SWR2 Essay

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Essay
Höhere Ordnung - Rituale in der Musik
Von Torsten Möller
Sendung: Montag, 5. Januar 2015
Redaktion: Lydia Jeschke
Regie: Lydia Jeschke
Produktion: SWR 2014
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Service:
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Musik 1:
Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzert Nr. 24 in c-moll, KV 491
Maurizio Pollini (Solist), Wiener Philharmoniker (Leitung: Maurizio Pollini)
Deutsche Grammophon, Labelcode: LC 00173, Best. Nr. 1450507,
bis 45´´
Sprecher 1:
Ich gehe ins Konzert. Auf dem Programm: Ein Klavierkonzert Wolfgang Amadeus
Mozarts, ein kleines orchestrales Divertimento Joseph Haydns, zum Abschluss die
Dritte Symphonie Gustav Mahlers. Erste Überraschung: Die Garderobe ist zu. Meine
Jacke unterm Arm betrete ich den Saal und nehme Platz. Versprengt trudeln die
künftigen Hörer herein.
Atmo 1:
Instrumente stimmen des Orchesters
Sprecher 1:
Der Platz neben mir: noch leer. Mein Sitznachbar naht. Er hat eine Fahne, setzt sich,
während der Dirigent die Bühne betritt in Jogginghose und T-Shirt. Ich könnte
fortfahren, könnte berichten von der bierselig schnarchenden Schlafeinlage des
Sitznachbarn, von seinem aufgeschreckten Applaus zwischen den Sätzen oder von
störendem Popcorn-Konsum in den vorderen Reihen. Aber die Stoßrichtung ist
schon klar. Gleich einiges stimmt nicht bei diesem Konzertbesuch – oder, mit
anderen Worten: Das gewohnte Ritual ist empfindlichst gestört. Der Genuss Joseph
Haydns fällt schwer.
Musik 2:
Joseph Haydn: Divertimento für Violinen, Cello und Klavier in C Dur Hob. XIV:4
United European Chamber Orchestra
ARTS Music. LC 2513. Best. Nr. 47710-2.
0‘28
Sprecher 1:
Der Konzertrahmen ist verinnerlicht, bestärkt durch Wiederholung, durch die Strenge
des Geregelten wie Regulierten, durch eine Tradition, die fest verankert ist im – wie
es Carl Gustav Jung einmal ausdrückte – „kollektiven Unbewussten“. Was ein Ritual
genau ist, ist gar nicht so leicht zu sagen in Zeiten, in denen schamanische Rituale
bekannt sind, in denen das Kind das Zu-Bett-Geh Ritual kennt, in denen Soziologen
selbst die oberflächlichste TV-Talkshow als „rituelle Inszenierung von AlltagsGeselligkeit“ bezeichnen. Die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger meint, dass die
Geschichte der Ritualforschung immer zugleich eine Geschichte unterschiedlicher
Ritualdefinitionen ist. Eine „richtige“ Definition gebe es nicht. Bloß eine Annäherung,
einen Vorschlag:
Sprecherin 1:
Zitat Stollberg-Rillinger:
„Als Ritual im engeren Sinne wird (...) eine menschliche Handlungsabfolge
bezeichnet, die durch Standardisierung der äußeren Form, Wiederholung,
Aufführungscharakter, Performativität und Symbolizität gekennzeichnet ist und eine
elementare sozial strukturbildende Wirkung besitzt.“
(Barbara Stollberg-Rillinger: Rituale, Campus Verlag Frankfurt a.M. 2013 ,
(=Historische Einführungen Band 16), ISBN 978-3-593-39956-0, S. 9)
1
Sprecher 1:
Lange war das Ritual verpönt. In der Geschichtswissenschaft galt es noch bis in die
1970er Jahre als Ausdruck des Irrationalen, des bloß Primitiven oder Archaischen –
beides Sphären, mit denen der zivilisiert-moderne, auf Recht, Staat und Politik
basierende Nationalstaat europäischen Zuschnitts nichts zu tun habe. Vor dem
einschneidenden „cultural turn“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften war die
Schriftlichkeit, das Dokument, das Ereignis mit Jahreszahl das Entscheidende.
„Weiche Faktoren“ waren für Historiker Nebensachen. Betrachtet man aber ein
bloßes Dokument nur unter schriftlicher Perspektive, gerät Wesentliches aus den
Augen. Die Krone – so Stollberg-Rillinger – galt zwar als...
Sprecherin 1:
„materielles Substrat des zunehmend transpersonalen Staatsverständnisses der
europäischen Monarchien“
Sprecher 1:
Was aber...:
Sprecherin 1:
„...darüber hinausging, wurde gewöhnlich als zeremonielles Dekor angesehen, das
von der Eitelkeit, Naivität und mangelnden Abstraktionsfähigkeit des ‚mittelalterlichen’
oder ‚barocken’ Menschen zeugte.“
(Barbara Stollberg-Rillinger: Rituale, Frankfurt a.M. 2013 (Campus Verlag),
(=Historische Einführungen Band 16), ISBN 978-3-593-39956-0, S. 32)
Sprecher 1:
Zurück zur Musik: Konzentration auf die Schrift war lange auch Sache der
Musikwissenschaft. Das Augenmerk galt ausschließlich harmonischen Implikationen
des Tristanakkords oder der Klärung kleinster Elementarteilchen in motivisch
thematischen Zusammenhängen. Aber Beethovens Form-, Mahlers
Instrumentationskunst, ja selbst Schönbergs psychologische Formen treffen nur eine
Seite von Musik. Musik ist vor allem auch ein soziales Ereignis – das beweist das
Konzertritual, aus dem Bestandteile des Rituals ohne Weiteres abzulesen sind:
Sprecher 2:
Erstens: Ein Ritual ist unmöglich ohne Gemeinschaft.
Zweitens: Das Ritual kennt Regeln, gehorcht einem streng definierten Ablauf.
Und die Dritte zeigt: Musik hat eine ernst-düstere Ritualseite quasi in sich.
Musik 3:
Gustav Mahler: 3. Symphonie in d-moll.
Utah Symphony Orchestra, Leitung Maurice Abravanel. Vanguard Classics 1991.
Best. Nr. 08 4006 72. EAN 3351474006720. Labelcode 00381. Ab 7´10´´ bis 8´ (evtl.
drunter lassen und ff.)
