001_034_BIOsp_0107.qxd 31.01.2007 11:28 Uhr Seite 29 29 Retinale Calciumkanäle Fehlende Calciumsignale in der Retina führen zu Nachtblindheit CHRISTIAN WAHL -SCHOTT, HARTMUT CUNY, CHRISTIAN ECKERT, KRISTINA GRIEßMEIER, MELANIE GEBHARD UND MARTIN BIEL INSTITUT PHARMAKOLOGIE FÜR NATURWISSENSCHAFTEN, ZENTRUM FÜR PHARMAFORSCHUNG, LMU MÜNCHEN Unsere Augen ermöglichen es uns, Licht unterschiedlicher Wellenlängen und stark schwankender Intensitäten zuverlässig wahrzunehmen. Voraussetzung für diese von modernen Kameras noch bei weitem nicht erreichte Leistungsfähigkeit ist die Anwesenheit eines einzigartigen Calciumkanalproteins in der Netzhaut des Auges, das darauf spezialisiert ist, ungewöhnlich langanhaltende Calciumsignale zu erzeugen. Wir konnten einen molekularen Schalter in diesem Protein identifizieren, der diese spezifische Fähigkeit vermittelt. Fehlt dieser Schalter, entsteht eine angeborene Form der Nachtblindheit. ó Die Netzhaut (Retina) ist der Licht-aufnehmende Teil des Auges. Hier wandeln Photorezeptoren Lichtreize in elektrische Signale um. Diese Signale werden in einem einfachen Netzwerk aus Neuronen weitergeleitet (Abb. 1A). Besonders wichtig sind hierbei die Synapsen von Photorezeptoren und Bipolarzellen. Sie unterscheiden sich von anderen Synapsen im Nervensystem dadurch, dass sie langanhaltende Calciumsignale für eine kontinuierliche Neurotransmitterfreisetzung nutzen. Diese Eigenschaft verdanken sie einzigartigen Calciumkanälen (Cav1.4), die einen kontinuierlichen Einstrom von Calcium vermitteln[1] (Abb. 1B). Diese Besonderheit ist Voraussetzung für die hohe Leistungsfähigkeit der Augen. Unsere Arbeitsgruppe interessiert sich dafür, welcher Mechanismus für diese essentielle Eigenschaft verantwortlich ist. Ein Blick auf andere Calciumkanäle zeigt, dass die Erzeugung langanhaltender Calciumsignale keineswegs weit verbreitet ist. Im Gegensatz zum retinalen Kanal besitzen die meisten anderen Calciumkanäle einen hochkonservierten Rückkopplungsmechanismus, der den Calciumeinstrom zeitlich limitiert. Dieser Mechanismus wird Calcium-abhängige Inaktivierung (engl. Calcium-dependent inactivation, CDI) genannt. BIOspektrum | 01.07 | 13. Jahrgang Viele Calciumkanäle können den Calciumeinstrom limitieren Werfen wir einen kurzen Blick auf den Mechanismus, der im kardialen Calciumkanal (Cav1.2), einem Protein, das strukturell nahe mit Cav1.4 verwandt ist, CDI vermittelt. Anders als Sehzellen benötigen Herzzellen Calciumkanäle mit CDI, um die Aktionspotentialdauer zu limitieren und eine toxische Überladung der Zelle mit Calcium zu verhindern. Die Schlüsselstrukturen für die CDI befinden sich im proximalen C-Terminus von Cav1.2 (Abb. 2)[2]. Drei Motive sind besonders wichtig: Das IQ- und pre-IQ-Motiv vermitteln die permanente Bindung des Calciumsensors Calmodulin (CaM). CaM ist ein Protein mit vier Calciumbindungsdomänen und funktioniert wie ein molekularer Schalter, der durch Bindung und Abdissoziation von Calciumionen an- und ausgeschaltet werden kann. Das dritte Motiv ist ein EF-Hand-Motiv mit hoher Homologie zu klassischen Calcium-bindenden EF-Hand-Motiven. Dieses EF-HandMotiv kann jedoch selbst kein Calcium binden und scheint eher eine wichtige allosterische Domäne zu sein, die die CDI reguliert. Nach gegenwärtiger Vorstellung läuft der Prozess der CDI folgendermaßen ab: Nach dem Öffnen der Calciumkanäle strömt Ca2+ in die Zelle. Dadurch erhöht sich schlagartig die Ca2+Konzentration in der unmittelbaren Umgebung der intrazellulären Kanalöffnung. Das am Kanal gebundene CaM kann jetzt Ca2+ binden und induziert dadurch eine Konformationsänderung im