Die geistige Entwicklung der Menschheit

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Georg W. Oesterdiekhoff
Die geistige Entwicklung
der Menschheit
© Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2012
Jean Piaget verstand die Kinder- und Entwicklungspsychologie als Laboratorium zur
Rekonstruktion der Psyche und des Denkens von Menschen im Verlaufe der Weltgeschichte. In seinen Werken findet man zahllose Hinweise auf Entsprechungen zwischen vormodernen und ontogenetischen Phänomenen, die die ganze Breite der Wirklichkeitserfahrung abdecken. Diese Parallelen beziehen sich nicht nur auf Grundstrukturen logischer, physikalischer, sozialer und moralischer Kategorien, sondern auch auf
Inhalte und Details. Demzufolge liefert die Entwicklungspsychologie den Schlüssel zur
Rekonstruktion der Geschichte der Wissenschaften, der Philosophie, der Kunst, der
Religion, der Magie, der Moral, der Sitten, des Rechts, der Politik, der Wirtschaft und
weiterer kultureller Bereiche. Man findet in den Werken Piagets Beiträge zur Rekonstruktion der Geschichte sämtlicher dieser Bereiche. Aber er hat sich umfassend nur
mit der entwicklungspsychologischen Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte
beschäftigt und die anderen Bereiche peripher behandelt.
Georg W. Oesterdiekhoff hat in den letzten 30 Jahren in zehn Büchern und zahlreichen Aufsätzen Beiträge zur Rekonstruktion der anderen Bereiche geliefert, um die
genannten Lücken zu schließen. Der vorliegende Band thematisiert in diesem Sinne
die entwicklungspsychologische Grundlegung und Rahmung der klassischen Soziologie, der klassischen Ethnologie, der Philosophie der symbolischen Formen, der
psychometrischen Intelligenzforschung und der russischen kulturhistorischen Schule.
Die neue Historische Anthropologie, genannt »strukturgenetische Soziologie«, wird als
neue Mikrosoziologie und Mentalitäten-Geschichte vorgestellt. Erst auf dieser Basis
kann man den sozialen Wandel von der Altsteinzeit über die Agrar- zu den Industriegesellschaften in rechter Weise begreifen.
Die strukturgenetische Soziologie liefert einen Schlüssel zu den Phänomenen Religion
und Magie. Erst sie kann die verschiedenen Aspekte des Hexenglaubens, der Zauberei,
der Opferkulte und des Götterglaubens dekodieren. Ferner vermag sie die Entstehung
der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft vor dem Hintergrund der Evolution
der formalen Operationen zu erklären.
Die Evolution der kognitiven Strukturen beleuchtet aber auch die Geschichte der Moral und der Sitten. Entgegen verbreiteten Auffassungen hat eine geschichtliche Weiterentwicklung von Moral, Empathie, Sensibilität und Humanität tatsächlich stattgefunden. Sowohl die kulturvergleichende Moralentwicklungspsychologie als auch die Analyse der Gewaltphänomene und anderer Erscheinungen belegen diese Entwicklung
nachdrücklich.
Die Emergenz der adoleszenten Persönlichkeitsstufe im Verlaufe der Neuzeit liefert
ferner das grundlegende Referenzsystem zum Verständnis der Entstehung der Industriemoderne. In der westlichen Welt entstanden in den letzten 300 Jahren Wissenschaften, Industriewirtschaft, Aufklärung, Demokratie und Humanismus. Drei dieser Phänomene sind rein kognitiver Natur; die beiden anderen sind intellektuellinstitutionelle Mixturen. Die adoleszente Stufe der formalen Operationen ist also
gleichsam die Hand, während die genannten Phänomene nur die fünf Finger dieser
Hand sind.
Georg W. Oesterdiekhoff, Dr. phil. und Dr. sozwiss., ist Professor für Soziologie in Erlangen. Buchveröffentlichungen u. a.: Traditionales Denken und Modernisierung. Jean
Piaget und die Theorie der sozialen Evolution, 1992; Kulturelle Bedingungen kognitiver
Entwicklung. Der strukturgenetische Ansatz in der Soziologie, 1997; Zivilisation und
Strukturgenese. Norbert Elias und Jean Piaget im Vergleich, 2000; Kulturelle Evolution
des Geistes. Die historische Wechselwirkung von Psyche und Gesellschaft, 2006.
Einleitung
Der vorliegende Band behandelt wesentliche Grundstrukturen der kognitiven und sozialen Entwicklung der Menschheit. Er untersucht das Zusammenspiel von psychischkognitiver und sozialhistorischer Entwicklung. Die Piagetian Cross-Cultural Psychology der letzten 70 Jahre hat in weit über 1000 Studien, die in über 100 Kulturen rund um
den Globus durchgeführt wurden, festgestellt, dass sich in vormodernen Kulturen das
formal-operationale Denken nicht oder nur ganz schwach ausbildet. Diese Denkstufe
charakterisiert in modernen Gesellschaften das adoleszente Denken und ist Indikator
der jugendlichen Entwicklung von Psyche und Persönlichkeit. Diese wirklich bahnbrechende Erkenntnis ist vollkommen kompatibel mit den Erkenntnissen und Einsichten
der Klassiker der Geistes- und Sozialwissenschaften, die auf den Zusammenhang von
Ontogenese und Kulturgeschichte hingewiesen haben. Klassiker wie A. Comte und L.
Feuerbach, S. Freud und C. G. Jung, K. Lamprecht und N. Elias, K. Popper und E. Cassirer, E. Mach und E. Tylor, J. Baldwin und J. Piaget, A. Lurija und L. S. Wygotski, H.
Werner und E. Schilder und viele andere haben darauf hingewiesen, dass Menschen
vormoderner Gesellschaften lebenslang durch kindliche Strukturen charakterisiert
sind. Mehr noch, diese Erkenntnis bildete die Grundlage großer Teile ihrer Arbeiten
und war Impetus ihres Werkes und ihrer Bestrebungen. Ohne diesen tragenden Gedanken kann man die Ideen und Theorien der großen Gelehrten nicht verstehen und
einordnen.
Die Klassiker hatten zumeist noch keine Gelegenheit, ihre Theorien auf der Grundlage der genetischen Epistemologie Jean Piagets zu formulieren, sondern nutzten zeitlich vorgelagerte oder parallele Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie. Die genetische Epistemologie ist im Kern eine systematische und empirisch gestützte Darstel-
lung der ontogenetischen Entwicklung vom Säugling über das mittlere Kind zum Jugendlichen und Erwachsenen. J. Piaget beschreibt, wie aus dem sprachlosen Säugling
das sprechende und denkende Kind wird und wie sich aus diesem der theoriebegabte
und abstrakt denkende Jugendliche entwickelt. Der Unterschied zwischen Piaget und
anderen Entwicklungspsychologen liegt im Wesentlichen nur in der Exaktheit und
Solidität der Ausführungen, nicht in den genannten Kernaussagen, die Entwicklungspsychologen und Pädagogen bekannt und vertraut sind. R. Case z. B. hat deutlich gemacht, dass nahezu alle Kernkonzepte von Piaget sich schon bei J. Baldwin finden. Die
meisten Erkenntnisse Piagets finden sich schon in der Entwicklungspsychologie vor
seiner Zeit; diese Parallelen betreffen nicht nur die theoretischen Annahmen, sondern
auch einen Großteil der Versuchsanordnungen. Viel zu häufig stammen Abgrenzungsversuche Motiven der Profilierung oder entstammen Missverständnissen. Entscheidend ist jedenfalls, dass auch andere Entwicklungspsychologen wie J. Baldwin, H.