Sprecher 1:
Der Ausdruck „Konzertritual“ ist kaum zufällig. Zu weiteren Bedeutungshöfen des
Rituals gehören Begriffe wie Transzendenz, Spiritualität, nicht zu vergessen die
2
Religion, die im Wort schon steckt: das lateinische „ritus“ bezeichnet den einzelnen
formalisierten sakralen Akt, während „rituale“ steht für das kodifizierte Regelwerk der
Riten. Kodifiziert, genormt ist auch das Konzertritual, das aber eine relative neue
Erscheinung ist. Noch im 18. Jahrhundert, zu Joseph Haydns Zeiten, fanden
Konzerte in Gasthäusern, Kneipen statt. Hat ein Satz oder auch nur eine Passage
gefallen, dann gab´s bierselige Heiterkeit, manchmal auch spontanen Applaus, der
erst endete, wenn es eine Wiederholung der schönen Stelle gab. Anfang des 19.
Jahrhunderts deutet sich etwas an, das heute unter dem Namen Kunstreligion
firmiert. Sein Adagio aus der Missa Solemnis solle „Mit Andacht“ gespielt werden, so
wünschte es sich ihr Schöpfer Ludwig van Beethoven. In der Zeit, als Richard
Wagner seine Opern als „Bühnenweihfestspiele“ bezeichnete, hatte er sich längst
durchgesetzt, der religiöse Habitus im Konzertsaal. Seine Markenzeichen: Stille,
kontemplative Verinnerlichung, und gerade in Bayreuth, wo es nur der Kunst gilt: die
unbequeme Sitzposition, vor allem auch: Geduld. Aus Elias Canettis Masse und
Macht:
Sprecher 2:
Zitat Elias Canetti:
Die Menschen sitzen regungslos da, als brächten sie es fertig, nichts zu hören. Es ist
klar, dass eine lange künstliche Erziehung zur Stockung hier notwendig war, an
deren Ergebnisse wir uns bereits gewöhnt haben.
(Elias Canetti: Masse und Macht, Fischer Taschenbuchverlag Frankfurt a. M. 1995,
S. 40)
Sprecher 1:
Elias Canetti bringt Leiden und Entzug als Voraussetzung des Rituals ins Spiel.
Tatsächlich gilt das auch für den Konzert- oder Opernsaal, wenn auch nicht in so
drastischer Form wie beim berühmten Stehen auf Arafat, das Canetti so beschreibt:
Sprecher 2:
Zitat Elias Canetti:
In leidenschaftlicher Spannung horchen sie auf die Worte des Predigers, der vom
Hügel herab zu ihnen spricht. Seine Predigt ist eine ununterbrochene Lobpreisung
Gottes. Sie entgegen mit einer Formel, die sich tausendmal wiederholt: „Wir harren
Deiner Befehle, Herr, wir harren Deiner Befehle!“ (...) Manche werden in der Hitze
ohnmächtig. Aber es ist wesentlich, dass sie in diesen glühend langen Stunden auf
der heiligen Ebene ausharren. Erst bei Sonnenuntergang wird das Zeichen zum
Aufbruch gegeben.
(Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1995, S. 40)
Sprecher 1:
Ohnmacht, das heißt Pathologisches, wird zum Thema. Engführungen von Kunst und
Religion sind bekannt, nicht aber ihre Konsequenzen. Richard Wagners
Bühnenweihfestspiele kamen zur Sprache. Sie machten Eindruck auch auf den
jungen Friedrich Nietzsche, dessen rauschhaft-dionysische Philosophie ohne die
Musik Wagners wohl so nicht entstanden wäre. Vom Schwimmen in der Musik
sprach Nietzsche. Und es ist kein Zufall, dass der Ethnologe Hans Peter Dürr
Nietzsche zitiert just im Kapitel über die bewusstseinsverändernde Wirkung von
Hexensalben. Nietzsches „Hexensalbe“ war Wagner:
3
Sprecher 2:
Zitat Nietzsche:
Jetzt bin ich leicht,
jetzt fliege ich,
jetzt sehe ich mich unter mir,
jetzt tanzt ein Gott durch mich.
(Zit. nach Hans Peter Duerr: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und
Zivilisation, Frankfurt a. M. 1985 (=Edition Suhrkamp 1345), S. 17)
Sprecher 1:
Friedrich Nietzsche sprach und polarisierte wie Hans Peter Duerr. Duerr schrieb,
dass wir ins Haus gelieferte Erkenntnisse verkonsumieren und vergessen haben,
dass die Wahrheit ihren Preis hat. Er zitierte einen Eskimo Schamanen, der zum
Knud Rasmussen sagte, „Ihr wisst nicht, dass nur der erkennt, der in die Einsamkeit
geht und Leiden erträgt.“ Es ist heikel, die abendländische Kultur mit Schamanen
indigener Kulturen zu vergleichen. Unser Konzertritual ist – Stichwort Körperlichkeit –
nicht vergleichbar mit der Ritenpraxis sibirischer Tenheri-Schamanen. Wie gesehen
gibt es aber doch ähnliche Hintergründe und geistige Verwandtschaften. Auch
grundsätzliche Ritual-Mechanismen zeigen sich in Ost wie West. Das betrifft zum
Beispiel das Verhältnis von strenger Fixiertheit einerseits und nötigem Wandel
andererseits. Die öffentliche, auf allen Kanälen gesendete Inaugurationsrede Barack
Obamas musste wiederholt werden, nur weil das Adjektiv „faithfully“ an der zwar
grammatikalisch richtigen, aber der Überlieferung nach falschen Stelle stand. Doch
bezeichnend ist auch die Veränderung von Ritualen, damit Menschen dem Fortschritt
Tribut zollen, damit das rituelle Geschehen in je eigener Gegenwart glaubwürdig
bleibt. Schon in den indigenen Ritualen der Schamanen war Flexibilität gewährleistet:
durch die mündliche Überlieferung oder, wie es neudeutsch heißt, durch „Face to
Face“-Kommunikation. Für das moderne Konzertritual gilt ähnliches. Es wird zwar
nicht wieder getrunken und gegessen wie noch im 18. Jahrhundert. Aber: Man darf
heute schon mal in Jeans kommen. Viele Dirigenten, siehe die Selbstinszenierung
eines Herbert von Karajan, waren einst so etwas wie bodenständige Statthalter Welt
enthobener Komponisten. Heute sehen sie sich schon mal als ganz weltliche
Vermittler. Das ist gut und bringt allzumenschlich Bodenständiges ins sterile Treiben.
Trotz solcher Modifikationen steht das klassische Konzert mitsamt seinen Ritualen
unter keinem guten Stern.
