Die vedischen Götter Die vedischen Götter leben in drei Sphären: im Himmel, im Luftraum und auf der Erde. Ihre Zahl variiert: Manche Texte sprechen von 33 andere von unendlich vielen. Ihre Zuordnung ist schwierig, denn oft werden mehreren Göttern dieselben Taten und Fähigkeiten zugeschrieben. Götter des Himmels Götter des Luftraums Indra: der beliebteste aller vedischen Götter: er befreit die Urwasser, läßt die Flüsse fließen, er befestigt die Erde, stützt den Himmel und hält die Sterne. Rudra: kann vor Krankheit bewahren, ist gefürchtet wegen seines grenzenlosen Zorns; man nennt ihn Shiva, den Segensreichen, später einer der berühmtesten Hindu-Götter. Maruts: die Söhne Rudras; sie vergießen den Regen, entfachen das Licht, bereiten der Sonne den Weg und schützen die Menschen vor den Pfeilen ihrer Gegner. Vayu: der Gott des Windes. CD-ROM „Spurensuche“ Dyaus: die Personifizierung des Himmels. Rita: kosmisches Ur-Prinzip, dem alles unterworfen ist. Varuna: Herr des urzeitlichen Chaos, Schöpfer von Himmel und Erde. Mitra: die Freundschaft: Gott des Lichts und des Vertrags. Surya und Savitri: Sonnengötter. Vishnu: in früher Zeit noch unbedeutend. Pushan: schützt vor Gefahr und behütet das Vieh. Ushas: die Morgenröte. Ashvins: Söhne von Dyaus, sie bringen Gesundheit, Wohlstand und Fruchtbarkeit. Götter der Erde Agni: der Feuergott, überall präsent und wirksam: Als Opferfeuer bringt er das Opfer zu den Göttern, als Verdauungsfeuer spendet er Lebenskraft, bei der Leichenverbrennung reinigt er den Leichnam Soma: vergöttlichte Pflanze, deren berauschender Saft visionäre Fähigkeiten, ja Unsterblichkeit (amrita) verleihen soll. Brihaspati: Herr der göttlichen Kraft »Brahman«, Prototyp des späteren Gottes Brahman. Prithivi: die Erde. Vergötterte Flüsse: Sarasvati, Sindhu, Ganga, u.a. Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 1 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Der Veda, das »heilige Wissen« Der Veda ist ein Schriftkomplex vom sechsfachen Umfang der Bibel, dem bis heute die meisten Hindus göttlichen Ursprung und höchste Autorität zuschreiben. Der Veda ist, wie die meisten religiösen Texte der Hindus, in Sanskrit verfaßt, was soviel heißt wie vollkommen, wohlgeformt: es ist die klassische Kultursprache Indiens. Rigveda I,1,1-8 © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin Die vier »Veden« Aranyakas Rigveda: Sammlung aus 1028 Hymnen und Geschichten über die Götter und das Opfer. Samaveda: Text- und Gesangbuch mit dem die Vorsänger beim Opfer ausgebildet wurden. Yajurveda: Die eigentlichen Opfersprüche, zum Teil mit Kommentaren. Atharvaveda: Eine späte Sammlung von esoterisch-magischen »Zauberformeln«. Philosophische »Nachträge« der Brahmanas, als Lektüre für Waldeinsiedler gedacht Brahmanas Priesterliche Erklärungstexte und Kommentare zu den Opfern; den einzelnen Veden und ihren Schulen zugeordnet, zum Teil mit philosophischem Inhalt. CD-ROM „Spurensuche“ Upanishaden Der Schlußteil des geoffenbarten Teils der Veden: ursprünglich philosophische Passagen der Brahmanas und Aranyakas, erst spät herausgelöst und zu einem selbständigen Textkorpus kompiliert und im Laufe der Zeit durch weitere Texte ergänzt; gelten auch als »dogmatische Textbücher« der einzelnen vedischen Schulen. Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 2 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Woher stammen die »Kasten«? (1) (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 59-61) Woher kommt diese Einteilung der ganzen Gesellschaft in Kasten? Die historische Forschung gibt darauf verschiedene Antworten: – Sie kommt von der beruflichen Spezialisierung her, lautet eine Antwort. Aber: Die Kastenordnung ist sicher mehr als ein soziales Phänomen, so sehr sie gerade auch die Berufswahl bestimmt. – Sie ist eine von den Priestern erfundene Standesordnung, lautet die andere Antwort. Aber: Die Kastenordnung ist nicht nur ein religiöses Phänomen, so sehr die Brahmanen zu ihrer Ausgestaltung und Fixierung beigetragen haben. Grundlegend war vielmehr die gesamthistorische Entwicklung. Denn es läßt sich nicht bestreiten: Die nach Indien einwandernden Arier wollten sich von der unterworfenen dunkelfarbigen Urbevölkerung absetzen und sich ihre »Reinheit« bewahren. Damals formierten sich jedenfalls jene sozialen »Farben«, »Varnas«, Gruppierungen. Sie verstanden sich schon früh auch als religiöse Institutionen, waren hierarchisch geordnet und trugen einen gemeinschaftlichen Namen. Schon in der ältesten indischen Literatur, dem Rig-Veda, findet sich (in einem freilich relativ späten Teil) eine religiöse Begründung für die Hierarchie der Kasten. Betrachten wir den Hymnus auf »Purusha«, ein menschenartiges kosmisches Urwesen, aus dem die ganze Welt entstand (Rig-Veda 10,90). Während drei Viertel dieses eigentümlichen Wesens geistig-transzendent sind, wird ein Viertel von den Göttern im Opferfeuer dargebracht. So entsteht alles, was es gibt: die vedischen Textsammlungen, die Tiere und eben die vier Menschenklassen, schließlich die Gestirne, die Elemente, der Himmel und die Erde. CD-ROM „Spurensuche“ Das Eine »Das Urwesen (Purusha) mit tausendfachen Häuptern, mit tausendfachen Augen, tausend Füßen bedeckt ringsum die Erde allerorten, ... Nur er ist diese ganze Welt, und was da war, und was zukünftig währt, Herr ist er über die Unsterblichkeit, ... Vier Veden Aus ihm als ganz verbranntem Opfertier die Hymnen und Gesänge sind entstanden, ... und was an Opfersprüchen ist vorhanden. Tiere Aus ihm entstammt das Roß, und was noch sonst mit Schneidezähnen ist auf beiden Seiten, aus ihm entstanden sind die Kuhgeschlechter, der Ziegen und der Schafe Sonderheiten. Menschenklassen Zum Brahmanen ist da sein Mund geworden, die Arme zum Krieger sind gemacht, der Händler aus den Schenkeln, aus den Füßen der Knecht damals ward hervorgebracht ... Himmel und Erde Das Reich des Luftraums ward aus seinem Nabel, der Himmel aus dem Haupt hervorgebracht, die Erde aus den Füßen, aus dem Ohre die Pole, so die Welten sind gemacht.« Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 3 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Woher stammen die »Kasten«? (2) (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 59-61) Man beachte freilich: In diesem Text findet sich noch nicht die scharfe Abgrenzung zwischen den Kasten, welche die Heirat verschiedener Kastenangehöriger und einen Kastenwechsel ausschließt. Diese findet sich erst im einflußreichen »Gesetzesbuch des Manu« (manusmrti, vermutlich 3. Jahrhundert v. Chr.), das auf den Manu (Mensch), den Stammvater der Menschheit, zurückgeführt wird. Es ist dieses Gesetzbuch, das zum Fundament der Hindugesellschaft wird, ihrer Religion und ihrer Verhaltensweisen: das erste und wichtigste Werk der nachvedischen »Überlieferung« (smrti). Erst zur Zeit des Mittelalters setzt sich jener Kastenrigorismus durch, der die Heirat ebenso CD-ROM „Spurensuche“ vorherbestimmt wie Berufswahl und Sozialprestige des Individuums. Ganz im Zentrum steht dabei die Vorstellung ritueller Reinheit. Deren Schatten ist die Angst vor Befleckung. Unrein macht jetzt schon die körperliche Berührung mit niederen Kasten, noch mehr gemeinsames Essen und erst recht Sexualverkehr. Jegliche Unreinheit zwingt, sofern überhaupt möglich, zur angemessenen Reinigung. Dafür haben die Brahmanen ungezählte Vorschriften entwickelt: Gebote, Verbote, Reinigungsriten, aber auch die Exkommunikation. Dabei besonders folgenreich: Ausgeschlossen sind die niederen Kasten auch vom Studium der indischen heiligen Schriften, des »Veda«. Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 4 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die Invasion der Arier (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 58) an nist Ind us Af a gh Harappa i Pa k Lahore Sutl ej Ne Haridwar n sta Delhi Ya l Bhutan m un a Ind us Mohenjo-Daro pa Ga Jaipur ng Bra Bhopal Varanasi Bodh Gaya tra Bangladesh Sanchi Ahmadabad apu Patna es Khajuraho hm Kalkutta Nagpur Bombay In Bhubaneshvar di en Hyderabat Bangalore Madras Sri Lanka Colombo (heutige Karte) 500 km CD-ROM „Spurensuche“ Die Invasion der Arier auf dem indischen Subkontinent Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 5 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Was heißt »Seele« im alten Indien? Die vedischen Dichter unterscheiden zunächst ganz allgemein zwischen dem materiellen Körper (sharira, kaya, deha) und einer immateriellen Dimension – amartya, das »Unsterbliche« oder »Göttliche« eines Menschen –, die bei der Leichenverbrennung nicht mit verbrannt wird. Konkret kommt diese Dimension in ganz verschiedenen Begriffen und Vorstellungen zum Ausdruck, die allesamt, zumindest vage, unter dem Oberbegriff »Seele« subsummiert werden könnten: Jiva (»Leben«): die biologische, vitale Persönlichkeit eines Menschen, mit der er sich von anderen Menschen unterscheidet. Später, in den Upanishads, wird damit jene grobstoffliche »Lebenseele« bezeichnet, welche die individuellen, von den Taten geprägten Anlagen eines Menschen in sich trägt, und in die das feinstoffliche »Selbst« des Menschen (atman) verstrickt ist; ◗ Manas (»Denken«): allgemein die mentalen Kräfte eines Menschen, speziell die kognitive Dimension, der Sitz des menschlichen Bewußtseins; das innere Organ der Wahrnehmung und des Denkens (insofern ist Manas auch vergänglich), durch das die Gedanken in die Seele eingehen und Objekte die Seele affizieren; ◗ Asu / Atman / Prana (»Lebensatem«, »Odem«): die vitale Kraft, der Geist, das Prinzip des Lebens; all diese Begriffe werden im Laufe der Zeit zunehmend abstrahiert: Prana wird zu einer der (im Veda drei bis zehn) Lebenskräfte bzw. organe; aus Atman wird bereits im Atharvaveda die individuelle, geistige Seele, der Kern des Individuums, in den Upanishads schließlich das feinstoffliche individuelle »Selbst«; ◗ ◗ Paramatman (»höchster Geist«): ein transpersonales, universales geistiges Prinzip, in dem (breits in späten Teilen des Rigveda!) der Ursprung aller Lebewesen angenommen wird. Das heißt: Schon von Anfang an finden sich im Veda je verschiedene Bezeichnungen für je verschiedene (geistige) Bereiche der menschlichen Existenz, und keiner dieser Begriffe bezeichnet von Anfang an eindeutig »eine unvergängliche, immaterielle geistige Substanz, welche den innersten unveränderlichen Kern einer Persönlichkeit darstellt« – eben das, was heute allgemein als »Seele« bezeichnet wird. Entsprechend vage sind auch die Vorstellungen darüber, was mit dem Menschen beim Sterben geschieht und, vor allem, was nach dem Tode – wo und wie auch immer – weiterlebt. So nehmen etwa die Brahmanas noch an, »der Tote selbst« lebe im Jenseits weiter, und zwar »wie er leibte und lebte«, indem nämlich bei der Verbrennung (oder auch durch Verwesung) die Bestandteile des Toten dorthin (d. h. zu den Gottheiten) zurückkehren, woher sie stammen: »das Fleisch zur Erde, das Blut zum Wasser, die Rede zum Feuer, der Odem zum Winde, die Fähigkeit zu hören zu den Himmelsrichtungen, die Sehkraft zur Sonne, das Denken zum Monde«. Übrig bleibt ein