Werner, W. Zeininger, W. Stern, A. Lurija und L. S. Wygotski der Auffassung sind, dass
der vormoderne Mensch nicht die abstrakte Denkstufe erreicht, sondern dem ursprünglichen und elementaren Niveau verhaftet bleibt.
Generationen von Geistes- und Sozialwissenschaftlern haben das archaische und
primitive Denken und die davon abhängigen Kulturmuster vormoderner Kulturen beschrieben. Sie haben dargestellt, wie unterschiedliche Weltbilder, Praktiken, Gebräuche und Denkweisen in unterschiedlichen anthropologischen Strukturen verhaftet
sind, die sie zumeist als »archaisch«, »primitiv« oder »ursprünglich« bezeichneten. Es
gibt kaum einen Klassiker der Ethnologie, Soziologie und Geschichte, der nicht auf
diese Zusammenhänge hingewiesen hätte. Das Ergebnis der Piagetian Cross-Cultural
Psychology, Psyche und Denken des vormodernen Menschen seien durch präformalerkenntnisrealistische Strukturen charakterisiert, liefert nun den theoretischen Rahmen und die empirische Grundlage für die Deskriptionen von Ägyptologen, Sinologen,
Philologen, Historikern, Soziologen und Ethnologen. Die Erkenntnis von der präformal-erkenntnisrealistischen Denkstruktur, minutiös und exakt ausgearbeitet von der
modernen Entwicklungspsychologie, liefert den Schlüssel zum Verständnis dessen, was
Generationen von Geistes- und Sozialwissenschaftlern beobachtet und beschrieben
haben.
Die Entwicklungspsychologie ist damit das erste wissenschaftlich ernst zu nehmende
Instrumentarium zur Beschreibung von Mentalität, Psyche und Denken vormoderner
Menschen. Entwickelten alle Menschen vormoderner Gesellschaften das formallogische Denken, dann wäre die Entwicklungspsychologie für die Erklärung der Kulturgeschichte ohne besonderen Belang und beschriebe nur menschliche Universalien
mit kulturübergreifender Bedeutung. Die Erkenntnis von dem Zusammenhang von
Vormoderne und präformalen Strukturen einerseits und Moderne und formalen Operationen andererseits zieht jedoch die Schlussfolgerung nach sich, dass die Entwicklungspsychologie die grundlegendste Kulturpsychologie und Historische Anthropologie überhaupt darstellt. Da die Entwicklungspsychologie grundlegendere psychische
Merkmale und Entwicklungen beschreibt als jede andere Psychologie sozialer, kogniti-
ver und mentaler Phänomene, hat sie wie keine andere Theorie die Fähigkeit, Grundlagen der Humanentwicklung im Kulturvergleich herauszuarbeiten. Sie liefert damit
das grundlegendste Modell zur Beschreibung anthropologischer und psychischer
Strukturen von Menschen unterschiedlicher Gesellschaften. Wie keine andere Theorie
ist sie dazu in der Lage, ein mikrosoziologisches Modell makrosoziologischer und historischer Wandlungen zu liefern.
Vormoderne Kulturen sind daher in wesentlichen Hinsichten von der Steinzeit über
die antiken Hochkulturen bis zum Vorabend der Moderne durch präformalerkenntnisrealistische Strukturen charakterisiert. Die Konstanz dieses Denkens ist eine
wesentliche Grundlage für die Strukturen und Eigentümlichkeiten primitiver, archaischer und traditionaler Gesellschaften. Bei allen erheblichen Binnendifferenzierungen
im Einzelnen, die zwischen Jäger- und Sammlergesellschaften, Dorfgesellschaften und
Hochkulturen vorliegen, finden sich doch eine Fülle von Gemeinsamkeiten, die sich
quer durch die Epochen und Räume konstant gehalten haben. Erst die Kulturmoderne,
gekennzeichnet durch Aufklärung, Naturwissenschaft und Bildungswesen, hat einen
radikalen Bruch herbeigeführt. Erst die Kulturmoderne, in Europa in den letzten 250
Jahren entstanden, basiert auf der Überwindung der archaischen, steinzeitalten Kultur- und Denkmuster, die sich zuvor Jahrzehntausende erhalten hatten. Dieser radikale Bruch ist ganz ohne Zweifel eine Folge der welthistorischen Evolution des formaloperationalen Denkens und seiner massiven Durchsetzung in den modernen Populationen.
Magie und Hexenglaube, Furcht vor Dämonen und Gespenstern, Verehrung der Toten als Ahnengötter, animistische Naturbetrachtung, das Fehlen gereifter Kausalitätsund Zufallskonzepte, Schicksals- und Vorsehungsglaube, Wahrsagen und Orakelkunst,
Opferkulte und naive religiöse Ideen, primitive Raum- und Zeitkonzepte, ein grausames Strafrecht, Fehlen von Menschenrechten und eine kindliche Neigung zum Fabulieren sind geistige und kulturelle Eigentümlichkeiten, die sich seit der Steinzeit quer
durch die Jahrtausende und Kulturräume aller Kontinente erhalten haben. Schamanismus und Animismus, Gottesurteil und Verwandlungsglaube finden sich kulturübergreifend in allen vormodernen Gesellschaften rund um den Globus. Alle diese präoperationalen Konzepte und Denkweisen, die in einer uferlosen Literatur über die Kulturgeschichte der Menschheit dokumentiert sind, finden sich in allen vormodernen Kulturen, gleichviel ob es sich um primitive Stammesgesellschaften in Australien oder
Amerika, archaische Hochkulturen in Afrika oder Asien, Kaiserreiche in China oder im
antiken Mittelmeerraum handelt. Die Verehrung der Sonne als personales Wesen, die
Ehrfurcht vor den Ahnengöttern, Fruchtbarkeitsmagie und Todeszauber findet man in
allen diesen Kulturen, bei den australischen Ureinwohnern genauso wie bei den Römern der Antike oder den Chinesen der letzten Kaiserdynastie.
Es ist von grundlegender Bedeutung für eine jede Theorie sozialen Wandels – wie für
eine soziologische Theorie der Moderne – festzustellen, dass archaische Strukturen wie
Hexenglaube, Ahnenverehrung, Sternenkult und brutales Strafrecht sich im alten Rom,
im vormodernen Indien und China (hier bis ins 20. Jahrhundert) genauso finden wie
bei den Indianern, Afrikanern und Australiern, die auf noch ganz »primitiven« Kulturstufen stehen. Die großen vormodernen Hochkulturen stehen demzufolge den primitiven Stammesgesellschaften erstaunlicherweise viel näher als den modernen Industriegesellschaften. Dass die eigentliche Bruchlinie der Kulturgeschichte zwischen Moderne
und Vormoderne verläuft und nicht zwischen Stammesgesellschaften und Hochkulturen, hatten schon die Gründerväter der Kulturanthropologie, E. Tylor und J. G. Frazer,
richtig erkannt. Die Entwicklungspsychologie kognitiver Strukturen kann diesen Sachverhalt nun theoretisch umfassend erklären.