Sprecherin 1:
Zitat Cristiane Tewinkel:
Es ist immer das Gleiche. Der Dirigent tritt auf, Händeschütteln, hinterher werden fünf
gleiche Blumensträuße verteilt – das ist alles so erwartbar und so hohl. Ich frage
mich dann: „Was ist hier überhaupt noch in irgendeiner Form lebendig?“
(Christiane Tewinkel: Eine kurze Geschichte der Musik. DuMont Verlag, Köln 2007,
ISBN 9783832179342)
Sprecher 1:
Christiane Tewinkel ist in ihrem Buch Eine kurze Geschichte der Musik nicht die
einzige Kritikerin des Konzertrituals. Die Argumente der Kritiker ließen sich allerdings
auch gegen gewisse Erscheinungen des öffentlichen Lebens wenden. Das
Abschalten des I-Phones fällt schwer. Stille, Konzentration und Verinnerlichung gerät
4
in Konflikt mit Signa unserer Zeit, mit omnipräsenter Verfügbarkeit, mit regem
Informationsfluss, mit dem Bedürfnis nach Zerstreuung. Warum also nicht
Konzertrituale positiv belegen? Denn wo kann und darf man heute noch abschalten,
wo hat man noch seine Ruhe? Und: Wo bringt man noch die Geduld auf, sich auf nur
eine Sache, auf das konzentriert Erdachte eines anderen zu konzentrieren? Das
klassische Konzert ist einer der wenigen Orte, wo Menschen zusammenkommen,
zusammen eine stille Gemeinschaft bilden. Es war von der Ambivalenz des Rituals
die Rede, die sich spiegelt in der Polarisierung. Auch Arnold Schönberg empfand das
Konzertritual, das heißt, die strengen Konventionen der Bildungsbürger, als Problem.
Er gründete den Verein für musikalische Privataufführungen, der vorsichtige
Variationen des bekannten Rituals bot. Applaus war bei Schönberg und dem Wiener
Kreisen verpönt, weniger aber die Stille als Voraussetzung für ungestörten
Musikgenuss. Im Fluxus der 1960er Jahre ging es rabiater zu: das Überschreiten der
Bühne war Programm. Zum Dialog mit dem Publikum kamen ausdrucksstarke
Attacken auf bildungsbürgerliche Musiksymbole. Nam June Paiks
Geigenzerstörungen sprechen eine deutliche Sprache, ebenso das Hämmern auf
einem ausrangierten Klavier, dem bildungsbürgerlichen Symbol per se. Doch: So
vehement die Institution Konzert im Fluxus auch attackiert wurde und so energisch
das Band zwischen Kunst und Leben wieder geknüpft sein sollte; eines behielten
auch die fluxuesken „Happenings“ oder „Performances“ bei: den rituellen Charakter
einer Aufführung! Man könnte es den umfassenden Bedeutungshöfen des
Ritualbegriffs zuschreiben. Doch letztlich bleibt es bei dem fast universellen
Grundsatz, dass jedes inszenierte Ereignis mit menschlicher Beteiligung und mit
markiertem Anfang und Ende rituell aufgeladen ist: siehe –jenseits der Stille – das
Popkonzert oder das Fußballspiel. Fehlt aber der temporäre Ereignischarakter
mitsamt Performer – so etwa bei der stetig laufenden Klanginstallation oder in Form
der neuerdings so genannten Konzertinstallation –, wird das Ritual unterwandert. Die
Konsequenz beschrieb der Musikpublizist Heinz-Klaus Metzger:
Sprecher 2:
„Der Wegfall des Ritus bei dieser grundsätzlich akusmatischen Musik, wo es nichts
zu sehen gibt, zeitigt Probleme. Ein Beispiel: wenn wir jetzt einer Aufführung
elektronischer Musik harrten, sagen wir mit vier Lautsprechern oder
Lautsprechergruppen in den vier Ecken des Saales, wüsste man nicht genau, wann
das Stück anfängt und wann es endet, denn eine solche Komposition mag ja sehr
wohl mit einer Pause anheben oder verklingen (...). Es ist schwer, ohne einen
agierenden Ausführenden den Anfang und das Ende zu markieren. Hier merkt man
plötzlich: Es fehlt das Ritual.“
(Heinz-Klaus Metzger: Rituelle Aspekte des bürgerlichen Musiklebens, in: Musik und
Ritual, hrsg. von B. Barthelmes und H. de la Motte-Haber, Darmstadt 1999
(=Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, Band 39), S.
23)
Musik 4:
Maria de Alvear: Tannenbaum. Aus: Maria de Alvear: Baum.
Maria de Alvear (Stimme), Drums Off Chaos (Jaki Liebezeit, Manos Tsangaris,
Reiner Linke, Gero Sprafke). Maria de Alvear World Edition Bestellnr. 0006, LC
10625 1‘56‘‘
5
Sprecher 1:
Ein erstes Fazit: Moderne und Ritual stehen in prekärem Verhältnis. Die Rationalität,
die nach Max Weber so benannte „Entzauberung der Welt“, verdrängte lange
archaische, kaum auf den Begriff zu bringende Riten. In Zeiten, in denen das
Interesse an Meditation, Mystik, Zen und Chi Gong wächst, in denen Spiritualität
wieder fröhliche Urständ feiert, ist der Ritus wieder im Kommen, mitsamt seiner
Ambivalenz. Man könnte es auch so sehen: Je stärker die Zurückdrängung des
Körperlichen, der Irrationalität, des Unerklärlichen – desto stärker tritt das alles
wieder zu Tage, wenn auch unter neuen Vorzeichen, meint die Anthropologin Mary
Douglas in ihrem Buch Ritual, Tabu und Körpersymbolik:
Sprecherin 1:
Zitat Mary Douglas:
Revolutionäre, die für die Redefreiheit auf die Barrikaden gegangen sind, greifen zu
repressiven Sanktionen, um eine babylonische Sprachverwirrung zu verhindern.
Jedes Mal jedoch, wenn die Welle der Revolte und des Antiritualismus abebbt und
das Bedürfnis nach rituellem Ausdruck sich wieder durchsetzt, hat das erneuerte
Symbolsystem etwas vom kosmisch-umfassenden Charakter des ursprünglichen
verloren. Dass wir am Ende der Bewegung, nach der Säuberung der alten Rituale,
einfacher und ärmer dastehen, gleichsam als rituelle Bettler, entspricht der Absicht.
Aber auch andere Dinge gehen bei diesem Reinigungsprozess verloren, nicht zuletzt
das Gefühl für die historische Artikulation, die Breite und Tiefe der Vergangenheit.
