Vortrag von Prof. Dr. Martin Ohst "Reformation und Toleranz"

Werbung
1
Martin Ohst
Sie haben mich eingeladen, zu Ihnen über Christentum und Toleranz zu reden. Ich werde
dieses Thema auf die Reformation und ihre Folgen hin zuspitzen. Ich tue das nicht nur, weil
wir Evangelischen hier und heute gern mit lieben Gästen in den Geburtstag unserer Kirche
hineinfeiern, sondern weil das Thema selbst genau diese Präzisierung erfordert. In der
Geschichte des Problems „Christentum und Toleranz“ bedeutet nämlich die Reformation
einen ganz tiefen Einschnitt, nach dem nichts mehr so war wie zuvor – ganz gleich, ob man
auf die Gebiete sieht, in denen die Reformation zur Wirkung kam, oder auf diejenigen, wo die
Papstkirche sich im konsequenten Selbstabschluß gegen die Reformation neu formierte. Zwei
Faktoren sind hierfür ursächlich, die zwar eng miteinander verbunden sind, aber trotzdem
sorgfältig auseinandergehalten werden müssen.
1.) Die Reformation hat ein qualitativ neuartiges Verständnis der christlichen Religion
begründet, gemäß dem das Wesen und der Wahrheitsanspruch der christlichen Religion klar
und deutlich unterschieden wird von den Autoritätsansprüchen jeglicher kirchlicher
Organisation. Genau das ist nämlich der Sachkern des sogenannten reformatorischen
Schriftprinzips: Es besagt, daß alles kirchliche Anordnen und Lehren, wer auch immer es
vornehme, unter Berufung auf die Hl. Schrift hinterfragbar und kritisierbar sei, daß es also in
der Kirche schlechterdings kein unfehlbares Lehramt von Konzilien, Bischöfen oder Päpsten
geben könne. Und im selben Sachkern wurzelt auch das mit der Reformation beginnende
gigantische Bildungsunternehmen, möglichst jeden Christen zum selbständigen, urteilsfähigen
Subjekt seiner eigenen Gottesbeziehung zu machen: Durch die Pädagogisierung und
Didaktisierung des Gottesdienstes, durch elementare Lehrbücher und natürlich durch die
allgemein zugängliche Bibel in der Volkssprache. Indem die Reformation den Glauben an
Gottes Selbstkundgabe in Jesus Christus auf neue Weise verstand und den neu verstandenen
Glauben des einzelnen Menschen als Sinnzentrum der christlichen Religion lehrte, hat sie die
für die Papstkirche grundlegende Annahme verneint, daß alles Christsein seinen Grund und
seine Wurzel letztlich darin habe, daß ein Mensch sich voller Gehorsam und Vertrauen in die
Kirche einfügt.
Jetzt wird mancher einwenden, daß doch die Reformation dort, wo sie zur Herrschaft
gelangte, mitnichten das Zeitalter der individuellen Freiheit und der religiösen Toleranz
heraufgeführt habe. Vielmehr habe die Reformation, zumal in Deutschland, das konfessionell
homogene Territorium geschaffen, in dem dann die evangelische Landeskirche nicht viel
anders herrschte als anderswo die altgläubige Kirchenorganisation. Daran wäre im einzelnen
2
sehr viel zu differenzieren, aber auf’s ganze gesehen sei diesem Einwand zunächst einmal
stattgegeben, denn er führt uns direkt zum eben angekündigten zweiten Faktor.
2.) Ich schließe an das eben Gesagte an: Luther, Zwingli, Calvin und die anderen klassischen
Reformatoren vertraten wie ihre altgläubigen Gegner die seit der antiken Staatsphilosophie
gültige Meinung, ein Gemeinwesen bedürfe um seines Zusammenhalts willen einer
einheitlichen, für alle verbindlichen religiösen Grundlage. Ohne eine solche Grundlage und
ohne die von ihr gewährleisteten sittlichen und rechtlichen Verbindlichkeiten könne es kein
zuverlässiges Zusammenleben von Menschen geben, und das führte zu der für heutiges
Verständnis paradoxen Folge, daß in den Reformationsgebieten die sog. „Wiedertäufer“
verfolgt wurden, während es in Gebieten, die bei der Papstkirche blieben, den Anhängern
Luthers und Zwinglis genauso erging.