EF-Hand-Motiv. Zuvor im Inneren des EF-Hand-Motivs verborgene hydrophobe Aminosäuren gelangen an die Oberfläche und können mit der Inaktivierungsmaschinerie (grauer Verschlussmechanismus in Abb. 2A, B) interagieren[3]. Durch diese produktive Interaktion wird die Kanalinaktivierung beschleunigt (Abb. 2C). ¯ Abb. 1: Die retinalen Calciumkanäle Cav1.4 ermöglichen einen kontinuierlichen Calciumeinstrom in spezialisierte Synapsen (Bändersynapsen) von Photorezeptoren und Bipolarzellen. A, Lokalisation der Bändersynapsen. Ph (Photorezeptoren), BP (Bipolarzellen). B, Schema einer Bändersynapse (Vergrößerung aus A). Die Cav1.4 Calciumkanäle sind in grau dargestellt. 001_034_BIOsp_0107.qxd 30 31.01.2007 11:28 Uhr Seite 30 WISSENSCHAFT ˚ Abb. 2: Mechanismus der Calcium-abhängigen Inaktivierung. A, Der Calciumsensor Calmodulin (Orange) ist über das preIQ- und das IQMotiv (Blau) permanent mit dem proximalen C-Terminus assoziiert. B, Die Bindung von Calcium (graue Kugeln) an Calmodulin führt zu einer Konformationsänderung im C-Terminus. Das EF-Hand-Motiv (Grün) kann jetzt mit der Inaktivierungsmaschinerie interagieren und die Inaktivierung des Kanals beschleunigen. C, Die Calcium-abhängige Inaktivierung wird spezifisch durch Ca2+ ausgelöst. Der Einstrom von Calcium (rote Spur) nicht aber der Einstrom von Barium, das nicht an Calmodulin bindet (schwarze Spur), löst Calcium-abhängige Inaktivierung aus. Daher inaktiviert der Calciumstrom schneller als der Bariumstrom. D, Zelle bei der Strommessung mit der patch clamp Methode. Retinale Calciumkanäle bleiben durch einen molekularen Schalter dauerhaft geöffnet Wie schafft es nun der retinale Cav1.4 Kanal, die CDI „abzuschalten“? Zunächst könnte man annehmen, dass der Kanal einfach keinen Sensor für Ca2+ enthält. Dies scheint jedoch nicht so zu sein, denn ein Blick auf die Primärsequenz von Cav1.4 zeigt, dass alle essentiellen Motive für die CDI auch in diesem Protein prinzipiell vorhanden sind. Zudem zeigte sich in biochemischen Experimenten, dass wie beim kardialen Calciumkanal CaM an den proximalen C-Terminus des Cav1.4 Kanals gebunden ist. Dieses Ergebnis spricht dafür, dass Cav1.4 möglicherweise eine autoinhibitorische Domäne besitzt, die in der Lage ist, die CDI effektiv zu unterdrücken. Da die für die CDI wichti- ˚ Abb. 3: Modell des kompletten und des trunkierten Cav1.4 Kanals. A, Die ICDI-Domäne bindet an das EF-Hand-Motiv und verhindert dadurch die Calcium-abhängige Inaktivierung. B, Die Trunkation führt zu einem Verlust der ICDI-Domäne, der Strom zeigt Calcium-abhängige Inaktivierung. gen Bereiche im vorderen Kanalabschnitt hoch konserviert sind, lag die Vermutung nahe, dass diese Domäne weiter distal lokalisiert ist. Damit war die Strategie klar. Der Kanal musste Schritt für Schritt distal des IQ-Motivs verkürzt werden. Mit diesem Ansatz gelang es, eine regulatorische Domäne aus 23 Aminosäuren am Ende des aus etwa 2000 Aminosäuren bestehenden Calciumkanalproteins zu identifizieren. Diese Domäne haben wir Inhibitor der Calcium-abhängigen Inaktivierung (ICDI) genannt[4] (Abb. 3A). Wird diese Domäne entfernt, verhalten sich die Calciumkanäle in der Retina wie ihre nahen Verwandten und zeigen nunmehr den negativen Rückkopplungsmechanismus der CDI (Abb. 3B). Weitere biochemische Experimente konnten schließlich belegen, dass die ICDI an das EFHand-Motiv im proximalen C-Terminus bindet. Dadurch wird wahrscheinlich der proximale CTerminus und die Inaktivierungsmaschinerie entkoppelt. Die Inaktivierung wird somit unabhängig von Calcium. Vorzeitiges Schließen retinaler Calciumkanäle führt zur Nachtblindheit Unser Ergebnis hat