Die Macht der Diagnose Primar Dr. Michael Merl Ärztlicher Leiter im Sonderkrankenhaus des Diakonie Zentrum Spattstrasse, Vorstand der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Linzer Landes- Frauen- und Kinderklinik (LFKK) Die Macht der Diagnose Die Macht der Michael J. Merl Diagnose Michael J. Merl „Zu den häufigsten aller Was ist die Diagnose? Krankheiten zählt diagnosis - „unterschiedliche Beurteilung“ "Zu den häufigsten aller Krankheiten zählt die Diagnose." die Diagnose.“ Karl Kraus diagignsokein - „durch und durch erkennen“ Karl Kraus Abklärung Beweis Information Ist die Diagnose hilfreich? Wissen Fakten Erklärungen Ist die Diagnose heimmend? Diagnose Symptom des 21. Jahrhunderts? Was ist los? Seite 10 Karl-Heinz Böhm erzählt die Geschichte vom törichten Holzfäller Dokumentation Symposium 2010 Der törichte Holzfäller schehen sei. Athiopisches Märchen - erzählt von Karl Heinz Böhm (Audio-CD 1993) Die Männer legten den Holzfäller auf die Erde und begannen zu erzählen. „Wir fanden ihn tot unter einem großen Ölbaum. Ein In einem kleinen Dorf lebte einmal ein guter, braver Mann. Ei- starker Ast, der vom Baum gefallen sein muss, hat ihn erschla- nes Tages nahm er seine Axt und ging in den Wald um Holz zu gen.“ Als der Holzfäller das hörte, schlug er die Augen auf. „Das fällen. In der Nähe des Dorfes waren bereits alle Bäume gefällt, war ganz anders“ sagte er. „Ich saß oben auf dem Ast als er also musste er ein ganzes Stück gehen. Er ging zum großen abbrach.“ Daraufhin schloss er die Augen wieder. Fluss und dann eine ganze Weile immer am Ufer entlang bis er endlich einen verdorrten Ölbaum erblickte. Es war ein mächtiger Die Priester schüttelten traurig ihre Köpfe. Die Freunde hoben Baum und der Bauer freute sich, denn er würde einen ziemlich den Holzfäller wieder auf die Schultern und trugen ihn in sein großen Stoß Holz bekommen. Er kletterte auf den Baum, setzte Haus. Sie erzählten wieder, wie und wo sie den Holzfäller ge- sich auf den bequemsten Ast und machte sich an die Arbeit, funden hatten. „Ein dicker Ast fiel herunter und erschlug ihn.“ indem er mit der Axt tüchtig auf den Ast einhieb, auf dem er „Aber, aber“ stöhnte der Holzfäller. „Ich habe euch doch gesagt, saß. dass ich oben auf dem Ast saß, als der unter mir abbrach. Wie oft muss ich es euch noch erklären, damit ihr es endlich ver- Da kam der Priester des Nachbardorfes vorbei. Als er den Holz- steht, ihr Esel.“ „Wieso kann er dann aber sprechen, wenn er fäller sah, sprach er ihn an: „Nun Nachbar, was machst du da tot ist“, wunderte sich die Frau des Holzfällers. „Das hat nichts oben auf dem Baum?“ „Ich schlage mir Brennholz“, erwiderte zu sagen“, entgegneten die anderen. „Du siehst doch selbst der Bauer. „Was sollte ich sonst auf dem Baum suchen?“ „Du dass er tot ist.“ „Nun, vielleicht lebt er doch noch“ meinte die machst das nicht richtig“, sagte der Priester kopfschüttelnd. „Ja Frau. wie soll ich es denn sonst machen? Man nimmt eine Axt und schlägt zu.“ „Du musst zuerst den Baum fällen“, rief ihm der Da setzte sich der Holzfäller auf und erklärte ihnen ärgerlich: Priester zu. „Wenn du den Ast abhaust auf dem du sitzt, fällst „Als ich oben auf dem Ast saß, kam der Priester aus dem Nach- du herunter, brichst dir den Hals und es ist um dich gesche- bardorf vorbei. Er sagte, ich werde herunterfallen und tot sein. hen.“ „Ja, was bleibt mit weiter übrig?“ sprach der Holzfäller. Ich bin heruntergefallen. Der Priester hat Recht gehabt. Also „Wer Holz braucht, muss sich Holz schlagen; das ist nun einmal bin ich jetzt tot.“ „Ja, wenn er sich nun aber geirrt hat. Er hat so.