Aber nun ergab sich etwas neuartiges. Vollends seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, als der
Kaiser mit dem Versuch gescheitert war, durch einen Krieg die dauerhafte Verfestigung der
Kirchenspaltung abzuwenden, zeichnete sich eine Pattsituation ab: Nicht zuletzt deshalb, weil
die politischen Sachwalter des alten Glaubens und der Papstkirche in Kriege und Konflikte
miteinander verstrickt waren, erwies es sich als unmöglich, den reformatorischen Aufstand
mit den dafür vorgesehenen rechtsförmigen Gewaltmitteln zu unterdrücken. Und auf der
anderen Seite zeigte sich genauso deutlich, daß die reformatorische Bewegung sich nicht auf
dem Gesamtgebiet der westlich-lateinischen Kirche würde durchsetzen können.
Die Reformation war also teilweise gescheitert – ebenso wie die friedlichen und gewaltsamen
Versuche ihrer Bekämpfung. Die reformatorische Bewegung hatte nicht die ganze Kirche des
Abendlandes neu gestaltet, sondern sie hatte sie gespalten. Und genau so, nämlich als
Kirchenspaltung, hat die Reformation etwas bewirkt, was sie vielleicht rein in ihrem ideellreligiösen Wirken so nicht vermocht hätte: Sie hat die westliche Christenheit vor die Aufgabe
gestellt, Toleranz zu lernen. Die Vertreter und Anhänger differenter, ja, widersprüchlicher und
in absehbarer Zeit nicht miteinander übereinzubringender religiöser Wahrheitsansprüche
mußten es nun lernen, miteinander konstruktiv umzugehen und zu leben, auf allen Ebenen: In
Dörfern und in Städten, in größeren Herrschaftsgebieten, in Organisationen aus mehreren
Herrschaftsgebieten. Dieser Lernprozeß war vielfach schmerzlich und hart, und er hat viele
Opfer gefordert. Aber ohne ihn gäbe es weder das Postulat noch auch erst recht die Praxis der
Toleranz. Er verlief in den unterschiedlichen Ländern und Regionen durchaus unterschiedlich.
In den habsburgischen Erblanden, in Spanien, in Portugal und im heutigen Italien hat er erst
mit einer Verzögerung von etwa 200 Jahren stattgefunden, denn hier wurden die
reformatorischen Impulse von Anfang an effizient unterdrückt; die Einheit der Kirche und die
3
religiöse Uniformität der Gesellschaft blieben noch lange gewahrt. Frankreich stieg aus dem
Lernprozeß für gut 100 Jahre aus: Von der Ausrottung des frz. Protestantismus bis zur frz.
Revolution. Diejenigen Gebiete, in denen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts Wege der
Toleranz gesucht und gebahnt wurden, waren das Hl. Röm. Reich Deutscher Nation, die
Niederlande und England mit Schottland, Wales und – Nordamerika. Diese Wege sahen
jeweils ganz unterschiedlich aus – die Probleme und die geschichtlich gewachsenen
politischen und rechtlichen Vorgaben für ihre Lösungen waren auch jeweils völlig
unterschiedlich. Zwei übergreifend wichtige gemeinsame Leittendenzen lassen sich jedoch
benennen:
1.) Der Versuch, die Religion einerseits und die anderen Felder gemeinschaftlicher
menschlicher Lebensgestaltung voneinander zu entflechten. Diese Entflechtungsprozesse
erstreckten sich vom Gebiet des Tausches und des Handels bis hin zum Staatsrecht und zur
Außenpolitik. Lebensgebiete, auf denen zuvor für das gedeihliche Miteinander die
gemeinsame religiöse Orientierungen für zwingend notwendig erachtet worden war, wurden
zunehmend rein nach den Leitgesichtspunkten innerweltlicher Zweckmäßigkeit organisiert
und reguliert.