(In: Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien
in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt 1981 (=Suhrkamp
Taschenbuch 353), ISBN 3-518-07953-0, S. 36/37)
Sprecher 1:
Soziologen, Anthropologen wie Ethnologen beschäftigten sich viel mit Ritual und
Mythos. Claude Levi Strauss überschreibt seine Kapitel in seinem Klassiker Das
Rohe und Gekochte mit klassischen Musikgattungen und Formen. Er betont, wie
sehr der Mythos der Musik ähnelt:
Sprecher 2:
Zitat Claude Levi-Strauss:
Das Hören des musikalischen Werks hat also, aufgrund von dessen innerer
Organisation, die vergehende Zeit zum Stillstand gebracht; es hat sie eingeholt und
aufgebrochen, wie ein vom Wind zerstreutes Nebelfeld. So dass wir, wenn wir Musik
hören und während wir sie hören, eine Art Unsterblichkeit erlangen.
(Claude Levi-Strauss: Mythologica I: Das Rohe und das Gekochte, Suhrkamp Verlag
Frankfurt a.M. (1976, S. 31)
Sprecher 1:
In Kreisen der Musikwissenschaft hält man sich bedeckter. Merkwürdig insofern, da
Musik im oder als Ritual stets wichtige Funktionen erfüllt – sei es im Konzertsaal, sei
es bei den Ich Verwandlungen der Kaluli auf Papua-Neuguinea, sei es in
afrikanischen Tanzriten oder den in Rausch geschwängerten Extasen europäischer
Techno-Hochburgen.
6
Sprecher 2 Zitat:
„Tatsächlich ist Musik ihrem Wesen nach Ritual, freilich ein abstraktes“
Sprecher 1:
... schrieb der Komponist Dieter Schnebel. Die Worte „rituelle Züge“ oder
„Ritualcharakter“ gehen auch dem Musikjournalisten schnell über die Lippen. Aber:
Worin besteht nun das Rituelle? Ist es in Musik strukturell überhaupt fassbar? Oder
lässt sich zumindest etwas Konkretes konstatieren, das so etwas wie beschwörende
Wirkung hat, das transzendente, spirituelle Zustände transportiert oder evoziert?
Musik: 5
Maria de Alvear: Ölbaum. Aus: Maria de Alvear: Baum.
Maria de Alvear (Stimme), Drums Off Chaos (Jaki Liebezeit, Manos Tsangaris,
Reiner Linke, Gero Sprafke). Maria de Alvear World Edition Bestellnr. 0006, LC
10625
Sprecher 1:
Nach Tannenbaum nun Ölbaum. Beide Stücke stammen von Maria de Alvear, der
1960 in Madrid geborenen und nun in Köln lebenden Komponistin. De Alvear steht
nicht im Konzertsaal, sondern draußen als Performerin vor einer stämmigen Eiche.
Von Gesang will man nicht sprechen. Eher gibt de Alvear so etwas wie ein
animalisch-gutturales Knurren von sich. In den 70er Jahren studierte de Alvear
Komposition bei Mauricio Kagel, doch später verließ sie die Pfade mitteleuropäischer
Kunstmusik. Schon als junge Frau begeistert sich de Alvear für Joseph Beuys rituelle
Aktionen und Installationen, die – wie Zeige deine Wunde – in ihrer Kargheit und
Bildgewalt Tiefenschichten menschlicher Existenz ansprechen. In den frühen 1990 er
Jahren beginnt nach einer persönlichen Krise ein Neuanfang. De Alvear betreibt
ausgiebig so etwas wie angewandte musikalische Feldforschung. In Finnland oder
Sibirien studiert sie Rituale von Schamanen. Lange lebt sie bei den Indianern
Nordamerikas, beim Volk der Irokesen. „The mind is a drunken monkey“ sagen sie
dort, „der Kopf ist ein betrunkener Affe“. Entscheidend bei den Irokesen ist nicht die
Ratio. Entscheidend ist der seelische, körperliche und vor allem spirituelle Zustand
eines Menschen, oder auch: eines Baumes, dessen Wesen nun, in diesem Ölbaum
lebendig werden soll.
Musik: Maria de Alvear: (Ölbaum hochziehen)
(s.o.)
ges.1‘59‘‘
Sprecher 1:
Maria de Alvears Beschwörungen enthalten außereuropäische Ingredienzen, die
lange verpönt waren, gerade in Kreisen der musikalischen Avantgarde: Trommeln,
ostinate rhythmische Muster treiben das Geschehen ohne formale Zäsuren voran.
Unablässig insistierende Wiederholungen prägen Ölbaum von Maria de Alvear,
prägen aber auch die meisten Rituale indigener Völker.
Sprecherin 1:
Es gibt keine Bühne. Was da passiert, ist echt.
7
Sprecher 1:
… sagt Maria de Alvear und verweist damit auf natürliche Feinde des Rituals, zu
denen jegliches Distanz förderndes zählt: Die Passivität der Musikwissenschaft hat
Gründe und sie erinnert an die schwierigen Rechtfertigungskämpfe von Soziologen
und Ethnologen vom Schlage eines Claude Levi-Strauss, eines Hans Peter Duerr
oder eines Clifford Geertz. Rituale sind weder zu ergründen durch GeschichtsBetrachtung, durch Feldforschungen, durch strukturelle Analysen. Empathie,
emotionale Hingabe ist gefordert statt distanzierter Analyse, ein Bewusstsein für
Spiritualität anstelle des Versuchs rationaler Durchdringung. Was auf der
Rezeptionsseite offensichtlich ist, spiegelt sich auch in der Kompositionssphäre: das
Geistvolle, die Ironie wie das Manirierte, das epische Theater ebenso wie das
postmoderne Zitatspiel stehen rituellen Erfahrungen fern. – Aber wie erreicht nun de
Alvear das „Echte“? (Wobei schon die Frage eine bewusste Intention unterstellt, die
noch zu ergründen wäre.) Wiederholungen sind unüberhörbar – jene
Wiederholungen, die Arnold Schönberg und Theodor W. Adorno gar nicht echt,
sondern wie eine Lüge empfanden, geradezu eine Beleidigung für den gewünschten
hoch intelligenten Hörer, dem im reichen Variationsspiel doch bitteschön nichts
entgehen möge. Seit Schönberg ist das Bewusstsein für verschiedene Musikkulturen
gewachsen. Es gab nicht nur Arnold Schönberg, sondern es gab auch schon Igor
Stravinskys und dessen Sacre du Printemps, der furiosen – durchaus wiederholungsträchtigen – Adaption volkstümlich russischer Riten. Weitgehend unberücksichtigt
blieb der Däne Rued Langgård. Seine 1918 beendete Sphärenmusik ist ein
Sonderling wie ihr Schöpfer, der seine Werke schuf aus einer kruden Mischung von
französischem Symbolismus und einer vom Vater übernommenen theosophischen
Weltanschauung. Schon in den späten zehner Jahren war Langgård auf einem Weg
fernab des Etablierten. 1936 schrieb der extatische Außenseiter:
Sprecher 2:
Zitat Rued Langgård:
Der Modernismus interessiert sich nur für Sachlichkeit und Wissenschaft, sollte sich
aber auch für Stimmungen interessieren. Moderne, das heißt für mich das
Stimmungs-verlassene.