schemenhaftes Wesen (preta; vergleichbar etwa mit der Homerischen »Psyche«), das in einer »Art Auferstehung der Toten« im Jenseits nach seinem ganzen Leib mit allen Gliedern und Gelenken in verklärter Form aufersteht, sofern er auf Erden entsprechend gelebt hat oder – dieser Gedanke tritt in den Brahmanas immer mehr in den Vordergrund – über das entsprechende Wissen verfügt, in ewiger Gemeinschaft mit den Göttern. Stephan Schlensog CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 6 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Wiederverkörperung und Karmaglaube (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 66) Der Glaube an eine zyklische Wiederverkörperung der Verstorbenen, an eine »Seelenwanderung«, ist keine indische Erfindung. Er gehört seit alters zum Traditionsgut vieler Kulturen überall auf der Welt. Und auch in Indien war und ist man sich keineswegs einig, wie man sich das Schicksal der Verstorbenen vorzustellen habe. In frühvedischer Zeit jedenfalls glaubte man zunächst, die Toten gelangten mit der Leichenverbrennung direkt entweder in die ewige Verdammnis der Unterwelt oder zur paradiesischen Seligkeit in die Himmelswelt. Doch begann man bald daran zu zweifeln: War nicht zu befürchten, daß auch im Himmel ein »Wiedertod« erfolgt und die Verstorbenen zu einer neuen Existenz wieder auf die Erde zurückkehren müssen, um mit dem Tod von dort erneut zum Himmel aufzusteigen? Was diesen Zyklus beeinflußt, darüber wurde zu allen Zeiten kontrovers spekuliert: Auf dem Mond, dieser Pforte zur Himmelswelt, gäbe es, so CD-ROM „Spurensuche“ meinte man zunächst, einen Wächter, der den Verstorbenen Fragen nach ihrem Leben stelle; deren Beantwortung sei für ihr weiteres Schicksal entscheidend. Später waren es nach der Auffassung der Brahmanen vor allem die Opferhandlungen der Verstorbenen zu Lebzeiten, die ihr Schicksal nach dem Tod bestimmen sollen. Mit dem Wort »handeln« war jetzt das entscheidende Stichwort gegeben, unter dem sich in der indischen Tradition die »Karma«-Theorie (Sanskrit kr – »handeln«, »tun«) durchsetzen sollte. Hierbei war ausschlaggebend, daß man sich beim Verständnis des Handelns von mythischen und rituellen Vorstellungen weitgehend zu lösen begann. Ein komplexer Prozeß, der sich in den Upanishaden noch nachvollziehen läßt: Schließlich wurde einfach der Lebenswandel, das moralisch richtige Handeln der Verstorbenen zu Lebzeiten, zum entscheidenden Kriterium für die Art ihrer Wiederverkörperung. Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 7 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die neuen Hochgötter (1) (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 73f) Für den Großteil der Inder waren wohl zu allen Zeiten die abstrakten philosophischen Spekulationen von geringer Bedeutung. Wichtiger war die Verehrung von Göttern, ja einer bestimmten Gottheit, von der man Zuspruch und Segen erhofft und die für die Gläubigen einen Aspekt oder eine Inkarnation des Göttlichen repräsentiert. Deshalb konnten schon die großen philosophischen Konzeptionen der Upanishaden nur begrenzt Eingang in die religiöse Alltagspraxis der einfachen Gläubigen finden. Ja schon in den Upanishaden selber finden sich Texte, die von einer wiedererstarkten, selbstbewußt vorgetragenen theistischen Frömmigkeit zeugen: Heil und Erlösung des einzelnen werden von der gläubigen Hingabe an einen personal gedachten Gott abhängig gemacht. Diese Entwicklung führte zwischen dem 3. Jahrhundert v. Chr. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. zu den klassischen Hindu-Religionen, wie sie in den großen Hindu-Epen Mahabharata und Ramayana zum Ausdruck kommen. Denn neue Götter treten jetzt in den Vordergrund, die in den Veden keine oder nur eine geringe Rolle gespielt hatten. Vielfach waren sie aus lokalen Kulten hervorgegangen. Und mehr als der tantrische Shaktismus konnten sich in der nachvedischen Zeit die neuen Götter Vishnu und Shiva durchsetzen. Sowohl Vishnu, der in den Veden als Gefährte Indras nur eine untergeordnete Rolle spielt, wie Shiva, dessen Name sich in den Veden nur als Attribut des ambivalenten Gottes Rudra findet, sind höchst komplexe Gestalten. Ihre Entstehung bleibt für die historische Forschung weitgehend im dunkeln. Sicher sind im Verlauf der Zeit verschiedene lokale Götter und Heroen mit ihnen identifiziert worden, so daß uns nun manche ihrer Einzelzüge widersprüchlich erscheinen. CD-ROM „Spurensuche“ Vishnu (»Hari«), dargestellt mit vier Armen, Zeichen der göttlichen Macht, und mit vier Attributen: Muschelhorn, Diskus, Keule und Lotus. Zwischen den Weltschöpfungen ruht er auf der tausendköpfigen Schlange Shesha, die schwimmt auf dem weiten, endlosen Ozean aus Milch. Seine Gefährtin ist Lakshmi, die Göttin des Reichtums und des Glücks. Sein Kult hat für die vielen Verehrer (die vaishnavas) einen fröhlich-unbeschwerten Charakter. Sie wissen: Wann immer die Weltordnung gefährdet ist, greift Vishnu ein, um sie gegen die Dämonen die zu schützen und die Welt zu retten. Er (und nur er) nimmt dann eine irdische Gestalt an, inkarniert sich als Mensch oder Tier. Von zehn solcher Verkörperungen (Inkarnationen) oder Avataras (Herabkünfte) sind die wichtigsten Rama und Krishna. Die zehnte allerdings steht noch aus, sie geschieht am Ende dieses Zeitalters. Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 8 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die neuen Hochgötter (2) (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 73f) Shiva dagegen ist ein doppelgesichtiger Gott. Mit seinem schrecklichen Aussehen verkörpert er den Aspekt der Auflösung und Zerstörung. Als großer Asket und Vorbild aller Yogis sitzt er als Verkörperung der Entsagung meditierend auf einer Bergspitze des Himalaja, der Quelle des Ganges. Zugleich ist er seinem Namen nach der »Segensreiche, Gütige, Wohlwollende«, der durch seine unendliche Zeugungskraft alles entstehen läßt und Leben spendet. Die Verkörperung seiner »weib- CD-ROM „Spurensuche“ lichen« Energien, ohne die Shiva machtlos wäre, ist seine Partnerin Parvati (als diese gelten auch Shakti, Durga und Kali), deren Verehrung sich im Kult der Göttin verselbständigte. Shiva wird oft nur symbolisch dargestellt als Linga (Sanskrit für »Phallus«), naturalistisch oder als Säulenstumpf: Ausdruck göttlicher Zeugungskraft, der alles Leben seinen Ursprung verdankt. Der Linga ist oft verbunden mit der Yoni (Vagina), dem weiblichen Gegenstück, Ausdruck von Shivas Vereinigung mit seiner Gemahlin, aber auch der Komplementarität der Geschlechter. Im Zentrum jedes Shiva-Tempels steht ein Linga. Viele Namen geben die Shivaiten (shaivas) ihrem Gott. In der Kunst indes wird er gerne als Shiva Nataraja, »König der Tänzer«, als tanzender Herr des Universums dargestellt: Sein Tanz, Ausdruck seiner fünf Aktivitäten (Schöpfung, Erhaltung, Zerstörung, Verkörperung, Befreiung), symbolisiert den Kreislauf des Kosmos, wo in einem ewigen Rhythmus Millionen Welten in jedem Moment zerstört und andere Millionen neu geschaffen werden. Brahma gilt als eigentlicher Schöpfer des Universums. Gemeinsam mit Vishnu und Shiva bildet er die Trimurti, die Dreigestalt, welche die drei Aspekte des Absoluten, Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung, symbolisiert. Sein Kult ist heute aber nahezu ausgestorben, nur noch ein einziger Tempel in Puskar in Rajasthan ist ihm gewidmet. Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 9 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die Yuga-Theorie (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 66f) Die Vorstellung von einem zyklischen Zeit- und Geschehensablauf behielt für Inder und manche Nicht-Inder bis heute ihre Suggestionskraft: Wiederholen sich nicht in der Natur selber all die Abläufe? Gestirnkreise, Jahreszeiten, Mondphasen kommen und gehen. Tag und Nacht wechseln. Nach indischer Ansicht ist dies alles ein warnendes Zeichen auch dafür, daß die Großen nicht ewig groß und die Kleinen nicht ewig klein bleiben werden. Freilich: Nach heutigen physikalischen Erkenntnissen macht die Natur nicht nur Kreisbewegungen durch, sondern – von den Atomkernen bis zu den Sternen – eine nicht rückgängig zu machende Geschichte in eine bestimmte Richtung: seit dem Urknall eine Milliardenjahresgeschichte, die auf ein Ende zuläuft. Von einem »Ende« dieser Welt geht jedoch auch die indische Mythologie aus, wie sie etwa im »Gesetzbuch des Manu« überliefert ist. Demnach befinden wir uns im letzten der vier Weltalter (yuga), im 6. Jahrtausend des Kaliyuga. Aber in Indien kann keine apokalyptische Angst aufkommen –␣ warum? W eil es nach einem später ausgeklügelten Zahlensystem ab unserem Jahr 2000 noch rund 426.000 Menschenjahre dauern wird bis nach insgesamt 12.000 Götterjahren = 4.320.000 Menschenjahren ein göttliches Weltalter (mahayuga) zu Ende gehen wird! Und 1000 solcher göttlichen Weltalter: Sie sind nur ein Tag des Brahma, auf den nach einer Weltvernichtung die ebenso lange Brahma-Nacht der Weltenruhe folgt. Erst dann ist eine Weltperiode (kalpa) abgeschlossen! So schließt sich der Kreis ewig gleichförmig nacheinander abrollender Zeitzyklen – um sogleich wieder von neuem zu beginnen. Weltenalter Dauer Kritayuga 4000 2 x400 4800 1 728 000 Tretayuga 3000 2x300 3600 1 296 000 Dvaparayuga 2000 2x200 2400 864 000 Kaliyuga 1000 2x100 1200 432 000 1 Mahayuga 12 000 4 320 000 1 Kalpa 24 Millionen 8,64 Milliarden CD-ROM „Spurensuche“ Dämmerung Götterjahre Materialienblatt zum Hinduismus Menschenjahre Blatt 10 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Religion und Erotik: Tantrismus (1) (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 69-72) In der indischen Religion, Literatur und Kunst findet sich, anders als im vielfach geschlechts- und frauenfeindlichen Christentum, von alters her allüberall das Moment der Erotik. Inspiriert war sie wohl von altorientalischen, vorarischen Fruchtbarkeitskulten. Die Zeugung von Nachfahren war nun einmal unabdingbare Voraussetzung für die Sicherung von Nahrung und Arterhaltung. Ohne erotische Darstellungen, auch die des Liebespaares (mithuna), wäre ein indischer Tempel unvollständig. Ob Menschen oder Tiere, sie sollten in magischer Weise Schaden abhalten oder Glück bringen. So zeigen indische Religion, Literatur und Kunst von Anfang an eine unbefangene Freude an Sinnlichkeit, Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit. Sie hat keine Hemmungen in bezug auf die Darstellung weiblichen Charmes und weiblicher Nacktheit. Schon unter der Gupta-Dynastie in Nordindien (320-500), in einer Blütezeit der Hindu-Kunst und Sanskrit-Literatur, war die klassische Zeit des Hinduismus (Paradigma III) eingeleitet worden. Nach der Zerstörung des Gupta-Reiches um 500 (durch die weißen Hunnen) aber waren kleinere feudale Herrscher an die Macht gekommen, die neue Kulte förderten. Jetzt wird die erotische Liebe zwischen Mann und Frau, wie sie ja auch im biblischen Hohenlied besungen wird, breit entfaltet und immer raffinierter künstlerisch ausgestaltet. Unübertroffen sind die elegant und einfühlsam gearbeiteten