“ Der Priester schüttelte den Kopf und ging davon. dich ja nicht gesehen als du heruntergefallen bist, sondern nur vorher.“ Der Bauer hieb weiter mit seiner Axt auf den Ast ein. Er verstand nicht was der Priester eigentlich von ihm gewollt hatte. Er hieb „Redet ihr nur, redet ihr nur soviel ihr wollt“ brauste der Holz- und hieb bis der dicke Ast mit einem lauten Krach abbrach fäller auf und erhob sich. Ich habe genug davon.“ Damit nahm und der Bauer hinunter fiel. Nun lag er auf der Erde mit dem er seine Axt und verließ das Haus. „Wo willst du hin?“ rief ihm abgebrochenen Ast auf der Brust und er ließ sich die Worte des seine Frau nach. „Ich will das Holz noch schnell klein hacken“ Priesters immer wieder durch den Kopf gehen. erwiderte er und machte sich auf den Weg zum Fluss. Was für ein braver Mann lobten ihn die Dorfleute. Sogar im Tode sorgt Er sagte, der Ast bricht, ich falle herunter, breche mir den Hals er noch für seine Frau. und sterbe. Er wusste was er sagte. Der Ast ist abgebrochen, ich bin heruntergefallen und nun müsste ich also tot sein, überlegte er. Deshalb versuchte er gar nicht erst aufzustehen, sondern blieb lange ausgestreckt liegen, ganz wie einer, der seine Seele ausgehaucht hatte. „Zu den häufigsten aller Während er so da lag, kamen seine Freunde vorbei. Sie sahen ihn mit dem abgebrochenen Ast auf der Brust unter dem Baum Krankheiten zählt liegen, umringten ihn und brachen in lautes Wehklagen aus. Sie rüttelten ihn an der Schulter, rieben ihm den Kopf und redeten auf ihn ein, doch der Holzfäller blieb stumm und gab keinen Ton von sich. Nun hielten ihn seine Freunde für tot. Sie nahmen die Diagnose.“ Karl Kraus ihn auf die Schultern und sie gingen den Weg über den Berg und bald waren sie zuhause. Als sie an der Kirche vorbeigingen, kamen die Priester herausgelaufen. Sie wollten wissen, was ge- Dokumentation Symposium 2010 Seite 11 • Der Wunsch nach Festsetzung einer Normalität ist groß • Das Nicht-Normale erzeugt Unsicherheit (Vermutungen, Ideen, real / nicht real) • Die Unsicherheit bindet Energie • Die Diagnose führt zu einer Festlegung, die abhängig von den Erwartungen sowohl erleichtern als auch belasten kann (emotionale Reaktion) • Diagnose und Wahrheit - Was teile ich als Arzt / Therapeut mit ? Was „höre“ ich als Patient / Klient ? Patient / Klient Kinder + Jugendliche • Erklärung für Lebenskrise * reflektierbar * nicht reflektierbar, weil Bezugssysteme nicht verfügbar (Konflikt, Peergruppenphänomen) • Stigmatisierung ? Opposition ? • oder • •ganzheitliche Versorgung (Hilfssystem) > Akzeptanz Seite 12 Dokumentation Symposium 2010 Eltern • Erklärung der Störung • Festlegung einer Normalität • Störung und Relation zur Normalität • Störung Behandlung Normalität Arzt • Krankheit vs. Gesundheit • Krankheit Therapie Gesundheit • Krankheit und Funktion • Krankheit und System Dokumentation Symposium 2010 Seite 13 Helfersysteme Sozialarbeit / Schule / Sozialpädagogik •Erklärung der Störung •Zuordnung / Kategorisierung - Erkrankung > Psychiatrie ? - Trauma > Psychotherapie ? - Umfeld / Familie > Jugendwohlfahrt ? •Zuordnung in Verantwortungssystem - Psychiatrie / Psychotherapie - Eltern / Sozialarbeit Die kategoriale Betrachtung der Diagnose führt zu eindimensionalen und damit meist erfolglosen Behandlungsversuchen ! Seite 14 Dokumentation Symposium 2010 Die kategoriale Betrachtung der Diagnose weist den / die Betroffenen einem Verantwortungssystem und damit meist einem Kostenträger zu. Das ist billig, selten aber günstig und es ist nicht effizient ! Erst die mehrdimensionale Betrachtung der Diagnose entwickelt Möglichkeiten einer mehrdimensionalen, ressourcenorientierten