Altlasten der Physik (66): Die magnetischen Pole einer Spule F. Herrmann Gegenstand Das Feld einer zylindrischen Spule hat im Außenraum dieselbe Gestalt wie das eines Stabmagneten derselben geometrischen Maße. Auf diese Übereinstimmung der Felder wird bei der Einführung der Spule gewöhnlich hingewiesen. Darüber hinaus wird oft erklärt, die Spule habe an ihren Enden Pole: „Stromführende Spulen haben Pole wie Stabmagneten.“1) Manchmal enthält eine Abbildung des Feldes der Spule noch ein „N“ und ein „S“ an den beiden Spulenenden. Abb. 1 PRAXIS-MAGAZIN Ähnliches wird auch von einem Kreisring, in dem ein elektrischer Strom fließt, behauptet: „Der stromführende Kreisring ist ein Magnet mit zwei Polen.“1) Auf der entsprechenden Abbildung ist über der Leiterschleife eine kreisförmige Fläche aufgespannt, auf welcher der Buchstabe „N“ steht. Das zugehörige „S“ hat man sich auf der Rückseite der Fläche zu denken. Mängel Wo magnetische Pole liegen, erkennt man am besten an → der Magnetisierung J . Die Magnetisierung ist eine Vektorgröße, die den magnetischen Zustand von Materie beschreibt. Sie sagt uns von jedem Volumenelement, wie groß dessen magnetisches Dipolmoment ist, und welche Richtung es hat. Abb. 1 zeigt die Magnetisierung einer Magnetscheibe, deren Pole auf ein und derselben Seite der → Scheibe liegen, zusammen mit dem zugehörigen J -Feldlinienbild. Dort wo die Magnetisierungslinien beginnen, befindet sich ein Südpol, wo sie enden ein Nordpol. Weder die Spule, noch der Stromring haben eine von null verschiedene Magnetisierung. Folglich haben sie auch keine Pole. Um die Lage von magnetischen Polen festzustellen, kann man auch das Feldlinienbild der magnetischen Feldstärke → H betrachten. Am Nordpol (wo die Magnetisierungslinien → enden) beginnen die H-Feldlinien, und am Südpol, wo die → Magnetisierungslinien beginnen, enden sie. Die H-Feldlinien einer Spule und jeder anderen Stromverteilung haben keine Divergenzen, also existieren auch keine Pole. Es trifft durchaus zu, dass das Feld der Spule im Außenraum mit dem des zylindrischen Stabmagneten übereinstimmt, und das der Stromschleife mit dem eines magnetischen Blattes. Man mag auf diese Übereinstimmung hinweisen. Warum geht man aber so weit zu behaupten, die Spule und der Ringstrom haben Pole? Dann ist der Vergleich nämlich keine Hilfe mehr, sondern eine ernsthafte Behinderung. Er führt dazu, dass man nicht mehr versteht, was ein Magnetpol bei einem Dauer- oder Elektromagneten wirklich ist. Es gibt auch berechtigte Zweifel darüber, ob der Hinweis auf die Ähnlichkeit der Felder eine Hilfe darstellt. Welche Gestalt muss denn das magnetische Blatt haben, damit sein Feld gleich dem der Stromschleife ist? Im Fall einer ebenen Stromschleife ist man sicher geneigt, ein ebenes magnetisches Blatt als Ersatzmagneten zu wählen. Das muss aber nicht sein. Jede beliebige andere Fläche tut es auch, vorausgesetzt nur, ihr Rand stimmt mit dem Verlauf des Stroms überein. Und schließlich: Wenn eine Spule und auch ein Kreisstrom Pole haben, muss dann nicht auch jede andere Stromverteilung Pole haben? Wo liegen die Pole, wenn die Stromschleife verknotet oder verknäult ist? Und wo liegen die Pole bei einem geraden Draht? (In diesem Fall wird gewöhnlich ausdrücklich betont, dass es keine Pole gibt.) Herkunft Der