Musik: 6
Rued Langgård: Sphärenmusik für Orchester und Chor (1916-1918)
Danish National Choir and Danish National Vocal Ensemble, Ltg. Thomas Dausgård,
Dacapo LC 09158, Best. Nr. 6.220535, EAN Code: 0747313153565
bis 1´15´´
Sprecher 1:
Von Rued Langgård sprechen nicht viele, auch nicht Hanns Werner Heister, der sich
vorrangig beschäftigt mit der Musikgeschichte nach 1950. Ein Kapitel seines Textes
Synthese versus Exotismus überschreibt Heister mit „Vereinfachungen, Ritualismus
und Minimalismus“. Im Text stößt man auch auf Carl Orff. Heister sieht ihn als
Vorläufer gewisser Erscheinungen der zweiten Jahrhunderthälfte:
Sprecher 2:
Über die Kluft der Generationen hinweg zeigen sich (...) Parallelen zu Carl Orffs
Schaffen. Auf der Suche nach dem Ursprung verbindet Orff Ritualisierung
musikalische mit einem Minimalismus avant la lettre: unaufhörliche einhämmernde
Wiederholung einfacher Muster, und eine Motorik, die eigentlich auf moderne
8
Mechanik und Maschinelles verweist, aber als Ursprüngliches aus Urzeit verklärt
wird. Hier fallen Prä- und bzw. Antimoderne, wie sie kompositorisch und ästhetisch
ideologisch Orff präsentiert, einmal mehr mit Postmoderne zusammen.
(Hanns-Werner Heister: Synthese versus Exotismus – Entdeckung der neuen
„Dritten Welt“ und universalistische Integration des „Exotischen“, in: Geschichte der
Musik im 20. Jahrhundert 1945-1975. Hrsg. v. Hanns-Werner Heister, Laaber 2005
(=Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert Band 3), ISBN 3-89007-423-5, S. 281)
Sprecher 1:
Spürbar ist Heisters Unbehagen an der seines Erachtens übertriebenen Reaktionen
gegen Dogmen serieller Komplexität. Stockhausens intuitive, meditative Musik gerät
ebenso ins Visier wie der Minimalismus amerikanischer Provenienz:
Sprecher 2:
Zitat Hanns Werner Heister:
Der musikalische Minimalismus verbündet sich meist mit dem Ritualismus. Dieser
war und ist samt einer nun vorwiegend fernöstlich-fernwestlichen statt
abendländischen Re-Sakralisierung der Musik eine mächtige Tendenz auch und
gerade nach der Zäsur von 1945. Sie speist sich aus verschiedenen Quellen. Eine
sehr weit zurückreihende ist die Sehnsucht nach dem Sakralen, ein nostalgischer
Rückgriff auf Vorvergangenes nach jenem Traditionsbruch, den die (vorwiegend
bürgerliche) Emanzipation der Musik als eigenständige Kunst bedeutet hat. Ist
Sakralisierung insoweit Restauration, die Aneignung von Vergangenem, zu dem
keine direkte Traditionsverbindung mehr besteht, so ist sie zugleich auch ein Stück
Tradition unmittelbare Fortsetzung einer Linie des explizit oder implizit Religiösen,
das im bürgerlichen Zeitalter fortdauerte. Bezieht sich dieser Aspekt vorwiegend auf
die stofflich-inhaltliche Dimension, so hat Ritualisierung zugleich eine damit
verbundene strukturell-formale. Ein gemeinsamer Nenner ist die Angst vor
substanziell Neuem und das daraus herrührende Bedürfnis nach Gleichbleibendem,
das sich als Wiederholungsbedürfnis äußert.
(Hanns-Werner Heister: Synthese versus Exotismus – Entdeckung der neuen
„Dritten Welt“ und universalistische Integration des „Exotischen“, in: Geschichte der
Musik im 20. Jahrhundert 1945-1975. Hrsg. v. Hanns-Werner Heister, Laaber 2005
(=Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert Band 3), ISBN 3-89007-423-5, S. 281)
Sprecher 1:
Heister scheint unzufrieden mit Erscheinungen, deren Kunstcharakter schwerlich zu
definieren, geschweige denn zu beweisen sind. Empathische Einfühlung, keine
minutiöse Partituranalyse ist nötig, um das Ritual zu verstehen. Die These sei
erlaubt: Eine Wiederholung ist keine Wiederholung. Ein langsam, unablässig im
piano gezupfter Geigenton wird ganz andere Folgen haben als die schnellen
Trommelrhythmen in de Alvears Tannenbaum. Wiederholungen können je nach
Klang und Tempo ganz verschiedene Funktionen erfüllen; sie können sich im
Konzertsaal flächig ausdehnen, das Gefühl von Zeitenthobenheit wecken. Sie
können aber auch, wie in den Initiationsriten der brasilianischen Candomblé-Kultur
zur Steigerung extatischer Tänze dienen, die auf pathologische Zustände zielen;
darauf, durch immer intensiver kreisende Bewegungen den Gleichgewichtssinn
außer Kraft zu setzen. Im Candomblé führt das Tanzen zu tranceartigen Zuständen,
zu körperlichen Dysfunktionen wie Krämpfen, Taumeln, Schaumbildungen vorm
Mund, Lähmungen oder Kreislaufstörungen. Zu solch bewusst anvisierten rituellen
9
Manipulationen kommen konkret physische: Nach den Tanzritualen folgen beim
Candomblé Inzisionen, vorsätzliche Schnitte in die Kopfhaut, die die Einführung
verschieden stimulierender Tinkturen ermöglichen. Solch eklatanter Kontrollverlust
macht nicht nur dem im engen Korsett der Affektenregulierung steckenden Europäer
Angst. Auch die brasilianischen Novizinnen der Candomblé Kultur fürchten die
Initiationsriten. Wenn sie aus Angst oder Panik die Tanzfläche verlassen wollen,
greift der Kultleiter ein, klemmt den Kopf der jungen Frauen gewaltsam ein und
schleift sie zurück auf die Tanzfläche. Warum das alles, könnte man fragen, um was
geht es? Arnold Gennep, der französische Ethnologe, hat schon Anfang des letzten
