University of Heidelberg Department of Economics Discussion Paper Series No. 432 Krise und Reform des Sozialstaates: Die ökonomische und die ethische Dimension Christian Becker und Frank Jöst December 2006 Krise und Reform des Sozialstaates: Die ökonomische und die ethische Dimension Christian Becker a und Frank Jöst b Dezember 2006 Abstract Dieses Papier verdeutlicht die zentrale Bedeutung normativer Aspekte im Zusammenhang mit ökonomischen Empfehlungen zur Reform der deutschen Sozialsysteme und leitet hieraus eine besondere Relevanz der Wirtschaftsethik in diesem Rahmen ab. Wir identifizieren die ethische Dimension der Sozialstaatsfrage als eine notwendige, eigenständige Ergänzung der ökonomischen Perspektive, indem wir insbesondere auf die Begriffe sozial und sozial gerecht als historisch-kulturell geprägte gesellschaftliche Wertvorstellungen reflektieren. Im Hinblick auf viele ökonomische Reformvorschläge stellen wir eine implizite und unreflektierte Vermischung von positiven und normativen Momenten fest, insofern diese Vorschläge auf die Implementierung eines angloamerikanischen Sozialstaatsmodells hinauslaufen. An die Stelle der erforderlichen expliziten ethisch-politischen Reflexion sozialer Werte und ihres Wandels tritt somit eine implizite und unreflektierte Werteverschiebung. Wir zeigen, dass dies systematische Gründe hat und die ökonomische Dimension komplex mit normativen Momenten verbunden ist. Um einen umfassenden Beitrag zur Reform des Sozialstaates zu ermöglichen und ökonomische Expertise fruchtbar einzubringen, bedarf es daher einer inter- und transdisziplinären Wirtschaftsethik, die die ethisch relevanten Momente ökonomischer Untersuchungen identifiziert, dies mit einer Analyse der normativen Dimension der Sozialstaatsfrage kritisch in Bezug setzt, und schließlich explizit einer umfassenden ethisch-politischen Reformdebatte zuführt. JEL-Klassifikation A11, A13, B40, I30 Keywords Sozialstaatskrise, Sozialreform, Wirtschaftsethik Kontakt a Universität Heidelberg, Alfred-Weber-Institut für Wirtschaftswissenschaften, Bergheimer Str. 20, 69115 Heidelberg, Tel.: 06221 54-8017, Fax: 06221 54-8020, Email: [email protected], Web: www.cbecker.uni-hd.de b Universität Heidelberg, Alfred-Weber-Institut für Wirtschaftswissenschaften, Grabengasse 14, 69117 Heidelberg, Tel.: 06221 54-2947, Email: [email protected] 1 1. Einleitung Der deutsche Sozialstaat befindet sich in einer Krise. Dies ist Konsens in der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion. Auch herrscht weitgehend Einigkeit über den unmittelbaren Zusammenhang dieser Krise mit einer Krise der Wirtschaft, die ebenfalls unisono konstatiert wird. Die Krise des Sozialstaates wird in Politik und Öffentlichkeit daher vorwiegend in ökonomischen Kategorien erfasst und diskutiert. Wirtschaftswissenschaftlichen Analysen und Lösungsvorschlägen kommt dementsprechend eine prominente Rolle zu. Sie beinhalten zumeist Teillösungen für jeweils bestimmte Bereiche der Sozialsysteme und thematisieren in erster Linie deren Effizienz und Transparenz (vgl. etwa Breyer et al. 2004, Zimmermann 2006). Weder der Zusammenhang zwischen Problemen der Sozialsysteme und wirtschaftlichen Aspekten noch ein entsprechender Erkenntnisgewinn durch ökonomische Analysen sind zunächst von der Hand zu weisen. Wir behaupten allerdings, dass die Krise der Sozialsysteme nicht nur eine ökonomische ist, die mit ökonomischen Mitteln überwunden werden kann, sondern wesentlich auf eine fundamentale Krise der Gesellschaft verweist: auf eine Krise unseres gesellschaftlichen Verständnisses von Wirtschaft und von sozialer Gerechtigkeit. Diese fundamentale Krise wird in der gegenwärtigen Diskussion nicht explizit wahrgenommen und reflektiert. Hierzu fehlen insbesondere eine genaue Identifizierung der ökonomischen und ethischen Dimension des Problems der Krise des Sozialstaates sowie eine geeignete Verknüpfung ökonomischer Betrachtungen mit ethischen und politischen Reflexionen. Fraglich ist etwa, was wir unter dem Sozialstaat und seinen Aufgaben bzw. was wir unter sozialer Gerechtigkeit verstehen wollen. Wollen wir uns z.B. eher an einer angloamerikanischen Sozialstaatsidee der reinen Armutsbekämpfung orientieren, oder an der in den Skandinavischen Ländern traditionell verankerten Idee einer weitergehenden sozialen Umverteilung? Ebenso fraglich ist, wie wir Wirtschaft verstehen wollen. Welche Rolle soll dieser etwa im Selbstverständnis und in der Ausgestaltung der Gesellschaft zukommen? In diesem fundamentalen Sinne ist das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit und von Wirtschaft ungeklärt, und in dieser Ungeklärtheit besteht die eigentliche Krise, die also wesentlich eine politisch-ethische ist (vgl. auch Sachße & Engelhardt 1990). In der öffentlichen Debatte, aber auch insbesondere in wirtschaftswissenschaftlichen Beiträgen, tritt an die Stelle einer expliziten, fundamentalen ethisch-politischen Reflexion solcher Fragen vorwiegend ihre implizite Beantwortung. Diese ergibt sich quasi im Gefolge der ökonomischen Reformvorschläge, von denen viele auf die Implementierung einer angloamerikanischen Sozialstaatsidee hinauslaufen. Eine solche normative Entscheidung erscheint oftmals als