RingVO Methoden und Disziplinen der Philosophie Einheit v. 25.11.2010 / Prof. Dr. Stadler Handout zur Prüfungsvorbereitung Tutorium Carina Tiefenbacher Dieses Handout fasst die wichtigsten Punkte zur Vorbereitung für den ersten Prüfungstermin zusammen. Es ist teils in Stichworten gehalten und verzichtet auf vollständige Zitation etc. Es dient als Hinweis zur eigenständigen Vorbereitung und ersetzt nicht den Besuch der VO oder das Lesen der Pflichtlektüre. Rückfragen bitte an: [email protected] Relativismus Der Relativismus geht davon aus, dass die Wahrheit von Aussagen immer bedingt ist. Das heißt, dass Aussagen nie durch Letztbegründungen gerechtfertigt werden können, sondern immer nur in Bezug auf ihre Rahmenbedingungen / Kontexte gültig sind. Das heißt, dass Aussagen relativ zu ihren Bedingungen sind. Es gibt keinen privilegierten Zugang zu den Dingen, sondern alle Perspektiven sind gleich gültig. Es werden folgende Formen des Relativismus unterschieden: - erkenntnistheoretischer (oder epistemologischer) Relativismus: alle Wissenssysteme sind gleichermaßen wahr - ethischer Relativismus: alle Moralvorstellungen und Werte sind gleich gut - ästhetischer Relativismus: alle Schönheitskriterien sind gleich gültig - wissenschaftstheoretischer1 Relativismus: alle Theorien und Hypothesen nur in Bezug auf ihre Rahmenbedingungen wahr oder gültig Die Vorstellung einer absoluten (umfassenden, zeitlosen, bedingungslosen,..) Wahrheit wird aufgegeben zugunsten der Gültigkeit von Aussagen in bestimmten Kontexten. Ernest Gellner2 Definiert den Relativismus nicht als Lehrmeinung, sondern als eine Klasse von Lehrmeinungen, die eine Kernidee teilen: Nämlich dass etwas / ein X relativ ist in Bezug auf etwas anderes (ein Ding, eine Bewertung, ein Wahrheitswert, eine Variable, einen Bereich usw.). Das heißt: X variiert mit einer Variablen. Funktionale Wechselwirkung und Veränderbarkeit, die in einem Bereich angenommen werden, in dem es auf den ersten Blick die Annahme gibt, dass es 1 Wissenschaftstheorie: beschäftigt sich mit den Grundlagen, Methoden und Zielen der Wissenschaften und untersucht systematisch das wissenschaftliche Wissen. 2 Siehe Reader: Artikel von Ernest Gellner, „Relativismus (1)“ in: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. Hrsg. von Helmut Seiffert und Gerard Radnitzky. München: dtv 1992: S. 287-296. 1 RingVO Methoden und Disziplinen der Philosophie Einheit v. 25.11.2010 / Prof. Dr. Stadler Handout zur Prüfungsvorbereitung Tutorium Carina Tiefenbacher keine solche funktionale Wechselwirkung und Veränderbarkeit geben sollte. Das heißt, ein Relativist oder eine Relativistin widerspricht einer Erwartung. Gellner charakterisiert den Relativismus als erschreckend und immer mit einem Skandal verbunden (negative Konnotation des Begriffs „Relativismus“). Der Bezug auf Normen scheint auch zentral für den Begriff des „Relativismus“ zu sein (vgl. „Kulturrelativismus“). Gellner stellt dem Relativismus den Absolutismus gegenüber. Er betont, dass dann jemand für einen Relativisten oder eine Relativistin gehalten wird, wenn er oder sie von funktionaler Wechselwirkung und Veränderbarkeit spricht, obwohl kein Kontrollmechanismus dazu angegeben werden kann. Also wenn er oder sie nicht genau beschreiben kann, nach welchen Faktoren sich die behaupteten Veränderungen vollziehen, oder welches Prinzip hinter den konkreten Veränderungen steht, bzw. so ein Prinzip überhaupt leugnet. Relativistische Positionen können dieses Prinzip der Veränderbarkeit oft nicht angeben, das ist jedoch laut Gellner ein großes Manko, da der Relativismus so eine „recht schwächliche Lehre“ darstellt. Gellner spricht von