Plädoyer für eine am Menschen orientierte Ernährungswissenschaft Auch dieser Teil der Vortragsreihe steht unter dem Jahresthema der Universität Hohenheim: „2012 – Gemeinsam wachsen“ Vor diesem Hintergrund haben wir die Referenten gebeten, ihren Beitrag so zu gestalten, dass wir aus den Jahren vor 2012 die Entwicklung des jeweiligen Fachgebiets, seinen Stand 2012 und seine Zukunft erörtern können. In meinem speziellen Fall, der ich hier die Ernährungswissenschaft vertrete, kam das Marketing der Universität auf die glänzende Idee, den besagten Titel zu wählen. Grund hierfür waren Diskussionen um die Frage, ob das, was wir unseren Studierenden anbieten, wirklich das Wesentliche der Ernährungswissenschaft darstellt, ob wir Inhalte vermitteln, die sie dann auch im Sinne einer Ernährung für den Menschen einsetzen können. Lassen Sie mich diesen Titel in seine Bestandteile zerlegen: Plädoyer kommt aus dem Französischen und ist der substantivierte Infinitiv – d.h. der Bedeutung entsprechend: einen Rechtstreit führen. Im Übrigen etwas, was in den Ernährungswissenschaften kaum, oft aber in der Industrie, die die Neuigkeiten der Ernährungswissenschaften gerne übertrieben verbreitet, im Zusammenhang mit Ernährung vorkommt. Ernährungswissenschaft, so der Düsseldorfer Diabetologe Beger vor knapp 20 Jahren in einem Vorwort zu einem Buch über Diätetik, ist die irrationalste aller Wissenschaften. Es mag symptomatisch sein, aber es hat sich niemand darüber aufgeregt. Gehen wir noch einen Schritt zurück: Was will bzw. was kann Wissenschaft im Kontext von Ernährung? Das heißt, wieder ganz im Sinne des diesjährigen Studium generale: Wo kommt Ernährungswissenschaft her? Wo steht sie heute und wo will sie hin? Wissenschaftstheoretisch betrachtet, ist die einzig wahre Wissenschaft die Physik, wenn auch die Meinungen hier etwas auseinander gehen. Nur die Physik, so die Vertreter der Erkenntnistheorie, beschreibt die Welt, wie sie wirklich ist und nicht so, wie wir sie gerne hätten oder zu erkennen glauben. Alles andere ist vorwissenschaftlich, d.h. spielt sich im Raum der vorwissenschaftlichen Erkenntnis ab, so auch Ernährungswissenschaften. 1 Diese Gedanken mag man sich beim Verzehr eines Schnitzels nicht machen, zumal der erkenntnistheoretische Sinn des Schnitzelverzehrs bisher wissenschaftlich wenig untersucht ist. Dabei zeigt sich ein weiterer Aspekt, der aus Sicht der Wissenschaftstheorie für den Bereich Ernährung eine ganz besondere Funktion hat. Der primäre Erkenntnisapparat, mit dem sich der Mensch in seiner Umwelt orientiert und der es ihm ermöglicht, diese zu erfassen, ist das visuelle System. Hat der Mensch analog so etwas wie einen nutritiven Erkenntnisapparat, d.h. kann er erkennen was er braucht? Scheinbar nicht! Als kleine Denksportaufgabe überlegen Sie einmal, ob es denn einen Erkenntnisapparat für das wichtigste Lebens- und Überlebensfaktum des Menschen, seine Nahrung, gibt. D.h. verfügen wir über, von uns subjektiv wahrnehmbare Fähigkeiten, mit denen wir Lebensmittel hinsichtlich ihrer Bedeutung für unsere Existenz differenzieren können? Haben wir, ähnlich wie ein akustisches oder visuelles, ein abrufbares nutritives Gedächtnis? Anscheinend ist das für viele andere Lebewesen, außer dem Menschen, kein Problem. Vielleicht aber ist es nur deshalb ein Problem, weil wir uns als Omnivoren an eine so ungeheure Vielfalt an Lebensmitteln gewöhnt haben, ohne, dass diese uns unbedingt umbringen, und daher kaum mehr differenzieren können, was uns nun gut tut und was nicht. Ich will damit nicht den Trend aufgreifen, der da heißt, man möge nur dem Bauchgefühl folgen, dann wisse man, was gut, d.h. bekömmlich ist, sondern viel mehr die Frage stellen, wie regulieren wir eine Ernährung, die unserem individuellem Bedarf angepasst ist, bzw. ist eine solche Regulation überhaupt bewusst möglich? Und was bitte ist eine dem menschlichen Bedarf gerecht werdende Ernährung? Ist das die Kreta-Diät, 5 am Tag, oder wie jetzt neu aus den USA, 9 am Tag, die Bruker-Kost, vegetarisch, vegan, die Wild-Diät oder gar die Mönchskost? Keine von allen, denn bedarfsgerecht ist nur eine Ernährung, die den Bedarf an allen für den Menschen essentiellen, also unentbehrlichen Stoffen deckt, zu denen Vitamine, Mineral etc. gehören, insgesamt 49 an der Zahl. Und genau diese Mischung sollte in einer ausgewogenen Kost vorhanden sein, da wir weder Vitamine noch Minerale oder andere essentielle Substanzen bewusst und gezielt erkennen oder erschmecken können und wer will oder kann täglich Buch führen? 2 Jedes Lebensmittel enthält andere essentielle Stoffe in unterschiedlicher Menge und Bioverfügbarkeit. Erst die Kombination vieler unterschiedlicher Lebensmittel sichert eine adäquate Versorgung. Daher gilt auch: jede Form der einseitigen Ernährung ist auf Dauer ungesund. Was unterbewusst passiert, ist eine andere Sache, mit der sich Ernährungswissenschaft bisher kaum beschäftigt hat. Jeder kennt oder hat davon gehört, dass es, noch bevor Frauen wissen, dass sie schwanger sind, plötzlich zu sogenannten Gelüsten kommt, d.h. sie verlangen nach Hering, nach Gurken oder nach Dingen, die sie vorher kaum gegessen haben und können sich selbst, und Außenstehenden noch weit weniger, diese geschmackliche Wandlung schwer erklären. Was genau dahinter steckt, weiß bisher keiner. Vielleicht doch so etwas wie eine bedarfsangepasste Regelung? Es gibt nur einen kurzen Zeitpunkt, in dem der Mensch offensichtlich alles erhält, was er für seine Entwicklung benötigt, da er es selbst kaum beeinflussen kann: die Stillzeit. Jeder der 49 essentiellen Stoffe wird geliefert. Voraussetzung ist allerdings, dass die stillende Mutter adäquat ernährt ist und ihre Ressourcen für den Säugling zur Verfügung stellen kann. Mit jedem Kind werden diese weniger, sofern sie nicht wieder aufgefüllt werden, vor allem dann, wenn die Abstände zwischen den Kindern gering sind. Gerade die Schwangerschaft und die Stillzeit geben eine Reihe von Informationen aber auch Rätsel, wie die Natur es bewerkstelligt, dass das sich entwickelnde Wesen all das erhält, was es zu eben dieser Entwicklung braucht. So hat man inzwischen Kenntnis von sogenannten Imprinting-Genen, die in einem relativ frühen Stadium der Schwangerschaft durch Bildung von Transportkanälen für Nährstoffe darüber entscheiden, ob die Ressourcen, die das wachsende Leben braucht, ohne Rücksicht auf die Mutter an das Kind weiter gegeben werden, sogenannte