Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde Vortrag im Rahmen der Denkwerkstatt am 7. März 2014 Friedrich Kofler Bei der Beschäftigung mit „Lebensenergie“ kommt dem Daoismus eine entscheidende Rolle zu. In einer mehr als 2000 Jahre dauernden Tradition haben die Daoisten im Umgang mit Qi eine Meisterschaft entwickelt, die sowohl zur Entwicklung außergewöhnlicher Fähigkeiten als auch zu einer sehr wirksamen Heilkunde führte. Im vorliegenden Referat werden in der gebotenen Kürze die philosophischen Grundlagen, die Methoden der Kultivierung und deren Anwendung in der Heilkunde dargestellt. Wikipedia definiert Daoismus in folgender Weise: Der Daoismus (chinesisch 道教, Pinyin dàojiào ‚Lehre des Weges‘), gemäß anderen Umschriften auch Taoismus, ist eine chinesische Philosophie und Weltanschauung und wird als Chinas eigene und authentische Religion angesehen. Seine historisch gesicherten Ursprünge liegen im 4. Jahrhundert v. Chr., als das Daodejing (in älteren Umschriften: Tao te king, Tao te ching, u.a.) des Laozi (Laotse, Lao-tzu) entstand. Neben Konfuzianismus und Buddhismus ist der Daoismus eine der Drei Lehren (三教, sānjiào), durch die China maßgeblich geprägt wurde. Auch über China hinaus haben die Drei Lehren wesentlichen Einfluss auf Religion und Geisteswelt der Menschen ausgeübt. In China beeinflusste der Daoismus die Kultur in den Bereichen der Politik, Wirtschaft, Philosophie, Literatur, Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 1/19 Kunst, Musik, Ernährungskunde, Medizin, Chemie, Kampfkunst und Geographie. Das Dao wird in Wikipedia weiter dann so definiert: Das Wort „Daoismus“ leitet sich ab von „Dao“ (Tao), einem Begriff der chinesischen Philosophie, der bereits vor dem Daodejing verwendet wurde, aber erst in diesem Text seine zentrale Stellung und besondere, universale Bedeutung erhielt. „Dao“ bedeutete ursprünglich „Weg“, im klassischen Chinesisch aber bereits „Methode“, „Prinzip“, „der rechte Weg“. Bei Laozi nimmt dann der Begriff des Dao die Bedeutung eines der ganzen Welt zugrunde liegenden, alldurchdringenden Prinzips an. Es ist die höchste Wirklichkeit und das höchste Mysterium, die uranfängliche Einheit, das kosmische Gesetz und Absolute. Aus dem Dao entstehen die „zehntausend Dinge“, also der Kosmos, und auch die Ordnung der Dinge entsteht aus ihm, ähnlich einem Naturgesetz, doch ist dem Dao selbst kein omnipotentes Wesen zuzuschreiben, sondern es ist Ursprung und Vereinigung der Gegensätze, womit es letztlich undefinierbar ist. Einerseits gab es einen regen Austausch daoistischer Ideen mit dem Buddhismus und dem Konfuzianismus, andererseits legten die Daoisten immer auf Abgrenzung wert. Ihre Lebensführung und die Realisierung ihrer Ansprüche in der inneren Kultivierung machte sie oft zu Außenseitern, die auch als Einsiedler und eher im Verborgenen wirkten. Insbesonders in der Zeit des Maoismus wurden die daoistischen Meister und Adepten verfolgt und viele ermordet, so dass sehr viel dieser Kultur verloren ging. Auch bei der Verbreitung der Fähigkeiten in den Westen verfügten nicht alle, die sich als Qi Gong Meister ausgaben, über die wahre Meisterschaft, die sie für sich in Anspruch nahmen und wirtschaftlich verwerten wollten. Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 2/19 Zum besseren Verständnis der Grundlagen der daoistischen Heilkunde sollen einige Merkmale der daoistischen Philosophie skizziert werden: 1) Der leere Raum Ewig ist lediglich der leere Raum, dem im Daoismus daher eine besondere Bedeutung zukommt. Alle Dinge sind vergänglich, selbst die Erde und die anderen Himmelskörper sind zwar sehr langlebig, aber nicht ewig. Der Raum, in dem sich etwas manifestiert ist somit von besonderer Bedeutung, das Ding (oder die physische Gestalt des Lebendigen) an sich ist weniger wichtig. Dieser ursprüngliche leere Raum ist auch nach der Erschaffung der 10.000 Dinge (also der gesamten Welt) weiterhin in Form des Universums präsent und eine wichtige unerschöpfliche Energiequelle. 2) Das Natürliche Das Dao bestimmt die Abläufe der Welt. Das „von sich aus so Seiende“ und das „sich von sich aus so Entwickelnde“ sind Fundamente der daoistischen Weltanschauung. Der Kluge wird im Einklang mit dem Dao handeln und nicht versuchen, dagegen anzukämpfen. Der Mensch ist Teil des Natürlichen und hat keine bevorzugte Stellung, der Daoismus ist somit nicht anthropozentrisch. 3) Wandel und Relationalität Alle Dinge unterliegen einem permanenten Wandel und definieren sich aus ihrer Beziehung zu anderen Dingen. Die Zeit hat keinen linearen Verlauf sondern besteht aus einer Vielzahl sich wiederholender Zyklen. Diese ständige Veränderung bestimmt auch das Lebendige und seine Rolle in der Natur. Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 3/19 4) Makrokosmos gleich Mikrokosmos China war ein agrarisch geprägtes Land, sodass der Himmelsbeobachtung seit jeher eine wichtige Rolle zukam. Die himmlischen Zyklen fanden sich auch im Alltag durch Jahreszeiten, Wetter und andere Abläufe wieder und wurden auch auf die Abläufe des Lebens übertragen. 5) Handeln durch Nichthandeln Das „Handeln durch Nichthandeln“ ergibt sich unmittelbar aus dem Gebot, „dem Dao zu folgen“. Einerseits bedeutet es, sich nicht gegen „natürliche“ Entwicklungen zu stellen und dabei seine Kräfte zu vergeuden, andererseits aber durchaus auch, die Kräfte der Natur in intelligenter Weise für sich zu nutzen. Ein bekanntes Gleichnis aus dem Zhuangzi1 ist der Fleischer, der das Fleisch so geschickt zerteilt, dass sein Messer niemals stumpf wird. 1 Der „Zhuangzi“ (siehe Literaturverzeichnis [18]) ist neben dem Tao de King die zweite klassische Schrift des Daoismus. Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 4/19 Das Wuji beschreibt die Leere, die sich auf einen Zustand der Existenz vor der Differenzierung bezieht. Es repräsentiert die „Eins“, als Ergebnis eines Prozesses, der in der Leere beginnt und der alle anderen umfasst. Der Punkt, an dem der Übergang von Nichts zu Etwas geschieht, wird als ein Moment beschrieben, an dem das Qi zu vibrieren beginnt. Dieser dynamische Zustand der Existenz wird durch das Taiji symbolisiert, in dem sich eine statische Kraft zu einer dynamischen Kraft differenziert. Das Resultat ist die Bildung von yin und yang, aus deren Zusammenspiel alle Dinge, alles Leben und jede Form von Existenz entstehen. Taiji beschreibt somit die Reduktion allen Seins auf die Grundelemente Materie und Energie. Das Zeichen beschreibt die dynamische wechselseitige Abhängigkeit und Bedingung, die jeweils ein Ganzes bilden. Das dunkel gezeichnete Yin entspringt der Erde (dem reinen Yin) und bildet die Formen. Das hell gezeichnete Yang kommt vom Himmel (dem reinen Yang) und bringt die Energie in die Materie, die z.B. für die Aufrichtung sorgt. Diese wechselseitige Abhängigkeit und Komplementarität zwischen Materie und Energie, Struktur und Aktion, Form und Inhalt bestimmt in hohem Maß das daoistische Weltverständnis. Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 5/19 Die Dreiheit von Himmel – Mensch – Erde ist ein immer wiederkehrendes Bild der daoistischen Weltsicht. Die Menschen sind mit Himmel und Erde verbunden und beziehen von dort die Energie: Das Yang des Himmels und das Yin der Erde. 2 Innerhalb des Menschen und aller seiner Teile (von der Zelle bis zum gesamten Menschen) manifestiert sich dieses Kontinuum in Shen, Qi und Jing, die gemeinsam als die „3 Schätze“ des Menschen bezeichnet werden. Shen bedeutet zunächst „Geist“, ist aber ein sehr umfassender Begriff aller emotionalen, intellektuellen und spirituellen Lebensäußerungen. Shen ist auch die dominierende Qualität, die Qi und Jing lenkt. Qi bezeichnet das vitale und transformative Potenzial in seiner funktionalen Ausprägung als funktionale Kraft aller Teile des Körpers. Es steht zwischen den körperlichen und den geistig- spirituellen Aspekten des Lebens. Im nächsten Abschnitt wird das genauer ausgeführt. Jing bezeichnet die fundamentalen Substanzen, die den Körper bilden. Ganz besonders bezeichnet es auch die reproduktiven Essenzen Ei und Samen. Jing bezeichnet die Ursubstanz, die das Leben und die Körperfunktionen aufrecht erhält. Die Drei Schätze (San Bao) sind ein gemeinsamer Begriff für Jing, Qi und Shen, der die konstituierende Gesamtheit dieser 3 Elemente betont und insbesonders in den Praktiken der Inneren Kultivierung eine Rolle spielt. 2 „Der gelbe Kaiser“ [9] ist ein Klassiker der chinesischen Medizin, ca. 200 v. Chr. Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 6/19 Qi3 wird im Chinesischen sehr umfassend verwendet und hat eine Vielzahl von Bedeutungen, die eine Übersetzung mit einem Wort unmöglich machen. Die gebräuchlichen Übersetzungen als „Energie“ oder „Lebenskraft“ erfassen nur Teilaspekte des Begriffs. Nachfolgend sind einige Definitionen von Qi angeführt, um das Spektrum des Begriffs deutlicher zu machen: The Encyclopedia of Taoism [15] Qi is positioned between essence and spirit and therefore at the intersection point between matter and mind. Whereas jing is a carrier of life and has a nourishing function, qi is a dynamic force and has a transforming function. The term originally means “vapor.” Manfred Porkert: Die Chinesische Medizin [14] In der Vorstellung der Chinesen ist der Mensch ein „Qi“, eine bestimmte energetische Konstellation, und nicht – wie im Westen – ein Körper, dem Geist und Seele innewohnen. Ge Hong (Baopuzi) im Werk „Yangshen“ (aus U. Olvedi: Das stille Qi Gong nach Meister Zhi Chang Li“) [4]: Der Mensch ist von Qi umgeben und das Qi ist im Menschen. Himmel und Erde sind erfüllt von Qi und von allen Lebewesen der Welt gibt es keines, das ohne Qi leben könnte. Wer das Qi meistert, nährt den Körper von innen. 3 „Gelber Kaiser“ [9]; „Health and Long Life: The Chinese Way“ by Livia Kohn in co-operation with Stephen Jackowicz, Three Pines Press 2005 Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 7/19 In der Folie sind 2 Schriftzeichen für Qi angeführt, wobei das linke Zeichen das bei weitem bekanntere und gebräuchlichere ist. Das Schriftzeichen könnte als „Dampf über Reis“ gedeutet werden und bezeichnet das Qi im Körper. Also jene Kräfte, die durch Atmung und Nahrung dem Körper zugeführt werden und die Lebensfunktionen aufrecht erhalten. Die bekannten Methoden zur Pflege des Qi (z.B. Qi Gong, Tai Ji) und in der chinesischen Medizin (z.B. Akupunktur) beziehen sich auf diese Form des Qi. Daneben gibt es noch eine zweite Form des Qi, dessen Schriftzeichen aus „Leere über Feuer“ gebildet wird, und das sowohl als „vorgeburtliches Qi“ oder als „Qi des frühen Himmels“ oder als konstitutionelles Qi bezeichnet werden kann. Dieses Qi wird jedem Menschen