Jahrhunderts nach Antworten gesucht: 1909 präsentiert er in seinem Buch Les rites
de passage einen dreiphasigen Ablauf von Initiationsriten, der universale Gültigkeit
hat: In einer ersten Phase geht es um die Trennung vom bisherigen Leben. Es folgt
eine Zwischenzeit, in der sämtliche Standesattribute außer Kraft gesetzt werden. In
der dritten Phase folgt die Rückkehr in die Gemeinschaft – wohlgemerkt als neuer
Mensch, als eine neue Persönlichkeit, die der Orishá, der Kultleiter bestimmt. – Der
Exkurs zu Maria de Alvear und den drastischen Initiationsriten der Candomble-Kultur
bieten Hintergründe, um „unsere Rituale“ zu verstehen. Parallelen zum Techno sind
offenbar: die Medikation, Extasy als Brücke zu anderen Welten, das wilde Trance
artige Tanzen sowie die Ausschaltung der Begriffssphäre nicht zuletzt durch
pathologische Lautstärken. Aber selbst im ungleich körperloseren und
domestizierteren Konzertritual gibt es Schnittmengen. Um geheime Mächte der
Musik geht es dabei, um schwer zu fassende Tiefendimensionen emotionaler wie
intuitiver Natur. Wenn sich ein Hörer für knapp zwei Stunden in den Konzertsaal
begibt, geschieht auch etwas mit ihm. Es ist sicher kein Abschied vom bisherigen
Leben, wie Gennep beschrieb. Aber doch kann es ein eindringliches Erlebnis sein,
das in seiner Direktheit und relativen Körperlichkeit einem Museumsbesuch bei
weitem überlegen ist. Die Messung von Hirnströmen und Durchblutungen
verschiedener Hirnareale reicht beileibe nicht, um das Feuerwerk der Neuronen beim
Musikhören und -Machen zu verstehen. Aber die These sei erlaubt: Durch das
verinnerlichte Hören, durch die Konzentration auf etwas so abstraktes wie Musik
besinnt sich der Hörer seiner selbst. „Oasen der Ruhe“ klingt kitschig in Zeiten des
Wortverschleißes. Aber fernab alltäglicher akustischer Umweltverschmutzung und
ständiger Erreichbarkeit leistet der Konzertsaal Wesentliches: eine
Gemeinschaftsbildung zweckfreier Natur, ein offenbar schwer gewordenes Einlassen
auf von Anderen konzentriert Erdachtes.
Musik: 7
Dieter Mack: Taro für zwei Klaviere, Flöte, Bass-Klarinette und Schlagzeug (1991)
Ensemble SurPlus, Leitung: James Avery
Edition Zeitklang, LC 00581
bis 40´´
Sprecher 1:
Kammermusik von Dieter Mack. Wie Maria de Alvear, so beginnt auch Macks
Ausbildung unter europäischen Vorzeichen. Während seiner Ausbildung bei Klaus
Huber und Brian Ferneyhough an der Freiburger Musikhochschule besucht er einen
Kurs über Gamelan-Musik bei Hans Oesch, einem bekannten Musik-Ethnologen in
Basel. Die indonesische Gamelan-Praxis fasziniert den noch jungen Mack. Seit 1978
bereist er regelmäßig den Südosten Asiens und spielt mit in diversen GamelanEnsembles und Orchestern. Die Kraft des kollektiven Musizierens lernt Mack so
kennen – und zu schätzen: Noch sein heutiges Interpretationsideal rührt von
10
Erfahrungen mit der Gamelan-Praxis – es ist ein rituelles Ideal, das nur dann
verwirklicht ist, wenn der Einzelne es versteht, sich zu Gunsten des Kollektivs
zurückzunehmen und so seinen Beitrag leistet zu einem geschlossenen
Ensembleklang. Mack ergreift nicht Partei wie Heister. Er weiß, dass jede Kultur
seine eigenen Voraussetzungen hat. Und er kennt übliche Vorurteile:
Sprecher 2:
Zitat Mack:
Es ist eine gängige Auffassung, die Idee des Rituals im weitesten Sinne als nicht
mehr zeitgemäß zu betrachten. Rituale setzen in der Regel eine kollektive,
ganzheitliche Konzeption einer Gesellschaft voraus, da die rituelle Erfahrung das
Subjektive zu Gunsten eines nur im Ritual erfassbaren Etwas auflöst, das sowohl
kollektivistisch als auch individualistisch ist. Es sei dahingestellt, inwieweit diese
Erfahrungen einer primär partikularistischen oder pluralistischen modernen
Industriegesellschaft inzwischen verwehrt sind und jegliche Art des so genannten
„Sich-Selbst-Aufgebens“ eine aktuelle Form der Selbsttäuschung ist, wie es manche
Kritiker behaupten. Ich selbst glaube nun daran, dass diese Erfahrungen in Form
eines kollektiven Rituals durchaus zeitgemäß sind, vorausgesetzt dieses neue
Kollektive entsteht durch das intensive Zusammenwirken der beteiligten Individuen
und wird zudem durch die Faktur des Werks ausgelöst.
(Dieter Mack: Auf dem Weg zu einer eigenen Kultur – Gedanken, Behauptungen und
Positionen zur Zielsetzung und Notwendigkeit meines eigenen Komponierens, in:
Neue Musik 2000 – Fünf Texte von Komponisten. Hrsg. v. Klaus Hinrich Stahmer.
ISBN Würzburg (Königshausen & Neumann) 2001 (=Schriften der Hochschule für
Musik Würzburg Band 6). ISBN 3-8260-2056-1, S. 32)
Musik: Dieter Mack: (Taro für zwei Klaviere, kurz hochziehen)
(s.o.)
Sprecher 1:
Doch was meint Mack mit der Faktur des Werkes? Kargheit prägt dieses Taro für
zwei Klaviere, Flöte, Bass-Klarinette und Schlagzeug. Die Unisono Führungen der
beiden Klaviere schaffen konzentrierte Spannung. Dialogstrukturen der Instrumente
fallen auf. Zugleich betont Mack die Notwendigkeit zur Emanzipation vom Notentext.
Sein Schönheitsideal ist die Verselbständigung des Geschehens, die er selbst erlebt
hat als Mitspieler in Gamelan-Orchestern.