2.) Dieses faktische konstruktive Miteinander von Anhängern gegensätzlicher religiöser
Wahrheitsansprüche führte auch gedanklich zu neuen Aufbrüchen. Auch die Grundfragen
menschlicher Weltorientierung wurden nun zunehmend ohne Rückbezug auf die miteinander
im Streit liegenden Grundannahmen der kirchlichen Christentümer bearbeitet. Diese wurden
nicht einfachhin verneint -, ganz und gar nicht. Aber sie wurden neu gedeutet – als prinzipiell
fehlbare, verbesserungsfähige und –bedürftige Versuche der Annäherungen an die eine, ihnen
allen miteinander vor- und übergeordnete Wahrheit. Das heißt aber auch: Die zunächst
einfachhin durch die Macht der gegebenen Verhältnisse erzwungene wechselseitige Toleranz
einander widersprechender religiöser Wahrheitsansprüche führte, gedanklich verarbeitet, zu
deren wechselseitiger Relativierung und Selbstrelativierung. Es begann das, was Papst
Benedikt XVI. gern als die Diktatur des Relativismus bezeichnet hat. Und in der Tat: Ohne
Relativismus ist Toleranz nicht zu haben. Wer ohne jeden Einschlag von Relativismus, von
Skepsis meint, daß seine Religiöse Welt- und Selbstdeutung die Wahrheit sei, der kann jede
andere, konkurrierende Selbstdeutung nur als unwahr ansehen. Er wird allenfalls ihre Existenz
zeitweilig zu ertragen vermögen – in der Hoffnung, daß sich ihren Anhängern früher oder
später die Wahrheit, eben seine Wahrheit, erschließt – aber mehr auch nicht. Echte Achtung
vor der anderen Glaubensweise als vor einem eigenen, eigenständigen und eigenwertigen
Weg zur Wahrheit wird er nie aufzubringen vermögen.
4
Ich fasse diesen ganzen Gedankengang in der folgenden These zusammen: Erst seit dem
späten 16. Jahrhundert ist die Toleranz zur christlichen Möglichkeit geworden. Die beiden
wichtigsten Voraussetzungen hierfür waren die durch die Reformation bewirkte
Kirchenspaltung und die durch die Kirchenspaltung wesentlich beförderte Diktatur des
Relativismus. Im Umkehrschluß heißt das: Wer auf dem kulturellen Boden des
abendländischen Christentums Toleranz wirklich bejaht, der muß ja sagen zur
Kirchenspaltung und zur Diktatur des Relativismus.
Das mag nun manchem befremdlich klingen, und es wird sich manchem die Frage stellen:
Gibt es nicht auch Traditionen im vorreformatorischen, einigen Christentum, die als
Anknüpfungspunkte für diese Toleranz angesprochen werden können?
Diese Frage ist zunächst mit einem glatten Nein zu beantworten, aber dieses glatte Nein muß
dann doch noch wieder in zwei Hinsichten eingeschränkt werden.