paternale Imprinting-Gene oder aber, ob hier die maternale Imprinting-Gene, die die Verteilung für beide Seiten gleich lässt, im Vordergrund stehen. Je nachdem, welches der Gene angeschaltet ist, hat dies Einfluss, sowohl auf die Mutter, als auch auf das Kind. Die Natur hat offensichtlich Wege gefunden eine bedarfsdeckende und damit adäquate Ernährung sicher zu stellen. Warum aber scheint dies mit dem Ende der Stillzeit nicht mehr zu funktionieren und was könnte Ernährungswissenschaft dazu beitragen? Lassen Sie mich nun den Bogen spannen mit der Frage: Wo kommen wir her? 3 Wir, die wir uns mit Ernährungswissenschaften befassen: Wo stehen wir heute und wo geht es hin? Um letztlich auf die Frage zurückzukommen ob das, was wir heute unseren Studierenden als Ernährungswissenschaften verkaufen/ anbieten, wirklich das ist, was wir als Ernährungswissenschaften für den Menschen im weitesten Sinne beschreiben können und was vor allem dazu beiträgt, die bedarfsgerechte Ernährung von bald 9 Milliarden Menschen sicher zu stellen. Denn das ist die eigentliche Herausforderung. Bei der Frage der Herkunft der Ernährungswissenschaften müssen wir ein paar Jahre zurückgehen und ich will einen kurzen historischen Ausflug mit Ihnen wagen. Wir könnten vor 60 Millionen Jahren anfangen, als sich Lebewesen entwickelten, die auf die Idee kamen, ihre Nahrung nicht mehr nur mit dem Mund und den Zähnen aufzunehmen, sondern dazu Werkzeug, sprich, ihre vorderen Extremitäten, in seltenen Fällen auch die hinteren, zu gebrauchen. Das war zweifellos ein großer Vorteil, da auf diese Weise die um diese Lebewesen herum wachsenden Lebensmittel sehr viel gezielter ausgesucht und geprüft werden konnten. Ich will jedoch rasch einige Jahre überspringen und mich der Situation von Lucy, der 3 Millionen Jahren im heutigen Äthiopien lebenden Primatenfrau, zu wenden: Lucy und Familie lebten in einem Bereich, in dem zu diesem Zeitpunkt so etwas wie ein Klimawandel stattfand, der dazu führte, dass ihr heimisches, reichlich gedecktes Buffet verkümmerte, sodass sie und ihre Nachkommen gezwungen waren, über tausende von Jahren viele Kilometer von Osten nach Westen zu ziehen. Wie auf diesem Wege der aufrechte Gang entstand - sei es beim Fischen im Westafrikanischen Morast oder beim Versuch über die Savanne zu blicken, um den nächsten Löwen zu entdecken - sei dahingestellt. Auffällig ist jedoch, dass diese Hominiden ein völlig verändertes Nahrungsangebot vorfanden, was sie dazu zwang, sich jetzt nicht mehr nur bevorzugt von süßen Beeren und Früchten und sonstigem Grünzeug zu ernähren, sondern auch auf andere Lebensmittel, die auf zwei oder vier Beinen vor ihnen oder hinter ihnen herliefen, zurückzugreifen. Der Mensch entwickelte sich auf diese Weise vom eher an pflanzliche Lebensmittel gewohnten Frugi- bzw. Herbivoren zum Omnivoren, d.h. zum Allesfresser. Auf diese Weise wird heute das Gehirnwachstum erklärt sowie die gesamte Entwicklung des Menschen bis hin zum modernen Menschen, den sie mehr oder weniger gut genährt vor, hinter oder neben sich erkennen können. 4 Diese frühen Hominiden brauchten keine ernährungswissenschaftliche Beratung. Sie haben das gegessen, was sie vorgefunden haben und offensichtlich war es für ihre Entwicklung ausreichend. Das heißt, auch alle essentiellen Stoffe, das bedeutet „nicht entbehrliche Stoffe“, zu denen in erster Linie Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente, aber auch einige wenige Eiweißbausteine zählen, waren für ihre körperliche und auch geistige Entwicklung offensichtlich in adäquater Menge vorhanden. Das fröhliche Sammler-Jäger-Leben hatte allerdings eine ganze Reihe von Nachteilen: Man konnte sich nicht immer sicher sein, ob man zu den Jägern und Sammlern oder den Gejagten und Gesammelten gehörte. Der Energieverbrauch war enorm, um die täglich benötigten 3.000-6.000 kcal zu erhalten. Im Winter oder auch in der Eiszeit gab es nur Fleisch und wenige Moose, soweit verzehrbar. Wenn die immer wieder als so gesund propagierte Paleo-Ernährung mit dem Energieverbrauch verbunden wird, den diese Jäger und Sammler zusätzlich hatten, mindestens 3.000 kcal/Tag, so mag sie vielleicht heute so gesund wie damals sein. (Zur Vorstellung: 3.000 kcal sind ca. 65 km Radfahren, im nicht nur ebenen Gelände, 3 Stunden schnelles gehen mit 12% Steigung oder aber 3-4 Stunden ohne Pause Liszt’s Tarantella spielen.) War kein Fleisch zu finden, so stellte sich Hunger ein. Der menschliche Stoffwechsel kann mit kaum etwas so perfekt umgehen, wie mit Hunger. Er kann sparen, umverteilen und auf Ressourcen zurückgreifen, die nur in der Not verfügbar sind. Streng nach dem Motto der Evolution „Überleben und Reproduktion“ wird immer dafür gesorgt, dass diese beiden Ziele bewahrt werden. Diese Situation änderte sich schlagartig, als der Mensch auf die Idee kam, sesshaft zu werden. Wohl auch aus der Erfahrung, dass Hunger auf Dauer nicht das ist, was Lebensqualität bedeutet und ein hungriger Jäger eben schnell auch mal zum Gejagten wird, weil er seine einzige Steinaxt am Bär vorbeigeworfen hat. Wer Katzen hat, weiß, dass die beste Jägerin die satte Katze ist. Sesshaft werden konnte er nur, wenn er entweder von einem stetig nachwachsendem KaltWarmen-Buffet umgeben war, oder aber, wenn er Vorräte anlegte. Letzteres, so die Erfahrung des Menschen, schützte ihn vor Hungersnöten und machte ihn von den ständigen Beschwerden des Sammelns, teilweise aber auch des Jagens, unabhängig. Gleichzeitig war er vor den Unbillen der Wildnis besser geschützt. Dieser Zeitpunkt vor etwa 10 Tsd. Jahren war ein Wendepunkt. 