zwingende Folge gegebener ökonomischer Notwendigkeiten. Die erforderliche grundlegende politisch-ethische Analyse wird so durch eine ökonomische substituiert, ohne den kategorialen Unterschied zwischen einer (wirtschafts)wissenschaftlichen und einer ethischen Problemstellung zu beachten. Dass eine so zentrale gesellschaftliche Wertentscheidung auf diese Weise indirekt und unreflektiert vonstatten geht, verschärft das krisenhafte Moment an der Situation unserer Sozialsysteme. Hieraus resultieren Irritationen und Ängste bei den Menschen, die mit diesem impliziten fundamentalen ethischen Richtungswechsel konfrontiert werden, ohne dass eine explizite und bewusste öffentliche Debatte hierüber stattfindet. In der weitverbreiteten Skepsis und Ablehnung gegenüber den ökonomischen Reformvorschlägen kommt ein instinktives 2 Bewusstsein von der Problematik der unreflektierten Vermischung ethischer Aspekte und ökonomischer Analyse zum Ausdruck. Wir bestimmen und analysieren im Folgenden die ethische und die ökonomische Dimension der Krise des Sozialstaats sowie ihr Verhältnis zueinander. Diese grundlegenden Betrachtungen ermöglichen es, das Problem in seiner komplexen Struktur zu sehen und als ein wirtschaftsethisches Problem neu zu formulieren, um auf diese Weise neue Wege in der Reformdebatte zum Sozialstaat zu eröffnen, welche in einer rein ökonomischen Analyse nicht sichtbar werden. In Abschnitt 2 wenden wir uns zunächst der ethischen Dimension zu, indem wir den Begriff der sozialen Gerechtigkeit als einen zentralen Begriff der Ethik auffassen und die historische und kulturelle Gewachsenheit dieser Wertvorstellung betonen. In Abschnitt 3 analysieren wir exemplarisch die normativen Konnotationen ökonomischer Reformvorschläge und zeigen, dass diese implizit zumeist die Forderung eines angloamerikanischen Sozialstaatsmodells bedeuten. Eine kritische Reflektion hinsichtlich der Zulässigkeit solcher normativen Momente in der wissenschaftlichen Expertise führt uns in Abschnitt 4 zur Frage der Trennung von normativen Forderungen und positiver Analyse ökonomischer Zusammenhänge. Wir konstatieren die praktische Schwierigkeit einer solchen Trennung: Die Ökonomik basiert wesentlich auf normativen Grundlagen, die ihre Aussagen und Ergebnisse prägen. Insbesondere die ökonomische Politikberatung umfasst immer zweierlei: die positive Beschreibung von ökonomischen Fakten, Voraussetzungen und Folgen einer jeweiligen Reform der Sozialsysteme und einen normativen Beitrag zu dieser Frage. In Abschnitt 5 schließen wir daher, dass die Debatte um Krise und Reform des Sozialstaates einer wirtschaftsethischen Reflexion bedarf. Im Rahmen der Wirtschaftsethik kann die Frage nach der ethischen und ökonomischen Dimension des Problems integriert untersucht, und das Verhältnis und die komplexe Verflechtung beider Dimensionen analysiert werden. Dies ist Voraussetzung für integrierte praktische Lösungsansätze, welche ethische und ökonomische Aspekte in adäquater Weise identifizieren und in die öffentliche Entscheidungsfindung einbringen. 2. Die ethische Dimension des Sozialstaates In Theorie und Praxis finden sich unterschiedliche Konzepte vom Sozialstaat. Differenzen bestehen zum einen hinsichtlich Aufgaben, institutioneller Ausgestaltung (der Rolle von Staat, Markt und anderen Institutionen), rechtlicher Implementierung, Finanzierung, Anspruchsgrundlagen, Höhe und Umfang von Leistungen, etc., zum anderen hinsichtlich der zu Grunde liegenden Wertvorstellungen zur Frage „Was ist sozial bzw. sozial gerecht?“ Je nach Kriterium lassen sich verschiedene Typen von Sozialstaaten unterscheiden (vgl. Titmuss 1974, Esping-Andersen 1990, Kersbergen 1995, Schmidt 2005). Wir konzentrieren uns im Folgenden auf ein zentrales Unterscheidungsmerkmal: den zu Grunde liegenden sozialen Wertekonsens, d.h. die jeweils historisch-kulturell geprägten spezifischen Begriffe von „sozial“ bzw. „sozialer Gerechtigkeit“ in den einzelnen Gesellschaften. Diese normative Dimension ist wesentliche Basis eines Sozialstaates. Für den Erfolg einer Reform desselben ist ihre Berücksichtigung unabdingbar. Der Sozial- bzw. Wohlfahrtstaat gründet sich auf die Auffassung, dass auf irgendeine Weise in die gesellschaftlichen Interaktion regulierend eingegriffen werden muss. Er setzt ein Ziel voraus, eine normative Idee bzw. Vorstellung davon, was ein guter oder gerechter Zustand der Gesellschaft ist (vgl. auch Esping-Andersen 2002). Der Begriff der sozialen 3 Gerechtigkeit oder des Sozialen bezeichnen einen gesellschaftlichen Wert bzw. eine soziale Norm, die sich durch keine wissenschaftliche Analyse herleiten lässt. Die Feststellung, dass etwas sozial gerecht oder ungerecht sei, ist keine Tatsachenbehauptung, sondern eine Wertung. Sie betrifft die Ebene des Moralischen und fällt damit in den Bereich der Ethik.1 Dem ursprünglichen Wortsinn nach bedeutet Ethik zunächst das Gewohnte. Das verweist darauf, dass soziale Werte im Allgemeinen nicht einfach abstrakt beschlossen und implementiert werden, sondern sich in einem historisch-kulturellen Kontext ausbilden und in diesen eingebettet sind. Gemeinsame Grundwerte einer Gesellschaft sind relativ beständig und ändern sich nur langsam. Sie sind wesentlicher Teil der