Die Gleichförmigkeit dieser archaischen Konzepte muss einer konstanten Quelle
entstammen. Sie kann nicht die Folge einmal entstandener kultureller Traditionen
sein, die sich durch Diffusionen über die Kulturen und Kontinente ausgebreitet haben,
um sich dann Jahrtausende nicht mehr zu verändern. Die Ursache der Entstehung und
Beharrung dieser Konzepte ist daher nicht raumzeitliche Erfindung, verbindliche Setzung und globale Verbreitung, sondern die präformale Denkstruktur (der psychische
Entwicklungsstand). Denn die präformal-erkenntnisrealistische Denkstruktur ist die
konstante Kraft und Größe, die von der Steinzeit bis in die jüngste Vergangenheit sich
immer gleich geblieben ist und die in allen vormodernen Kulturräumen immer in gleicher Weise wirksam gewesen ist. Der Konstanz und Gleichförmigkeit dieser Quelle
entspricht die Universalität der primitiven und archaischen Konzepte in allen vormodernen Kulturen.
Der Kulturrelativismus wird daher auf einen engen Geltungsbereich eingeschränkt.
Gegenüber den großen Gemeinsamkeiten traditionaler Gesellschaften nehmen die Unterschiede, die nicht zu leugnen sind, einen eher geringen Platz ein. Die zentralen
Konzepte, Weltbilder und Verhaltensweisen finden sich als Folge präformalen Denkens rund um den Globus und halten sich bis zur Ankunft des Zeitalters von Aufklärung und moderner Naturwissenschaft.
Da das präformal-erkenntnisrealistische Denken die Quelle des vormodernen Denkens und Weltbildes ist, gibt es eine vollkommene Entsprechung zwischen den Denkmustern und Weltbildern, die die Ethnologie und die historischen Wissenschaften beschrieben haben, und denen, die die Entwicklungspsychologie als typisch für Kinder
ermittelt hat. Welches Konzept und welche Eigentümlichkeit auch immer die Entwicklungspsychologie als Kennzeichen kindlichen Denkens ermittelt hat, man findet sie
auch als dominante Merkmale vormoderner Kulturen. Magie und Animismus, Erkenntnisrealismus und Fabulieren, Gespensterfurcht und fehlendes Zufallskonzept,
Konkretismus und Bildhaftigkeit des Denkens – alle diese Eigentümlichkeiten haben
Entwicklungspsychologen mit Blick auf Kinder und Geistes- und Sozialwissenschaftler
mit Blick auf vormoderne Kulturen als die jeweils dominanten und tragenden Konzepte ermittelt. Entwicklungspsychologie einerseits und Ethnologie und historische Wissenschaften andererseits kommen daher zu gleichen Ergebnissen hinsichtlich der Beschreibungsebene und der Sicherung der Daten. Beide Disziplingruppen beschreiben
die jeweiligen Phänomene (vom Traum- bis zum Schattenkonzept, vom Märchen und
Mythos bis zum Krankheitsbegriff) in gleicher Weise. Die Gemeinsamkeiten reichen
zumeist bis in die kleinsten Details. Vor diesem Hintergrund ist es klar, dass es nicht
zwei Quellen von Magie und Animismus gibt, eine ontogenetische und eine kulturhistorische, sondern nur eine Quelle. Das Denken der vormodernen Kulturen muss aus
dem Denken der Kinder abgeleitet werden. Zwar sind vormoderne Erwachsene keine
Kinder, aber sie denken trotz größerer Lebenserfahrung in präformalerkenntnisrealistischen Kategorien. Die größere Lebenserfahrung modifiziert jedoch
die Containerstrukturen, in denen sie gespeichert wird, interessanter- und sicherlich
überraschenderweise nicht (Oesterdiekhoff 2006, S. 78-94). Summarisch:
– Kinder überall und alle vormodernen Populationen glauben an die Belebtheit und
Beseeltheit von Bäumen, Flüssen und Dingen. Moderne Populationen überwinden
den Animismus. Also muss das Denken der vormodernen Populationen aus dem
Denken der Kinder (der Unreife des Denkens) abgeleitet werden.
– Kinder überall und alle vormoderne Populationen glauben an magische Zauberkräfte; moderne Populationen nicht. Also muss das Denken der vormodernen Populationen aus dem Denken der Kinder abgeleitet werden.
– Alle Kinder weltweit und vormoderne Kulturen glauben an Gespenster und sehen
sie; moderne Menschen nicht. Die Ursache dafür sind das noch stark affektgesteuerte Nervensystem und die kindliche Psyche. Also muss der archaische Gespensterglaube aus dem Glauben der Kinder abgeleitet werden.
– Kinder überall und vormoderne Populationen haben denselben eidetischen Aufbau
von Wahrnehmung und Vorstellung (subjektive Anschauungs- und Nachbilder).
Moderne Populationen verlieren diese Fähigkeiten infolge der Entwicklung des abstrakten Denkens. Also muss das kulturelle Phänomen aus dem Denken der Kinder
abgeleitet werden.
– Alle Kinder weltweit und vormoderne Populationen haben ein bildhaft-konkretes
Denken; moderne Populationen nicht. Also muss das bildhaft-konkrete Denken der
vormodernen Populationen durch das Denken der Kinder erklärt werden.
– Alle Kinder weltweit und vormoderne Populationen sind noch nicht zu abstraktlogischem Denken im eigentlichen Sinne befähigt; moderne Populationen schon (A.
Lurija). Also muss das widersprüchliche und synkretistische Denken der vormodernen Populationen durch das Denken der Kinder erklärt werden.
– Alle Kinder und vormodernen Populationen sind zutiefst religiös, moderne Populationen immer weniger. Also ist die »Religion das kindliche Wesen der Menschheit«
(L. Feuerbach).
– Kinder überall und vormoderne Populationen kennen weder »Zufall« noch »Notwendigkeit«, moderne Populationen schon. Also…
– Kinder überall und vormoderne Populationen sind sehr leichtgläubig und halten
Dinge für möglich, welche moderne Populationen niemals glauben könnten (Frauen
gebären Krokodile, Hexen fliegen durch die Luft und Menschen schlafen nachts auf
dem Grund des Sees usw.). Also…
Demzufolge resultiert die Gleichung: Entwicklungspsychologie = Historische Anthropologie und Historische Mikrosoziologie. Also ist die Entwicklungspsychologie die
wichtigste und grundlegendste Mikrosoziologie überhaupt. Also kann man die lange
Phase der Altsteinzeit und die Struktur der vormodernen Gesellschaften nicht ohne
das präformale Denken erklären und den Aufstieg der Moderne nicht ohne Berücksichtigung der Evolution der formalen Operationen. Also ist Entwicklungspsychologie
der Schlüssel zur Kultursoziologie und ihre Grundlegung. Also ist die Erkenntnis von
dem niedrigeren Entwicklungsstand vormoderner Menschen und komplementär von
dem höher ausgebildeten Entwicklungsstand moderner Menschen zumindest mit Blick
auf die historischen Wissenschaften die grundlegendste anthropologische Erkenntnis
überhaupt. Sie liefert für die historischen Wissenschaften, was die Evolutionslehre für
die Biologie geleistet hat.
Daraus resultiert unweigerlich die Schlussfolgerung, dass die Entwicklungspsychologie die Phänomene zwar ähnlich beschreibt wie die Ethnologie und die historischen
Wissenschaften, sie aber viel grundlegender und wissenschaftlich exakter erklärt. Erst
durch die Applikation der Entwicklungspsychologie werden der theoretische Status,
das Wesen und die Natur der archaischen Konzepte klar und eindeutig bestimmbar. In
diesem Sinne wird die Entwicklungspsychologie die Grundlagenwissenschaft der Kulturgeschichte und der Geistes- und Sozialwissenschaften. Erst die Entwicklungspsychologie liefert die Basis für das Verständnis sozialen Wandels im Allgemeinen und der
Modernisierung im Besonderen, für die Platzierung von Stammesgesellschaften,
Hochkulturen und Industriegesellschaften in der Kulturgeschichte einerseits und der
Rolle des Menschen im Geschichtsprozess andererseits.