5 Der Mensch war zum ersten Mal in der Lage, sich von Hungersnöten etwas unabhängiger zu machen und gleichzeitig Lebensmittel zu speichern und über deren Verteilung an diejenigen, die solche Speicher nicht hatten, bzw. möglicherweise andere Speicher hatten, selbst zu entscheiden. Eine frühe Form des Agrarhandels, die auch heute noch ein nicht unwesentliches Problem darstellt. Der zweite Aspekt, der hier von Bedeutung ist, ist die Tatsache, dass der Mensch sich nun von seiner karnivoren Mischkost teilweise entfernte. Getreide macht satt, enthält aber nur wenige essentielle Nährstoffbestandteile, was sich daran zeigt, dass Skelett und Gebiss der frühen Hominiden erstmals degenerative Veränderungen aufwiesen, wie wir sie heute auch bei Fehl- und Mangelernährung beobachten können. Diese, ungewollt einseitige Ernährung aber ist es, die heute ganz wesentlich dazu beiträgt, dass Kinder aus Entwicklungsländern häufiger krank werden, eine höhere Sterblichkeit ausweisen und in ihrer physischen und mentalen Entwicklung zurück bleiben. Hierzu später etwas mehr. Wenn wir nun durch die kommenden Jahre springen, so zeigt sich eine wahre Genusskultur bei Griechen und Römern, die auch durchaus etwas hatten, was wir als Mischkost bezeichnen können. Die große Vorliebe der Römer für Fisch ergibt sich aus den vielen Hinweisen, dass eigentlich jeder besser gestellte Römer einen eigenen Fischteich hatte und Fisch zwei bis drei Mal in der Woche auf dem Speiseplan stand. Italienische Pasta war damals ebenso wenig verbreitet wie Pizza oder andere Arten des klassischen Fast Foods. Dagegen waren Oliven, verschiedene Gemüsesorten, aber auch andere Arten von Fleisch auf den Speiseplänen der besser gestellten Römer zu finden. Ein Zustand, der sich bis heute, wenn wir die Einkommensklassen, bezüglich ihres Ernährungsverhaltens, differenzieren, nicht wesentlich geändert haben dürfte. Will heißen, wer die Mittel hatte, konnte sich gut und abwechslungsreich ernähren, auch wenn er zum damaligen Zeitpunkt kaum etwas davon wusste, was eigentlich abwechslungsreiche Ernährung heißt und wozu sie wichtig ist. Also vielleicht doch so etwas wie unbewusste Erkenntnis? Dies bringt mich auf den Gedanken, dass es vielleicht der Genuss ist, der mehr oder weniger unbewusst die Aufnahme qualitativ hochwertiger Lebensmittel steuert?! Die Erfahrungen, die man mit der Wahl der Lebensmittel gemacht hat, waren empirische Erfahrungen, d.h. Ernährungswissenschaft war wie Medizin. Beide ließen sich damals nicht wirklich trennen, sowohl bei den Griechen als auch bei den Römern und möglicherweise auch bei den frühen Siedlern. Bestes Beispiel hierzu ist der Papyrus Ebers, welcher etwa 3.000 v. Chr. in Ägypten geschrieben wurde und die Behandlung der Nachtblindheit, die wir 6 heute in Folge von Vitamin A-Mangel kennen, mit Leber empfiehlt. Leber ist die wesentliche und wichtigste Vitamin A-Quelle des Menschen. Empirische Beobachtungen und darauf basierende therapeutische Interventionen gibt es vor allem in der arabischen Medizin in großer Zahl und sie zeigt, dass eine solche empirische Verfahrensweise durchaus von mehr Erfolg gekrönt war, als die Extrapolation heutiger epidemiologischer Erkenntnisse auf Empfehlungen zur gesunden Ernährung. Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, dass vieles, was uns die Epidemiologie als scheinbar gesichert angeboten hat, entweder weit davon entfernt war oder sich selbst relativiert hat. Ob das die vor Krebs schützende Wirkung des Gemüses oder aber die Herzkrankheiten vorbeugende Wirkung der mediterranen Diät war. Soeben ermittelt eine groß angelegte Bewertung vieler Studien, dass die Reduktion der täglichen Fettmenge sich nicht, wie immer wieder betont, günstig auf die Verringerung von kardiovaskulären Erkrankungen auswirkt. In den folgenden fast 2.000 Jahren hat sich Ernährungswissenschaft als medizinische Form der Ernährung im Kontext mit eben diesen empirischen Erfahrungen immer wieder zu Wort gemeldet und dabei mindestens so viele skurrile Diäten und Vorschläge zur Ernährung und Gesundheit entwickelt, wie wir sie bis heute vorfinden. Die Ernährung des Mittelalters war fleischbetont für diejenigen, die sich das leisten konnten. In gleicher Weise galt aber auch, dass die vorwiegend arme Landbevölkerung schlecht ernährt war bzw. nur das zu Essen hatte, was gerade wuchs bzw. was man ihnen ließ. Fleisch gab es selten, Kohlsuppe häufig und wenn es Missernten gab, gab es eben vorübergehend gar nichts. Die Folgen waren Krankheiten, hohe Kindersterblichkeit und niedrige Lebenserwartung bei der armen und chronisch mangelernährten Bevölkerung sowie Wohlstandskrankheiten und deutlich höhere Lebenserwartung bei den Bessergestellten. Analoges findet sich heute nicht nur in Entwicklungsländern. Wen wundert es, wenn es nach der Paleo-Ernährung auch die Mittelalter-Diät gibt (nicht Mittelmeer-): Im Mittelalter mögen die Menschen an Pest und Cholera gelitten haben – an Herz-KreislaufErkrankungen und Diabetes jedenfalls nicht. Denn gesunde Ernährung und harte Arbeit setzte sie einem viel geringeren Risiko für diese Erkrankungen aus, als uns heute, meint der britische Mediziner Roger Henderson. Seinen Angaben zufolge kam bei einem Bauern täglich auf den Tisch: zwei Laibe Brot und circa 230 Gramm Fleisch oder Fisch. Dazu eine großzügige Portion Gemüse, Bohnen oder Rüben. Zum Herunterspülen der vielen Kohlenhydrate gab es drei halbe Liter dünnes Bier. 7 Obwohl hier satte 4.000 Kalorien zusammenkommen, sei diese Kost besser fürs Herz gewesen, so Henderson. Denn die vielen Kalorien wurden in einem harten 12-Stunden-Tag schnell verbrannt. Und: Die Menschen aßen wenig Zucker – verglichen mit unserem heutigen "süßen Leben" mit Keksen, Plätzchen und Süßigkeiten (Quelle: Men’s Health) Wahre Ernährungswissenschaftler werden hier Kreislaufstörungen bekommen. Ernährungswissenschaften tauchen gegen Mitte des 19. Jahrhunderts als wesentlicher Bestandteil der Grundlagen der Medizin auf. So besteht beispielsweise das Lehrbuch des Physiologen Müller aus zwei Teilen: 1. Vegetative Physiologie und 2. Ernährung. Dies war auch die Zeit in der man beobachtete, dass bestimmte Lebensweisen oder bestimmte Ernährungsformen mit Krankheiten assoziiert sind, die man ganz direkt auch wieder empirisch beobachtet in diesem Zusammenhang sah. Es folgte das Zeitalter der Entdeckung der Vitamine. Leitvitamin, da sein Mangel eine typische und weit verbreitete Krankheit, den Skorbut auslöste, war Vitamin C. Vor allem bei Matrosen, deren Ernährung im Wesentlichen aus Schiffszwieback und Dörrfleisch bestand, trat Skorbut als Schreckgespenst auf. Zunächst fing das Zahnfleisch an zu bluten, die Zähne fielen aus, es kam zu Blutungen in den Gelenken und damit zur Arbeitsunfähigkeit und schließlich zum Tod. Teilweise skurrile empirische Beobachtungen führten jedoch dazu, dass entsprechende Rezepte gegen Skorbut entwickelt wurden. So verdankt das Skorbutkraut, auch Scharbock genannt, seinen therapeutischen Erfolg der Tatsache, dass 1730 ein Skorbutkranker Segler von seinen Kameraden zum Sterben an Land ausgesetzt wurde, der sich kriechend von Gras ernährte und gesund wurde und längere Zeit später von seinen Kameraden zu deren Erstaunen, wieder auf das Schiff aufgenommen werden konnte. Der Grund für den Erfolg lag darin, dass es