kulturellen Identität einer Gesellschaft und ihrer nachhaltigen stabilen Entwicklung. Zum Ausdruck kommen diese nur zum Teil in formellen Strukturen, wie etwa im Grundgesetz der Bundesrepublik. Ein großer Teil der inhaltlichen präzisieren Ausgestaltung von gesellschaftlichen Werten ist informeller Natur. Nur wenn das Selbstverständliche gesellschaftlicher Wertvorstellungen in Frage steht, wird eine normativ-ethische Reflexion derselben notwendig, und in einer Neuorientierung bedürfen Werte einer vernünftigen Begründung – etwa im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses. Dies ist vor allem in politischen, sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Umbruchzeiten der Gesellschaft der Fall. Eine Reform des Sozialstaates muss den Umstand berücksichtigen, dass hierbei wesentliche gemeinschaftliche moralische Vorstellungen über soziale Gerechtigkeit betroffen sind, die in einen historisch-kulturellen Kontext eingebettet und von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich sind. Zur Illustration der kulturellen Verschiedenheit gesellschaftlicher moralischer Überzeugungen hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit unterscheiden wir in Anlehnung an die Typisierung von Esping-Andersen (1990: 26ff) exemplarisch drei Sozialstaatsmodelle: (i) Erstens das angloamerikanische Modell einer reinen Armutsbekämpfung. Dieses Modell des Sozialstaates ist in verschiedenen Varianten in Kanada, Australien und den USA verwirklicht. Wir reduzieren die vielfältigen Aspekte auf einige wesentliche normative Grundlagen: Primat individueller Freiheit und Eigenverantwortung vor dem Eingriff und der Fürsorge des Staates; Primat individueller Leistungsanreize und Leistungsbereitschaft vor jeder Umverteilung; Akzeptanz hoher Ungleichverteilungen in Einkommen und Besitz; Primat privater Wohltätigkeit vor Staatsfürsorge (vgl. auch Kaufmann 2003: 82ff). (ii) Zweitens das konservative Sozialstaatsmodell einer weitgehenden Bewahrung von Einkommen und gesellschaftlichem Status. Ein solches hat Deutschland lange Zeit geprägt und stellt quasi den Status quo der gesellschaftlichen Wertorientierung dar, den jede Reform des bundesrepublikanischen Sozialstaates berücksichtigen muss. Auch hier seinen einige zentrale normative Merkmale dieses Modells genannt: Konstitutiv ist die Idee einer bestimmten gesellschaftlichen Stellung und Würdigkeit der Person und die damit verbundenen sozialen Rechten (vgl. Ritter 1989: 187; 1 Die ethische Dimension des Sozialstaates ist durchaus vielschichtig und wirft eine Reihe von Fragen auf. Siehe hierzu etwa Koslowski & Føllesdal (1996), van Parijs (1996) und Sachße & Engelhardt (1990). Insbesondere spielt auch die Frage der Begründung des Sozialstaates an der Schnittstelle von Ethik und Politische Philosophie eine wichtige Rolle (vgl. hierzu Kersting 2000). In diesem Papier konzentrieren wir uns jedoch in Abgrenzung hierzu auf die Perspektive der deskriptiven Ethik, die die Voraussetzungen eines sinnvollen Begründungsdiskurses klärt. 4 Sozialgesetzbuch, I, §§1-10); dementsprechend gilt insbesondere die Sicherung der gesellschaftlichen Stellung und des Einkommens als sozial gerecht; zudem zeigt sich eine starke Betonung der Rolle der Familie im Hinblick auf viele soziale Dienste wie etwa Kinderbetreuung und -erziehung (vgl. auch Kaufmann 2003: 304ff). (iii) Drittens das skandinavische Modell einer weitergehenden sozialen Fürsorge und Umverteilung. Hier liegt die Idee einer Gleichheit aller individuellen Mitglieder der Gesellschaft unabhängig von Leistungsfähigkeit oder gesellschaftlichem Status zugrunde (vgl. Andersen 1984, Kaufmann 2003: 170f). Daraus resultierend gelten eine stärkere Umverteilung und ein Ausgleich der durch Leistungsunterschiede entstandenen Einkommens- bzw. Vermögensdifferenzen als sozial gerecht und erwünscht. Es besteht eine geringere Akzeptanz von Einkommensunterschieden. Dem Staat wird eine starke Rolle hinsichtlich sozialer Dienste und Umverteilung zugesprochen (vgl. Kaufmann 2003: 163ff). Die Fragen „Was ist sozial?“ bzw. „Was ist sozial gerecht?“ erfahren also in verschiedenen Gesellschaften ganz unterschiedliche Antworten. Im angloamerikanischen etwa dominiert eine bestimmte Wertvorstellung von der individuellen Freiheit, die diese in erster Linie als ungehinderte individuelle Entfaltungs- und Leistungsmöglichkeit versteht. Die Marktwirtschaft wird hierbei als ein idealer Ort für diese Entfaltung angesehen. Die hieraus entstehenden Resultate, größeres individuelles Risiko und Verantwortung oder große Unterschiede im Einkommen, werden viel eher akzeptiert, als etwa im skandinavischen Modell, dem die Wertvorstellung von der Gleichheit der sozialen Rechte jedes Einzelnen unabhängig von seiner Leistung im Wirtschaftsprozess zu Grunde liegt. Während im angloamerikanischen das Soziale in den Bereich der privaten moralischen Verpflichtung zur Hilfe in der Not zufällt, und eine nachrangige Korrektur von Marktergebnissen durch Hilfe für die Schwachen darstellt, ist im skandinavischen und konservativen Modell das Soziale als originäre moralische Norm in der Gesellschaft implementiert, und Ungleichheiten, welche durch die Wirtschaftssphäre entstehen sind entsprechend regelmäßig