Plastiken von Khajuraho nahe dem zentralindischen Bhopal, früher ein riesiges religiöses Zentrum mit 88 hinduistischen und jainistischen Tempeln; heute sind noch 22 erhalten. Europäer reagieren oft befremdet, Inder bemühen sich um Erklärung: Ist das Pornographie oder einfach Illustration jenes alten Leitfadens indischer Erotik, des »Kama-Sutra«? Allüberall eine CD-ROM „Spurensuche“ geistige, mystische Bedeutung anzunehmen, wäre naiv. Nein, die historische Forschung hat den gesellschaftlichen Hintergrund inzwischen erhellt: Jene neu an die Macht gekommenen feudalen Herrscher (»Rajputs«: raja-putra – »Sohn des Königs«) hatten in Indien seit dem 5. Jahrhundert mit militärischen Mitteln ihre Reiche geschmiedet. Zur Legitimierung und Konsolidierung ihrer Herrschaft machten sie große Geschenke an die Brahmanen und förderten gewaltig den Tempelbau. In den folgenden Jahrhunderten wurden Sexualität und Krieg Hauptbeschäftigungen der indischen Aristokratie. Und bei beidem glaubte man mit Hilfe magischer und abergläubischer Praktiken sicheren Erfolg zu haben. Gleichzeitig wurde die Institution der Tempeldienerinnen oder Devadasi (wörtlich: Gottesdienerinnen), die ihren Ursprung ebenfalls in den Fruchtbarkeitskulten hatte, in Indien sehr populär. Im Tempel hatten sie für Tanz, Drama, Musik zu Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 11 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Religion und Erotik: Tantrismus (2) (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 69-72) sorgen. Mit der Zeit wurden immer mehr verweltlichte und erotische Stücke aufgeführt. Und je größer und prächtiger die Tempel wurden, um so mehr Raum hatten die Künstler zur Darstellung erotischer Themen. Sie wurden die große Leidenschaft mittelalterlicher indischer Kunst. Während Liebespaare (mithuna) schon vom 5. bis 9. Jahrhundert einen allgemein akzeptierten Tempelschmuck darstellten, so war die ostentative geschlechtliche Vereinigung (maithuna) ein relativ neues Motiv, das sich aber in der feudalen Periode zwischen 900 und 1400 (Kajuraho 950-1150) immer mehr durchsetzte (der Kandariya-Tempel mit drei Friesen erotischer Darstellungen stammt von 1050). Man fragt sich: Was hat diese Entwicklung vorangetrieben? Tantrismus im Zwielicht Großen Einfluß übten jene Sekten aus, die verbunden waren mit dem Shaktismus, der Verehrung weiblicher Gottheiten (shakti – »Energie«, »Urkraft«; Name für die Göttin) und besonders dem tantrischen Shaktismus (tantra – »Gewebe«, »System«) und seinen Riten. Eben in jener Zeit von 600 bis 900 breitete sich dieses esoterische Lehrund Ritualsystem in Indien aus. Spätestens im 9. Jahrhundert erreichte der Tantrismus auch Khajuraho; ein Zentrum der tantrischen Yogini KaulaCD-ROM „Spurensuche“ Sekte ist für diese Zeit bezeugt. So erstaunt es nicht, daß sich zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert immer zahlreichere Darstellungen von Tanzmädchen in sinnlich verführerischer Pose finden, immer häufiger auch sexuelle Paare und orgiastische Gruppen. Im Mittelpunkt des Tantrismus stehen die fünf Elemente, die mit M beginnen: Madaya (Wein), Matsya (Fisch), Mamsa (Fleisch), Mudra (geröstete Körner) und Maithuna (Geschlechtsverkehr). Der Tantrismus darf gewiß nicht verteufelt, allerdings auch nicht verklärt werden. Einerseits wurden im Tantrismus im Gegensatz zum orthodoxen Hinduismus unleugbar die Frauen aufgewertet und die Kastengrenzen aufgehoben – eine Aufwertung selbst der »Unberührbaren«. Andererseits läßt sich nicht verschweigen, daß Tantriker oft eine Philosophie des Sex predigten und praktizierten. Im ursprünglichen Tantrismus mag die Verbindung von Yoga und Sexualität nicht auf die bloße Befriedigung temporärer »Bedürfnisse« gezielt haben, sondern auf Zurückhalten der Lebensenergie, Sublimierung der Sexualität und Vereinigung mit dem Absoluten. Und die tantrischen Schriften sind gewiß voll von interessanten Spekulationen über Erschaffung und Zerstörung der Welt, Verehrung der Gottheiten und spirituellen Übungen, aber eben auch von Magie, Abnormitäten, Obszönitäten. Priester führten ein Leben der Wollust und gaben sich mit ihren Adepten allen möglichen sexuellen Praktiken hin. Auch in indischen Quellen wurde kritisiert, daß die heilige Atmosphäre vieler Tempel durch sexuelle Ausschweifung verdorben sei. Wenn die geschlechtliche Vereinigung mit wechselnden Partnern (und gar mit Tieren) als Weg zur Vereinigung mit dem Absoluten (advaita – »Nicht-Zweiheit«) praktiziert wurde, kann dies kaum als Symbol der Befreiung verstanden werden. Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 12 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Yoga Yoga ist eines der 6 klassischen philosophischen Systeme Indiens, denen es allesamt um die Frage der Erlösung des Menschen aus dem Kreislauf der Geburten geht. Yoga lehrt die Befreiung des Geistes durch einen methodischen Stufenweg zur Beherrschung von Körper, Atem und Geist. Sein Begründer, Patanjali (ca. 2. Jh. v. Chr.), definierte Yoga als »methodische Anstrengung zur Erlangung der Vollkommenheit durch die Beherrschung der verschiedenen Elemente der menschlichen Natur«. Die erste Stufe des Yoga-Weges (yana ) verlangt fünf, in Gedanken, Worten und Werken zu vollziehende ethische Übungen, die man als Elemente eines Grundethos bezeichnen kann: ◗ ◗ ◗ ◗ ◗ Gewaltlosigkeit, Nicht-Verletzen (a-himsa), Wahrhaftigkeit (satya), Nicht-Stehlen (a-steya), Keuschheit, reiner Lebenswandel (brahmacharya), Begierdelosigkeit, Nicht-Besitzen (a-parigraha). Das klassische Lehrsystem