sich bei diesem unscheinbaren Kreuzblütler um eine sehr gute Vitamin C-Quelle gehandelt hat. Es gäbe noch sehr viele Rezepte mitzuteilen, aber auch Irrwege und Rückschläge. Die Beobachtung von James Cook, dass Zitrusfrüchte vor Skorbut schützen, führte später zu einem Dekret von Kaiser Wilhelm II, der seinen Matrosen Zitronensäure verordnete, die allerdings nicht den erhofften Erfolg zeigte. Auch die tragische Geschichte der Franklin-Expedition, die 1845 bei einer Polarexkursion spurlos verschwand, war mit Vitamin C verbunden. Diese damals hochmodern ausgerüstete Expedition hatte, zum ersten Mal, Sauerkraut gegen Skorbut in verlöteten Dosen 8 mitgenommen. Sie bekamen zwar keinen Skorbut, sondern, wie 140 Jahre später an den im Permafrost liegenden Toten festgestellt werden konnte, starben an einer Bleivergiftung. Das Sauerkraut hatte das Blei aus den Lötnähten freigesetzt. Nach und nach wurden mehr Vitamine entdeckt. Es gab diverse Nobelpreise und wir müssen uns in die Lage der Menschen versetzen, die plötzlich beobachteten, dass Erkrankungen, wie Rachitis, oft in Kombination mit Tuberkulose, oder der gefürchtete B12-Mangel, der zu einer Anämie und zur Erkrankung des Rückenmarks führte, mit einer Behandlung besiegt werden konnten. Auch beim B12-Mangel hatte man die empirische Beobachtung gemacht, dass der Verzehr von roher Leber ganz offensichtlich die Symptome milderte oder ganz zum verschwinden brachte. Die daraus resultierende Gänslein-Diät - ein Pfund rohe Leber pro Woche - wurde aber von den Erkrankten aus nachvollziehbaren Gründen nicht in jedem Fall akzeptiert. Anders die empirische Beobachtung, dass Kinder mit Rachitis, die oft mit Tuberkulose einherging, wenn sie in die Sonne gesetzt wurden, nicht nur einen milderen Verlauf der Tuberkulose hatten und überlebten, sondern auch die rachitischen Symptome sich teilweise zurückbildeten. Die Ursache lag darin, dass das sich durch Sonnenlicht in der Haut gebildete Vitamin D nicht nur die Rachitis, als Vitamin D-Mangelerkrankung, heilte, sondern das Vitamin D auch die Bildung eines körpereigenen Antibiotikums induzierte, das die Tuberkulose bekämpfte. Letzteres wissen wir erst seit zehn Jahren. Die Entdeckung, dass es essentielle Mikronährstoffe gibt, deren Fehlen zu schweren Erkrankungen und zum Tode führen, hatte bei den Ernährungswissenschaftlern einen ähnlichen Stellenwert, wie die Entdeckung von Antibiotika bei Infektionsmedizinern. Dies hat letztlich dazu geführt, dass Empfehlungen entwickelt wurden, damit solche Erkrankungen durch diese Form der Prävention vermieden werden konnten. Auch heute entstammen die in vielen Bereichen noch gültigen Empfehlungen für die Aufnahme von Mikronährstoffen einer Zeit, in der man Mangelerkrankungen damit verhindert hat. Dies erklärt die immer noch bestehende Vorstellung, dass solange kein Mangel, d.h. keine klinischen Symptome (Skorbut, Nachtblindheit, Rachitis) vorliegen, keine Notwendigkeit besteht, Lebensmittel mit höherem Gehalt an den infrage kommenden Mikronährstoffen zu empfehlen bzw. auch auf die Einnahme von Supplementen hinzuweisen. Und damit bin ich bei der Frage, wo stehen wir heute? Eigentlich hätte alles so weiter gehen können und leider ist es auch so, dass es noch 5.000 oder mehr pflanzliche Inhaltsstoffe gibt, die auf Entdeckung warten. Und vielleicht ist ja auch ein neues Vitamin dabei? Die Frage ist, wem hilft das wirklich und liegt in der Aufklärung des 9 Wirkmechanismus von Extrakten aus grünem Tee oder Gochibeeren bis in den Zellkern die Zukunftsfrage der Ernährungswissenschaften? Wo stehen wir heute und was ist das: Ernährungswissenschaft am/für den Menschen? Die Ernährungswissenschaft heute zeichnet sich durch eine breite Diversifizierung durch unterschiedlichste Schwerpunkte und durch die unterschiedlichsten Methoden aus. Hohenheim hat beispielsweise Professuren für molekulare und angewandte Ernährungspsychologie, Ernährungsmedizin, angewandte Ernährungswissenschaft/ Diätetik, Immunologie, Biofunktionalität und Sicherheit der Lebensmittel, Gender und Ernährung, Nutrigenomics. Die im Titel gestellte Frage, ob diese Ernährungswissenschaft noch den Menschen und seine Probleme mit einer ausreichenden Ernährung im Fokus hat, muss von zwei unterschiedlichen Seiten gesehen werden. Die konsequente Fortsetzung der methodisch pharmakologischen Umsetzung von Ernährungswissen in Ernährungstherapie, d.h. von der Behandlung von Mangelerkrankungen mit einem spezifischen Agens, z.B. dem Vitamin, zeichnet sich auch in der aktuellen Forschung von/zu einzelnen Nährstoffen ab. Nur jetzt nicht mehr mit dem Ziel einen Mangel zu verhindern, sondern verbunden mit diversen Heilsversprechen. So versucht man, auf der Grundlage epidemiologischer Daten, dass z.B. Personen, die hohe Vitamin EBlutspiegel haben, seltener Herzinfarkte erleiden, diese Aussage dahingehend umzusetzen, dass man empfiehlt, man müsse nur genügend Vitamin E nehmen, um so dem Herzinfarkt vorzubeugen. Die Ansätze werden oft durch Tierexperimente und Zellkulturen gestützt. Dass Herzinfarkt die Folge von ungesundem Lebensstil, genetischer Disposition und auch ungesunder Ernährung ist, wird dabei ebenso übersehen, wie die Tatsache, dass hohe Vitamin E-Blutwerte durch eine Ernährung zustande kommt, die Vitamin E-reiche Lebensmittel enthält und nicht etwa isoliertes Vitamin E. Lebensmittel, wie z.B. pflanzliche Öle, Keimlinge oder auch spezielle Gemüsesorten enthalten aber auch weitaus mehr als nur Vitamin E und sind möglicherweise auch nichts anderes als ein Indikator für eine bestimmte Ernährungsform. In gleicher Weise kann die Beobachtung, dass der regelmäßige Genuss von Wein vor koronarer Herzkrankheit schützt, keinesfalls so umgesetzt werden, dass die im Wein vorhandene Substanz Resveratrol zwar im Tierexperiment interessante Wirkungen auf die Gefäßwände zeigt, die als Schutzwirkung zu interpretieren wären, als Gabe in Kapselform jedoch offensichtlich keine Wirkung aufweist. Auch hier muss hinterfragt werden, was sind 10 das für Menschen, die moderat Wein trinken? Haben sie vielleicht auch andere Lebensgewohnheiten, vielleicht ein spezielles Rotwein-Gen? Haben sie andere Formen von Lebensstilen, die sie vor solchen Erkrankungen schützen? Gleiches gilt für Makronährstoffe, wie z.B. Ballaststoffe. Zweifellos ist eine ballaststoffreiche Ernährung gesund. Ob sie jedoch so, wie immer behauptet wird, vor Dickdarmkrebs schützt, ist zumindest seit großen