Ich beginne mit dem Nein und mit seiner Begründung. Die christliche Religion ist mit dem
Anspruch in die antike Welt eingetreten, gegen Trug und Schein die eine Wahrheit zu
vertreten und zu verkündigen. Die frühen Christlichen Gemeinden der ersten drei
Jahrhunderte lebten in einer staatlichen Ordnung, die vielen religiösen Orientierungen Raum
gewährte, die insofern durchaus tolerant war, allerdings mit einer Einschränkung: Das
römische Reich der Kaiserzeit verlangte von allen seinen Bewohnern die Bereitschaft zu
bestimmten religiösen, kultischen Handlungen, mit welchen sie dem Staat ihre Loyalität zu
bezeugen hatten. Die frühen christlichen Gemeinden untersagten ihren Mitgliedern genau
diese Handlungen als Abfall vom wahren Glauben, als Götzendienst, und so bezahlten immer
wieder einzelne Christen ihre Glaubenstreue mit dem Leben; sie wurden als Märtyrer, als
Glaubenszeugen verehrt. Diejenigen Schriftsteller, die in jenen Jahren die Sache der frühen
Christen literarisch vertraten, baten mitnichten um eine Toleranznische, sondern vertraten
scharf und offensiv den Anspruch der christlichen Gemeinden bzw. der sich seit dem späten
2. Jhdt. bildenden katholischen Kirche, die eine feste Wahrheit zu verkündigen. Sie warben
nicht so sehr um Duldung, als vielmehr um Anerkennung ihres schroffen
Alleingeltungsanspruchs. Dieser Mut und diese Leidensbereitschaft machten Eindruck, und
sie waren nicht zuletzt ursächlich dafür, daß seit dem frühen 4. Jhdt. die eben noch verfolgte
Kirche zum religiösen Rückgrat des römischen Reiches wurde. Wohlgemerkt: Nicht „das
Christentum“ übernahm diese Funktion, sondern eine ganz bestimmte Art von Christentum,
die Katholische Kirche, neben der es durchaus noch andere christlichen Gemeinden und
Gemeindeverbände gab. Und der siegreichen Kath. Kirche stellte sich nun die Frage nach der
Toleranz. Sie stellte sich ihr in ganz unterschiedlichen Varianten, und sie beantwortete sie
5
entsprechend differenziert. Zunächst: Das „Heidentum“ bestand fort, wurde jedoch staatlich
immer weniger gefördert; es verschrumpfte und verdorrte. Kirchlicherseits gab es hier
durchaus so etwas wie „Toleranz“: Es wurde zumindest theoretisch immer der Grundsatz
hochgehalten, daß niemand zum christlichen Glauben, zur Taufe gezwungen werden dürfe!
Allerdings gab es höchst erfolgreiche Versuche, das „Heidentum“ aus dem öfftl. Leben zu
verdrängen, und es ist auch von ziemlich widerwärtigen Ausschreitungen christlichen Pöbels
zu berichten.
2.) Judentum. Das Verhältnis Christen/Juden war seit dem Ausscheiden der frühen Christen
aus dem Synagogenverband vergiftet. Den jüdischen Synagogen kamen im röm. Reich
diskriminierende Schutzgesetze zugute, die für die Christen dann nicht mehr galten. Diese
Schutzgesetze für die jüdischen Gemeinden blieben allerdings auch im christlich werdenden
röm. Reich geltendes Recht, und es war dann die Kath. Kirche als Bewahrerin des römischen
Rechts, die diese Schutzbestimmungen ins abendländische Mittelalter überleitete und sie
vielfach auch in Erinnerung und Geltung hielt.
3.) Für die Folgezeit am wichtigsten war allerdings die dritte Variante: Das Verhältnis der
Kath. Kirche zu konkurrierenden christlichen Gruppen. Und genau hier hat die Kath. Kirche
eine förmliche Theorie bzw. Doktrin der Liebespflicht zur Intoleranz ausgearbeitet: Die Kath.
Kirche ist die eine, wahre und einzige von Gott durch Jesus Christus gesetzte Heilsanstalt.
Christliche Religion außerhalb der Einen Kirche ist ein Widerspruch in sich und muß aus der
Welt geschafft werden. Die Taufe, ganz gleich wer sie spendet, fügt denjenigen, der sie
empfängt, in die Eine Katholische Kirche ein – ob er das weiß und will oder nicht. Die Taufe
kann im einzelnen Menschen nur dann ihre Heilswirkung entfalten, wenn der, der sie
empfangen hat, sich in die Kath. Kirche einfügt. Und wenn er das nicht will, dann muß man
ihm mit Zwang zur Hilfe kommen: Man überläßt ja auch einen tobsüchtigen Geisteskranken
nicht einfach den Folgen seines sinnlosen Wütens, sondern tut ihm u.U. Gewalt an, um ihn
selbst und andere vor sich zu schützen. Das alles hat im frühen 5. Jhdt. der Kirchenvater
Augustin im Zusammenhang bestimmter Auseinandersetzungen in Nordafrika entwickelt, und
er hat diese Gedanken der Kath. Kirche (des Mittelalters) dauerhaft eingestiftet. Sie bildeten
dann die Grundlage des kirchlichen Ketzerrechts, das im 13. Jahrhundert den
Alleinvertretungsanspruch der Papstkirche auf den Christennamen in Rechtsform brachte und
denjenigen Getauften, der halsstarrig der Kirche den Gehorsam verweigerte mit der
Todesstrafe bedrohte. Wohlgemerkt: Nur den Getauften, denn nur er ist, anders als der Jude
oder der Muslim, der Kirche zum Gehorsam verpflichtet.