durch den Staat auszugleichen. Die verschiedenen Ausgestaltungen der Wohlfahrtsstaaten sind also nicht nur politischhistorische Pfadbesonderheiten bzw. institutionelle Eigenheiten, sondern verweisen letztlich auf wesentliche gesellschaftlich-kulturelle Unterschiede in Wertvorstellungen2 (vgl. Kaufmann 2003: 11), insbesondere in den Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit. Für ein stabiles Sozialsystem ist dessen Kompatibilität mit diesen Wertvorstellungen mindestens ebenso essentiell wie die Kompatibilität mit ökonomischen Strukturen und Bedingungen. Damit setzt eine Reform des Sozialstaates stets eine gleichrangige explizite Untersuchung und Diskussion sowohl der realen Veränderungen in den ökonomischen Rahmenbedingungen als auch der realen Veränderungen und einer potentiellen Neuorientierung der gesellschaftlichen Wertvorstellungen hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit voraus. Es stellt sich damit die eigenständige politisch-ethische Frage, welcher konkrete Wertekonsens sich in der Gesellschaft ausgehend von dem spezifischen ethisch-kulturellen Status quo hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit finden bzw. herstellen lässt. In vielen ökonomischen Beiträgen zur Reform des Sozialstaates wird 2 Diese sind letztlich auch Ausdruck der jeweiligen Geistesgeschichte. Vgl. etwa die zentrale Bedeutung von Hegels Denken für die Anfänge des deutschen Sozialstaates (siehe Ritter 1989: 67ff) oder die Rolle von Empirismus, Liberalismus und Utilitarismus für das angloamerikanische Modell. 5 dies aber nicht berücksichtigt. So versuchen zum Beispiel Breyer et al. (2004) das ethische Moment des Sozialstaates durch ein abstraktes vertragstheoretisches Gedankenexperiment zu erfassen. Dieser spezifische, individualistisch-rationale ethische Zugang kann jedoch gerade die tatsächliche Gegebenheit sozialer Werte in ihrer historisch-kulturellen Bestimmtheit und Unterschiedlichkeit, die wir als entscheidendes Moment betrachten, nicht einholen. Die ethische Frage scheint bei Breyer et al. (2004) analog zur ökonomischen Frage individualistischrational analysierbar und Leitlinien und Ziele der Reform allgemeingültig formulierbar. Der historisch gewachsene gesellschaftliche Status quo wird gegenüber der abstrakte Norm negativ bewertet, als Besitzstandswahrung, als Zustand der Überwunden werden muss (ebd.: 2). Dass das, was sozial bzw. sozial gerecht ist, sich gerade auch im Status quo und seiner inhärenten Dynamik bestimmt, kann eine solche ethische Perspektive nicht in den Blick bekommen. Dem vertragstheoretischen Ansatz liegen vielmehr schon bestimmte Begriffe von Freiheit, Gerechtigkeit etc. zugrunde, welche bei seiner Verwendung unreflektiert übernommen werden.3 3. Ökonomische Reformvorschläge und die Frage nach der ökonomischen Dimension des Problems Es gibt eine Vielzahl von ökonomischen Analysen und Reformvorschlägen zum Thema Sozialstaat. Wir skizzieren im Folgenden beispielhaft einige Kernaspekte, die kennzeichnend für die Beiträge der Ökonomik zu dieser Thematik sind. Wesentlich ist zum einen die Idee der Effizienz. Ein Zustand ist effizient, wenn es nicht möglich ist, bei gegebener Faktorausstattung von einem Gut mehr zu produzieren ohne zugleich von einem anderen Gut weniger zu produzieren bzw. ein Zustand ist Pareto-effizient, wenn es nicht möglich ist, ein Individuum besser zu stellen, ohne zugleich ein anderes schlechter zu stellen. Mit anderen Worten, es werden in einem effizienten Zustand keine volkswirtschaftlichen Ressourcen verschwendet. Ökonomen gehen stets davon aus, dass ein effizienter Zustand einem nichteffizienten vorzuziehen sei. Dies beruht auf der Annahme, dass mehr immer besser ist, dass durch das Erreichen eines effizienten Zustandes der „gesellschaftliche Kuchen“ maximal groß ist und hier mehr verteilt werden kann als in einem ineffizienten Zustand. Da die ökonomische Theorie zeigt, dass unter idealen Bedingungen der Markt zu effizienten Resultaten führt, wird im Hinblick auf die Effizienz für die Sozialsysteme in der Regel mehr Markt und Eigenverantwortung (Zimmermann 2006), bzw. mehr Wettbewerb (Breyer 2006: 118), also in diesem Sinne mehr Wirtschaft gefordert. Ist Effizienz also immer gut? Gilt damit für die Reform des Sozialstaates ein Primat der Effizienz? Gilt ein Primat des Marktes? Viele ökonomische Reformvorschläge suggerieren das und beinhalten so eine normative Komponente: „Die Wertschöpfung muss Priorität über die Frage bekommen, wie das Produzierte gerechter verteilt wird.“ (Zimmermann 2006: 9). Eine solche Sicht beruht auf der Voraussetzung bestimmter Wertvorstellungen: Dass mehr Sozialprodukt immer besser ist als weniger und dass aus einem Mehr an Sozialprodukt immer auch mehr Solidarität und soziale Gerechtigkeit folgen (vgl. etwa Raffelhüschen 2006: 119). Damit beruhen Reformvorschläge, die die Effizienz des wirtschaftlichen Systems in den Vor- 3 Zu weitergehenden kritischen Überlegungen zu vertragstheoretischen Begründungsansätzen siehe auch Kliemt (2000) oder Ulrich (1997: 195-202 u. 247-258). 