Die Nicht- oder Schwachentwicklung des formal-operatorischen Denkens in vormodernen Gesellschaften und das Verharren auf den unteren Stufen kognitiver Entwicklung ist, wie insbesondere am Beispiel der Untersuchungen Lurijas deutlich wird, auf
fehlende Anreize und Zwänge zurückzuführen, insbesondere auf das Fehlen moderner
Institutionen und Kulturmuster wie frühkindliche Erziehung, Schulbildung und Berufssystem. Insofern ist das grundlegende Erklärungsmodell des Prozesses – ganz im
Sinne von Lurija, Elias und, wenn man das richtig einordnet, eigentlich der ganzen
modernen Sozialisationstheorie – in der Wechselwirkung von Psyche und Kognition
einerseits und Institutionen und Gesellschaft andererseits zu verstehen (Oesterdiekhoff 2006, S. 64-78, 427-434, 1997, 2000).
Obwohl diese Tatsachen seit Generationen bekannt sein könnten und führenden
Köpfen der Geisteswissenschaften früher geläufig waren, ist es ganz erstaunlich und
inakzeptabel, wie seit einigen Jahrzehnten diese grundlegenden Zusammenhänge wohl
aus vordergründigen ideologisch-politischen Motiven ausgeblendet werden. Diese Tatsachen nicht anerkennen zu wollen und zu können, ist jedoch selbst als eine Stufe in
der geistigen Entwicklung zu verstehen. Zur geistigen Reifung der Menschheit gehört,
dass sie die Prozesse ihrer Entwicklung verstanden hat und rekonstruieren kann; ein
Sachverhalt, auf den insbesondere schon G. W. F. Hegel, E. Cassirer und N. Elias hingewiesen haben (Oesterdiekhoff 2000, S. 278 ff.). Insofern rührt die stagnierende Entwicklung der Grundlagenentwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften einerseits
aus dieser Blockade und dem Beharrungsvermögen einfacher Strukturen und reflek-
tiert andererseits, indem diese Defizite deutlich werden, Optionen auf weitere mögliche Entwicklungsschübe, die es freizusetzen gilt.
Nun ist der gegenwärtige psychisch-kognitive Entwicklungsstand auch nur eine historische Etappe und muss keineswegs einen Schlusspunkt bilden. Die Fähigkeit von
Menschen, zu urteilen und zu erwägen, ist sicherlich in modernen Gesellschaften nur
auf einem vorläufigen Höhepunkt – relativ zur bisher verlaufenden Kulturgeschichte.
Das formal-operationale Denken ist nach unten definiert, aber ein nach oben offenes
System. Bezogen auf komplexere Probleme und Sachverhalte ist nicht nur beim Alltagsmenschen, sondern auch bei Geistes- und Sozialwissenschaftlern eine ähnliche
Unlogik und Unfähigkeit, abstrakt zu denken, das Wesen von Problemen zu erkennen,
logische Schlussfolgerungen zu ziehen und Sachverhalte analytisch anzugehen, dingfest zu machen. Viele Charakterisierungen des kindlichen Denkens, die Piaget so meisterhaft dargestellt hat, findet man in den Denkprozessen nicht nur von Normalbürgern, sondern auch von Wissenschaftlern wieder, wenn sie mit Problemstellungen
konfrontiert werden, die differenzierter und komplizierter als die bei Kindern üblichen
Versuchsanordnungen sind (Oesterdiekhoff 2000, S. 116-119 u. 278-280). Im Zweifel
kann man jedoch davon ausgehen, dass die angenommene weitere Entwicklung der
technisch-wissenschaftlichen Zivilisation sich auch in der sukzessiven Beförderung
kognitiver Entwicklung positiv auswirken wird.
Obwohl so viele Autoren insbesondere zwischen 1830 und 1970, aber auch danach,
auf die Parallelen von Ontogenese und Kulturgeschichte hingewiesen haben, sehe ich
die erste wirklich geschlossene und konsistente Darstellung dieser Zusammenhänge in
der Einführung in die Entwicklungspsychologie von Heinz Werner aus dem Jahre 1926.
Dieses Werk basiert zwar noch nicht auf den Ergebnissen der kulturvergleichenden
Piagetschen Psychologie und damit auf empirischen Untersuchungen in vormodernen
Kulturen, liefert aber dennoch klare und nicht mehr widerlegbare Beweise für die vollständige Entsprechung von kindlichen und vormodernen anthropologischen Strukturen. Die Methode, die H. Werner appliziert, basiert auf der vergleichenden Analyse
von Kindern, »Primitiven«, Aphasikern und Schizophrenen. Er stellte fest, dass diese
Gruppen erstaunliche Gemeinsamkeiten aufweisen, die bis in die Einzelheiten gehen.
Werner wies diese Parallelen in sämtlichen Bereichen der Persönlichkeit auf: Wahrnehmung, Denken, Weltbild, Zeit- und Raumanschauung, Zahlkonzept, Wille, Handlung und Emotion. Diese Parallelen sind also nicht auf einen Ausschnitt begrenzt, z. B.
auf die Kognition, sondern ziehen sich quer durch die ganze Persönlichkeitsorganisation. Das Kind ist eine Person, die sich noch entwickelt; der Primitive entwickelt sich
infolge mangelnder Anreize nicht über dieses archaische Niveau, und die kranke Person regrediert wieder auf ein elementares Stadium. Die gemeinsame Schnittmenge
dieser Gruppen liegt demzufolge in der elementaren Struktur der Persönlichkeitsorganisation. Niemand vor und nach H. Werner hat diese Zusammenhänge zwischen den
Gruppen so breit und programmatisch ausgearbeitet. Anderseits war auch dieser Sachverhalt schon dem Gründervater der Psychiatrie, Carus, 1826 bekannt und wurde von
ihm klar und deutlich ausgesprochen. Auch Autoren wie Freud oder Jung, Schilder und
von Storch, Goldstein und Scheerer waren diese Zusammenhänge durchaus geläufig.
Dennoch kommt man um die Feststellung kaum herum, dass erst durch die Arbeit von
Werner diese Zusammenhänge in einer Weise aufbereitet und dargestellt wurden, die
als völlig überzeugend klassifiziert werden kann. Nach dieser Monographie kann man
mit Fug nicht mehr an den Zusammenhängen zweifeln.
Das zweite Werk in der Weltliteratur, das diese Zusammenhänge deutlich herausgearbeitet hat, ist Foundations of Primitive Thought von Christoper R. Hallpike aus dem
Jahre 1978 (dt. 1984 und 1994). Es ist das erste Werk, das die wesentlichen Schlussfolgerungen der Piagetian Cross-Cultural Psychology gezogen hat. Spätestens sei E.
Lerners Arbeit aus dem Jahre 1937 kann man von Studien sprechen, die die Theorie
Piagets im Kulturvergleich getestet haben. Genau betrachtet, muss man jedoch schon
Lurijas Untersuchung in Usbekistan aus dem Jahre 1931 und 1932 dazu rechnen. Die
meisten empirischen Untersuchungen fanden in dem Zeitraum zwischen 1950 und
1990 statt. Zahllose Erhebungen zum Denken über physische, psychische, soziale und
moralische Kognitionen in unterschiedlichsten Kulturen und Subkulturen wurden
durchgeführt. Diese Erhebungen zeigen deutlich, dass der psychisch-kognitive Entwicklungsstand vormoderner Populationen im Bereich präoperationalen und konkretoperationalen Denkens verbleibt und nicht das Stadium der formalen Operationen
erreicht. Sie zeigen ferner, dass sozialkulturelle und Bildungsfaktoren für die divergenten Verläufe ausschlaggebend sind. Die grundstürzenden Konsequenzen, die aus diesen Ergebnissen folgen, wurden erstaunlicherweise zunächst gar nicht gesehen. Erst C.