des Yoga gliedert sich in 8 Stufen: ◗ ◗ ◗ ◗ ◗ ◗ ◗ ◗ yama (Zucht) niyama (Reinheit) asana (Sitzhaltungen) pranayama (Atemkontrolle) pratyahara (Ausschalten der Wahrnehmung) dharana (Konzentration) dhyana (Meditation) samadhi (Kontemplation) CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 13 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die klassischen Erzählungen: Puranas und Epen (1) Von großer Bedeutung für die religiöse Tradition der Hindus sind seit alters Geschichten: Mythische Erzählungen über die zahllosen Götter, ihr Entstehen und ihr Wirken in der Welt. Bis heute werden sie erzählt, als Tänze aufgeführt oder als Theaterstücke inszeniert. Bis heute werden mit ihnen Brauchtum, Werte und Normen tradiert ◗ Puranas Mahabharata Mit ihren umfangreichen Legenden über die Vishnu, Shiva und Brahma, über deren Wirken und ihre Verehrung, sind die Puranas zu einer Art Enzyklopädie der vielfältigen Hindu-Traditionen geworden. Das Mahabharata schildert die Geschichte vom Kampf zweier indischer Fürstenhäuser – der Pandavas gegen die Kauravas – um das aufgeteilte Königtum. Der populärste Teil ist die Bhagavadgita, der »Gesang des Erhabenen«: die moralische Unterweisung Arjunas durch Krishna, der 8. Inkarnation Vishnus. Je 6 große Legendensammlungen (5.600-81.000 Doppelverse) über die drei Hauptgötter Vishnu, Shiva und Brahma. ◗ Sie erklären das Wesen dieser Götter, sind von Gottesliebe erfüllt und bilden die Hauptschriften ihrer Anhänger. ◗ Sie handeln von Schöpfung, Zerstörung und Erneuerung der Welt, von den Geschlechterfolgen der Götter, vom Wirken himmlischer Herrscher (Manus) in der Welt und von deren Nachkommen. ◗ Entstehung wohl zwischen dem 6. und 16. Jahrhundert. ◗ Ältestes Epos der Sanskrit-Literatur (24.000 Doppelverse), entstanden ab dem 4. Jhd. v. Chr. ◗ Erzählt den »Lebenslauf Ramas«, der 7. Inkaranation Vishnus, der die Welt von den Taten des Dämonenkönigs Ravana befreit. ◗ Rama gilt als vollkommener Mensch, der ganz in Übereinstimmung mit dem Dharma lebt. ◗ ◗ ◗ ◗ ◗ Ramayana Das Ramayana erzählt die Geschichte vom Königssohn Ramatschanda, einer Inkarnation Vischnus, aus Ayodhya: Erst Durch eine Intrige um Thron und Ehefrau Sita gebracht, befreit er am Ende schließlich doch die Welt vom Dämonenkönig Ravana. CD-ROM „Spurensuche“ Die Große (maha) Erzählung der Bharata-Fürsten (bharata = heutiger Name Indiens!) Umfangreichstes Epos der indischen Literatur: 106.000 Verse, eingeteilt in 18 Bücher. Verfaßt zwischen dem 5. Jhd. v. Chr. und dem 2. Jhd. n. Chr. Erzählt den Kampf der beiden Fürstenhäuser – der Pandavas und deren Vettern, der Kauravas – um die Vorherrschaft über das westliche Yamuna-Ganga-Tal. Philosophischer Höhepunkt ist das 6. Buch, die Bhagavadgita, der »Gesang des Erhabenen«: die moralische Unterweisung des Fürsten Arjuna durch seinen Wagenlenker Krishna. Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 14 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die klassischen Erzählungen: Puranas und Epen (2) Bhagavadgita Wie kaum ein anderes Werk hat die Bhagavadgita, der »Gesang des Erhabenen«, auf das religiöse Leben Indiens gewirkt und auch außerhalb Indiens Popularität und Verbreitung gefunden. Wegen der Klarheit und Dichte ihrer Aussagen gilt sie vielen als das »Evangelium des Hinduismus«. ◗ ◗ ◗ ◗ ◗ Buch 6 des Mahabharata: 18 Kapitel, 700 Verse. Dialog am Vorabend der entscheidenden Schlacht zwischen dem zweifelnden Arjuna und seinem Wagenlenker Krishna (8. Inkarnation Vishnus). Läßt verschiedene philosophische Auffasungen (oft unvermittelt) nebeneinander stehen. Vertritt ein ausgesprochen weltliches Ethos, um sich aus dem Geburtenkreislauf zu befreien. Drei klassische Wege zum Heil: Weg der Erkenntnis (jnana-marga): zur Überwindung der Unwissenheit (durch Meditation, Yoga, Philosophie), Weg der Werke (karma-marga): nicht nur rituell-brahmanisches, sondern auch soziales und religiöses Handeln, Weg der Gottesliebe (bhakti-marga), der allen Menschen offen steht: »Mein gedenkend, mich verehrend, mir opfernd, beuge dich vor mir! Zu mir dann kommst du!« (18,65) CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 15 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Lebensstadien und Lebensziele Für viele Hindus besteht bis heute das Wesen des Hinduismus in »varnashramadharma«: dem Glaube an vier von Gott gegebene Menschenklassen (varna) und vier Lebensstadien (ashrama), denen wiederum ganz bestimmte Lebensziele und pflichten (dharma) entsprechen. Vier Lebensstadien (ashrama) Studium der Heilgen Schriften (brahmacharya) bei einem authorisierten Lehrer (guru). ◗ Als Familienvater (grihasta) Kinder zeugen, einen Beruf ausüben und Wohlstand anstreben. ◗ Mit der Geburt des ersten Enkels sich als Einsiedler (vanaprastha) unter Begleitung der Ehefrau zum erneuten religiösen Studium zurückziehen. ◗ Auf alle weltlichen Bedürfnisse verzichten und als Entsager (samnyasin) ein mönchisches Leben führen. ◗ CD-ROM „Spurensuche“ Vier Lebensziele (dharma) Das Streben nach Angenehmen und Sinnengnuß (kama). ◗ Das Streben nach Nützlichem und der Erwerb von Wohlstand (artha). ◗ Das Bemühen um Rechtschaffenheit und Tugend (dharma). ◗ Das Streben nach Befreiung und Erlösung (moksha) aus dem Kreislauf von Geburt, Tod und Wiederverkörperung. ◗ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 16 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Die heilige Silbe OM Mantras sind Heilige Worte und Silben in denen – richtig rezitiert – die Wirkmacht der angebeteten Gottheit präsent wird. Eines der