Studien aus den USA vor zehn Jahren fraglich geworden. Letztlich krankt die Ernährungswissenschaft in der Wahrnehmung des Konsumenten auch daran, dass die Aussagen, die gemacht werden, oft später wieder relativiert werden oder aber für den Verbraucher nicht nachvollziehbar sind. Da solche Aussagen aber nur selten durch die Wissenschaftler selbst in die Öffentlichkeit getragen werden, sondern medial aufgearbeitet werden, unterliegen sie einer Interpretation, die nicht wissenschaftlich, sondern eher populistisch ist. So hat die EPIC-Studie, eine europaweit durchgeführte Studie an mehr als einer halben Million Teilnehmer, ergeben, dass der reichliche Verzehr von rotem nicht aber von weißen Fleisch, also Geflügel, die Entwicklung von Kolonkrebs begünstigt. Dies wird in der Zusammenfassung der Arbeit, wie man sie auch im Internet nachlesen kann, entsprechend erwähnt. Was man jedoch erst beim genauen Lesen der Arbeit findet, ist, dass der häufige Verzehr von weißem Fleisch, nicht jedoch der von rotem Fleisch, die Entwicklung von koronaren Herzkrankheiten begünstigt. Wir haben also die Möglichkeit, uns das Risiko auszusuchen. Ähnliche mediale Verzerrungen, wie beispielsweise falsche Schlussfolgerungen oder inkorrekte Widergaben, lassen sich an einer Vielzahl weiterer Studien festmachen, die die unterschiedlichsten Ernährungsdogmen unterstützen oder auf den Kopf stellen. Nach dem Motto „bad news are good news“ oder „je stärker der Konflikt, desto höher wird die Quote“ wird hier munter in jede Richtung interpretiert, ohne dass die wissenschaftlichen Arbeiten im Detail gelesen oder auch nur annähernd vor ihrem wissenschaftlichen Hintergrund interpretiert worden wären. Dabei werden die Medien durch die Ernährungswissenschaften immer wieder hervorragend bedient. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht Wunderdinge von irgendwelchen biologisch aktiven Substanzen berichtet werden – seien es Himbeeren gegen Krebs oder Quellwasser mit Ballaststoffen gegen Übergewicht. Die Wellness- und Anti-Aging-Industrie nimmt dies dankbar auf. Da wird Bier an Tumorzellen geschüttet, die dann nicht mehr wachsen mögen, und keine 7 Tage später erscheint das Anti-Krebs-Bier oder man isst sich jung durch spezielle Marmelade. Wer 120 Jahre alt werden will, dem wird Dinner-Cancelling oder Caloric restriction empfohlen – 11 zu Deutsch Mangelernährung, wenn er nicht aufpasst. Aber es geht auch einfacher: Rotwein am Abend bzw. besser noch: Rotwein als Kapsel soll den gleichen Effekt haben. Dies ist sicherlich nicht im Sinne des Verbrauchers und führt keinesfalls dazu, dass der Einzelne am Ende weiß, was nun gesund für ihn ist und was nicht. Dabei ist diese Frage eigentlich schon einleitend beantwortet. Gesunde Ernährung ist eine gesunde Mischkost, die alle essentiellen Bestandteile in ausreichender Menge enthält. Das heißt nicht, dass dies jeden Tag der Fall sein muss, da einzelne Vitamine länger gespeichert werden können, andere weniger, aber übers Jahr gesehen, spielt die ausgewogene Mischkost eine wesentliche Rolle für die Gesundheit des Menschen. Die hoch aufwendige und teure Nationale Verzehrsstudie aus dem Jahr 2008 kommt zu dem lapidaren Ergebnis: In Deutschland besteht kein Mangel und jeder kann sich gesund ernähren! Beides richtig und doch auch wieder nicht. Die gleiche Studie stellt fest, dass 90% der Befragten die Empfehlungen für Vitamin D und Folsäure nicht erreichten, 50% die Empfehlungen für Vitamin E sowie weitere 60% die Empfehlungen für Calcium und andere Mikronährstoffe unterschritten. Typische Zeichen eines Mangels finden sich nicht und so stellt sich die Frage: Hat das Bedeutung und wenn ja, für wen? Und damit bin ich bei der Ausgangsfrage angekommen: Betreiben wir eine Ernährungswissenschaft für den Menschen, die im Sinne einer gesunden Entwicklung des Menschen zu verstehen ist? Was könnte man unter einer Ernährungswissenschaft verstehen, die sich am Menschen orientiert, d.h. an seinen Bedürfnissen? Weltweit gibt es eine Milliarde Hungernde mit wachsender Tendenz und eine Milliarde stark Übergewichtiger. Beide haben ein gemeinsames Problem: Chronische Fehl- bzw. Mangelernährung. Bei Übergewichtigen besteht die Fehlernährung in oft einseitigem Verzehr energiedichter Lebensmittel, d.h. Fast Food oder auch sehr energiereiche Lebensmittel. Im Fall der Hungernden besteht die Fehlernährung entweder in einer verringerten Energieaufnahme, was zu Untergewicht führt, oder aber, was sehr viel häufiger ist, in einer chronischen 12 Unterernährung, d.h. im Fehlen von essentiellen Mikronährstoffen bei durchaus adäquater Energieversorgung. Auch im Fall der Übergewichtigen gibt es zunehmend Daten, dass durch die einseitige Ernährung wesentliche essentielle Vitamine und Spurenelemente fehlen, ohne dass hierdurch Zeichen eines klinischen Mangels auftreten müssen, was durchaus auch für die chronisch Unterernährten in den Entwicklungsländern gilt. Daher ist für diese Form der Fehlernährung der Begriff „Hidden Hunger“ (Versteckter Hunger) eingeführt worden. Hidden Hunger, weil sich eben klinische Zeichen dieses moderaten Defizits nicht sichtbar machen und dennoch hat dieser Hidden Hunger teilweise schwerwiegende Konsequenzen. So trägt er im Wesentlichen zur hohen Kindersterblichkeit bei Kindern aus Entwicklungsländern vor erreichen des fünften Lebensjahres bei. 22.000 Kinder sterben pro Tag an den Folgen der Unterernährung. Hidden Hunger ist verantwortlich für eine nachhaltige Störung des Immunsystems, der die Entwicklung von Krankheiten begünstigt. Hidden Hunger ist ebenfalls verantwortlich für die hohe Mütter- und Neugeborenensterblichkeit in Entwicklungsländern. Grundursache für den Hidden Hunger ist Armut, gefolgt von mangelnder Bildung. Dies ist in entwickelten Ländern genauso wie in unterentwickelten der Fall. Während die gezielte Behandlung des Übergewichtes gerade bei Kindern durchaus dazu beitragen kann, dass sich diese Kinder normal entwickeln und keine Erkrankungen aufweisen, ist eine Umkehr der Folgen des Hidden Hunger bei Kindern mit chronischer Mangelernährung jenseits des dritten Lebensjahres nicht mehr möglich. Und dies hat erhebliche Konsequenzen für die körperliche wie geistige Entwicklung der Kinder und damit ganz wesentlich für ihr späteres Leben, ihre Gesundheit und Produktivität. Sie befinden sich in einem teuflischen Kreislauf: Mangelernährung Schwache Gesundheit Geringe Produktivität Armut Mangelernährung Eine