Hallpike machte in seinem eben genannten Werk die vollkommene Entsprechung zwischen den von Piaget dargestellten kognitiven Strukturen des präformalen Denkens
und den Kognitionen vormoderner Kulturen in den Bereichen Logik und Naturverstehen deutlich. Seine Synopse der empirischen Untersuchungen holte diese aus ihrer
Isolation in der Testpsychologie und stellte sie in allgemeinere Interpretationskontexte. Genau wie H. Werner untersuchte C. Hallpike jedoch nur Naturvölker, nicht antike
Hochkulturen und zeitgenössische Entwicklungsregionen. Ferner blieben die Bereiche
Moral und Soziales sowie die Zusammenhänge zwischen psychisch-kognitiver und sozialhistorischer Entwicklung außer Betracht. Weder Werner noch Hallpike dachten an
die Bedeutung der psychisch-kognitiven Entwicklung für sozialen Wandel im Allgemeinen und Industrialisierung im Besonderen. Beide Autoren erkannten auch nicht,
dass diese Ergebnisse verlangen, die Geistes- und Sozialwissenschaften auf eine neue
Grundlage zu stellen.
Die strukturgenetische Soziologie geht nun über den engen Rahmen von H. Werner
und C. Hallpike hinaus und erarbeitet wesentliche Grundlagen, die diese offen gelassen haben. Meine Dissertation, fertiggestellt im Jahre 1987, unter dem Titel Kulturelle
Evolution des Geistes 2006 neu erschienen, war die wissenschaftshistorisch erste Arbeit, die alle wesentlichen Piaget-Konzepte aus den Bereichen Logik, Physik, Soziales
und Moralisches empirisch und kulturvergleichend dargestellt hat. Diese Arbeit liefert
die erste Synopse über Kognitionen in allen wichtigen Erfahrungs- und Wirklichkeitsbereichen und ist die erste, die sämtliche Typen vormoderner sozialen Strukturen be-
rücksichtigt. Sie bezieht Naturvölker, antike und mittelalterliche Hochkulturen ebenso
ein wie zeitgenössische Entwicklungsregionen (die schwächeren Regionen in den Entwicklungsländern) und zeigt, dass das kognitive Gefälle zwischen präformalem und
formalem Denken dem sozialen Gefälle von vormodernen und modernen Kulturen
entspricht.
Dieses Ergebnis beleuchtet mit einem Schlage die Relevanz dieser Forschungen für
das Verständnis von Struktur und Entwicklung vormoderner und moderner Kulturen.
Man kann nun vormoderne Kulturen nicht mehr ohne Bezug auf präformale Strukturen und moderne Kulturen ohne Bezug auf formale Strukturen verstehen. Die Anhebung des psychisch-kognitiven Entwicklungsstandes im Verlaufe der letzten Jahrhunderte in Europa (und nun auch weltweit) im Sinne der Durchsetzung und Verbreitung
der formalen Operationen zunächst in der Elite, dann in der Breite der Bevölkerung,
ist aufs Engste mit den sozialökonomischen Entwicklungen verknüpft. J. Piaget selbst
hatte die Entstehung der modernen Wissenschaften seit dem 17. und 18. Jahrhundert
als historischen Durchbruch der formalen Operationen verstanden (Piaget/Garcia
1989; Piaget 1975, Bd. 8-10). Demzufolge gibt es einen Zusammenhang zwischen der
historischen Evolution der formalen Operationen, der Entstehung der Naturwissenschaften und der Industrialisierung und Modernisierung der Welt. Die Naturwissenschaften stellen natürlich nur einen kleinen Bereich dar, in dem sich die Wirkung dieses gehobenen Entwicklungsstandes ausdrückt. Dieser wirkt sich in allen Teilen des
sozialen Wandels aus.
Die strukturgenetische Soziologie hat demzufolge eine Theorie entwickelt, die diese
Wechselwirkung von Psyche und Gesellschaft analysiert. Die Entstehung der formalen
Operationen ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen Zwanges auf die kognitive Entwicklung der Populationen. Buchdruck, Wissensakkumulation, Schul- und Universitätsbildung und Techniken der primären Sozialisation haben auf die kognitive Entwicklung eingewirkt. Die strukturgenetische Soziologie fußt demzufolge auf einer Sozialisationstheorie und einer Konstitutionstheorie. Die Sozialisationstheorie erklärt die
Mechanismen, die die psychisch-kognitiven Strukturen anregen bzw. eindämmen. Die
Konstitutionstheorie erklärt, wie elementare kognitive Strukturen eine Allianz mit einfachen sozialen Strukturen eingehen bzw. wie operationale Strukturen moderne soziale Strukturen evozieren und produzieren. Beide Theoriestücke fundieren eine dialektische Theorie, die das Zusammenspiel von Psycho- und Soziogenese analysiert.
Daher hat die strukturgenetische Soziologie eine Theorie des sozialen Wandels entwickelt, welche sowohl auf der Sozialisations- als auch auf der Konstitutionstheorie
basiert. Präformale Kognitionsstrukturen konstituieren Weltbild, Religion, Recht,
Brauchtum und Sitten vormoderner Kulturen. Formal-operationale Strukturen hingegen bedingen sowohl den Niedergang von Religion und mythischem Weltbild, archaischen Sitten und Gebräuchen als auch den Aufstieg von rationalen Strukturen wie
Wissenschaft, Technologie und kultureller Modernität. Die strukturgenetische Soziologie behauptet daher, dass Sitten-, Mentalitäts-, Moral-, Wissenschafts- und Religionsgeschichte im Kern und in ihrem Wesen durch die von der Entwicklungspsycholo-
gie beschriebenen Strukturen gekennzeichnet sind. Ferner ist die Anhebung des geistig-kulturellen Entwicklungsstandes von ausschlaggebender Bedeutung für die Entstehung der Industriemoderne. Diese Entstehung kann nur im Bezugssystem der Entwicklungspsychologie umfassend und zureichend erklärt werden. Weder H. Werner
noch C. Hallpike hatten an diese weitreichenden und grundlegenden Zusammenhänge
gedacht.
In den Bänden Kulturelle Evolution des Geistes, Kulturelle Bedingungen kognitiver
Entwicklung und Zivilisation und Strukturgenese habe ich die wesentlichen Konzepte
für die Konstitutions- und Sozialisationstheorie geliefert. Die beiden letztgenannten
Bände thematisieren auch stark die Bedeutung des Ansatzes für die Grundlegung der
Geistes- und Sozialwissenschaften. Der vorliegende Band liefert wesentliches Material
zum Verständnis der Moral-, Mentalitäts- und Religionsgeschichte. Ein kommender
Band entwickelt eine allgemeine Theorie der Religion auf entwicklungspsychologischer
Grundlage.
Die Erkenntnis, dass die entwicklungspsychologische Analyse von Denken und Kognition von fünf- bis zehnjährigen Kindern Strukturen aufzeigt, die weitgehend identisch sind mit den Strukturen vormoderner Menschen sowie die Einsicht in die mentale Evolution des modernen Menschen im Sinne einer Anhebung des Entwicklungsstandes ist die bedeutendste Erkenntnis der Geistes- und Sozialwissenschaften. In ihrer
Bedeutung für diese entspricht sie der Bedeutung der Evolutionslehre Darwins für die
Biologie. Erst durch die Lehre Darwins wurde der innere Zusammenhang zwischen den
verschiedenen Arten evident – und damit lag eine Theorie vor, die ihre Entstehung
erklärte. Darwins Lehre war daher die erste systematische und explanatorische Theorie
der Biologie. Die Bedeutung der Entwicklungspsychologie für die Geistes- und Sozialwissenschaften ist ähnlich. Schon der Altertumswissenschaftler Hermann Schneider
formulierte im Jahre 1909, dass die Kinder- und Entwicklungspsychologie den Schlüssel zum Verständnis der Kulturgeschichte bilde. Erst die präformalerkenntnisrealistische Struktur erklärt die kognitiven Muster vormoderner Gesellschaften und die entsprechenden Phänomene von Denken, Weltbild, Religion und
Verhalten. Die kognitiven Gemeinsamkeiten zwischen den vormodernen Gesellschaften werden erst jetzt verständlich. Am Beispiel: Erst die präformalen Strukturen erklären Natur, Struktur und universale Verbreitung des Hexenglaubens. Ohne Entwicklungspsychologie ist keine Erklärung und Einordnung des Hexenglaubens möglich.
Und die kognitiven Transformationen seit der Neuzeit, Aufklärung und Modernisierung, werden erst durch den Bezug auf die Entwicklung der »höheren geistigen Funktionen« verständlich. Erst die Entwicklungspsychologie verschafft den Geistes- und
Sozialwissenschaften ein grundlegendes anthropologisches und mikrosoziologisches
Bezugssystem, auf das die großen sozialökonomischen Transformationen bezogen
werden können.
Darwin nahm an, dass der menschliche Geist auch ein Produkt der Evolution sei und
sich aus tierischen Instinkten habe entwickeln müssen. Diese Auffassung war neu; Autoren wie R. Descartes, I. Kant und andere hatten dergleichen noch nicht im Blick. Die
Entwicklungspsychologie zeigt, wie die menschliche Psyche und Persönlichkeit sich
aus einfachen Anfängen stufenförmig entwickelt. Die geistigen Fähigkeiten des Menschenkindes sind noch tiernah; mit dem geistigen Wachstum vergrößert sich der Abstand zum Tier sukzessive. Insofern liefert die Entwicklungspsychologie das Instrumentarium zur Abstandsmessung vom Tierreich und insbesondere zu den äffischen
Verwandten. Das präoperationale Denken, das die mittlere Kindheit definiert, ist
durchaus als ein missing link zwischen Schimpansenintelligenz und rationaler Intelligenz einzustufen. Die Entwicklungspsychologie überwindet den Hiatus zwischen tierischer und menschlicher Intelligenz, wie er in der Philosophischen Anthropologie und
in Rational Choice-Theorien zum Ausdruck kommt.
Das präformale Denken des vormodernen Menschen resultiert aus mangelnden kulturellen Anregungen der vormodernen Kulturen auf das Gehirn (physiologisch ausgedrückt) und auf die Denkkraft (psychologisch formuliert). Das formal-operationale
Denken ist zwar biologisch möglich, aber seine Entwicklung ist kein Resultat automatischer biologischer Entwicklung, sondern Ergebnis kultureller Stimulation. Das Gehirn (die Psyche) ist umweltoffen und plastisch im Hinblick auf unterschiedliche Umwelten. In einer primitiven Lernumgebung, wie in den vormodernen Kulturen vorherrschend, verharren Gehirn und Psyche auf der Stufe präoperationaler und präformaler
Strukturen. Nur jahrelanges methodisches Training im Kontext moderner Curricula
und Sozialisationstechniken erzwingt und ermöglicht eine Anhebung des Entwicklungsstandes. Demzufolge ist der vormoderne Mensch daher tatsächlich auf einer wilderen und primitiveren Stufe, und Bronislaw Malinowski lag nicht so falsch, wenn er,
wie so viele Anthropologen noch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von den
»savages« sprach.
Der moderne Mensch ist durch einen größeren Abstand zu animalischen Strukturen
definiert; nicht durch biologische Mutation, wie man früher häufig annahm, sondern
kraft kultureller Einwirkungen auf das Nervensystem. Obwohl die biologischen Grundstrukturen des menschlichen Gehirns sich seit vielleicht 200.000 Jahren, mindestens
aber seit 50.000 Jahren, nicht mehr oder nur noch wenig verändert haben, heißt dies
nicht, wie viele Gelehrte fälschlich annehmen, das geistige Entwicklungsniveau des
Menschen sei seit der Altsteinzeit gleich geblieben. Vielmehr steht der Mensch der
primitiven Kultur auf einer niedrigeren, nämlich kindlich-archaischen Entwicklungsstufe, während der Mensch der modernen Kultur die höheren geistigen Funktionen
entwickelt hat und damit eine höhere Stufe der Hominisation erklommen hat. Der Abstand zum Tierreich ist infolge kultureller Einwirkungen auf das Gehirn deutlich größer geworden. J. Rüsen hat in diesem Zusammenhang die Formel von der Vermenschlichung des Menschen geprägt, die den Sachverhalt deutlich benennt. Die Tatsache der
präformalen Struktur des vormodernen Menschen zeigt, dass der Prozess der Menschwerdung sich in den letzten Jahrtausenden weiter fortgesetzt hat und unter unseren Augen weiter verläuft. Da Biologen, Anthropologen, Ethnologen und Historiker
nicht über das Wissen der Entwicklungspsychologie verfügen, haben sie nicht die Instrumente, diesen Hominisationsprozess zu sehen und zu identifizieren. Sie haben ihn
glatt übersehen, obwohl er der wichtigste und grundlegendste Prozess ist, der die
Menschheitsgeschichte charakterisiert. Seit Entstehung der Art vor etwa 200.000 Jahren und seit Entstehung der Sprache ist der größte geistige Sprung, den die Menschheit je gemacht hat, an den Prozess der Modernisierung und Industrialisierung gebunden. In den letzten 100 Jahren haben die Europäer in der Breite der Bevölkerung ihre
Intelligenz von 50 auf 100 Punkte erhöht (Flynn-Effekt); sie haben das formaloperationale Denken entwickelt. Heute folgen große Teile der ganzen Menschheit diesem Prozess. Dies bedeutet, dass der Prozess der Zivilisierung der Menschheit (N. Elias), der Intelligenzzunahme (J. Flynn) und der kulturellen Entwicklung der formalen
Operationen (G. Oesterdiekhoff) im Kern ein Prozess der Anthropogenese und Hominisation ist. Unter unseren Augen setzt sich der Prozess der Hominisation weiter fort
und der Abstand zum Tierreich hat sich erheblich vergrößert, indem der Mensch das
Kindheitsstadium mehr und mehr hinter sich lässt.
Die Tatsachen, die diese Kernannahme der strukturgenetischen Soziologie beweisen,
sind eindeutig. Abgesehen von dem Werk von C. Hallpike, wenn man großzügig ist, ist
mein Theorieprogramm das einzige, das diese Zusammenhänge aus den Grundlagen
und systematisch herausgearbeitet hat. Viele Autoren in dem Zeitraum von 1830 und
1965 waren nahe daran, diese Dinge zumindest im Ansatz zu erkennen, wenn man an
Autoren wie A. Comte, L. Feuerbach, J. Piaget, J. Baldwin, A. Lurija, K. Lamprecht, N.
Elias, E. Cassirer, L. Lévy-Bruhl und viele andere denkt. Die strukturgenetische Soziologie versteht sich als Erbe dieser Traditionen, die sie weiterentwickeln, vertiefen und
verbessern möchte.
Die Erkenntnis von der präformalen Struktur des vormodernen Menschen hat, wie
gesagt, für die Geistes- und Sozialwissenschaften die Bedeutung, die die Evolutionslehre für die Biologie hat. Sie ist die Erkenntnis, die den Entwicklungsgedanken am
stärksten in die Geistes- und Sozialwissenschaften inkorporiert, viel stärker als es Soziobiologie und evolutionäre Psychologie je vermöchten. Die Tatsache von der Kindlichkeit des Primitiven (Entwicklungspsychologie) bringt den Entwicklungsgedanken
Darwins viel stärker zum Ausdruck als nur der Nachweis des Beharrungsvermögens
von Instinkten (Soziobiologie). Die strukturgenetische Soziologie versteht sich daher
als konsequenteste und grundlegendste Umsetzung des Evolutionsparadigmas mit
Blick auf die Geistes- und Sozialwissenschaften. Sie leistet das für die Geisteswissenschaften, was die Evolutionslehre für die Biologie geliefert hat.
Die Erkenntnis von der präformalen Struktur des vormodernen Menschen und der
damit im Zusammenhang stehenden Phänomene ist erheblich schwerer und voraussetzungsreicher als die Evolutionslehre von C. Darwin. Sie setzt eine höhere Reflexivität und differenziertere Kenntnisse voraus. Die Kinder- und Entwicklungspsychologie
ist jedoch wissenschaftsgeschichtlich im Rahmen und aus dem Geiste der Lehre Darwins geboren, was sehr deutlich wird, wenn man an Autoren wie J. Baldwin, S. Hall
und J. Piaget denkt. C. Darwin hat nur die Evolution des Körpers analysiert; die Entwicklungspsychologen haben die Evolution des Geistes dargestellt.
Jeder große Durchbruch in der Wissenschaftsgeschichte ist mit einer Enttäuschung
für das Selbstverständnis des Menschen verbunden gewesen. Giordano Bruno behauptete die räumliche Unendlichkeit des Universums und wurde dafür verbrannt. Nikolaus Kopernikus überwand die Vorstellung von der räumlichen Mittelpunktposition
der Erde. René Descartes verbannte Magie und Aberglauben aus dem Naturverständnis
des Menschen, erfand die Idee des »Ding« und etablierte ein rein mechanisches und
kausales Wirklichkeitsverständnis. Gelehrte wie Galilei Galileo, René Descartes, Isaac
Newton und Immanuel Kant überwanden das kindlich-archaische Wirklichkeitsverständnis der Menschheit und sie wussten, dass sie das taten. Ludwig Feuerbach kann
für sich wohl in Anspruch nehmen, der erste Mensch der Weltgeschichte gewesen zu
sein, der das »Wesen« der Religion verstanden und angemessen formuliert hat, über
das Niveau der Aufklärer und A. Comtes hinaus. Seine Leistung in der Religionswissenschaft hat schon eine gewisse Nähe zur Leistung von C. Darwin in der Biologie. S.
Freud hat wie keiner vor ihm die Rolle der animalischen Triebe, des Unbewussten und
Irrationalen in der menschlichen Psyche aufgezeigt. Die Ablehnung, auf die er stieß,
hat genau mit dieser Verletzung des kindlichen Selbstwertgefühls des Menschen zu
tun. Der wirklich aufgeklärte Mensch weiß jedoch, dass Voraussetzung für ein humanistisches Menschenbild ist, um diese Zusammenhänge zu wissen und sie adäquat zu
berücksichtigen, statt sie zu leugnen und zu verdrängen. S. Freud und J. Piaget haben
für die Aufklärung über die Natur des Menschen mehr geleistet als alle Autoren vor
ihnen. J. Piaget hat gezeigt, dass der Mensch nicht von Geburt an über alle hoch entwickelten Fähigkeiten verfügt, wie noch Descartes angenommen hatte, sondern sich in
einem Jahre währenden Prozess um geistige Reife abmüht. Der nächste Schritt in der
Selbstaufklärung des Menschen besteht in der Einsicht, dass die höheren Stufen psychischer Entwicklung an moderne Kulturentwicklungen gebunden sind, während
Menschen früherer Gesellschaften noch auf einer kindlich-archaischen Stufe standen.
Diese letztere Erkenntnis fügt sich in die Reihe der Prozesse der Selbstaufklärung des
Menschen über seine Natur, und es wird deutlich, dass diese Erkenntnis die anderen
erwähnten Schritte voraussetzt und nur auf ihrer Basis möglich ist. Die anderen Schritte in der Selbsterkenntnis des Menschen sind notwendig gewesen, damit der letztgenannte Schritt möglich werden konnte. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass das
Verständnis vieler Personen, diese Erkenntnis beinhalte eine Beleidigung großer Teile
der Menschheit, sich zwanglos in den Rahmen fügt, der auch für die vorhergehenden
Dezentrierungsprozesse zutrifft. Den Menschen als Nachfahren von Affen, Säugern
und Wirbeltieren zu sehen, wurde (und wird teilweise immer noch) als Beleidigung
und Kränkung verstanden. Wer die Erkenntnis von der präformalen Struktur des vormodernen Menschen als Beleidigung sieht, leidet an der Denkschwäche aller, denen
die Voraussetzungen für Dezentrierungsprozesse fehlen. Erstens schätzt er Fragen der
Ehre höher ein als Wahrheitsfragen, zweitens macht er den Fehler, in dieser Feststellung überhaupt eine Ehrverletzung erkennen zu wollen, und drittens konfundiert er
Wertungen mit Tatsachen. Die Schwierigkeit für Geistes- und Sozialwissenschaftler,
unvoreingenommen Tatsachen identifizieren zu können, definiert daher den gegen-
wärtigen Stand von Aufklärung, Rationalität und Zivilisation. Die Fortentwicklung der
Geistes- und Sozialwissenschaften hängt in jedem Falle an dem Niveau des Verständnisses für diese Zusammenhänge. Und diese Fortentwicklung reflektiert den Entwicklungsstand von Wissenschaft und Zivilisation. Insofern liegt die Entwicklung des Verständnisses für Entwicklungspsychologie auf der Linie der Entwicklung der Wissenschaften, wie sie von Galilei über Newton und Darwin zu Freud und Piaget führt. Die
Abwehrbewegungen gegen Galilei, Darwin und Freud sind immer auch Ausdruck der
intellektschwächeren Teile der jeweiligen Epoche, die sich gegen die revolutionären
Durchbrüche wenden. Der Intellektualisierungs- und Zivilisierungsprozess der
Menschheit, wie er in der Bewegung von Kopernikus über Feuerbach zu Piaget führt,
ist nichts anderes als die Evolution der formalen Operationen selbst. Diese Transformationen sind selbst Ausdruck des Hominisationsprozesses.
Der vorliegende Band ist in vier große Kapitel gegliedert: Kognitive Entwicklung, sozialer Wandel, Religion und Magie sowie Sitten und Moral. Damit behandelt der Band
die Manifestationen kognitiver Entwicklung in den vier großen Inhaltsbereichen. Dieses Verfahren zeigt dann, wie sich unterschiedliche kognitive Entwicklungsstände in
unterschiedlichen Inhalts- und Wirklichkeitsbereichen ausprägen und ausformen.
Kapitel 1 beginnt mit einer Darstellung relevanter klassischer Theorien zum europäischen Rationalismus. Anschließend wird gezeigt, dass die Piagetian-Cross-Cultural
Psychology und die strukturgenetische Soziologie Erben dieser klassischen Ansätze
sind. Abschnitt 1.6 beinhaltet eine Reanalyse der Untersuchungen A. Lurijas in Usbekistan. Diese Studie dürfte bis heute die beste Analyse der Entwicklung logischer und
abstrakter Denkfähigkeiten vormoderner Kulturen sein. Lurija hat über jeden Zweifel
gestellt, dass die logischen Denkfähigheiten vormoderner Erwachsener nicht über das
Niveau präoperationaler Kinder hinausgehen. Seine Studie zeigt ferner, dass wirklich
Denkstrukturen und nicht gelernte Inhalte abgefragt und freigelegt wurden. Ferner
zeigt seine Arbeit, dass Schulbildung der wichtigste Einzelfaktor ist, der kognitive
Entwicklung über das kindlich-archaische Niveau treibt. Insofern beinhaltet seine Arbeit auch eine gar nicht beabsichtigte Widerlegung rassistischer Positionen. Die vorliegende Reanalyse dürfte jedoch erst die logischen Strukturen der Lurija-Studie freilegen, in einer Weise, die über das Analyseniveau von Lurija deutlich hinausgeht. Denn
auch Lurija ist die umfassende Bedeutung seiner Arbeit nie wirklich deutlich geworden. Abschnitt 1.7 zeigt, dass sowohl die psychometrische Intelligenzforschung als
auch die kulturvergleichende Piaget-Psychologie hinsichtlich des Zusammenhangs von
Kultur und Psyche zu gleichen Ergebnissen kommen, wenn sie im Lichte der strukturgenetischen Soziologie interpretiert werden. Es wird auch gezeigt, dass es notwendig
ist, die psychometrische Intelligenzforschung wieder als Teil der Entwicklungspsychologie zu verstehen. Ferner wird deutlich gemacht, dass der Durchsetzung der formalen
Operationen die Anhebung der Intelligenzwerte in sich modernisierenden Bevölkerungen entspricht. Das Kapitel 1 endet mit einer Reanalyse der Konzepte Rasse und
Ethnizität im Lichte dieser Forschungsergebnisse.
Kapitel 2 thematisiert die Rolle der kognitiven Entwicklung für den sozialen Wandel
und die soziale Evolution. Abschnitt 2.1 zeigt, dass die Soziologie bis heute nicht über
eine zureichende mikrosoziologische Grundlage verfügt. Rational-Choice-Konzepte
sind Versatzstücke, Ausdruck geistiger Unbedarftheit und Hilflosigkeit, wenn sie als
alleinseligmachende Mikrotheorien und nicht nur als Werkzeuge mit Ersatzfunktionen
angesehen werden. Sie sind nämlich keine reale Beschreibung anthropologischer
Strukturen. Die stärkste und grundlegendste anthropologische Theorie wird durch die
entwicklungspsychologische Erkenntnis von der präformalen Struktur des vormodernen und der formalen Struktur des modernen Menschen geliefert. Erst durch die Berücksichtigung dieser Sachverhalte kann die soziologische Theorie ein wirklich angemessenes Verhältnis von Subjekt und Objekt, Person und Gesellschaft gewinnen. Abschnitt 2.2 macht das Verhältnis von sozialökonomischen und psychisch-kognitiven
Strukturen von der Altsteinzeit über Antike und Mittelalter bis hin zur Neuzeit und
Moderne deutlich. Abschnitt 2.3 zeigt den Zusammenhang von Modernisierung und
Industrialisierung einerseits und kognitiver Entwicklung andererseits auf. Die Entwicklung der Operationen in Europa ist die Weichenstellerkausalität zwischen den Entwicklungen in Europa und Asien im 18. Jahrhundert. Die Anhebung des psychischkognitiven Entwicklungsstandes ist die wichtigste Größe, auf die der Industrialisierungs- und Modernisierungsprozess bezogen werden kann. Diese Anhebung wirkt sich
nicht nur in der Evolution der Naturwissenschaften, sondern in allen Teilen und Bereichen aus. Insofern behauptet die strukturgenetische Soziologie, die grundlegendste
Modernisierungs- und Industrialisierungstheorie geliefert zu haben. Die Verbindungen
zur Zivilisationstheorie von N. Elias und zur Rationalisierungstheorie von M. Weber
liegen auf der Hand.
Kapitel 3 liefert eine umfängliche Darstellung des archaischen und vormodernen
Weltbildes. Es wird gezeigt, dass sich die Grundstrukturen des präformalen und erkenntnisrealistischen, mithin des archaisch-kindlichen Weltbildes, quer durch alle
vormodernen Kulturräume gehalten haben. Sämtliche Erscheinungsformen des vormodernen Weltbildes und vormoderner Religionen kann man nur unter Bezug auf das
präformale Denken erklären. Ferner zeigt Abschnitt 3.1, dass die Entstehung der mechanischen Philosophie und der Naturwissenschaften nichts anderes ist als die Evolution der formalen Operationen im 17. und 18. Jahrhundert. Abschnitt 3.2 liefert die wissenschaftshistorisch erste Erklärung der Hexerei aus den von der Entwicklungspsychologie aufgedeckten Gesetzmäßigkeiten. Das präformale Denken erklärt Struktur und
Universalität der Hexerei und Magie in allen vormodernen Gesellschaften; das formale
Denken erklärt ihren Untergang in Aufklärung und Moderne. Abschnitt 3.3 bringt ähnliche Nachweise mit Blick auf Naturreligion und Sonnenkulte.
Kapitel 4 beinhaltet eine Darstellung von Sitten, Moral, Empfindsamkeit, Emotion,
Perspektivenübernahme und Grausamkeit im Lichte der strukturgenetischen Soziologie. Es wird gezeigt, dass das extrem sadistische Strafrecht der vormodernen Kulturen,
welches Wolfgang Schild als Metzgerhandwerk bezeichnet hat, Ausdruck der primitiven, präformalen Psyche ist. Sowohl die primitive Psyche als auch das sadistische Straf-
recht sind Merkmal aller primitiven Kulturen, der Wildbeuter-, Pflanzer- und Hochkulturen. Demzufolge resultiert die Abschaffung des sadistischen Strafrechts am Vorabend der Moderne aus der Anhebung des anthropologischen Entwicklungsstandes.
Gleiches gilt für die Universalität der Gewaltkultur (Duelle; Blutrache) und der grausamen Behandlung von Tieren in vormodernen Kulturen. Die römischen Arenenspiele
vereinigen diese Elemente des sadistischen Strafrechts, der Duellkultur und der Tierhetze. Als Einzelbestandteile existieren sie jedoch in allen vormodernen Kulturen. Insofern repräsentieren die Arenenspiele die Gewaltkultur aller vormodernen Gesellschaften. Millionen von Menschen und Millionen von Tieren starben in den Arenen
über einen Zeitraum von 700 Jahren eines grausamen Todes unter dem Beifall tobender Massen und in Anwesenheit der Elite des Staates. Die strukturgenetische Soziologie liefert den ersten umfassenden Erklärungsversuch sowohl der Existenz dieser Formen des Sadismus als auch ihres Schwindens in der Kulturmoderne.
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