6 dergrund stellen implizit auf einer speziellen quantitativen Sicht einer Verteilungsgerechtigkeit.4 Im dynamischen Kontext ergeben sich zusätzliche Aspekte. Hier wird darauf abgehoben, dass Anreize im zeitlichen Verlauf zu mehr Wachstum führen. Hierzu gehören insbesondere Einkommensanreize, welche zu mehr Leistung motivieren (vgl. etwa Sinn et al. 2002; Schneider 2006: 73). Daher wird oft gefolgert, es sei sozial „nur noch eine Grundversorgung“ (ebd.) durch staatliche Institutionen sinnvoll. Denn zum einen ermöglicht dies Raum für Marktlösungen im Bereich des Sozialen, zum anderen schafft dies individuelle Anreize zu mehr Leistung und Eigenverantwortung. Im Bereich des Gesundheitswesens solle man sich etwa „auf die medizinischen Notwendigkeiten“ (Zimmermann 2006: 16) beschränken, im Bereich der Bildung im Kern auf „Basiswissen“ (ebd.), oder im Bereich der Arbeitslosenversicherung auf eine Grundversorgung (vgl. Breyer et al. 2004: 3 u. 15ff.), wie sie zum Teil bereits durch die Harz IV Gesetze umgesetzt ist. Auf der Basis solcher dynamisch-ökonomischer Überlegungen ergeben sich häufig weitreichende Reformvorschläge für den Sozialstaat. In der Regel wird aus diesen Überlegungen hieraus eine deutliche Reduktion des Umfangs sozialstaatlicher Leistungen gefordert. Die in vielen ökonomischen Beiträgen vorgetragenen Reformvorschläge laufen somit implizit auf eine Übernahme des oben skizzierten angloamerikanischen Modells hinaus.5 Dies wird in der Regel mit ökonomischen Notwendigkeiten und wirtschaftswissenschaftlichen Einsichten und Erkenntnissen begründet. Die Ziele einer Reform werden so im Rahmen ökonomischer Überlegungen bestimmt.6 Soweit allerdings explizit oder implizit behauptet wird, solche normativen Reformziele seien in wirtschaftlichen Tatsachen begründet bzw. logisch abgeleitet, macht sich die wirtschafswissenschaftliche Expertise eines Sein-Sollens-Fehlschlusses schuldig (vgl. hierzu grundlegend Hume [1740]2000: 3.1.1.27), d.h. es werden normative Aussagen aus positiven Aussagen abgeleitet. Es wird in vielen Fällen nicht deutlich, dass mit den ökonomischen Vorschlägen zugleich auch eine Reihe von normativen Voraussetzungen (nicht Folgerungen!), auf denen das angloamerikanische Modell beruht als neue Werteorientierung des deutschen Sozialstaates proklamiert werden. Angesichts dieser Vermischung von ökonomischen mit bestimmten normativen Aussagen, von ökonomischer und ethischer Ebene, stellt sich die Frage nach der eigenständigen ökonomischen Dimension des Problems. 4 Zur Bedeutung des Gerechtigkeitsbegriffes jenseits des Verteilungsaspektes und den sich hieraus ergebenden Implikationen im Kontext einer Sozialstaatsdebatte siehe Petersen & Faber (2006) oder Kersting (2000). 5 Sinn et al. (2002: 19) konstatieren im Hinblick auf die Sozialhilfe sogar explizit: „Wenn man den Arbeitsmarkt im Bereich niedriger Einkommen in Deutschland wieder funktionsfähig machen möchte, gibt es kaum Alternativen zu einer grundlegenden Reform des sozialen Sicherungssystems, die in die Richtung des US-amerikanischen Modells geht.“ 6 Breyer et al. (2004) gehen anscheinend nicht so vor, sondern definieren zunächst Leitlinien und analysieren dann Reformalternativen im Hinblick auf die Kompatibilität mit diesen Leitlinien. Die Leitlinien sind jedoch vertragstheoretische Konstrukte, die nicht unabhängig von der ökonomischen Analyse sind: (i) Erstens basieren Vertragstheorie und Ökonomik auf ähnlichen Grundannahmen über das Verhalten und die Rationalität des Menschen, seine individuelle Freiheit, etc., (ii) zweitens werden einige Normen der Leitlinien unmittelbar aus ökonomischen Überlegungen bzw. Grundlagen abgeleitet, so etwa die Ablehnung der Gleichverteilung aus Anreiz- und Wachstumsüberlegungen, sowie die Norm der Effizienz (vgl. ebd.: 11-14; siehe auch Abschnitt 2 oben). 7 4. Das ethische Dilemma der Ökonomik Wir scheinen hier nun bei der alten Frage des Werturteilstreites angelangt, nämlich welche Rolle Werturteile im Rahmen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften spielen. In einem historischen Höhepunkt dieser Diskussion im Verein für Socialpolitik im Jahr 19147 ist es die Position von Max Weber, welche das allgemeine moderne sozialwissenschaftliche Wissenschaftsideal in entscheidender Weise geprägt hat. Im Kern ist diese Position durch das Postulat der „Wertfreiheit“ (Weber [1918]1988)8 der Sozialwissenschaften bestimmt, das eine „Scheidung von empirischer Feststellung und praktischer Wertung“ fordert (ebd.: 497).9 Der naive Versuch, sich jeder normativen Wertung zu enthalten und eine rein positive (nur auf Tatsachen beruhende) wirtschaftswissenschaftliche Analyse und Beratung zu liefern, greift allerdings zu kurz und ist zum Scheitern verurteilt. Eine solche, die Weber’sche Position verkürzende Sicht, ist prominent von Robbins (1935: 147ff) vertreten worden und hat nachfolgend das Selbstverständnis der Ökonomik stark geprägt. Obgleich normative und positive Ebene analytisch als kategorial verschieden getrennt werden können, sind sie in der Ökonomik praktisch komplex miteinander verbunden. Die moderne Ökonomik beruht auf einer Reihe normativer bzw. ethisch relevanter Voraussetzungen, die etwa in ihren spezifischen Rationalitätsannahmen, dem Effizienzbegriff, dem Marktideal, usw. zum Ausdruck kommen (vgl. etwa Hausman & McPherson 2006, Ulrich 1997).10 Diese sind zudem eng