Erkenntnis, die nicht von den Ernährungswissenschaften, sondern von den Ökonomen kommt. Vor diesem Hintergrund wird die kürzlich gemachte Äußerung der neuen Direktorin des World Food Programms verständlich: Investition in Ernährung ist Investition in Entwicklung Weshalb ist das so? 13 Historisch gesehen war das Leben unserer Vorfahren der letzten Jahrhunderte kurz und beschwerlich mit einer ungesunden, weil einseitigen und vor allem auch quantitativ immer wieder unzureichenden Kost. Eine mittlere Lebenserwartung von 32 bis 40 Jahren in Mitteleuropa war noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts auch das Ergebnis großer Hungersnöte, die vor allem die Armen trafen, sowie eine starke Einseitigkeit und schwankende Verfügbarkeit der regional erzeugten Lebensmittel. Die mittlere Energieaufnahme in Frankreich lag zu Beginn des 18. Jahrhunderts bei 1.700 kcal, eine Energiemenge, die 1965 den Bewohnern Ruandas zur Verfügung stand. Und es waren nicht die Ernährungswissenschaften, die auf einen Zusammenhang zwischen Ernährung und Lebenserwartung hingewiesen haben, sondern die Ökonomen. Allen voran Robert William Fogel, der für die Beschreibung des Zusammenhanges zwischen Mangelernährung, Produktivität und Lebenserwartung 1993 den Nobelpreis erhielt. Aufzeichnungen über Lebenserwartung und körperliche Entwicklung ergeben für das frühe 19. Jahrhundert einen eindeutigen Bezug zwischen sinkender Lebenserwartung und sinkender Körpergröße als Ergebnis einer chronischen Unterernährung. Dabei bestand die chronische Unterernährung im Wesentlichen aus einem nicht bedarfsdeckenden Energiedefizit. Die zu leistende Arbeit verbrauchte oft weit mehr Kalorien, als durch die magere Ernährung verfügbar war. Je quantitativ und qualitativ schlechter die Ernährung, desto geringer die Leistungsfähigkeit, was wiederum dazu beitrug, dass unweigerlich der Weg in die Armut folgte. Dies müssen wir berücksichtigen, wenn es um die Bedeutung der Mangelernährung in Entwicklungsländern, aber auch in unseren Breiten geht. Fogels Beobachtung ist, dass Hungersnöte weit weniger zu der geringen Lebenserwartung beitrugen als die chronische Mangelernährung. Die Verbesserung der Ernährungsqualität wie auch des Angebotes an Lebensmitteln hat, so Fogel, ganz wesentlich zur Steigerung der Lebenserwartung im ausgehenden 19. und dem 20. Jahrhundert beigetragen, und damit auch zu mehr Produktivität und wirtschaftlichem Wachstum. Eine Beziehung zwischen Körpergröße und Sterblichkeit lässt sich heute auch in entwickelten Ländern (Norwegen, USA u.a.) erkennen. Bei einer Körpergröße von weniger als 160 cm nimmt die Sterblichkeit bis zum 2,5-fachen (Körpergröße 142 cm) zu. Dies hat Hans Waaler 1984 an Norwegischen Männern beschrieben. Immerhin hat Norwegen eines der besten Gesundheits- und Vorsorgesysteme weltweit. Die gesteigerte Sterblichkeit gilt unabhängig vom Körpergewicht, d.h. kleine Männer mit demselben BMI wie große Männer haben eine geringere Lebenserwartung. 14 Verzögertes Längenwachstum in den ersten 3 Lebensjahren, auch als Stunting bezeichnet, ist ein sicherer Indikator für Mangelernährung. Dieses verzögerte Längenwachstum kann später nicht mehr aufgeholt werden, bleibt also als Kennzeichen dieser frühen Mangelernährung bestehen. Gleiches gilt für die durch diese Mangelernährung bewirkte eingeschränkte körperliche und geistige Entwicklung. Tatsache ist auch, dass die chronische Mangelernährung im Kindesalter auch Krankheiten begünstigt, die wiederum den Nährstoffbedarf steigern und damit den Mangel verstärken. Auch dies konnte der Nobelpreisträger Fogel an einem Beispiel besonders eindrucksvoll dokumentieren. Kleine Männer wurden seltener für die U.S. Army rekrutiert als große, da kleine Männer häufiger chronisch krank waren. Sie litten bis zu dreimal häufiger an Kreislauferkrankungen, Parodontitis oder Leistenbrüchen, Erkrankungen als Folgen schlechter, unzureichender Ernährung und dadurch ausgelösten Entwicklungsstörungen. Stunting ist das Ergebnis einer Mangelernährung in den ersten drei Lebensjahren, den sogenannten kritischen 1.000 Tagen. Hier werden die Weichen für das spätere Leben gestellt. Was hier versäumt wird, hat Konsequenzen für die Zukunft und, so die Ergebnisse der Studien von Fogel, vor allem für Lebensqualität und Lebenserwartung. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Arbeiten von Waaler und Fogel den meisten Ernährungswissenschaftlern unbekannt sind. Was sagt die Ernährungswissenschaft dazu: Wird der Tatsache, dass auch in unserem Land Armut dazu beiträgt, dass vor allem Kinder und alte Menschen schlecht ernährt sind, erfasst bzw. reklamiert? Bei Kindern hat eine unzureichende Ernährung die oben geschilderten Konsequenzen; bei alten Menschen führt eine qualitativ schlechte Ernährung zu gehäuften Erkrankungen und deutlicher Einschränkung der Lebensqualität. Man kann hier vielfältige Berechnungen anführen, über die Möglichkeiten eine gesunde, d.h. bedarfsgerechte Ernährung zu erhalten, letztendlich ist es eine Frage der verfügbaren Haushaltsmittel. Auch für Kinder, die in Deutschland in armen Verhältnissen aufwachsen, gilt, dass eine Ernährung die qualitativ nicht den Ansprüchen entspricht, Konsequenzen für das spätere Leben der Kinder hat. Dies betrifft nicht nur das häufigere Auftreten von Erkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck bei Kindern aus sozial schwachen Familien im späteren Erwachsenenalter, wie schwedische Studien gezeigt haben, sondern auch die fatale Beziehung zur Lebensperspektive. 