eine große pathophysiologische Relevanz. ¯ Abb. 4: Mutationen in Cav1.4 führen zur angeborenen Nachtblindheit CSNB2. Viele Mutationen führen zu einem vorzeitigen Abbruch des Cav1.4-Proteins. Die meisten dieser Mutationen zerstören die Membrantopologie des Kanalproteins, besonders wenn die Transmembransegmente betroffen sind. Es kommt dadurch zu einem kompletten Verlust des Proteins. Drei Mutationen sind weiter distal lokalisiert. Sie verkürzen den C-Terminus von Cav1.4 mit einem Verlust der ICDI. BIOspektrum | 01.07 | 13. Jahrgang 001_034_BIOsp_0107.qxd 31.01.2007 Seit kurzem ist beim Menschen eine „Cav1.4-Channelopathy“ bekannt, eine Erkrankung, die durch Mutationen im Cav1.4kodierenden Gen verursacht wird. Die Patienten leiden an einer Form der Nachtblindheit, der kongenitalen stationären Nachtblindheit vom Typ II (CSNB2). Eine Reihe von Mutationen im Cav1.4 können zu dieser Erkrankung führen (Abb. 4). Die meisten verursachen durch Trunkation den totalen Verlust des Proteins. Drei Mutationen im C-Terminus sind aber im Kontext unserer Ergebnisse besonders interessant. Sie haben gemeinsam, dass der proximale C-Terminus unversehrt bleibt, während die ICDI Domäne fehlt. Sollten diese trunkierten Calciumkanäle tatsächlich in die präsynaptische Membran der Photorezeptoren und Bipolarzellen eingebaut werden, würden diese Kanäle CDI zeigen. Die Betroffenen könnten in der Dunkelheit nichts sehen, weil sich die Kanäle selbst Calcium-abhängig inaktivieren und die für den Sehprozess notwendigen permanenten Calciumströme nicht entstehen. ó 11:28 Uhr Seite 31 Literatur [1] Baumann, L., Gerstner, A., Zong, X., Biel, M. & Wahl-Schott, C. (2004): Functional characterization of the L-type Ca2+ channel Cav1.4alpha1 from mouse retina. Invest Ophthalmol Vis Sci 45: 708–13. [2] Liang, H. et al. Unified mechanisms of Ca2+ regulation across the Ca2+ channel family. Neuron 39: 951–60 (2003). [3] Peterson, B. Z., DeMaria, C. D., Adelman, J. P. & Yue, D. T. (1999): Calmodulin is the Ca2+ sensor for Ca2+ -dependent inactivation of L-type calcium channels. Neuron 22: 549–58. [4] Wahl-Schott, C. et al. (2006): Switching off calcium-dependent inactivation in L-type calcium channels by an autoinhibitory domain. Proc Natl Acad Sci USA 103: 15657– 62. Korrespondenzadresse: Dr. Christian Wahl-Schott Institut Pharmakologie für Naturwissenschaften Zentrum für Pharmaforschung der LMU München Butenandstraße 7, Haus C D-81377 München Tel.: 089-2180-77320 [email protected] AUTOREN Foto: (Hintere Reihe v. l.) Dr. Christian Eckert, Hartmut Cuny. (Vordere Reihe v. l.) Dr. Christian WahlSchott, Kristina Grießmeier, Institutsdirektor Prof. Dr. Martin Biel, Melanie Gebhard Unser Ziel ist es nun, den molekularen Mechanismus näher zu charakterisieren, durch die die ICDI-Domäne die Calcium-abhängige Inaktivierung abstellt. Wir wollen die ICDI-Domäne systematisch verkürzen, um die Schlüssel-Aminosäuren für diesen Mechanismus zu identifizieren. Dieses Peptidfragment möchten wir als Modulator einsetzen, um die Calcium-abhängige Inaktivierung auch in weiteren Calciumkanälen abzuschalten. Unsere Vorversuche haben bereits gezeigt, dass dies prinzipiell möglich ist. Zweitens möchten wir die Bedeutung der ICDI-Domäne für die normale Funktion der Retina aufklären. Um diese Fragestellung zu untersuchen, werden wir ein Fragment des C-Terminus von Cav1.4 mit einem lentivitalen Gentransfer in die Retina der Maus einschleusen und dadurch die Interaktion der ICDI Domäne mit der EF Hand unterbrechen. Anschließend werden wir den Phänotyp dieser Mäuse analysieren. 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