verbunden mit bestimmten liberalen Grundwerten, etwa einem spezifischen Verständnis von individueller Freiheit, oder auch außerwissenschaftlichen politischen Wertsetzungen, wie etwa dem heute weitgehend positiv betrachteten Wirtschaftswachstum. Die wirtschaftswissenschaftliche Aussage etwa, dass Fragen der Effizienz und der Gerechtigkeit getrennt werden können, beruht schon auf einer Reihe normativer Voraussetzungen, und gilt im Übrigen auch nur für den statischen Fall. Im dynamischen Kontext, der für politische Fragen einer Sozialstaatsreform wesentlicher ist, wird oftmals gerade eine normative Verteilungsaussage zugunsten einer ineffizienten Allokation gemacht, die als Voraussetzung für größeres Wachstum gesehen wird: So werden etwa zeitlich befristete Monopole durch 7 Zu historischen Hintergründen und Gegenstand der Diskussion siehe Nau (1996). Hier findet sich auch der vollständige Text aller Diskussionsbeiträge. 8 Der hier zitierte Beitrag von Weber ist eine spätere, von ihm überarbeitete Fassung seiner Position. Für den Originalbeitrag für den Verein für Socialpolitik von 1913 siehe Nau (1996: 147-86). 9 Hieran anknüpfend könnte man den oben skizzierten Sachverhalt der Vermischung ökonomischer und normativer Aspekte in wirtschaftswissenschaftlichen Reformvorschlägen als individuellen Fehler der jeweiligen Wissenschaftler sehen und werten. Weber ([1918]1988: 498) konstatiert entsprechend, „[...] dass man gerade unter dem Schein der Ausmerzung aller praktischen Wertungen ganz besonders stark, nach dem bekannten Schema: »die Tatsachen sprechen zu lassen«, suggestiv solche hervorrufen kann [...und...] dass dies auf dem Katheder, gerade von Standpunkt der Forderung jener Scheidung aus, von allen Missbräuchen der allerverwerflichste wäre [...]“. Es erscheint allerdings unplausibel, dass die verbreitete Vermischung von positiven und normativen Aspekten sich als individuelle Fehler gleich eine Reihe renommierter Experten erklärt. Auch Verschwörungstheorien jeglicher Art sind wenig hilfreich. Wir gehen dagegen vielmehr davon aus, dass es systematische Schwierigkeiten bezüglich der Scheidung normativer und positiver Aspekte gibt, welche in der Konzeption der Ökonomik als Wissenschaft begründet sind. Weber [1918](1988) sieht das zwar im Prinzip, hat aber die Komplexität des Problems und die institutionellen Implikationen diesbezüglich unterschätzt. 10 In Bezug auf die Rationalitätsannahme hat schon Max Weber [1918](1988) diesen Umstand als ein notwendiges Merkmal der Sozialwissenschaften betont und seine Bedeutung im Rahmen seines Konzeptes des Idealtypus ausführlich diskutiert. 8 Patentschutz (die statische Ineffizienz bedeuten) als dynamische Wachstumsanreize verstanden. Ebenso gilt eine Ungleichverteilung von Einkommen im Hinblick auf Leistung etc. als dynamischer Anreiz zu Wirtschaftswachstum: „[...] die Umverteilung [hat] Grenzen, und sie sollte so organisiert werden, dass die Leistungsbereitschaft der Bürger möglichst wenig gehemmt wird.“ (Sinn et al. 2002: 19). Im Rahmen ökonomischer Analysen sind daher Aussagen über Verteilungsaspekte oft schon integriert. Derartige Aussagen beruhen auf der Vorstellung eines Primates der Anreizwirkung sowie eines Primates individueller Leistungsbereitschaft und individueller Freiheit. Dahinter steht zum einen die Annahme, dass monetäre bzw. materielle Anreize für individuelle Leistungen und Entscheidungen ausschlaggebend sind, und solche Momente wie Berufung (etwa bei Ärzten) oder Pflicht (etwa bei Beamten) keine wesentliche Rolle spielen (vgl. etwa auch Schneider 2006: 53). Zum anderen die Annahme, dass individuelle Freiheit in erster Linie in der ungehinderten Entfaltung der individuellen Leistungsmöglichkeit bestehe und Vorrang vor Solidarität habe. Aus dieser Perspektive besteht dann ein Widerspruch zwischen sozialer Umverteilung, welche diese Anreize vermindert, und wirtschaftlichem Wachstum, das gerade als eine Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit gesehen wird. Dieser Widerspruch gründet sich nicht auf Tatsachen, sondern auf den zu Grunde liegenden Annahmen über das menschliche Verhalten und spezifischen (ökonomischen) Deutungen von Grundwerten, wie der individuellen Freiheit.11 Daher ist es auch nicht möglich, eine wertfreie Analyse der Bedingungen und Folgen bestimmter Sozialstaatsziele oder -reformen vorzunehmen, wie etwa Breyer et al. (2004) annehmen. Eine vollständige Trennung von Zielbestimmung auf gesellschaftlicher Ebene, und wirtschaftswissenschaftlicher Analyse der Mittel ist nicht möglich. Ein Vorgehen, das erst eine Ziel- bzw. Normenbestimmung vornimmt und dann analysiert, was diese ökonomisch bedeuten, inwiefern sich bestimmte Ziele umsetzen lassen und welche Konsequenzen sich ergeben werden, enthält in sich schon eine ethische Schwierigkeit. Denn auch bei einer Evaluation auf der Ebene der Mittel operiert die Ökonomik zwangsläufig auf einer bestimmten, ethisch relevanten Basis, die die Ergebnisse mit bestimmt. Wenn diese Basis im Widerspruch mit den normativen Voraussetzungen steht, auf denen die Zielvorgaben beruhen, kann sinnvoller Weise nur ein ethischer Disput über Werte geführt werden und nicht über rein positiv bestimmbare Voraussetzung, Folgen