bedeutendsten Mantras ist die Gayatri zur allmorgentlichen Verehrung des Sonnengottes: sie gilt als Quintessenz der vedischen Offenbarung. Die Heilige Silbe »OM« – genauer AUM – »ist für gläubige Hindus das umfassendste Symbol hinduistischer spiritueller Erkenntnis und Kraft. »OM« ist zusammengesetzt aus einem »A« (links), einem »U« (rechts) und einem »M« (oben): Nach indischem Verständnis symbolisieren ihre vier geometrischen Formen das Körperliche (1), das Geistige (2), das Unbewußte (3) und das Höchste Bewußtsein (4) CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus 4 3 2 1 Blatt 17 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Ramakrishna (1836-1886) (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 91f) Im 19. Jahrhundert entsteht eine ethisch orientierte religiöse Erneuerungsbewegung, ohne die es kaum je zu einer nationalen indischen Kultur und zur nationalen Unabhängigkeit gekommen wäre. Es waren zunächst die vielfältigen Bewegungen für soziale Reformen, besonders in Bengalen, die – angefangen von Raja Rammohun Roy – eine Antwort auf die unter britischer Herrschaft hereingebrochene Moderne zu geben versuchten. Aber ohne die gleichzeitige spirituelle Erneuerung hätten ihr Tiefgang und Durchhaltekraft gefehlt. Die Hindu-Renaissance führte zum modernen Reform-Hinduismus. Und da gab es nun einen ungehobelten, kaum gebildeten, kindlichen Bauernjungen aus einer armen dörflichen Brahmanenfamilie, der schließlich nach Widerstreben Priester in einem ganz neuen Tempel Kalkuttas wurde. Er begann mit der Zeit auch der englisch-modern erzogenen Intelligenzia zu zeigen: Der Hinduismus ist nicht am Absterben, ist keineswegs erledigt. Vielmehr kann er wieder neu eine unerschöpfliche Quelle spiritueller Erneuerung werden! Ramakrishna (1836-1886), so jetzt sein Name, hatte von Jugend an tranceartige Erlebnisse und Visionen, Ausdruck einer übergroßen Gottessehnsucht und Gottesliebe. In der von einer reichen, aber aus der untersten Kaste stammenden Witwe 1855 gestifteten großen Tempelanlage von Dakshineshvara, die der Muttergottheit Kali gewidmet ist, erlebte Ramakrishna die vom Bild her häßliche, furchterregende schwarze Kali visionär als junge, schöne, gnadenvolle »Mutter« (ma). Ein Erlebnis nicht ganz un- CD-ROM „Spurensuche“ ähnlich dem, wenn Christen die Mutter Jesu als »Himmelskönigin« oder »Mutter des Universums« bezeichnen. Später wird er Kali sogar mit dem Brahman, dem Absoluten identifizieren. Den Tantrismus freilich verabscheute er, und die Ehe mit seiner ihm schon im Alter von vier Jahren angetrauten Frau, die er später mit der Muttergottheit mystisch identifizierte, vollzog Ramakrishna nicht. Kein Zweifel: Ramakrishna war durchaus ein traditioneller Hindu und hat doch die »Neo-Hinduisten«, die allenthalben eine Modernisierung anstrebten, wesentlich inspiriert. Er war kein Sozialreformer und hat doch viele Sozialreformer beeindruckt. Darunter war der Begründer der neohinduistischen Vereinigung Brahmo Samaj, Keshab Chandra Sen, der mit rationalen Argumenten gegen Idolatrie, abergläubische Praktiken und soziale Übel wie Witwenverbrennung und Zwangsmitgift ankämpfte. Für Ramakrishna und seine immer zahlreicheren Schüler aber waren Meditation, Lobpreis des Gottesnamens und emotionale Liebe zu einem persönlichen Gott (ob als Kali oder wie immer verehrt) entscheidend: der Bhakti-Marga also, der »Weg der Hingabe«. So gelangte Ramakrishna zur Überzeugung, daß alle Religionen wahr seien, auch wenn sie von Irrtümern nicht frei sind. Ob es nun die primitive Bilderverehrung ist, die ja schließlich nicht dem Bild, sondern der Gottheit gilt, oder aber die Betrachtung des bildlosen Brahman, die gewiß eine höhere Form von Religion darstellt: Sie sind doch allesamt unterschiedliche Wege zu der einen, allumfassenden Gottheit. Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 18 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Swami Vivekananda (1863-1902) (aus: H. Küng, Spurensuche, S. 92f) Ramakrishnas prominentester Schüler war Swami Vivekananda, geboren 1863 in Kalkutta, das von der Göttin Kali seinen Namen hat. Hier, wo er 1902 auch starb, gründete er ein Zentrum für spirituelle Übungen und die Kultur des Wissens: Belur Math mit Namen, gelegen am Ganges. Es ist das Hauptquartier der internationalen Ramakrishna-Bewegung Vivekanandas, wo heute noch Vivekanandas Arbeitszimmer hoch in Ehren gehalten wird. Er war es, der das Erbe Ramakrishnas in die sich jetzt entwickelnde nationale Bewegung einbrachte. In einer christlichen Schule erzogen, hatte er wie viele dieser modern gebildeten jungen Männer den Glauben an den traditionellen Hinduismus verloren und war zu einem rationalistischen Skeptiker geworden. Aber der Jurastudent wurde zunehmend von Ramakrishna angezogen und schließlich von ihm zum geistigen Erben bestimmt. Im Jahr nach dessen Tod legte Vivekananda mit acht bis zehn Gefährten ebenfalls das Mönchsgelübde ab und studierte intensiv die religiöse Sanskrit-Literatur. Dann wanderte er fast drei Jahre mühselig als Bettelmönch durch ganz Indien, von Osten nach Westen und vom Fuß des Himalaja bis zur Südspitze Indiens. Doch weder die blinde Starrheit der orthodoxen Hindus noch der einseitige Rationalismus der Sozialreformer des »Brahmo Samaj« konnten ihn befriedigen. Mehr zufällig hörte er von einem Parlament der Weltreligionen, das in Chicago im Rahmen der Weltausstellung im September 1893 tagen sollte. Kurz entschlossen reiste er nach Chicago, ein obskurer unbekannter Hindu-Mönch, der einige Schwierigkeiten