Vergleich der Felder von Dauermagneten und Stromverteilungen gehört zu den Standardthemen der Elektrodynamikkurse der Universität. Er ist dort durchaus am Platz, denn man lernt etwas über Übereinstimmung und Unterschiede zwischen Fluss- und Wirbelquellen: Wie müssen Divergenzen verteilt sein, damit das resultierende Feld dieselbe Gestalt hat wie ein durch Rotationen verursachtes Feld? Offenbar hat hier die Schulphysik mit wohl gemeinter Absicht eine Anleihe gemacht. Dass dabei mit der Elektrodynamik auf unzulässige Art umgegangen wird, ist den Autoren offenbar nicht bewusst. Es wurde schon früher gezeigt2), dass die Passagen über Magnetpole in den meisten Schulbüchern fehlerhaft sind. Die Vorstellung, dass Ströme Magnetpole verursachen, wird auch dadurch am Leben gehalten, dass man in der Geografie vom magnetischen Nord- und Südpol der Erde spricht. Im Sinn der Physik sind diese „Pole“ keine magnetischen Pole, denn erstens wird das magnetische Feld der Erde durch Ströme verursacht, und zweitens sind die „magnetischen Pole“ der geografischen Definition zufolge Punkte der Erdoberfläche (die Punkte, in denen die Horizontalkomponente der magnetischen Feldstärke gleich null ist). Auch wenn das Feld der Erde ferromagnetischen Ursprungs wäre, so wären die Pole nicht Punkte an der Erdoberfläche, sondern ausdehnte Bereiche im Erdinnern. Man findet auch gelegentlich die Aussage, die Erde selbst sei ein Magnet3) 4). Die Vorstellung geht auf Gilbert zurück, der erkannte, dass die Ursache dessen, was wir heute das magnetische Feld der Erde nennen, im Innern der Erde, und nicht etwa am Himmel zu suchen ist. Er vermutete, dass sich im Innern der Erde ein Magnet befindet. Sein Werk „De Magnete...“ erschien im Jahr 1600, also 120 Jahre vor Oersteds Entdeckung des Zusammenhangs zwischen elektrischem Strom und magnetischem Feld, und lange bevor man wusste, dass es im Innern der Erde so heiß ist, dass kein Material ferromagnetisch sein kann. Die Aussage, die Erde sei ein Magnet ist zwar plausibel, aber nicht zutreffend. Wenn man einen Vergleich sucht, so wäre es schon richtiger zu sagen, die Erde sei ein stromdurchflossenes Drahtknäuel. Entsorgung Man mag darauf hinweisen, dass das magnetische Feld der Spule im Außenraum mit dem eines Stabmagneten übereinstimmt. Schon bei der Stromschleife ist ein entsprechender Hinweis aber nicht mehr hilfreich. Man sage auf keinen Fall, eine Spule oder eine Stromschleife habe magnetische Pole. In Abbildungen von magnetischen Wirbelfeldern gehören nicht die Bezeichnungen „N“ und „S“. Beim Elektromagneten vermeide man zu sagen, der Elektromagnet habe Pole. Es ist klarer, wenn man sagt, am Eisenkern des Elektromagneten bilden sich Pole. 1) F. Bader (Hrsg.): Dorn-Bader Physik, Mittelstufe, Schroedel Schulbuchverlag, 1997, S. 146. 2) F. Herrmann und G. Job: Altlasten der Physik, Aulis Verlag, Köln, 2002, S. 163. 3) GROSS BERHAG, Physik für die Sekundarstufe I, Ernst Klett Schulbuchverlag 1996, S. 112, Überschrift: „Die Erde als Magnet“ 4) Einblicke Physik und Chemie, Regionalausgabe Rheinland-Pfalz, Ernst Klett Schulbuchverlag 1996, S. 93: „Die Erde ist ein großer Magnet.“ 46 Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Friedrich Herrmann, Abteilung für Didaktik der Physik, Universität, 76128 Karlsruhe PdN-PhiS. 4/52. Jg. 2003