Behandlung und Therapie. Dokumentation Symposium 2010 Seite 15 Diagnose zur Gesundheit versus Diagnose zur Krankheit Diagnose zur Gesundheit •Betrachtet den ganzen Menschen / System UND die zeitliche Dimension - Multiaxiales Diagnosesystem (MAS) + Alterstypische Entwicklungsaufgaben - ICF / Internat. Classifikation d. Funktionsfähigkeit - Psychotherapeutische Diagnose •Nimmt Rücksicht auf den Bedarf des Patienten / Klienten •Konzentriert sich auf das Wesentliche > vermeidet so Unsicherheiten Diagnose zur Gesundheit •Aktiviert innere Ressourcen > Selbstheilungskraft •Aktiviert äußere Ressourcen > kompetentes Helfersystem •Wesentlichen Fragen: Seite 16 - Was führt zur Gesundheit ? - Was erhält die Gesundheit ? Dokumentation Symposium 2010 Diagnose zur Krankheit •Betrachtet die aktuelle Situation / Krankheit - eindimensional-kategoriale Diagnoseverfahren •Richtet den Blick auf das Machbare •Keine Differenzierung zw. Wesentlichem und Unwesentlichem > fördert Verunsicherung •Bestimmt „Ressourcen“ für den Patienten / Klienten •Wesentliche Fragen: - Was beseitigt das Symptom ? - Was beseitigt die Beschwerden ? Multiaxiales Diagnoseschema MAS - Multiaxiales Dianoseschema in der KJP •Achse I - klinisch-psychiatrisches Syndrom Altersbezogene Störungen - F84 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen - F90 - F98 Verhaltensstörungen / Emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend - F99 Nicht näher bezeichnete psychische Störungen Dokumentation Symposium 2010 Seite 17 MAS - Multiaxiales Dianoseschema in der KJP Störungen ohne Altersbezug - F00 - F09 Organische, einschl. symptomatischer psy- chischer Störungen - F10 - F19 Psychische Störungen und Verhaltensstö- rungen durch psychotrope Substanzen - F20 - F29 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen - F30 - F39 Affektive Störungen - F40 - F48 Neurotische Störungen, Belastungsstörungen, Somatoforme Störungen - F50 - F59 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren - F60 - F69 Pesönlichkeits- und Verhaltensstörungen • Achse II - umschriebene Entwicklungsstörungen - F80 - F89 Entwicklungsstörungen (ausgenommen F84 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen) Beginn, der ausnahmslos im Kleinkindalter oder der Kindheit liegt Einschränkung oder Verzögerung, die eng mit der biologi schen Entwicklung des ZNS verknüpft sind Stetiger Verlauf, der nicht die für psych. Störungen typ.charakteristischen Remissionen u. Rezidive zeigt Seite 18 Dokumentation Symposium 2010 MAS - Multiaxiales Dianoseschema in der KJP • Achse III - Intelligenzniveau - Normale Intelligenz (dimensional - sehr hoch, hoch, überdurchschnitt- - Intelligenzminderung (F70 - F73, F78, F79) lich, durchschnittlich, niedrig / unterdurchschnittlich) • Achse IV - körperliche Symptomatik - Krankheiten aus anderen Kapiteln der ICD10 • Achse V - aktuelle abnorme psychosoziale Umstände - Abnorme intrafamiliäre Beziehungen - Psychische Störung, abweichendes Verhalten o. Behin- derung in der Familie - Inadäquate oder verzerrte intrafamiliäre Kommunikation - Abnorme Erziehungsbedingungen - Abnorme unmittelbare Umgebung - Akute belastende Lebensereignisseen des Kindes - Gesellschaftliche Belastungsaktoren - Chron. zwischenmenschliche Belastung im Zusammen- hang mit Schule u. Arbeit - Belastende Lebensereignisse / Situationen infolge von Verhaltensstörungen / Behinderungen des Kindes Dokumentation Symposium 2010 Seite 19 MAS - Multiaxiales Dianoseschema in der KJP • Achse VI - Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung - herausragende / gute soziale Funktionen - mäßige soziale Funktion - leichte soziale Funktion - mäßige soziale Beeinträchtigung - ernsthafte soziale Beeinträchtigung - ernsthafte und durchgängige soziale Beeinträchtigung - funktionsunfähig in den meisten Bereichen - schwere und durchgängige soziale Beeinträchtigung - tiefe und durchgängige soziale Beeinträchtigung - nicht zutreffend / nicht einschätzbar • Beurteilung der alterstypischen Entwicklungsaufgaben 1-9 - Kompetenz betreffend der Bewältigung alterstypischer Ent- wicklungsaufgaben - inner- und außerfamiliären Beziehun- gen zu Gleichaltrigen oder Erwachsenen, soziale Autonomie, schulischer/beruflicher Anpassung und nteressen/Freizeitak- tivitäten in 9 dimensionalen Stufen Normale Intelligenz Seite 20 Dokumentation Symposium 2010 Überblick ICF Aus urheberrechtlichen Gründen darf das in der Präsentation gezeigte Dokument hier nicht angeführt werden. Es ist unter folgendem Link im Internet abrufbar: http://www.dimdi.de/dynamic/de/klassi/downloadcenter/ icf/endfassung/icf_endfassung-2005-10-01.pdf Dokumentation Symposium 2010 Seite 21 Daraus folgt ... • Einbeziehung aller Betroffenen / Bezugssysteme • Kontextbezogene Klärung von Normalität, funktionellem Verhalten und Krankheit • Feststellung: Was soll die Diagnose klären ? • Feststellung: Was ist nach Diagnosestellung zu tun ? • Wie können Diagnose und Handeln auf Korrektheit überprüft und ggf. korrigiert werden ? ... und weiter ... Die Diagnose zur Gesundheit ist eingebettet in ein begleitend heilsames Umfeld, die kreative Sichtweisen ermöglicht und zur Gesundheit führt. Dabei bedeutet Gesundheit nicht immer das Verschwinden aller Symptome. Auch die Veränderung der Bedeutung der Symptome kann Gesundheit sein. Seite 22 Dokumentation Symposium 2010 ... „Wo Du hinschaust, dort fährst Du hin!“ Ein Fahrtechniklehrer Forderungen • Ausreichende Ressourcen in der KJP (Zeit, Personal), Psychologie, Sozialarbeit u. Sozialpädagogik - Klientenzentrierung • Vernetzung als wesentliches Element therapeutischen Handelns • Aus- und Fortbildung zur Bedeutung „psychiatrischer Diagnosen“ und zum therapeutischen Handeln - Basiskompetenz • Keine „Psychiatrierung“ / Pathologisierung von Kindheit und Jugend > hin zum bio-psycho-sozialen Modell von Gesundheit und Krankheit • Systemisch-ökonomisches und entwicklungsfokussiertes Denken (Ökologie) statt Töpfe-Bewahren Dokumentation Symposium 2010 Seite 23 Eine Anmerkung Selbstverständlich dürfen Eltern erleichtert sein, dass ihr Kind nicht dumm ist, sondern ein spezielles Problem hat Selbstverständlich dürfen Lehrer feststellen, dass ihre schon lange bestehende Vermutung richtig war, dass ein Kind Wahrnehmungsdefizit hat. Selbstverständlich dürfen Helfersysteme ihre Nöte äußern, wenn Kinder / Jugendliche mit besonderen Herausforderungen den Rahmen sprengen. Dabei darf es aber nicht bleiben. Die Diagnose zur Gesundheit generiert Energie und diese ist für die Heilung nutzbar. Und Gesundheit ist das Ziel. „Nur wenn dein Wissen von dir selber dich befreit, ist dein Erkennen besser als Unwissenheit.“ Dschelal ed-Din Rumi - persischer Dichter des 13.Jh. Seite 24 Dokumentation Symposium 2010 „So hab ich‘s mir nicht vorgestellt...“ Primar Dr. Werner Leixnering Leiter der Abteilung für Jugendpsychiatrie an der Linzer Landes-Nervenklinik Wagner -Jauregg „So hab ich‘s mir nicht vorgestellt...“ Der Aufenthalt in der Kinder und Jugendpsychiatrie: Was ist anders als in einer sozialpädagogoischen Einrichtung? Das Referat von Primar Dr. Werner Leixnering wird noch korrigiert. Die Dokumentation mit dem Referat wird in Kürze erscheinen. Wir bitten Sie um Ihr Verständnis. Dokumentation Symposium 2010 Seite 25