oder Umsetzungsmöglichkeiten der Zielvorgaben. Auf der wissenschaftlichen Ebene bleibt sonst ein scheinbar unlösbarer Konflikt bestehen. Es sind also zusammenfassend zwei Irrtümer hinsichtlich des Beitrages der Ökonomik zur Sozialstaatskrise und Sozialstaatsreform zu unterscheiden: (i) Erstens der Irrtum, dass man aus einer rein positiven Analyse normative Reformziele ableiten könne (denn aus positiven Aussagen lassen sich logisch keine normativen Aussagen ableiten), (ii) zweitens der Irrtum, dass ein rein positiver wirtschaftswissenschaftlicher Beitrag zu Sozialstaatskrise und -reform möglich ist (denn alle ökonomischen Aussagen beruhen auf einer Reihe normativer Aussagen). Korrekt wäre vielmehr, den wirtschaftswissenschaftlichen Beitrag im Feld der Politikberatung von vorne herein auch als einen normativen Beitrag zu verstehen. Denn die normativen Aussagen zu Reformzielen ergeben sich tatsächlich korrekt aus der ökonomischen Theo11 Das vielleicht prominenteste und einflussreichste Beispiel einer solchen Sichtweise in der Geschichte des ökonomischen Denkens ist der Beitrag von Malthus [1798](1976: Ch. V) zur Frage der Armengesetzgebung in England. 9 rie, wenn man die entsprechenden normativen Prämissen in der Analyse bzw. Schlussfolgerung explizit und richtig berücksichtigt. (Aus normativen Prämissen lassen sich normative Aussagen ableiten). Man sollte also weder so tun, als ob sich ein wirtschaftswissenschaftlicher Reformvorschlag zwingend aus einer positiven Analyse der Wirtschaft ergäbe, noch überhaupt die Möglichkeit einer solchen rein positiven Analyse behaupten. Der adäquate Weg ist vielmehr, die der Analyse und den Reformvorschlägen zu Grunde liegenden normativen Prämissen explizit offen zu legen und als normativen Beitrag in die Zieldiskussion mit einzubringen. Dies überschreitet jedoch den engeren Bereich der Wirtschaftswissenschaften. Es ist ein komplexes Problem, dass weder zum primären Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaften gehört noch mit ihren Methoden zu analysieren ist. Wir sehen hierin vielmehr einen Gegenstand und eine Aufgabe der Wirtschaftsethik. 5. Die wirtschaftsethische Aufgabe Das Verhältnis von Wirtschaft und sozialer Gerechtigkeit ist ein Gegenstand der Wirtschaftsethik. Ihre Aufgabe beschränkt sich hierbei nicht nur auf die Fragen: Welche Sozialstaatsidee ist kompatibel mit dem modernen wirtschaftswissenschaftlichen Begriff von Wirtschaft? Welches soziale Moralsystem ist optimal implementierbar unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft? (vgl. Homann 1999; Homann & Lüdke 2004: 65f; Sinn et al. 2002) Diese Fragen setzen bereits ein Primat eines bestimmten Begriffes von Wirtschaft voraus, das selbst einer Klärung bedarf. Die Aufgabe der Wirtschaftsethik ist vielmehr eine allgemeine, nicht von vorne herein an ein bestimmtes Verständnis oder einen bestimmten Begriff von Wirtschaft gebundene Reflexion des Verhältnisses von Wirtschaft und Moral. Wirtschaft ist nur zum geringen Teil eine gegebene Handlungsanforderung. Nur in unserer Naturabhängigkeit ist sie dies in einem strengen Sinne. Im Wesentlichen ist Wirtschaft ein gesellschaftlich gestaltetes System in einem historisch-kulturellen Kontext. Zugleich bedeutet jeder Begriff von Wirtschaft – insbesondere auch der moderne wirtschaftswissenschaftliche Begriff – jeweils ein spezifisches, voraussetzungsreiches Verständnis von Wirtschaft, das insbesondere auf einer Reihe von normativen Annahmen beruht. In dieser Hinsicht gibt es kein unbedingt gültiges Verständnis von Wirtschaft und auch keine Gesetze der Wirtschaft im Sinne strenger Naturgesetze. Wir sind tatsächlich mit einem bestimmten Teilwertesystem konfrontiert, welches die Wirtschaft repräsentiert und das in einem Verhältnis zu anderen Wertvorstellungen einer Gesellschaft steht. Diese Sicht auf Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft eröffnet wieder einen Spielraum für die Fragen: Was für eine Wirtschaft will die Gesellschaft? Was für eine Rolle soll der Wirtschaft in der Gesellschaft zukommen? oder einfach: Was ist eine gute Wirtschaft? Derartige Fragen sind solange sinnlos, wie Wirtschaft als ein faktisch Gegebenes, eine quasi unveränderliche gesetzliche Struktur aufgefasst wird, wie dies im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften oder auch in Teilen von Politik und Öffentlichkeit insbesondere unter dem Eindruck der Globalisierung oft der Fall ist. Wir haben jedoch durch unseren Hinweis auf die normativen Elemente des modernen Wirtschaftsverständnisses verdeutlicht, dass nicht nur das gesellschaftliche Wirtschaftsverständnis ein Teilwertesystem der Gesellschaft repräsentiert, sondern insbesondere auch die Wirtschaftswissenschaften ein spezifisches, normativ basiertes Verständnis von Wirtschaft vermitteln. Oben genannte Fragen nach einer guten Wirtschaft sind demnach nicht nur zulässig, sie sind unseres Erachtens auch zentral für die Frage der Sozialstaatskrise und der Reform des Sozialstaates. 