15 Der Bezug zwischen Ernährung und Entwicklung, d.h. der Fähigkeit zum Arbeiten und zur Produktivität ist nicht von Ernährungswissenschaftlern beschrieben worden, sondern von Ökonomen. Und so verwundert es auch nicht, dass kürzlich im Rahmen einer Veranstaltung der WHO auf die Frage, wie denn die Ernährungswissenschaften zu dem Problem stehen und warum man nichts höre, folgende Antwort kam: Ernährungswissenschaftler unterhalten sich eben nur mit sich selbst. Und dies ist leider richtig. Und so schließt sich hier wieder der Kreis. Es war nicht ein Ernährungswissenschaftler, der den Nobelpreis für die „Beobachtung des Zusammenhangs zwischen Mangelernährung, geringerem Längenwachstum und eingeschränkter Produktivität sowie erhöhter Sterblichkeit erhalten hat, sondern ein Ökonom. Durchaus selbstkritisch möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass die seit Jahren vorangetriebene konsequente Agrarwissenschaften und der Trennung der Medizin genau Ernährungswissenschaften diese Entwicklung von den begünstigt hat. Ernährungswissenschaft hat sich von der grundlegenden Aufgabe, dem Menschen zu sagen, wie er sich ernähren muss, damit er gesund und leistungsfähig bleibt, teilweise weit entfernt und bedient in vielen Bereichen gewollt oder ungewollt einen Wellnessmarkt, dessen skurrilste Empfehlungen im Bezug auf gesunde Ernährung durch Ernährungswissenschaftler noch nicht einmal hinterfragt, geschweige denn öffentlich kritisiert werden. Ernährungswissenschaft gefällt sich in der immer stärker zu beobachtenden Anwendung molekularbiologischer Methoden und aufwendiger technischer Verfahren. Auch die gut gemeinten Ernährungskreise und -pyramiden haben keinen direkten Bezug zur Lebensmittelqualität und der Sicherung einer ausreichenden Versorgung. Die scheinbar einfache Frage, wie lässt sich der Hidden Hunger erfassen und wie können wir ihn vorbeugend vermeiden, bleibt unbearbeitet - auch weil eben wissenschaftlich uninteressant. Der berechtigte und nachvollziehbare Kampf gegen die Adipositas, vor allem bei Kindern, schlägt sich im Jahr 2011 in 19.500 Publikationen nieder. Immerhin kennen wir jetzt 600 Gene, die einen Einfluss auf die Entwicklung des Übergewichtes haben können. Nicht zuletzt ist der Boom in dieser Forschung darauf zurückzuführen, dass dies für die Industrie ein starker Markt ist, da die Forschung zeigt, welche Folgen Adipositas hat und jeder Laie inzwischen weiß, was Übergewicht und seine Folgen bedeuten. 16 Ganz anders bei der chronischen Mangelernährung: wer weiß schon, was Stunting bedeutet und welche Folgen die Unterernährung hat? Es wäre eine wesentliche Aufgabe der Ernährungswissenschaften, diese Zusammenhänge auch im Bereich der Forschung deutlich zu artikulieren. Der Kampf gegen die Mangelernährung und insbesondere gegen die chronische Unterernährung von Kindern zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr weist dagegen genau 43 Publikationen auf. Die FAO, die Food and Agricultural Organisation mit Sitz in Rom, hat sich bezüglich der Behebung der Mangelernährung durchaus auch nicht mit Ruhm bekleckert. Sie hat allerdings eine Definition von Lebensmittelsicherheit, die offensichtlich an den etablierten Ernährungswissenschaften, zumindest was den deutschen Raum angeht, noch vorbei gegangen sind. Die Definition der Lebensmittelsicherheit der FAO steht auf vier Pfeilern: Pfeiler 1: Verfügbarkeit von Lebensmitteln Pfeiler 2: Zugang zu Lebensmitteln Pfeiler 3: Nahrhafte Lebensmittel, d.h. solche, die ausreichend essentielle Mikronährstoffe enthalten und Pfeiler 4, der jetzt neu hinzu gekommen ist: Preisstabilität. Diese vier Pfeiler berücksichtigen, dass Mangelernährung ein Problem der armen Bevölkerung ist. Das gilt beileibe nicht nur für Entwicklungsländer, da Hidden Hunger durch eingeschränkte Lebensmittelwahl mit geringerer Qualität, d.h. geringerer Mikronährstoffdichte eine Frage des verfügbaren Etats als auch der Bildung ist. Dies betrifft in Deutschland nicht nur Kinder in Hartz IV-Familien, und es ist erschreckend zu hören, dass im letzten Jahr in 200.000 Haushalten sozial schwacher Familien der Strom abgeschaltet wurde, sondern eben auch die wachsende Menge an armen Alten. Diese sind auch, wenn es um Ernährung geht, Opfer einer, wie es Cornel Sieber, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin im Rahmen einer Podiumsdiskussion ausdrückte, Zwei-Klassen-Medizin. Die Aussage „Bei uns gibt es keinen Mangel, jeder kann sich gesund ernähren“ ist oberflächlich betrachtet nicht grundsätzlich falsch. Falsch ist es jedoch, mit diesem Satz die Hände in den Schoß zu legen - nach dem Motto „alles im grünen Bereich“. Die vielen Studien aus Entwicklungsländern aber auch den USA und Großbritannien sprechen hier eine andere Sprache. 17 Richtig ist, wir sehen kaum schwere Vitaminmangelerkrankungen und haben ein sehr breites Angebot an Lebensmitteln. Allerdings trifft die Aussage nicht auf jeden zu. Armut gibt es auch bei uns und eine Ernährung, die nicht nur satt macht, sondern auch noch qualitativ ausreichend ist, hat ihren Preis, den nun mal nicht jeder bezahlen kann. Studien zur Versorgung von Kindern in der kritischen Zeit zwischen 6 und 59 Monaten fehlen bei uns ebenso, wie Studien, die die Ernährungssituation alter Menschen erfassen. Zweifellos besteht in Deutschland kein Hinweis darauf, dass es in größeren Bevölkerungsgruppen zu Vitaminmangelerscheinungen kommt, jedoch dürfte auch in Deutschland das Problem des Hidden Hunger weiterhin verborgen bleiben, da es weder beforscht wird noch in irgendeiner Form eine Lobby hat. Legt man als Indikator der chronischen Mangelernährung das Stunting (also das verzögerte Längenwachstum) zu Grunde, so gibt eine kürzlich durchgeführte Studie des Soziologen Baten aus Tübingen zu denken. Indikator für die Versäumnisse in den ersten Lebensjahren ist, wie bereits erwähnt, die geringere Körperlänge im Vergleich zu gut ernährten Kindern. Schlechte, d.h. qualitativ unzureichende Ernährung, ist aber eine wesentliche Begleiterscheinung in sozial schwachen Familien. Der Soziologe Baten und der Mediziner Böhm kommen 2011 in einer Untersuchung von 283.050 Kindern im Alter von 6 Jahren im Raum Brandenburg, bei denen Informationen zum Längenwachstum sowie zum sozioökonomischen Status vorliegen, zu folgendem Ergebnis: Kinder aus Familien mit geringem Einkommen sind gegenüber Kindern aus Familien mit besserem sozioökonomischem Status signifikant kleiner. Die Autoren schlussfolgern, dass das geringere Längenwachstum Folge einer fehlenden Betreuung / Zuwendung der Eltern ist. Leider wird die Frage, inwieweit eine unzureichende Ernährung in den ersten Lebensjahren der Kinder eine Rolle gespielt haben könnte, nicht erörtert, wohl auch weil Daten fehlen. Für einen Einfluss der Ernährung spricht allerdings auch die Tatsache, dass Kinder aus Familien mit drei und mehr Kindern häufiger betroffen sind. Kinder aus Haushalten mit zwei Kindern waren um 0,5 cm kleiner; Kinder aus Haushalten mit 4 und mehr Kindern sogar um 1,8 cm. Kinder aus Haushalten, in denen die Mutter weniger als 10 Schuljahre hatte, waren um 0,8-0,9 cm kleiner als Kinder aus Familien mit höherer Bildung. Dies deckt sich mit Studien aus Großbritannien und den USA, wo gezeigt wurde, dass Kinder aus Familien mit geringem Einkommen und mehreren Geschwistern weitaus häufiger Merkmale der