. 6 Hannelore Gerlach, 50 sowjetische Komponisten. Fakten und Reflexionen, Leipzig und Dresden 1984, S. 388. 7 Cholopova (wie Anm. 5), S. 46. 8 Gerlach, Zum Schaffen (wie Anm. 3), S. 36. 5 und finalem Präludien-Fugen-Paar beruht; Preludio und Fuga XXIV in D-,Moll’ bilden mit einer imaginären horizontalen Symmetrieachse durch den Ton h beziehungsweise b die exakten Spiegelumkehrungen zu ihren Pendants in C-,Dur’. In ähnlicher Weise realisierte Paul Hindemith (1895–1963) die strukturelle Einfassung seines Ludus Tonalis (1942), wo das Postludium als Umkehrkrebs des Praeludiums entworfen ist9. Da diese Art der Klammerung die Musik am Ende gleichsam wieder zu ihrem Ursprung zurückführt, dürfte die symmetrische Idee hier noch konsequenter in die Tat umgesetzt sein als bei Schtschedrin. Dieser unterwirft, den Symmetriegedanken weiter verfolgend, in beiden Bänden der 24 Präludien und Fugen das jeweils vorletzte Satzpaar sozusagen einer formalen Umklammerung en miniature im Stile einer dreiteiligen Bogenform (Präludium–Fuge– Postludium). Folglich findet die gesamtzyklische Rahmung auf Ebene der Einzelstücke eine gleichsam mikrozyklische Entsprechung. Resümierend bleibt vorerst festzuhalten, dass die polyphonen Klavierzyklen von Bach, Hindemith und Schostakowitsch in unterschiedlicher Weise auf Schtschedrins PräludienFugen-Konzeption eingewirkt haben: Zum Wohltemperierten Klavier existieren die meisten und deutlichsten musikimmanenten Anknüpfungspunkte, der Ludus Tonalis scheint die Idee der gespiegelten zyklischen Fassung vorzugeben, während die 24 Präludien und Fugen als auslösendes Moment und Vorbild für eine gewisse politische Stoßrichtung gelten können. Die bisherigen Forschungsaktivitäten haben gelehrt, dass Bach und seine Zeit wohl den entscheidenden Einfluss auf den nachweislichen Bachverehrer Rodion Schtschedrin ausgeübt haben. Die Bandbreite an barockisierenden Elementen, die mit dem höchst originellen und ,modernen’ klanglichen Profil des zeitgenössischen Künstlers ein ums andere Mal eigenwillige Synthesen eingehen, ist immens: Ton- und Zahlensymbolik, Zitat, Typen und Stilmodelle, Affektgehalt, musikalisch-rhetorische Figuren. Darüber hinaus machen sich gerade in den individuell geprägten Präludien zuweilen gewisse Stileinflüsse der SchönbergSchule (frei atonale Miniaturen, Reihendenken) oder russischer (Klavier-)Vorbilder wie Mussorgsky (skurriler Humor) oder Prokofiev (Ironie, bohrende Motorik) bemerkbar. 9 Julie Ra, Rückblick und Erneuerung. Bachs Fuge in Klaviermusik von Reger, Busoni und Hindemith, Frankfurt a. M. 2003, S. 186-189. II. Literatur Valentina Cholopova, Der Weg im Zentrum. Annäherungen an den Komponisten Rodion Schtschedrin, Mainz 2002 (deutsche Übersetzung von Gabriele Leupold). Lidija Christiansen, „Die Präludien und Fugen R. Schtschedrins“, in: Probleme der Musiktheorie, hrsg. von Juri Tjulin, Moskau 1970, S. 396-429. Jakow Fain, „Die Präludien und Fugen von R. Schtschedrin. Tradition und Neuerertum“, in: Der musikalische Zeitgenosse (1973/1), S. 214-237. Hannelore Gerlach, Fünfzig sowjetische Komponisten. Fakten und Reflexionen, Leipzig und Dresden 1984. Hannelore Gerlach, Zum Schaffen von Rodion Schtschedrin, Berlin 1982. Irina Lichatschowa, „Das thematische Material und seine Entwicklung in den Fugen R. Schtschedrins“, in: Polyphonie. Eine Sammlung theoretischer Aufsätze, hrsg. von Jushak Kiramina, Moskau 1975, S. 273-290. Dies., 24 Präludien und Fugen von R. Schtschedrin, Moskau 1975. Dies., „Tonartliche Beziehungen in den Fugen R. Schtschedrins“, in: Probleme der Musikwissenschaft 2 (1973), S. 177-197. Seth Harte Perlman, Tonal organization in the twenty-four preludes and fugues of Dmitri Shostakovich, Rodion Shchedrin and Niels Viggo Bentzon, DMA Doc. Baltimore 1988, Ann Arbor 1988. Dora Romadinova, Ein polyphoner Zyklus von R. Schtschedrin, Moskau 1973. Matthias Rinderle, „24 Präludien und Fugen für Klavier von Rodion Schtschedrin – Kontinuität und Individualität“, in: Neues Musikwissenschaftliches Jahrbuch (2005), S. 151173.