10 Im Rahmen der allgemeinen wirtschaftsethischen Fragen nach dem Verhältnis von Wirtschaft und Moral ist daher Wirtschaft als ein Teilwertesystem neben anderen Wertesystemen der Gesellschaft zu sehen, und auf gleicher Ebene mit anderen Werten wie sozialer Gerechtigkeit in Bezug zu setzen. Es ist etwa explizit zu fragen: Wie verhalten sich Werte wie individuelle (ökonomische) Freiheit, Wachstum, Konsumentensouveränität, welche mit dem modernen wirtschaftswissenschaftlichen Wirtschaftsbegriff verbunden sind, zu Werten wie Solidarität, sozialer Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, etc? Ein gegebenes Primat von Wirtschaft kann auf der ethischen Ebene nicht gelten. Im Rahmen der aktuellen ökonomisch geprägten Debatte um die Sozialstaatskrise und der Entwicklung von Reformansätzen ergeben sich für die Wirtschaftsethik zunächst drei Teilaufgaben: (i) Erstens eine genaue Identifizierung der normativen Aspekte wirtschaftswissenschaftlicher Theorien. Im Einzelnen ist nicht einfach zu lokalisieren und zu bestimmen, welche ökonomischen Aussagen und Annahmen welche normativen Momente enthalten, auf welchen Grundwerten beruhen oder welche ethischen Implikationen mit sich bringen. So ist beispielsweise eine genaue Analyse der Varianten der Rationalitätsannahme, des Effizienzbegriffes, des Marktideals etc. notwendig. Diese Aufgabe erfordert eine Zusammenarbeit der Wirtschaftsethik mit der Wissenschaftstheorie der Ökonomik. Es ist eine interdisziplinäre Aufgabe, die eine Verbindung von Ökonomik, Wissenschaftstheorie und Ethik erfordert. (ii) Zweitens ist eine Analyse und Präzisierung gesellschaftlicher Wertvorstellungen und ihrer historischen und kulturellen Besonderheiten erforderlich. Es geht um die Identifizierung von Gerechtigkeitsvorstellungen und Begriffen des Sozialen in einem konkreten gesellschaftlichen Kontext. Dies erfordert eine Verknüpfung der Wirtschaftsethik mit anderen Sozial- und Kulturwissenschaften, wie etwa Soziologie, Politik, oder Ethnologie. (iii) Drittens geht es schließlich um die Bezugsetzung der ethischen und normativen Voraussetzungen der ökonomischen Theorie mit den gesellschaftlichen Wertvorstellungen hinsichtlich des Sozialen, und um die Frage nach Kompatibilität und Widersprüchen. Diese Reflexionen sind explizit in einen öffentlichen politischethischen Diskurs einzubringen. Die Wirtschaftsethik kann hierdurch den Weg für eine umfassende gesellschaftliche Debatte zum Verständnis von Wirtschaft und Sozialem sowie zur Bedeutung von Wirtschaft im Rahmen von gesellschaftlicher Ordnung und Zielsetzungen eröffnen. In dieser Hinsicht kommt der Wirtschaftsethik eine vermittelnde Rolle zwischen Wissenschaft und öffentlicher Debatte zu. Die Wirtschaftsethik hat also eine interdisziplinäre Dimension, insofern sie bei der Untersuchung ihres Gegenstandes auf Kenntnisse und Methoden anderer Disziplinen angewiesen ist, und sie hat eine transdisziplinäre Dimension, insofern sie einen Beitrag zum öffentlichen Diskurs leistet, Konflikte und Widersprüche, die zwischen wissenschaftlichen Analysen und gesellschaftlichen Reaktionen bestehen, auf dahinter liegende Wertekonflikte zurückführt und das Problem der Sozialstaatskrise so als ethisches Problem beschreibbar und diskutierbar macht. 11 6. Fazit Krise und Reform des Sozialstaats erfordern einen ethisch-politischen Diskurs um gesellschaftliche Werte, um das Verständnis des Sozialen und seiner Bedeutung im Rahmen der Gesellschaft. Wirtschaftswissenschaftliche Analysen und Reformvorschläge können diesen Diskurs nicht ersetzen. Der Beitrag der Ökonomik stellt selbst eine spezifische normative Position dar, welche in einer umfassenden Ziel- und Wertedebatte neben anderen Wertorientierungen der Gesellschaft kritischer Reflektion und vernünftiger Begründung bedarf. Der wirtschaftswissenschaftliche Beitrag zur Reformdebatte des Sozialstaates kann nur dann angemessen Berücksichtigung finden und fruchtbar gemacht werden, wenn er in seiner normativen Dimension explizit erfasst und eingebracht wird. Erst dies eröffnet schließlich die Möglichkeit, das Verständnis von Wirtschaft und ihrer Bedeutung im Rahmen der Gesellschaft auch jenseits des wirtschaftswissenschaftlichen Verständnisses von Wirtschaft umfassend zu diskutieren. Wirtschaft erscheint so nicht einfach als gegebene Bedingung gesellschaftlichen Handelns, sondern wird wesentlich zu einem Aspekt ihrer Zielsetzungen. In einer umfassenden Ziel- und Wertedebatte ist ihre Bedeutung im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Zielen und Werten zu reflektieren, und insbesondere zu Wertvorstellungen vom Sozialen oder sozial Gerechten in Bezug zu setzen. Die Wirtschaftsethik kann hier einen entscheidenden Betrag leisten, indem sie die relevanten gesellschaftlichen Wertvorstellungen wie die normativen Momente wirtschaftswissenschaftlicher Beiträge analysiert und in geeigneter Weise für einen öffentlichen Diskus aufarbeitet. Danksagung Für kritische Diskussion und konstruktive Kommentare danken wir Malte Faber, Reiner Manstetten, Thomas Petersen, den Teilnehmern der 19. Tagung des Berliner Forums für Wirtschaftsethik, sowie den Teilnehmern des Seminars Denken-Entscheiden-Handeln: Ethik der Wirtschaft in Theorie und Praxis, insbesondere den Mitgliedern des Ronneburger Kreises. Literatur Andersen, B. R. (1984): Rationality and Irrationality of the Nordic Welfare State. Daedalus 113: 109-39. Breyer, F. 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