Musik: Dieter Mack: (Taro, von 14´20´´ bis Ende 15.30´´)
(s.o.)
ges.: 3‘05‘‘
Sprecher 2:
Zitat Mack:
Der/die einzelne soll in die Sache – die Komposition bzw. den erst durch das
adäquate Spielen entstehenden Ausdruck – so hineinwachsen, dass die Kombination
der subjektiven Momente ein neues Ganzes ergibt, das allerdings nur bedingt
vorhersehbar oder in der Partitur ablesbar ist. Komponieren in diesem Sinne und das
Werk selbst (einschließlich seiner praktischen Realisierung) präsentieren sich somit
als Metapher für soziale Verantwortlichkeit und kompensieren das latent Elitäre, das
der Neuen Musik oder Kunst überhaupt anhaftet. Dieser – durchaus ebenso
utopische – Ansatz ist einer meiner wesentlichen Antriebskräfte zum Komponieren
und zugleich für intensive pädagogische Arbeit.
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(Dieter Mack: Auf dem Weg zu einer eigenen Kultur – Gedanken, Behauptungen und
Positionen zur Zielsetzung und Notwendigkeit meines eigenen Komponierens, in:
Neue Musik 2000 – Fünf Texte von Komponisten. Hrsg. v. Klaus Hinrich Stahmer.
ISBN Würzburg (Königshausen & Neumann) 2001 (=Schriften der Hochschule für
Musik Würzburg Band 6). ISBN 3-8260-2056-1, S. 33/34)
Sprecher 1:
Dass, was Dieter Mack unter Idee einer zeitgenössischen, kollektiven Erfahrung
beschreibt, hat gewiss Utopie-Charakter. Aber der Aspekt des Überindividuellen ist
zunehmend wichtig in einer Zeit, in der Individuelles Denken sichtbar in Sackgassen
führt. Hans Peter Duerr plädierte für die Relativierung des Ichs, um einer Situation
entgegen zu wirken, in der – so Duerr sinngemäß – viele ihr Ego beim Psychologen
holen und bestärken. Von den Auswüchsen des Egozentrismus einmal abgesehen:
Es ist ein erstaunlicher Befund, dass sich Dieter Macks Ambitionen fast 1:1 in den
Ritual-Definitionen der Historikerin Stolberg Rilinger wiederfinden:
Sprecherin 1:
Zitat Stolberg-Rilinger:
Rituale ordnen den einzelnen Akt in ein kollektives, überindividuelles Strukturmuster
ein. Denn sie weisen zeitlich über die Gegenwart in doppelter Weise hinaus: Sie
erinnern an vergangenes und verpflichten zu zukünftigem Handeln. Rituale verbinden
in sich Dauer und Wandel, sie bilden ein Scharnier zwischen Individuum und
Gesellschaft. Gerade indem sie zum Beispiel einen individuellen Statuswechsel
bewirken, bekräftigen sie umgekehrt zugleich die Beständigkeit der Ordnung als
Ganzer. Indem sie sich in hergebrachten, wiederholbaren Formen abspielen, stellen
sie die Beteiligten in eine Ordnung hinein, die älter ist als sie selbst und sie zugleich
überdauern wird.
(Barbara Stollberg-Rilinger: Rituale, Frankfurt a.M. 2013 (Campus Verlag),
(=Historische Einführungen Band 16), ISBN 978-3-593-39956-0, S. 13)
Sprecher 1:
Bewusste Weckung ritueller Erfahrungen hat es in der Musikgeschichte immer
wieder gegeben. Rued Langgård, Igor Stravinsky, Carl Orff, Maria de Alevar, Dieter
Mack wurden genannt. Übergangen wurden Johann Sebastian Bachs Beiträge zur
streng definierten Messe, die rituellen Anflüge beim französischen Sonderling Erik
Satie, die besondere spirituelle Dimension in Alvin Luciers akustischer Übertragung
von Gehirnströmen im Stück Solo for Performer. Insbesondere ab 1960 kommt das
Ritual zur Entfaltung. Karlheinz Stockhausens intuitive Musik wäre in diesem Licht zu
betrachten. Die exorbitante Gewalt von Bernd Alois Zimmermanns 1969 beendetem
Requiem für einen jungen Dichter nicht erklärbar ohne die rituelle Seite des Werks
zur Kenntnis zu nehmen, die Zimmermann selbst als Lingual beschrieb, einer
Neukombination der Begriffe Lingua – lateinisch für Sprache – und Ritual. Eine
besondere Spielart ritueller Musik brachte der griechische Außenseiter Jani Christou
ins Spiel. Unermüdlich arbeitete Christou an Möglichkeiten, über Musik das
Unbewusste zu erreichen, den Weg ebnen zu jenen unbewussten Archetypen, die
der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung beschrieb.
Sprecher 2:
Zitat Letsokos:
Christou war weit davon entfernt,
12
Sprecher 1:
schrieb Christous Biograf George S. Letsokos,
Sprecher 2:
die Musik als eine Aktivität um ihrer selbst willen zu betrachten (er verachtete eine
solche Auffassung als „Dekorativismus“ oder „Ästhetizismus“). Er sah die Musik
vielmehr als ein Mittel an, uranfänglich gemeinsame Emotionen zu aktivieren, die
ansonsten durch die Zivilisation unterdrückt sind, und einen mystischen Zustand der
Trance oder der Hysterie zu erreichen.
(George S. Letsokos: Art. Jani Christou, in: New Grove Dictionary of Music and
Musicians, Hrsg. v. Stanley Sadie, London (Macmillan), 1980)
Musik: 8
Jani Christou: Schreie aus „Epicycle
Edition RZ 2001, Best. Nr. 1013, LC 08846
ab 7´ = 0‘44‘‘
Sprecher 1:
Christou ließ nicht nur schreien. Er gab seine Komponistenfunktion auf, überließ
mittels grafischer Partituren den Ablauf den Interpreten. Patterns nannte der Grieche
bestimmte, oft wiederholte Formeln, die das Unbewusste ansprechen sollten. Sein
großes Orchesterwerk Anaparastis war wohl die Vorstufe zu einer bisher nicht
aufgeführten Orestie, einem gigantischen Bühnenritual für Schauspieler, Sänger,
Tänzer, Chor, Orchester, Tonband und visuelle Effekte. Aischylos gleichnamige
Trilogie sollte als Ausgangspunkt dienen für die Beschäftigung mit mythischen
Archetypen. In seinem letzten Interview vor seinem Tod durch einen Autounfall
brachte Jani Christou die Orestie und sein geplantes Ritual in Zusammenhang mit …
Sprecher 2:
… der Panik vor der Unlösbarkeit des Problems menschlicher Existenz.