der wichtigen Unterscheidung zwischen deskriptivem und normativem Relativismus, die nicht ignoriert werden darf: - deskriptiver Relativismus: Ebene der Beschreibung. Es wird behauptet, dass in einem Bereich funktionaler Wechselwirkung und Veränderbarkeit besteht, wo es sonst nicht angenommen wurde, also dass „Individuen, Gemeinschaften, Zeitalter usw. tatsächlich eine bestimmte Angelegenheit auf verschiedene Art beurteilen“3. - normativer Relativismus: führt zusätzlich eine wertende Ebene ein, behauptet, dass die Veränderbarkeit mit Recht geschieht. Normative RelativistInnen vertreten laut Gellner die Position, dass „es in der Natur des jeweiligen Gebietes liegt, dass das, was tatsächlich gültig ist, sich mit der Identität dessen wandelt, der das Urteil abgibt“4. Wenn sich also mehrere Urteile über ein und dieselbe Sache von einander unterscheiden, dann nicht weil bei einigen Urteilen Irrtum vorliegt, oder weil einige Urteile auf Fehlinformationen beruhen, sondern diese verschiedenen Urteile in Bezug auf ein und dieselbe Sache sind korrekt (auch wenn sie sich widersprechen). 3 4 Gellner, S. 289. Ebd. 2 RingVO Methoden und Disziplinen der Philosophie Einheit v. 25.11.2010 / Prof. Dr. Stadler Handout zur Prüfungsvorbereitung Tutorium Carina Tiefenbacher Geller kritisiert, dass diese wichtige Unterscheidung immer wieder verwischt wurde. Warum ist das passiert? „Es ist leicht, den Übergang vom deskriptiven zum normativen Relativismus durch die Perspektive zu finden, dass es keine Norm gibt, die über die gewöhnlichen, täglichen, untersten Normen, die im Konflikt miteinander stehen, zu Gericht sitzen könnte“5. Es gibt dann keine Meta-Norm, keinen Maßstab für eine Bewertung, welche diese alltäglichen miteinander rivalisierenden Normen gegeneinander abwiegen könnte. Ein anderes Problem sieht Gellner darin, dass ein so gedachter Relativismus nicht widerspruchsfrei formuliert werden kann. Denn ein deskriptiver und zugleich normativer Relativismus verabsolutiert sich sozusagen selbst. Gellner stützt sich dabei auf das Kreter-Paradoxon oder Paradoxon des Epimenides: Epimenides der Kreter sagte: Alle Kreter sind Lügner. → Die Selbstanwendung des Relativismus; wieso sollten diejenigen, die den Relativismus behaupten, von ihm ausgenommen sein? Kann der Relativismus selber relativ sein? Gellners Antwort lautet: Nein, wenn eine relativistische Position vertreten wird, dann wird immer versucht, die eigene Position nicht als relativ, sondern als absolut hinzustellen. Der normative Relativismus widerspricht sich also selbst. Reichenbach6 Reichenbach unterscheidet Entdeckungs- und Begründungszusammenhang. „Wie eine Behauptung zustande gekommen ist, sagt in der Regel nichts über ihre Wahrheit oder Falschheit aus“. - Entdeckungszusammenhang oder Context of discovery: Kontext in dem bestimmte Argumente vorgebracht werden. Dazu zählen psychische, soziale, historische, persönliche etc. Faktoren. Mithilfe dieses Context of discovery lassen sich Ursprung und Entwicklung von Hypothesen und Theorien zur Ermittlung der „Genese“ erstellen. - Begründungszusammenhang oder Context of Justification: Argumente, mit denen eine bestimmte Behauptung gestützt wird. Mithilfe des Context of Justification lassen sich rationale (logische) Rekonstruktionen von Hypothesen und Theorien anstellen, um deren Wahrheit und Gültigkeit festzustellen. 5 6 Gellner, S. 289. Vgl.: PowerPoint-Folien von Prof. Stadler, Folie 13-14. 