bei seiner Geburt mitgegeben und verbraucht sich im Lauf der Zeit. Der Tod tritt ein, sobald es aufgebraucht ist. Durch Methoden der inneren Kultivierung und in der Heilkunde kann dieses Qi eingesetzt, regeneriert und vermehrt werden. Damit kann eine Verlängerung des eigenen Lebens oder es können in der daoistischen Heilkunde ungewöhnliche Heilerfolge erreicht werden. „The Enzyklopedia of Taoism“ [15] schreibt dazu: Similarly, qi exists as “precelestial breath (or pneuma)” (xiantian zhi qi 先天之 氣), also called Original Breath or Original Pneuma (*yuanqi), and as “postcelestial breath (or pneuma)” (houtian zhi qi 後天之氣). These different aspects are represented by two different forms of the word qi: the graph for precelestial qi (炁) is explicated as breath or pneuma “without the fire (of desire).” Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 8/19 Qi Gong ist ein Begriff, der erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts eingeführt wurde und eine breite Palette von körperlichen, mentalen und spirituellen Übungen beschreibt. Die traditionelle Bezeichnung war „Daoyin“ (Übungen des Dehnens und Leitens) und es werden dabei äußere Übungen (Wai Dan) und innere bzw. stille Übungen unterschieden (Nai Dan). Zu Wai Dan gehören auch die Kampfkünste und Bewegungsübungen im Qi Gong wie etwa die 8 Brokate oder die 5 Tiere. Auch bei diesen Übungen steht der energetische und mentale Aspekt im Vordergrund und nicht die körperlichen Bewegungen. Trainiert wird primär die Verbesserung des Qi- Flusses (氣) im Körper aber auch die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Qi. Gedehnt wird in erster Linie die Aufmerksamkeit in der bewussten Ausführung dieser Übungen und der Wahrnehmung der erreichten QiBewegungen. In diesem Sinne sind die Übungen des Wai Dan auch Voraussetzung und ständige Begleitung für die innere Kultivierung. Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 9/19 Die innere Kultivierung umfasst die Atemübungen und die inneren Qi Gong Übungen des „Stillen Qi Gong“. Die Übungen reichen zurück ins erste vorchristliche Jahrtausend und dienen der Verbesserung der Gesundheit und der Verlängerung des Lebens. In daoistischer Auffassung gibt es eine dem Dao entsprechende Lebensdauer des Menschen von 100 (bzw. 120 Jahren), die bei einem dem Dao entsprechendem Lebenswandel erreicht werden. Durch die Belastungen des Lebens wird diese Lebensspanne aber nicht erreicht. Ziel der Übungen ist zunächst vorzeitiges Sterben zu verhindern, in weiterer Folge geht es um das Erreichen einer spirituellen Unsterblichkeit. In den meditativen Übungen wird Kontrolle über den Qi-Fluss und die Wahrnehmung der Bewegungen des Qi erlernt. Das Qi wird im Körper angereichert und dadurch die Gesundheit verbessert. Voraussetzung für das Gelingen der Übungen ist das Erreichen von mentaler Stille und einer bewegungslosen Wachheit. „ The Enzyklopedia of Taoism“ [15] dazu: Neidan. The idea of transmuting jing, qi, and shen is especially important in neidan, where the phrases “refining essence into pneuma” (lianjing huaqi 鍊精 化氣), “refining pneuma into spirit” (lianqi huashen 鍊氣化神), and “refining spirit and reverting to Emptiness” (lianshen huanxu 鍊神還虛) define the three main stages of the inner alchemical practice. In neidan, jing is refined by repeatedly making it ascend along the back of the body and then descend along the front of the body (see *zhoutian). Qi is cultivated through meditation, stillness of mind, and breathing practices such as “embryonic breathing” (*taixi). Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 10/19 Grundlegend für das Gelingen von Übungen des Stillen Qi Gong und der internen Alchemie ist die Beherrschung energetischer Atemmethoden. In den chinesischen Texten wird nicht zwischen „normaler“ Lungen- bzw. Luftatmung und energetischem Atem unterschieden, gelegentlich werde für den energetischen Atem ausdrücke wie „wahrer Atem“ verwendet. Viele der in den alten Schriften beschriebenen Übungen können nur bei entsprechender Kenntnis der energetischen Atemmethoden ausgeführt werden, die Teil der mündlichen Überlieferung sind. In der oben angeführten Aufzählung sind die tiefe Bauchatmung, die Ganzkörper- und die Embryonalatmung Methoden des energetischen Atmens, wobei die Lotusblüte das mentale Öffnen und Schliessen im Unterbauch symbolisiert, das die Basis für den energetischen Atem ist. In unserem Kontext ist der energetische Atem eine unverzichtbare Voraussetzung, um wirksam und ohne Belastung des eigenen Qi-Feldes im Zuge von Heilmethoden Qi kontrolliert abgeben zu können. Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 11/19 Auch wenn die Grenze zwischen „Innerer Kultivierung“ und „Innerer Alchemie“ fließend ist, so wird hier darunter eine anspruchsvolle Übungsform verstanden, bei der Meisterschaft im inneren Umgang mit Qi (炁 ) erlangt wird. In „Awakening to Reality“4 heißt es dazu: The Taoist ideal is calling the wind and summoning the rain, transforming the four seasons, giving commands to the spirits and returning to life after death. Dabei wird der Ablauf der Entstehung der Welt umgekehrt: Aus Drei wird Zwei und aus Zwei wird Eins – also die Leerheit und ursprüngliche Harmonie. Die Grafik, das Nei Jing Tu, entstammt einem Steinabrieb aus dem Weiße Wolke Tempel in Beijing (Baiyun guan ) und stellt nicht nur eine energetische innere Landkarte des Menschen dar, sondern gibt eine sehr genaue Anleitung für eine alchemistische Praxis wieder. Die Methoden der inneren Alchemie können nur in direkter Weitergabe von einem Lehrer erlernt werden. Die Beschreibungen in den alten Texten sind von Wissenden für Wissende geschrieben und reichen als Anleitungen nicht aus. Bei Needham „Science and Civilisation in China“ [13] steht: For an earlier volume of Science and Civilisation in China I had studied the theoretical foundations of alchemy. […...] Their aims turned out to be, not learning about the properties, composition and reactions of substances, but using known chemical processes to create small models of cosmic cycles and using them for spiritual selfcultivation, or else manufacturing elixirs of immortality to ingest themselves or to provide to others. 4 „Awakening to Reality – The „Reulated Verses“ of teh Whuzen pian, a Taoist Classic of Internal Alchemy. Translated […] by Fabrizio Pregadio, Golden Elixir Press 2009 Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 12/19 Die chinesische Medizin setzt in hohem Maß auf Prävention. Abweichungen vom ausgeglichenen Qi- Fluss frühzeitig zu erkennen und zu korrigieren ist vorrangiges Ziel. Im gelben Kaiser [9] heißt es dazu: „Der Mustergültige heilt nicht Krankheit, die bereits ausgebrochen ist, sondern Krankheit, die noch nicht ausgebrochen ist;[...]. Denn eine Krankheit verarzten, die sich bereits voll entfaltet hat, [..] das ist, als wenn man einen Brunnen zu graben anfängt, sobald man Durst verspürt, als ob man Waffen zu schmieden beginnt, wenn man bereits in den Kampf verwickelt ist. Ist es da nicht schon zu spät?