6
Und damit sind wir wieder beim Thema. Martin Luther ist in einem ordentlichen,
rechtsförmigen Verfahren nach kirchlichem und weltlichem Recht als Ketzer verurteilt
worden. Daß er sich der ihm die damit vorgegebenen Alternative „Widerruf oder Feuertod“
faktisch nicht stellen mußte, hatte machtpolitische Ursachen: Die reformatorische Bewegung
konnte erstarken und sich verfestigen, sie konnte die Kirche spalten und das Zeitalter der
Toleranz heraufführen, weil es im Europa des frühen 16. Jhdts. bedeutende Gebiete gab, in
denen das geltende Ketzerrecht faktisch nicht durchsetzbar war.
Gab es also gar keine Tendenzen innerhalb der vorreformat. Geschichte des Christentums, in
denen sich all das vorbereitet hat? Doch, es gab sie, und zwar sind es zwei, auf die ich
abschließend hinweisen möchte. 1.) Im christlichen Römerreich und in seinen
mittelalterlichen Nachfolgereichen sind Katholische Kirche und Weltliche Ordnung
allmählich bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verschmolzen; ein Leben ohne
christliche, kirchliche Normen und Formen wurde immer weniger denkbar. Ein erster tiefer
Spalt fuhr in diese Symbiose von weltlicher und kirchlicher Ordnung allerdings schon im 11.
Jahrhundert hinein. Die Kirche, das erstarkende Papsttum voran, kündigte damals bestehende
Konsense auf und unternahm den revolutionären Versuch, in dieser Einheit von Geistlichem
und Weltlichem die herrschende Stellung zu erringen – das Programm der „Freiheit der
Kirche“ und der „Päpstlichen Weltherrschaft“. Dieses Unterfangen scheiterte in einem
Kampf, der sich gut 200 Jahre lang hinzog. Das wichtigste Langzeitresultat dieses Kampfes
bestand darin, daß theoretische und praktisch Bestrebungen entstanden, weltliches Recht und
weltliche Ordnung rein innerweltlich zu denken und zu gestalten, also ohne Rücksicht auf
Glaube und Kirche. Es waren genau diese Entflechtungstendenzen die im Gefolge der
Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts neue Schubkraft erhielten und nun neuartige staatliche
Ordnungen ermöglichten, die in sich religiösen Pluralismus zu erhalten und zu gestalten
vermochten, die also eine Integrationsleistung erbrachten, die zuvor für unmöglich gehalten
worden waren. Soweit der erste Faktor.
Ich komme zum zweiten, wichtigeren: Das von der Kath. Kirche kanonisierte und tradierte
Neue Testament. In der Verkündigung Jesu und in den Paulusbriefen gibt es eine stattliche
Anzahl von Passagen, in welchen Glaube, Religion ganz und gar als Herzens- und
Gewissensverhältnis des einzelnen Menschen zu Jesus Christus und zu Gott reklamiert wird –
Sätze, Gedanken, die gleichsam wie Sprengladungen immer schon im scheinbar
unerschütterlichen massiven Gebäude des Sakraments-, Autoritäts- und Zwangskirchentums
verborgen gelegen hatten, und sie sind es letztlich, die dafür stehen, daß wir subjektive
religiöse Überzeugungen für unantastbar halten, daß wir sie auch und gerade dann achten und
7
ehren, wenn wir sie nicht zu teilen vermögen. Diese Impulse kamen mit Martin Luther zu
neuer und Wirkung, und darum sei ihm das letzte Wort gegeben: „Der Seele soll und kann
niemand gebieten, er wisse ihr denn den Weg zu weisen gen Himmel. Das kann aber kein
Mensch tun, sondern Gott allein“ (WA 11, S. 264).
Herunterladen