3 RingVO Methoden und Disziplinen der Philosophie Einheit v. 25.11.2010 / Prof. Dr. Stadler Handout zur Prüfungsvorbereitung Tutorium Carina Tiefenbacher (Hinter der Unterscheidung stand der Gedanke, dass wissenschaftstheoretische Untersuchungen zufällige psychologischer Art, aus Bedingungen, besonders wissenschaftlichen soziologischer und (Kausal-)Erklärungen und Begründungen ausschließen sollten.) → Das grundlegende Problem, das sich hier auftut: Gibt es eine (lineare) Rationalität und eine (historische) Relativität der wissenschaftlichen Entwicklung zugleich? Kann man beides gleichzeitig annehmen? Oder schließt das eine das andere aus? (vgl.: Feyerabend: Rationalität hat selbst eine Tradition; vgl.: Kuhn: Paradigmen als historisch-kontingente Begründung von u.a. „Rationalität“) Science Wars7 In der modernen Wissenschaftsphilosophie spricht man von der „historischen und soziologischen Wende“ in der Wissenschaftstheorie / Philosophy of Science seit den 1960er Jahren. Vorspiel dazu: Ernst Machs „Erkenntnis und Irrtum“, sowie später Wittgenstein. ProtagonistInnen der Wende: u.a. Thomas Kuhn, Ludwik Fleck und Paul Feyerabend. Infolge dieser Wende gab es ab den 90ern eine wissenschaftliche Kontroverse, die „Science Wars“. Ausgehend von „Sokal-Affäre“: Der Physiker Alan Sokal publizierte 1996 den Aufsatz Transgressing the Boundaries: Toward a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity8 in Social Text, einer Zeitschrift für Cultural Studies, die einen postmodernen Ansatz verfolgte. Erst nach der Publikation erklärte Sokal, dass es sich hier um eine Streich handelte: Er parodierte in diesem Text den “postmodernen” Sprachduktus. Ein solch lächerlicher Text mit unsinnigem Inhalt wurde ernst genommen, daraus schloss Sokal: mangelhafte akademische Standards. Es entbrannte eine heftige öffentliche Diskussion9 über den Stellenwert der postmodernen Philosophie, v.a. zwischen US-NaturwissenschaftlerInnen und französischen VertreterInnen der Postmoderne → Es bildeten sich bald zwei Lager, die „Modernen“ und die „Postmodernen“. Im Jahr darauf erschien das mit Jean Bricmont gemeinsam geschriebene Impostures Intellectuelles/Fashionable Nonsense10, das schnell zum Bestseller 7 Vgl.: PowerPoint-Folien von Prof. Stadler, Folie 6. Alan Sokal, „Transgressing the Boundaries: Toward a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity“, in: Social Text (1996); “A Physicist Experiments with Cultural Studies”, in: Lingua Franca 5-6/1996 9 Texte zur Debatte um den Artikel in Social Text und Fashionable Nonsense: siehe http://www.physics.nyu.edu/faculty/sokal/#papers 10 Alan Sokal/Jean Bricmont, Impostures Intellectuelles/Fashionable Nonsense (1997), Deutsch: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen (1999). 8 4 RingVO Methoden und Disziplinen der Philosophie Einheit v. 25.11.2010 / Prof. Dr. Stadler Handout zur Prüfungsvorbereitung Tutorium Carina Tiefenbacher avancierte. Zielscheibe waren v.a. die Cultural Studies sowie die postmoderne Philosophie im Allg. und die feministische Philosophie im Besonderen. Sokal und Bricmont attackierten – verkürzt und höchst polemisch – u.a. folgende DenkerInnen der sog. Postmoderne / Dekonstruktion / Poststrukturalismus: Jean Baudrillard, Gilles Deleuze/Félix Guattari, Luce Irigaray, Julia Kristeva, Jacques Lacan und Bruno Latour. Vorwürfe an Postmoderne durch Sokal und Bricmont: - Mißbrauch von Theorien und Begriffen der Naturwissenschaften (in Verbindung mit typisch postmodernem, elegantem Jargon) - u.a. aus politischen Motiven (betrifft v.a. intellektuelle Linke Frankreichs) - Irrationalität - Unwissenschaftlichkeit - Verfall der wissenschaftlichen Qualität und „schlampiges Denken“ - Relativismus als großes Übel Es wurde im Zuge der Debatte immer auch auf Texte des Wiener Kreises, von Popper, Kuhn und Feyerabend zurückgegriffen. Hinter der Debatte steht auch