“ Die oben angeführten Ursachen von Krankheiten zeigen auch, dass solche Faktoren angeführt sind, die die Widerstandskraft schwächen und ein dynamisches Gleichgewicht des Qi stören können. Dem entspricht auch die Vorgangsweise in der daoistischen Heilkunde. Es geht nicht um die Korrektur einzelner Symptome und der Ausdrucksformen einer Erkrankung, sondern um das Erkennen der grundlegenden Ursachen und um die Wiederherstellung eines stabilen und ausgeglichenen Qi- Flusses. Die daoistische Heilkunde abstrahiert hier sehr stark und interessiert sich nicht für die Details der Auswirkungen. Es werden aber immer alle 3 Ebenen von Körper, Energie und Geist behandelt. Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 13/19 Der wesentliche Unterschied der daoistischen Heilkunde von allen anderen Vorgangsweisen auch in der chinesischen Medizin ist die Behandlung auf Basis der energetischen Entwicklung des/der TherapeutIn. Entscheidend ist nicht das technische Wissen über Körperfunktionen und energetische Zusammenhänge, sondern die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Qi und zur kontrollierten Abgabe unterschiedlicher Ausprägungen des Qi. Je besser die innere Kultivierung ausgebildet und je größer die methodische Vielfalt in der Adressierung des Qi der KlientIn ist, umso höher wird die therapeutische Wirksamkeit ausfallen. Für die Behandlung nimmt der/die TherapeutIn den selben mentalen Zustand ein, der auch Voraussetzung für die Übungen in der inneren Kultivierung ist. Der Behandlungsverlauf ist dann eine weitgehend mentale Tätigkeit, bei der die Berührungen über die Handflächen oder Fingerspitzen nur Werkzeug, aber nicht entscheidend sind. Aus der äußeren Beobachtung lassen sich keine Erkenntnisse über die tatsächlichen Abläufe gewinnen. Dies gilt auch für die eher körperorientierten Methoden wie An Mo (drücken – reiben) bzw. Tuina (schieben - greifen), die energetisch weit intensiver ausgeführt werden, als es der äußere Anschein vermuten lässt. Nach Abschluss einer Behandlung muss der/die TherpeutIn bewusst in das Alltagsbewusstsein zurückkehren. Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 14/19 Das menschliche Energiesystem ist durch eine Reihe von Kreisläufen geprägt, die innerhalb und außerhalb der Grenzen des physischen Körpers verlaufen. Der grundlegende Energiefluss geht – vom Himmel kommend – entlang des Rückens zu den Beinen und gegenläufig – von der Erde kommend – Richtung Kopf. Nur wenn diese Grundströmung ausreichend intensiv und ungestört verläuft, ist Gesundheit möglich. Für einen guten Heilungsverlauf muss bei allen Erkrankungen dieser Energiefluss stabilisiert und gestärkt werden. In dieser chinesischen Sicht gibt es ein sehr plausibles Bild für die Funktion dieses Kreislaufs. „Wasser“ ist eine der zahlreichen Metaphern für Yin, „Feuer“ die Entsprechung für Yang. Aufgabe dieses Kreislaufs ist es, das Feuer unter den Wasserkessel zu bringen, damit das Wasser gut gewärmt wird und seine nahrhafte Rolle erfüllen kann. Das entspricht auch dem anfangs (in Folie 3) gezeichneten Bild des vom Himmel kommenden Yang, das das von der Erde kommende Yin belebt. Ist dieser Kreislauf gestört, so bleibt das Feuer oberhalb des Wassers und es kommt zur „leeren Hitze“ im oberen Bereich des Körpers bzw. zu Kälte und Nässe im unteren Bereich. Beides bewirkt sehr vertraute Krankheitsbilder. Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 15/19 Innerhalb des menschlichen Körpers gibt es eine Vielzahl energetischer Ströme. Am bekanntesten ist das in der TCM verwendete (mittlere) Bild der 12 Leitbahnen als Verbindung der (ca.) 360 Akupunkturpunkte. Diese Struktur wird auch in der daoistischen Heilkunde mit weitgehend den selben Bedeutungen verwendet. Die Meridiane werden aber weniger in der durch die Darstellung nahegelegten Sicht als lineare Verbindungen des Energieflusses zwischen Punkten betrachtet, sondern sie werden als Indikatoren für eine organspezifische Gewichtung der Energieströme im Körper gesehen (rechtes Bild). In der Akupunktur haben die 8 außerordentlichen Gefäße (oder „Wundermeridiane“) weniger Bedeutung, sie sind jedoch als Energiespeicher und „Ausgleichsgefäße“ von besonderer Bedeutung. In der daoistischen Heilkunde kommt ihnen eine mehrfache Wichtigkeit zu: Die außerordentlichen Gefäße sind sowohl Träger des konstitutionellen Qi (炁) als auch des körpereigenen Qi (氣)und haben daher eine wichtige Vermittlerrolle zwischen den beiden Qi- Qualitäten. Techniken der daoistischen Heilkunde ermöglichen das Nähren der außerordentlichen Gefäße und somit die Zuführung von neuem Qi, wenn eine Störung durch einen QiMangel begründet ist. Dieses „Auffüllen“ mit frischem Qi bildet einen wesentlichen Unterschied zur Akupunktur, wo das Ansprechen der Wundermeridiane immer mit dem Risiko einer Schwächung verbunden ist. Bereits in der Beschreibung der inneren Kultivierung und Alchemie wurde deutlich, dass der gesamte Körper und seine Umgebung durch Energieflüsse bestimmt sind. Auch die daoistische Heilkunde bezieht sich auf dieses umfassende Verständnis der Energieflüsse und beschränkt sich bei den energetischen Interventionen nicht auf die durch die Meridiane vorgegebenen Strukturen. Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 16/19 In der daoistischen Heilkunde erfolgt die Behandlung eines/r Kranken in einem sehr gesamthaften Ansatz. Zunächst muss sich der/die TherapeutIn in einen für die Behandlung geeigneten Zustand der „ursprünglichen Harmonie“ versetzen. Dazu gehören die vollständige Entspannung und das Besänftigen des „denkenden Geistes“. In diesem höchst konzentrierten Zustand werden dann Methoden der Energiewahrnehmung und der Energieabgabe eingesetzt. Die korrekte Ausführung dieser Methoden gewährleistet auch, dass der/die TherapeutIn nicht die eigenen Energien verbraucht und in kürzester Zeit selbst geschwächt wäre. Die Intervention erfolgt auf allen energetischen Ebene aufgrund der Einschätzung des aktuellen energetischen Zustands durch den/die TherapeutIn. Im Umgang mit Punkten der Leitbahnen werden ausschließlich energetische Methoden eingesetzt, indem vorwiegend über die Fingerspitzen der Zustand wahrgenommen und Energie abgegeben wird. Neben diesen bekannten Ebenen werden Energiebereiche mit besonderer Bedeutung für das gesamte Energiebild angesprochen oder ein Energieausgleich zwischen Körperstellen durchgeführt. Weiters werden Methoden eingesetzt, die ohne Berührung Einfluss auf das Energiefeld innerhalb und außerhalb des Körpers des/der KlientIn nehmen. Bei allen Behandlungen sollen alle 3 Ebenen des energetischen Systems angesprochen werden. Die Leitbahnen und Punkte zählen zur körperlichen Ebene, auf Qi Ebene werden die grundsätzlichen Energieströme angesprochen während (ebenfalls) berührungslose Methoden eingesetzt werden, um die Shen- Ebene zu erreichen. Die Intensität und Verteilung, in der diese Ebenen einbezogen werden, variiert nach aktueller Einschätzung des energetischen Zustands. Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 17/19 5 Die daoistische Philosophie lehrt den Respekt vor den natürlichen Abläufen und dem „von selbst so Seienden“. Daoistisches Verhalten empfiehlt die Reduktion auf das Wesentliche und die Konzentration auf die inneren Empfindungen. In der Ausführung der Praktiken wird die Aufmerksamkeit der Sinne nach Innen gerichtet und dabei kommen Empfindungen zu Tage und können Fähigkeiten entwickelt werden, die weit jenseits des normalen Alltagsbewusstseins liegen. Daraus ergibt sich ein Bild einer durch Energien bestimmten Welt, wo die körperlichen Erscheinungen der Dinge und des Lebens in den Hintergrund treten und der permanente Wandel aller Erscheinungsformen wichtig wird. Die Praxis der inneren Kultivierung ermöglicht ein unerwartet intensives Ausmaß der Sensibilität und der Möglichkeiten zur Beeinflussung dieser energetischen Vorgänge, wobei Meisterschaft nur mit sehr ausdauernder Praxis und unter kluger Anleitung eines/r LehrerIn erreicht werden kann. Die daoistische Heilkunde ist ein integraler Bestandteil dieser Kultur. Das Erfordernis zur eigenen inneren Kultivierung und zur Entwicklung energetischer Fähigkeiten des/der TherapeutIn unterscheidet diese Methode von (fast) allen anderen (modernen) Heilmethoden. Nicht das medizinische und technische Fachwissen stehen im Vordergrund, sondern die Intensität und Empathie des energetischen Dialogs zwischen Behandelndem und Behandeltem bestimmen den Heilerfolg. 5 Tao de King, Vers 48: siehe [3] Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 18/19 Empfohlene Literatur [1] Cohen, Kenneth: „Qi Gong“, Weltbild Verlag 2006 (Originaltitel: „Qigong. Art and Science of Chinese Energy Healing“) [2] Kaptchuk, Ted J.: „Das große Buch der chinesischen Medizin“, Fischer Taschenbuch 2006 (Originaltitel: „The Web That Has No Weaver“) [3] Laotse: „Tao te King“, unterschiedliche Übersetzungen, z.B. „Eine zeitgemäße Version für westliche Leser“, Übersetzung von Peter Kobbe, Goldmann 21628, 2003 [4] Olvedi, Uli: „Das stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li“, Ullstein Taschenbuch 74107, 2004 (verschiedene Ausgaben verfügbar) [5] Williams, Tom: „Was das Qi zum Fließen bringt“, Aurum Verlag 1996 [6] Zhang Yu Huan/ Ken Rose: „Den Drachen reiten – Die kulturellen Wurzeln der trditionellen chinesischen Medizin“, O. W. Barth 2001 Weitere Literatur [7] Bertschinger, Richard: „Cantong Qi – Das Dao der Unsterblichkeit“, Wolfgang Krüger Verlag, 1997 (Originaltitel: „The Secret of Everlasting Life“) [8] Chia, Mantak: „Tao Yoga der inneren Alchemie“, Heyne 1990 [9] „Der gelbe Kaiser“ (Huang Di nei jing su wen) - unterschiedliche Ausgaben, z.B. herausgegeben von Dr. Maoshing Ni, O. W. Barth 1995 [10] Kohn, Livia: „Introducing Daoism“, Routledge 2008 [11] Lade, Arnie: „Selbtsheilung mit Qi“, O. W. Barth 2004 [12] Mayor, David and Micozzi, Mark S.: „Energy Medicine East and West – A Natural History of Qi“, Elsevier 2011 [13] Needham, Joseph: „SCIENCE AND CIVILISATION IN CHINA , VOLUME , BIOLOGY AND BIOLOGICAL TECHNOLOGY “, PART VI: MEDICINE , Cambridge University Press 2004 (auch als eBook) [14] Porkert, Manfred: „Die chinesische Medizin“, Econ Verlag 1982 [15] Pregadio , Fabrizio (edited by): THE ENCYCLOPEDIA OF TAOISM , The Golden Elixir , Routledge 2008 [16] Unschuld, Paul U.: „Medizin in China – Eine Ideengeschichte“, Verlag C. H. Beck 1980 [17] Wang Mu: „Foundations of Internal Alchemy“, Translated and edited by Fabrizio Pregadio, Golden Elixir Press 2011 [18] Zhuangzi Auswahl, Reclam 18256, 2003 Einige Webadressen http://www.zhichangli-akademie.at http://www.qigong-zentrum-muc.de http://www.classicalchinesemedicine.org/ http://www.goldenelixir.com Daoistische innere Kultivierung und Heilkunde [email protected] Denkwerkstatt 7. März 2014 Seite 19/19