Psychotherapie im Dialog 1• 2016 Essentials Psychotherapie mit körperlich Kranken Relevanz Entwicklungen im Gesundheitsverhalten (Übergewicht, Stress) oder in der Biografie begüns­tigen, dass zunehmend chronisch körperliche Erkrankungen entstehen. Darüber hinaus bedingt ein steigendes Durchschnittsalter im Psychotherapieklientel die Zunahme komorbider körperlicher Erkrankungen bei psychischer Grunderkrankung. Ein Anstieg der Lebenserwartung führt dazu, dass der Bedarf an psychischer Hilfe bei chronisch körperlichen Erkrankungen steigt, um Lebensqualität bei den Patienten wieder herzustellen oder zu sichern. Schließlich machen die Altersentwicklungen im Psychotherapieklientel eine Ausei- Bio-psycho-soziales Modell Gesundheit und Krankheit haben immer multifaktorielle Ursachen. S ­ oziale, psychische und biologische Komponenten bestimmen Krankheitsbeginn, Aufrechterhaltung und Folgen ­einer Erkrankung. Psychosoziale Faktoren wirken sowohl kausal als auch verlaufsstabilisierend oder -destabilisierend und /oder sind selbst die Folge der Erkrankung. Psychische Faktoren umfassen: ▶▶ psychische Symptome oder Störungen, die in Wechselwirkung mit der Erkrankung stehen ▶▶ interpersonelle Störungen, die in Wechselwirkung mit der Erkrankung stehen ▶▶ ungünstiges Bewältigungs- oder Abwehrverhalten als Persönlichkeits- oder Bewältigungsstil ▶▶ ungünstiges Gesundheitsverhalten ▶▶ Entstehen sozialer Schieflage durch Aufgabe von Berufstätigkeit, Rollenwechsel innerhalb der Familie etc. Gemäß dem bio-psycho-sozialen Modell erfordert das therapeutische Vorgehen eine umfassende Berücksichtigung der Bedeutung psychischer Faktoren im Erkrankungsprozess und der Beachtung der Wechselwirkung mit körperlichen und sozialen Faktoren. [1] Klassifizierung nach ICD-10 F54 psychische Faktoren und Verhaltenseinflüsse bei körperlichen Erkrankungen: ­Diese Kategorie sollte verwendet werden, um psychische Faktoren und Verhaltenseinflüsse zu erfassen, die eine wesentliche Rolle in der Ätiologie körperlicher Krankheiten spielen, die in anderen Kapiteln der ICD-10 klassifiziert werden. Die sich hierbei ergebenden psychischen Störungen sind meist leicht, oft lang anhaltend (wie Sorgen, emotionale Konflikte, ängst­ liche Erwartung) und rechtfertigen nicht die Zuordnung zu einer der anderen Kategorien des Kapitels V. Inkl.: psychische Faktoren, die körperliche Störungen bewirken Beispiele für den Gebrauch dieser Kategorie sind: ▶▶ Asthma F54 und J45.▶▶ Colitis ulcerosa F54 und K51.▶▶ Dermatitis F54 und L23–L25 Soll eine assoziierte körperliche Krankheit angegeben werden, ist eine zusätzliche Schlüsselnummer zu benutzen. 14 Heruntergeladen von: The Cochrane Library. Urheberrechtlich geschützt. nandersetzung mit Endlichkeit und Sterben notwendig. Psychotherapie im Dialog 1• 2016 Spezifische seelische Störungen, z. B. Anpassungsstörungen F43.2: Zustände subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, die im allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen auftreten. Die individuelle Prädisposition oder Vulnerabilität spielt bei dem möglichen Auftreten und bei der Form der Anpassungsstörung eine bedeutsame Rolle; es ist aber dennoch davon auszugehen, dass das Krankheitsbild ohne die Belastung nicht entstanden wäre. Die Anzeichen sind unterschiedlich und umfassen depressive Stimmung, Angst oder Sorge (oder eine Mischung von diesen). Außerdem kann ein Gefühl bestehen, mit den alltäglichen Gegebenheiten nicht zurecht­ Heruntergeladen von: The Cochrane Library. Urheberrechtlich geschützt. zukommen, diese nicht vorausplanen oder fortsetzen zu können. [2] Epidemiologie Chronisch-körperliche Erkrankungen führen zu einer erhöhten Häufigkeit seelischer Störungen, insbesondere depressiver Reaktionen. Bei Patienten ohne körperliche Erkrankungen sind z. B. depressive Störungen bei 6 % der Bevölkerung zu erwarten. Patienten mit chronischen und körperlichen Erkrankungen liegen deutlich darüber. So bestehen klinisch-­ relevante depressive Verstimmungen bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Schlaganfall in 15–30 % der Fälle und führen zu einem ungünstigen weiteren Verlauf der Erkrankung – auch wenn die Depressionen „subsyndromal“ sind, d. h. die Schwelle einer ICD- oder DSM-Diagnose nicht erreichen. Entsprechend dieser epidemiologischen Grunddaten finden sich auch in Allgemeinpraxen bei körperlich Kranken vermehrt depressive Verstimmungen und bei Krankenhauspatienten konnte auf der Grundlage klinischer Interviews bei 20–30 % der Patienten eine psychosoziale Störung diagnostiziert werden. [1] Differenzialdiagnose depressiver Störungen bei körperlich Kranken ▶▶ Symptome, die ursächlich auf die körperliche Erkrankung zurückgehen, z. B. Gewichtsverlust, Schlaflosigkeit, Lustlosigkeit, Kraftlosigkeit, müssen abgegrenzt werden von ­depressiven Symptomen (Cave: Fehldiagnose!) ▶▶ depressive Störungen als Folge der organischen Erkrankung / Behandlung (Durchgangssyndrome, Kortisonbehandlung usw.) ▶▶ Depression als Reaktion auf die Erkrankung (Anpassungsstörung) ▶▶ depressive Störungen, die bereits vor der Erkrankung bestanden oder wieder ausgelöst wurden ▶▶ multikausale Störung: Brain, Drug and Mind, z. B. HIV-Patient mit zentralnervösem ­Befall, eingreifender Medikation und seelischer Reaktion auf die Erkrankung ▶▶ Missbrauch von Suchtstoffen und Medikamenten, um den körperlichen und seelischen Auswirkungen der Erkrankung zu entfliehen (z. B. Benzodiazepine) [1] Julia Hecht, Stuttgart Literatur 1. Dinger-Broda A, Schüßler G. Chronisch-körperliche Erkrankungen. In: Senf W, Broda M, Hrsg. Praxis der Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch. 5. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2012: 519–526 2. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information). ICD-10-GM Version 2014. Im Internet: http:// www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2014/index.htm; Stand Dezember 2014 Beitrag online zu finden unter http://dx.doi.org/10.1055/s-0041-109256 15