eine Neubewertung des Verhältnisses zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften – welche gelten als nützlich, sind angesehen, bekommen Förderungen? Was gilt überhaupt als wissenschaftlich? (Hinw.: In Frankreich andere wiss. Tradition als in USA, großere Nähe zu Öffentlichkeit, literarischer Zugang verbreitet →) Nun stellten sich neue Fragen wie jene nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Literatur (Grenze verschwimmt bei französischen DenkerInnen wie zB. Derrida, findet sich aber auch zB. bei Feyerabend! siehe Text im Reader11); oder die Frage nach Einheit oder Vielheit der Wissenschaften. Weitere Themen, die im Zuge der Debatte diskutiert wurden: Konstruktivismus, Skeptizismus, Subjektivismus, Relativismus, Feminismus. Sokal und Bricmont gehen davon aus, dass postmodernes Denken dem wissenschaftlichen entgegengesetzt ist. Stimmt das? → Auswirkungen auf (Natur)wissenschaften: Diskussion über formalisierte Methode gegenüber einem Realismus/Materialismus und Objektivismus wissenschaftlicher Rationalität mit Wahrheitsanspruch. Die Debatte wurde nie entschieden, sie löste sich nach einiger Zeit einfach auf. Postmoderne Antworten auf die Vorwürfe u.a. von Bruno Latour: Was beweist der 11 Paul Feyerabend, „Relativismus (2)“ in: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. Hrsg. von Helmut Seiffert und Gerard Radnitzky. München: dtv 1992: S. 287-296. 5 RingVO Methoden und Disziplinen der Philosophie Einheit v. 25.11.2010 / Prof. Dr. Stadler Handout zur Prüfungsvorbereitung Tutorium Carina Tiefenbacher Sokal-Scherz?: Nichts als Publikation eines schlechten Artikels in einer schlechten Zeitschrift! Realismus / Antirealismus12 Ausgangsfrage: Gibt es etwas unabhängig vom menschlichen Wahrnehmen / Denken? (Wenn ja, wie können wir dann überhaupt darüber sprechen? Wenn nein, was für Auswirkungen hat das für uns?) Der Begriff „Realismus“ umfasst eine Vielzahl philosophischer Positionen, nach denen vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Phänomene existieren, die auf uns einwirken und die wir sprachlich bezeichnen können. - realistische Theorien: Es gibt eine unabhängig vom Subjekt existierende Außenwelt. Wir beziehen uns direkt oder indirekt* auf etwas in der Wirklichkeit bzw. Realität (reale Entitäten) und können uns so, stückweise, kontinuierlich, an die eine Wahrheit annähern. z.B. Ludwig Boltzmann, Imre Lakatos, Hilary Putnam, Ian Hacking, Nancy Cartwright - nichtrealistische Theorien: u.a. relativistische Theorien, beziehen sich auf etwas Gegenständliches als Beschreibungen, Konventionen und Konstruktionen z.B. Ernst Mach, Pierre Duhem, Thomas Kuhn, Philipp Frank, Paul Feyerabend --------*Zur Erläuterung: Da es eine Vielzahl unterschiedl. Realistischer Positionen gibt – höchst unterschiedl. Ausformungen. Bsp. für direkt bzw. indirekt gedachten Zugang zur Welt: „direkt“ = z.B.: Naiver erkenntnistheoretischer Realismus: Es gibt eine unabhängig vom Subjekt existierende Außenwelt, die genauso beschaffen ist, wie das Subjekt sie wahrnimmt; „Hardliner-Position“, vgl. G.E. Moore. „indirekt“: z.B.: Kritischer Relativismus: nimmt an, dass wir auf Grund unserer kritisch geläuterten Erfahrungen und der Bewährung unserer gedanklichen Annahmen die Existenz einer subjektunabhängigen Außenwelt mit gutem Grund behaupten dürfen, und dass die Merkmale und Beziehungen unserer Wahrnehmungen solchen der Wirklichkeit an sich entsprechen, denen wir wenigstens hypothetisch näherkommen können. Vgl. früher Moritz Schlick.13 12 13 Vgl.: PowerPoint-Folien von Prof. Stadler, Folie 6. Vgl.: „Realismus“ in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg: Meiner 2005. 6