Mangelernährung und Stunting aufwiesen. Auch in Deutschland reicht der verfügbare Etat für eine qualitativ ausreichende Ernährung in den sozial schwachen Gruppen nicht aus. Hierbei gilt zu berücksichtigen, dass jede Art von Preissteigerung zu einer weiteren Einschränkung der Möglichkeiten führt, qualitativ 18 hochwertige Lebensmittel zu erwerben. Energiereiche Lebensmittel sind preisgünstiger und haben eine geringer Dichte an Mikronährstoffen. Die Folgen sind das in sozial schwachen Familien häufiger zu beobachtende Übergewicht und eben die durch den verborgenen Hunger ausgelösten Entwicklungsstörungen. Wobei sich das gleichzeitige Auftreten von Stunting und Übergewicht nicht ausschließen. Sieht man sich in den Professuren für Ernährungswissenschaften in Deutschland um, so findet man alle möglichen Diversifizierungen. Eine Professur, die zentral das Thema Ernährungssicherheit im Sinne einer adäquaten Versorgung verschiedenster Bevölkerungsgruppen zum Gegenstand hat, wird man jedoch vermissen. Warum? Die sich als modern betrachtende Ernährungswissenschaft, modern im Sinne der verwendeten Methoden, sieht hierin offensichtlich keine Herausforderung. Ernährungsberatung, Erstellung von Empfehlungen oder ab und zu kleine Studien zu Mangelernährung, z.B. bei Krankenhauspatienten, spielen sich am Rande ab. Mit diesen Fragestellungen kann heute kaum ein junger Mensch eine wissenschaftliche Karriere aufbauen. Als Randbemerkung: Dem Trend folgend wurde die Professur Ernährungspsychologie an der Universität Hohenheim als Professur für molekulare und angewandte Ernährungspsychologie ausgeschrieben. Für die Zukunft stellt die Sicherung einer qualitativ ausgewogenen Ernährung für die Weltbevölkerung eine große Herausforderung dar. Keinesfalls ist der Ansatz, dass die Energiemenge nur ausreichend sein muss, um die Weltbevölkerung zu ernähren, dabei erfolgversprechend. Er dient lediglich dazu, vorzurechnen, dass wir in der Lage wären, diese Energiemenge bereit zu stellen. Diese beruht jedoch auf der Berechnung von Grundnahrungsmitteln wie Weizen, Hirse, Mais und Soja, die hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung mit Mikronährstoffen keine wirkliche Alternative sind, da die wenigen darin vorhandenen Mikronährstoffe auch noch sehr schlecht aufgenommen werden. Mit Hinblick auf den bereits erwähnten Satz, dass Investition in Ernährung eine Investition in Entwicklung ist, hat das/der? Kopenhagener Konsensus, eine Versammlung von 40 international renommierten Wirtschaftswissenschaftlern (darunter viele Nobelpreisträger), vor zwei Wochen lapidar festgestellt, dass die Verbesserung der Produktivität und damit der Leistungsfähigkeit gerade von Entwicklungsländern mit Ernährungsproblemen in erster Linie 19 durch eine gezielte Intervention mit Verbesserung der Mikronährstoffversorgung angestrebt werden muss. Eine Ernährungswissenschaft für den Menschen darf sich nicht nur an den noch so attraktiven Methoden der molekularen Zellbiologie bzw. der Genomik orientieren. Sie muss auch die Ernährungsprobleme im Auge haben und dabei abwägen, welchen Stellenwert sogenannte bioaktive Inhaltsstoffe mit Anspruch auf ewige Jugend oder fragliche Prävention von Erkrankungen im Alter im Vergleich zur Durchsetzung einer Ernährung für Kinder mit dem Anspruch auf eine kindgerechte körperliche, wie mentale Entwicklung haben. Damit stellt sich abschließend die Frage, wo geht es hin? Mangelernährung, ihre Ursachen und unumkehrbaren Folgen resultieren aus einer Vielzahl von Variablen, zu denen Einkommen, Bildung, aber auch fehlender politischer Wille gehören. Faktoren, die von den Betroffenen nicht beeinflusst werden können, sie aber immer tiefer in die Armut und damit die Mangelernährung treiben, sind der zunehmende Landraub, die Erzeugung von Treibstoffen aus Lebensmitteln, Klimawandel und Spekulationen mit Grundnahrungsmitteln. Ernährungswissenschaft muss sich, wenn sie gehört und ernst genommen werden will, mit anderen Fachgebieten wie Soziologie, Ökonomie und Agrarwissenschaften vernetzen. Ernährungswissenschaft bleibt bei aller methodischen Zauberei, die jeder Naturwissenschaftler ohne jede Kenntnis in Ernährung anwenden kann, ein empirisches Fach und hat die wesentliche Kompetenz in der Erforschung und Durchsetzung der Ernährungsbedürfnisse des Menschen. Ernährungswissenschaft lässt sich vorantreiben durch Partikularinteressen und lässt es zu, dass aus Zellkulturergebnissen und epidemiologischen Studien Empfehlungen abgeleitet werden, die jeder Grundlage entbehren. Den Ernährungswissenschaften fehlt die unabhängige Fachvertretung, die sich in solchen Fällen konsequent und lautstark zu Wort meldet. „Back to the routes“ sollte das Motto für die kommenden Jahre sein. Ernährungswissenschaft hat sich in vielen Fällen die Methoden der biologisch-medizinischen Forschung angeeignet, die keinen Bezug mehr zu den grundlegenden Ernährungsbedürfnissen des Menschen haben. Lebensmittelinhaltsstoffe werden wie Medikamente beforscht. Nicht umsonst hat sich analog zu den Pharmazeutika der Begriff der Nutraceutika eingebürgert. Damit aber hat sie ihr eigentliches Ziel, den Menschen, aus den Augen verloren. Ein Focus der zukünftigen Forschung sollte auf dem Lebensmittel als Ganzem und weniger auf 20 einzelnen isolierten Inhaltsstoffen liegen. Das einzelne Lebensmittel als Quelle der essentiellen Inhaltsstoffe und damit seine Bedeutung und sein Anteil an einer adäquaten Ernährung im Rahmen einer ausgewogenen Mischkost sollte wieder im Zentrum stehen. Der reduktionistische Ansatz, ein Lebensmittel auf einen Inhaltsstoff, und sei er noch so exotisch, zu beziehen und so die gesundheitliche Wirkung erklären zu wollen, führt, wie die Vergangenheit gezeigt hat, oft in die Irre. Gesunde Ernährung ist nicht mehr und auch nicht weniger als eine Ernährung, die bei ausgeglichener Bilanz ausreichend Energie enthält, die auch ausreicht um produktiv zu sein, sowie alle essentiellen Stoffe, die der Mensch für seine Entwicklung und Körperfunktionen braucht. Abschließend sei der Nobelpreisträger für Ökonomie Vernon Smith zitiert: Eine der erfolgversprechendsten Investitionen ist es, Nährstoffe zu den Unterernährten dieser Welt zu bringen. Der Vorteil einer solchen Maßnahme in Bezug auf verbesserte Gesundheit, Bildung und Produktivität, ist gewaltig. Dies immer wieder deutlich zu machen und durchzusetzen ist Sache einer Ernährungswissenschaft, die sich am Menschen orientiert. 21