hatte, als Delegierter zugelassen zu werden. Aber schon am ersten Kongreßtag stellte er mit einer inspirierenden Rede ohne Manuskript, in perfektem Englisch, alle anderen CD-ROM „Spurensuche“ Redner in den Schatten. Und er blieb die geistesmächtigste Figur in diesem Parlament, wo sich zum erstenmal in aller Form Christentum und östliche Religionen getroffen haben. Er war seiner Zeit weit voraus, wenn er statt der bisherigen Konflikte und Konfrontationen eine Harmonie der Religionen von Ost und West forderte. Voraussetzung für das Ethos ist Vivekananda zufolge die auf viele Weisen mögliche Ausrichtung auf das Göttliche: »Jede Seele ist potentiell göttlich. Das Ziel ist, diese Gottheit im Inneren zu manifestieren, indem man die Natur, äußerlich und innerlich, kontrolliert. Tue dies durch Werke oder durch Gottesdienst oder durch psychische Kontrolle oder durch Philosophie – durch eines oder durch alle von ihnen –, und sei frei. Dies ist die ganze Religion; Lehren oder Dogmen oder Rituale oder Bücher oder Tempel oder Formen sind alles nur zweitrangige Details.« Damit hat sich Vivekananda als guter Hindu nicht nur gegen die Überbewertung von Doktrin, Dogma und Ritus gewandt, sondern zugleich für die Ergänzungsfähigkeit (Kompatibilität und Komplementarität) der drei oder vier praktischen Hindu-Wege zum Heil plädiert: Ob es der Weg der Meditation (yoga) oder der der Erkenntnis (jnana), ob jener der Werke (karma) oder der der Gottesliebe (bhakti), sie führen alle zum einen Ziel, zum einen Gott. Diese Auffassung bestimmt nun auch Vivekanandas Einstellung zu den anderen Religionen: »Ich bin stolz darauf, zu einer Religion zu gehören«, erklärte Vivekananda vor den Delegierten, »welche die Welt Toleranz und allumfassende Annahme gelehrt hat. Wir glauben nicht nur an die universale Toleranz, sondern wir nehmen an, daß alle Religionen wahr sind.« Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 19 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog Mahatma Gandhi (1869-1948) Mohandas Karamchand Gandhi, geboren am 2. Oktober 1869 in Porbandar im westlichen Indien, ist eine der bedeutendesten Persönlichkeiten des modernen Indiens. Aus wohlhabendem Hause stammend, besuchte Gandhi zunächst seiner gesellschaftlichen Stellung entsprechende Schulen und absolvierte dann, mäßig begabt, in London am Inner Temple ein Jurastudium. Berufliche Mißerfolge und private Enttäuschungen verhinderten, daß der junge Gandhi in London Fuß faßte. Er stellte sich in den Dienst einer Firma, die ihn als Rechtsbeistand zu einer Filiale nach Südafrika entsandte. Aus der Erfahrung, in Südafrika selber zur diskriminierten Minderheit zu zählen, entwickelte Gandhi den festen Willen, allen Ungerechtigkeiten zu widerstehen, und wurde so bald zum Führer der indischen Einwanderer. In dieser Zeit begegnete Gandhi auch jenen westlichen Autoren, die ihn in seinen gewalfreien Aktionen bestärkten und seinen politischen Ideen eine Basis lieferten: Lew Tolstoi mit seiner Lehre der gewaltfreien Aktionen, John Ruskin, dessen Schriften in Gandhi das Bewußtsein für den Zusammenhang des Wohles des Einzelenen mit dem der Allgemeinheit weckten, und Henry David Thoreau, von dem Gandhi die Theorie des »zivilen Ungehorsams« übernahm. Für seinen Einsatz in Südafrika wurde Gandhi 1907 im indischen Nationalkongreß öffentlich gewürdigt, 1913 erhielt er von Rabindranath Tagore den Ehrentitel »Mahatma« – die »große Seele« Indiens. Zu Beginn des 1. Weltkriegs kehrte Gandhi nach Indien zurück. Die Nationalbewegung war gespalten – in Radikale und Gemäßigte gegenüber der britischen Politik. Gandhi forderte die Selbstregierung (homerule) Indiens und propagierte Svadeshi, den Gebrauch indischer und damit den CD-ROM „Spurensuche“ Boykott englischer Waren. In Reaktion auf britische Notstandsgesetze im Jahre 1919 rief Gandhi einen landesweiten Generalstreik aus, den die Briten am 13.4.1919 mit dem Massaker von Amritsar beantworteten. Wegen zunehmender Gewalt und Polarisierung der Reformbewegung zog sich Gandhi auf die Dörfer zurück und setzte dort seine Kampagnen gegen die Unberührbarkeit und für die Verbreitung des Baumwolltuches fort. Höhepunkt seiner Agitation war 1930 der »Salzmarsch«, der öffentliche Protest gegen das britische Salzmonopol. Gandhi setzte sich vehement – vor allem mit mehrmaligem längeren Fasten – für die Beibehaltung der Einheit Indiens unter Respektierung aller Minoritäten ein (»vivisect me before you vivisect India!«) – ohne Erfolg. Vom Fasten geschwächt und politisch an den Rand gedrängt konnte Gandhi der Teilung Indiens und der Schaffung eines eigenen Muslim-Staates Pakistan nichts mehr entgegensetzen. Sein Einsatz für eine gerechte Teilung der Staatskasse wurde von radikalen Hindus schließlich als Hochverrat gewertet: auf dem Weg zum Gebet wurde er am 30.1.1948 von einem Brahmanen erschossen. Gandhis letzte Worte: »he ram«, »o Gott!«. Gandhi glaubte zeitlebens an die Reformierbarkeit des Hinduismus. Das Kastenwesen sei an sich keine schlechte Sache, nur die Ausgrenzung der Unberührbaren sei ein verwerflicher Mißbrauch. Gandhis Kriterien für Authentizität und Wahrhaftigkeit von Religion waren ethische Prinzipien wie Aufrichtigkeit, Gewaltlosigkeit, Selbstbeherrschung, Besitzlosigkeit, Askese … Allen Religionen zollte er Respekt und Toleranz, solange sie diesen ethischen Prinzipien entsprachen. Materialienblatt zum Hinduismus Stephan Schlensog Blatt 20 von 20 ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ ▲ © 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog