EIN ZAR ZUM ANFASSEN?

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EIN ZAR ZUM ANFASSEN?
Regisseurin Adriana Altaras, Bühnen- und Kostümbildnerin Ingrid Erb, Dirigent Kevin
John Edusei und Dramaturg Ralf Waldschmidt im Gespräch über Zar und
Zimmermann.
Ralf Waldschmidt: Ein Staatsoberhaupt als Titelheld eines Theaterstückes: Bei
Shakespeares Königsdramen oder barocken Trauerspielen entsprach das den Gesetzen
der Gattung. Dann machte Lessing im späten 18. Jahrhundert den Bürger zum
Protagonisten – und nun, in Lortzings musikalischer Komödie stehen sie sich auf
offener Bühne gegenüber: der Zar und die Zimmerleute, der Kaiser aller Reußen und
der Bürgermeister einer holländischen Kleinstadt. Ist das der geschickte Theatercoup
eines genialen Komödienschreibers, oder steckt noch etwas anderes dahinter? Wie
kann man das aus heutiger Perspektive erzählen?
Adriana Altaras: Eine vergleichbare Situation wäre heute, wenn Angela Merkel in
Berlin U-Bahn fährt und anschließend den schlechten Zustand unserer öffentlichen
Verkehrsmittel beklagt. Günter Wallraff hat in seinen Reportagen aus der Wirtschaft
oder der Industrie ähnliches versucht: Sich in bestehende Verhältnisse einzuschleichen
und seine Schlüsse daraus zu ziehen.
Ralf Waldschmidt: Bleiben wir einen Moment beim Bürgermeister van Bett, sicher der
populärsten Figur aus Zar und Zimmermann. Zu Lortzings Zeiten war es eine pikante
und skandalträchtige Idee, einen öffentlichen Würdenträger auf der Bühne als
gefährlichen Dummkopf zu zeigen. Sollte man versuchen, das mit einem Seitenblick
auf heutige Politiker zu erzählen?
Adriana Altaras: Es ist sicher nicht nötig, einen konkreten Politiker der Gegenwart aufs
Korn zu nehmen, weder Klaus Wowereit noch Oskar Lafontaine haben das Zeug zum
Komödienhelden. Aber den Typus, die Verhaltensmuster, zu denen der permanente
Zwang zum Stimmenfang verführt, sind wiedererkennbar. Lortzings Bürgermeister ist
ein Dummkopf, das macht ihn komisch; aber er ist in seiner Dummheit auch
gefährlich. Die anderen Figuren des Stückes sind von ihm genervt. Seine Dummheit
finden sie komisch, aber seine Gefährlichkeit macht ihnen Angst. Diese beiden
Eigenschaften gilt es auf der Bühne zu kombinieren.
Kevin John Edusei: Van Bett ist auch musikalisch sehr interessant gezeichnet. Er ist der
Einzige, dem die Formsprache des Rezitativs zugesprochen wird. Lortzing hat sich
eigentlich musikästhetisch gegen das Accompagnato-Rezitativ geäußert, bei der Figur
des Bürgermeisters benutzt er diese Form jedoch und führt ihn damit vor.
Adriana Altaras: Wir versuchen, verschiedene Zeitebenen gleichzeitig erlebbar zu
machen. Das Panorama von St. Petersburg im Hintergrund ist Utopie und Traum der
Vergangenheit gleichzeitig. Nach seiner „Industriespionage“ in Holland kehrte Peter
der Große nach Russland zurück und erbaute St. Petersburg – eine moderne Stadt
entstand mitten im Sumpf.
Ingrid Erb: Das Bühnenbild zitiert ein Aquarell von St. Petersburg, aber als Negativ. Die
Wände können durch Licht ihren Charakter sehr verändern, durch den Rostton wie
Metall wirken. Diesen Farbton nehmen auch die Kostüme auf – die als Schnittstelle
zwischen den Zeitebenen fungieren. So trägt anfangs eine der Figuren eine traditionelle
Kopfhaube, nimmt sie sie ab, erkennt man eine moderne Frisur.
Adriana Altaras: In den Kostümen mischen sich Traditionelles und Modernes. Man
sieht an den Figuren, dass diese mit ihren Problemen von heute sein könnten. Zum
Beispiel lässt sich Maries Verhältnis zu Iwanow auch aus heutiger Sicht sehr gut
verstehen. Sie hat das Problem, dass sie einen unglaublich eifersüchtigen Freund hat
und irgendwann ist sie davon so genervt, dass sie anfängt, ihn zu provozieren.
Kevin John Edusei: Dem Theatermenschen Lortzing gelingt es außerdem bereits in
Maries Auftrittsariette, ein Kurzporträt über deren Charakter zu vermitteln. Das gilt
ebenso für die anderen Figuren, sie sind alle musikalisch charakteristisch dargestellt.
Ralf Waldschmidt: Tatsächlich ist historisch verbürgt, dass Peter der Große sich in
Holland als Zimmermann verdingt hat, um den Schiffsbau zu studieren. Er versuchte,
nicht nur technisches Wissen, sondern auch die Idee eines modernen Gemeinwesens
nach Russland zu bringen, den alten Traditionen im wörtlichen Sinne die Bärte
abzuschneiden. Damit machte er sich viele Feinde, der Aufstand der Strelitzen und
Bojaren, von dem im Stück die Rede ist, hatte hier seine Ursachen. Wir lernen einen
Herrscher kennen, der zwei Seiten hat: eine menschliche und eine politische. Zar Peter
ist ein junger Mann, der die gleichen Sehnsüchte hat wie jeder andere, und gleichzeitig
ließ er seine politischen Feinde massenhaft hinrichten. Wie passt das zusammen?
Adriana Altaras: Der Zar erlebt in Saardam was Freundschaft und was Liebe sein kann
– und danach sehnt er sich. Aber seine Herkunft und sein Machtwille machen es ihm
unmöglich, so zu leben. Vielleicht hat er aber auch vom „kleinen Mann“ mit seinen
Schwächen gelernt. Vielleicht hat er hier überhaupt zum ersten Mal so eine enge,
hautnahe Beziehung zu anderen Menschen. Ich bin sicher, dass ihn das geprägt hat.
Auf jeden Fall ist beim Zaren ein starkes Bedürfnis vorhanden, so viel wie möglich zu
lernen.
Ralf Waldschmidt: Albert Lortzing gehörte bis vor wenigen Jahrzehnten zu den meist
gespielten Komponisten. In den letzten Jahren taucht er nicht mehr so häufig auf den
Spielplänen auf, woran liegt das?
Adriana Altaras: Das Problem ist vielleicht, dass Unterhaltung und Politik scheinbar
nicht zusammenpassen. Dass die politische Botschaft, die Lortzing in der Zeit des
Vormärz – in der in jeder Vorstellung ein Zensor saß, der genau aufpasste, das nichts
Unbotmäßiges gesagt wurde – im Stück „verstecken“ musste, heute hinter der Maske
der Komik nicht mehr verstanden wird …
Ralf Waldschmidt: … und somit ein Werk wie Zar und Zimmermann als leicht
verstaubtes Unterhaltungsstück abgestempelt werden konnte.
Adriana Altaras: Ähnlich ist es in manchen Musicals, die durchaus ernsthafte Themen
behandeln, auf der Folie eines Unterhaltungsstücks.
Ralf Waldschmidt: Lässt sich dieser doppelte Boden auch in der Musik ausmachen?
Lortzing war ein großer Verehrer Mozarts. Folgt er dessen Traditionen, oder vielleicht
anderen?
Kevin John Edusei: Die Musik ist sehr agil und quirlig und reagiert sehr stark auf den
Text. Darüber hinaus nimmt Lortzing Anleihen bei verschiedene Komponisten, wie
zum Beispiel Wagner, Weber oder Rossini. Wenn Lortzing Traditionen folgt, dann
denen des „guten Theaters“, betrachtet man zum Beispiel die Szenen, die in ihrem
musikalischen Verlauf sehr gut gebaut sind oder die Tempiwechsel. Bis hin zum großen
Finale ist also alles wie aus einem Guss.
Adriana Altaras: Auffallend ist weiterhin, dass bei Zar und Zimmermann der Chor eine
sehr große Rolle spielt. Sowohl der Männer- als auch der Frauenchor sind fast zu 80
Prozent mit auf der Bühne. Und es treten zudem noch Kinder auf, die den
Holzschuhtanz aufführen. Das heißt für mich, dass Lortzing die Bevölkerung der
kleinen Stadt Saardam in all ihren Facetten zeigt, dass es wirkliche Menschen wie du
und ich sind, denen wir auf der Bühne begegnen, mit all ihren Freuden und all ihren
Nöten.
Ingrid Erb: Interessant ist, dass die ganze Handlung nur an öffentlichen Orten spielt. Es
gibt keinen Privatraum. Wir haben drei verschiedene öffentliche Räume (Werft,
Rathaus, Schenke) und die Personen versuchen in diesen öffentlichen Räumen sehr
private Dinge zu besprechen. Schon dadurch ergibt sich eine Spannung zwischen
privatem Konflikt und gesellschaftlicher Situation.
Adriana Altaras: Und mittendrin Peter der Große, tatsächlich ein „Zar zum Anfassen“ –
jedenfalls im Uraufführungsjahr 1838 eine mehr als ungewöhnliche Perspektive auf
einen der mächtigsten Herrscher der Welt.
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