Sprecher 1:
Ursprungssuchen, das Verhältnis von Kollektiv und Individuum, die Ambivalenz des
Rituals – all das kam zur Sprache, und doch fehlt Wesentliches: Der Hörer, die
Hörerin, die Magie der Kommunikation. Wenn Gustav Mahler oder ein Adagio
Beethovens „rituelle Energie“ im Konzertsaal bekommen, so liegt das nicht an den
Komponisten, die beide eher ritualfern veranlagt waren. Es liegt am Hörer, an seiner
gespannten Ruhe, an seinen ausgefahrenen Antennen, die selbst kleinste
Schwingungen vernehmen. Unerklärlich, gleichzeitig unbestreitbar ist die
elektrisierende Aufladung zwischen den Verliebten beim ersten gemeinsamen
Kinobesuch. Alles erscheint plötzlich in Vergrößerung. Jede kleinste Bewegung,
Regung bekommt Gewicht. Man muss nicht frisch verliebt sein, um solche
Erfahrungen im Konzertsaal zu machen. Die Konzentration auf eine Sache, die
Wortlosigkeit fördert die Fähigkeit zur Empathie. Ob die Musik dem Sitznachbarn
gefällt oder nicht, ist unmittelbar und ganz mühelos abzulesen an Bewegungen,
kleinen Seufzern, Atmen, ja vielleicht sogar an der Herzfrequenz, die man zuweilen
zu spüren vermeint. Die Musik stellt in diesen Momenten nur das Klima her, kann es
aber je nach Charakteristik unterstützen. So erhellt sich, warum so Vieles ein Ritual
sein kann, warum es ein Zu-Bett-Geh Ritual des Kindes gibt, warum die Zigarette
danach ein Ritual sein kann, warum die Garderobe im Konzerthaus so wichtig ist. Es
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geht auch um Orientierungen, die man sich selbst schafft, letztlich auch um
Zuschreibungen, für die sich der Begriff Ritual eingebürgert hat:
Sprecher 2:
Zitat Hans Neuhoff:
Wenn es eine Tendenz gibt, profane Konventionen und bloße Handlungsroutinen
heute als ‚Ritual’ zu bezeichnen…
Sprecher 1:
Schreibt der Musikwissenschaftler Hans Neuhoff
Sprecher 2:
so kann dies nicht bedeuten, dass sie es tatsächlich auch wären, sondern es besagt,
dass wir Bedeutungen in sie hineinlegen, die sie von sich aus weder besitzen noch
beanspruchen. Vielleicht tun wir dies, weil in der entzauberten Welt, im ‚stählernden
Gehäuse des Kapitalismus’, um mit Max Weber zu reden, die profanen Dinge die
einzigen sind, die uns geblieben sind. Ebenso geblieben ist aber – und es wäre
töricht, das zu leugnen – das Bedürfnis, unser Leben durch den Anschluss an ein wie
immer gedachtes Anderes selbst zu überhöhen, ganz so, wie Rituale dies zu leisten
haben.
(Zitat Hans Neuhoff: Musik im Besessenheitsritual, in: Musik und Ritual, hrsg. von B.
Barthelmes und H. de la Motte-Haber, Darmstadt 1999 (=Veröffentlichungen des
Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, Band 39), S. 87)
Sprecher 1:
Es bleiben Fragen, es gibt kein Resümee, nur Thesen. Im Licht des Rituals
verändern sich gewohnte Perspektiven. Skandale, der berühmte Skandal bei der
Uraufführung des Sacre von Igor Stravinsky, erscheinen plötzlich nicht mehr nur als
Ergebnis einer befremdenden Musik, sondern auch als Ergebnis einer Brechung des
äußerst aufgeladenen Konzertrituals, dessen regulierter Ablauf plötzlich verloren ist.
Fest steht: so unterschiedlich Rituale auch ausfallen mögen. Alle verweisen sie auf
Grundbedürfnisse des Menschen. Schon das Baby braucht Geborgenheit, die es
durch wiederholte Abläufe von Eltern bekommt, die ganz natürlich wissen, was zu tun
ist. Am Ende noch einmal zur Musik: ihr Klingen hört in John Cages knapp
viereinhalb minütiger Generalpause auf. Wenn der Pianist sich setzt, den
Tastendeckel hebt, beginnt das Ritual, ein Ritual der Stille, das aber noch manche
Noten hinzufügt: Sie sind, wie der Komponist Ernstalbrecht Stiebler so schön
bemerkt, meditativer Natur, magischer, ja mysteriöser:
Sprecher 2:
Zitat Ernstalbrecht Stiebler:
Raum geben ist einer der wichtigsten Aspekte einer reduktiven Musik. Was heißt
das? Fangen wir beim Hörer an: ihm Raum geben heißt, ihm eine Chance zu geben,
sich zu beteiligen. Ihn nicht mit einer ungeheuren Fülle musikalischer Informationen
zu überfordern oder mit geradezu vernichtender Intensität die Persönlichkeit des
Hörers quasi auszulöschen. (…) Kafka sagte, jeder Mensch habe ein Zimmer in sich
– das könne man sogar über das Gehör nachprüfen. Dieses Zimmer, diesen Raum
sollte die Musik erreichen, ihn aber nicht, wenn auch auf Zeit, dem Bewusstsein
entziehen. John Cage hörte im akustisch schalltoten Raum eines amerikanischen
Studios zwei Töne, den seines Blutkreislaufs und den seines Nervensystems und
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fand: es gibt keine Stille. Wir klingen selbst, das ist unser Klangraum, den wir in
absoluter Stille klanglich wahrnehmen können. Viel wichtiger aber ist seine
psychisch-spirituelle Wirklichkeit. Das heißt, wir müssen die Wirklichkeit des
Kafkaschen Zimmers in uns nicht nachprüfen, wir kennen, wir fühlen seine
Wirklichkeit.
(Ernstalbrecht Stiebler: Reduktion als Chance, in: Neue Musik 2000 – Fünf Texte von
Komponisten. Hrsg. v. Klaus Hinrich Stahmer. ISBN Würzburg (Königshausen &
Neumann) 2001 (=Schriften der Hochschule für Musik Würzburg Band 6). ISBN 38260-2056-1, S. 11)
Musik 9:
Morton Feldman: Triadic Memories für Klavier , Susanne Liebner
Oehms Classics, Best. Nr. OC 510. LC 12424
2’35
15
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