Im Dickicht der Gebote Studien zur Dialektik/von Norm und Praxis in der Buddhismusgeschichte Asiens Editor-in-Chief: Pete!" Schalk Ce-Editors: Max Deeg, Oliver Freiberger. Christoph Kleine, Astrid van Nahl UPPSALA UNIVERSITET 2005 14 Im Dickicht der Gebote CHRISTOPH E~IMRlCH Die Nachschrift der Vorschrift. Beobachtungen bei der Erneuerung der A$tasähasrikä-prajiiäpäramitä im Goldenen Tempel von Lalitpur 287 Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis ­ am Beispiel des chinesischen Buddhismus KARENINA KOLLMAR- P AULENZ Klösterliches Leben in Tibet und der Mongolei im 19· Jahrhundert: Z\\ischen sozialer Anpassung und ·' ... ".,orm • re 1IglOser J. Hllbert Seiwert 309 MICHAELPYE Vorgabe und Praxis in den buddhistischen Pilgerfahrten Japans 353 EDITH FRANKE Agama Buddha - Zur Präsenz und Positionierung des Buddhismus in Indonesien 375 J.';"\;-ICE STARGARDT Death Rituals of the Late Iron Age and Early Buddhism in Central Burma and Sourh-East India Whose Norms, whose Practices? 407 SASCR\ EBELING Siva, Vi$I)u, Buddha: Anmerkungen zu Religion und Staat im Kambodscha der Angkor-Periode (9·-14. Jh.) JENS SCHLIETER 435 I vVie und wann entsteht schützenswertes menschliches Leben? Zur Normativität frühbuddhistischer Konzeptionen vorgeburtlichem Leben .... 4 6 3 von Zeugung, Empfangnis und , English Summaries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 501 :Die Beiträger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5 13 Index 521 \\'ir werden im folgenden zwei Arten von Normen unterscheiden: Kodiji'zierte Normen in Form von - in der Regel schriftlich tixierten ­ normativen Texten und soziale Sormen als die in einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe bestehenden Erwartungen an das Verhalten bestimmter Personen.' Unter Praxis verstehen wir das von außen beobachtbare, also tatsächliche, Verhalten. Als Beispiel für kodifi­ zierte Normen \"'ird uns der Vinaya dienen, ein Textkorpus, in dem die Regeln für das Verhalten buddhistischer Mönche und Nonnen beschrieben werden. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Tat­ sache, daß das praktische Verhalten von J\'Iönchen und Nonnen häufig nicht den Vorschriften des Viliaya entsprach. Dies führt zu der Frage, welche Bedeutung kodifizierte Texte für die Praxis haben und in welchem Verhültnis sie zu sozialen Normen stehen. Diese Frage \vird zunächst in einem theoretischen Sinne behandelt \Iuden. Im Zentrum dieses ersten Teils steht die Beziehung zwischen s~lllbolischen Repräsentationen - vor allem in Gestalt der sprach­ lichen Symbole, die in Texten gegeben sind - und Praxis als dem Verhalten von Menschen. Symbolische Repräsentationen und die durch den Körper ausgeübte Praxis sind konstitutive Elemente jeder Religion, deren Kohärenz erst durch die Relation z\I'ischen bei den etabliert wird. Es \vird argumentiert, daß die elementare Beziehung mischen Text und Praxis von physischer Art sei, indem Texte Objekte praktischen Handeins werden. Die physische Beziehung ist jeder \ Homans definiert .,Norm" \vie folgt: .. A norm is a statement specifying ho\\' a person is, 01' persons of a particlliur sort are, expeded to behuye in gi\'en circum­ stanCl:$ - expected, in the first instance, by thc person that utters the norm. What I expect of you is \\'hat )'OU ought to do," (G, C. Homans, Social Behavior. Its Elemel1­ tary Forms (:\few York i974): 96, zitiert nach K-D. Opp, .. Norms·', in: )lei! J. Smelser /Pau! B. Baltes (Hgg.). International Encyclopedia of the Social and Behal'ioral Seien ces (Amsterdam/Oxford 2001): 10714-10720 (Online-..\lIsgabe), hier: 10714.) ..Soziale Normen" wären nach dieser Definition Erwartungen. die gesellschaftlich bestehen. 16 Kodifizierte Normen, soziale Normen und Pra~is Hubert Seiwert Wirkung des semantischen Gehaltes eines Textes auf die Pra.xis vorgelagert. Im zweiten Teil werden die theoretischen Überlegungen am Bei­ spiel des chinesischen Buddhismus erläutert. Dabei wird gezeigt, daß trotz offensichtlich häufiger Verstöße gegen die Vorschriften des Vinaya der Text Gegenstand der Praxis war und als solcher großer Bedeutung besaß. Für die Identität des Sarpgha und seine historische Kontinuität war die Anerkennung der Bedeutung des Vinaya vvich­ tiger als die Befolgung seiner Regeln. Seine soziale Bedeutung be­ stand unabhängig von seiner semantischen Bedeutung\ die kodifizier­ ten Normen waren nicht zugleich soziale Normen. Erst durch die Transformation kodifizierter Normen in soziale Normen wirkt der semantische Gehalt von Texten auf das praktische Verhalten. Im dritten Teil werden wir versuchen, einige Bedingungen dieser Transformation zu klären. Dabei geht es um die Verknüpfung der in Texten gespeicherten symbolischen Repräsentationen mit der Pra;x:is alltäglicher Kommunikation. Symbolische Repräsentationen und Praxis In einem einflußreichen Aufsatz definiert Clifford Geertz "a religion" als ,,(1) a system of symbols which acts to (2) establish powerful, pervasive, and long-Iasting moods and motivations in men [... ]."2 Für eine Betrachtung des Verhältnisses von Norm und Praxis mag dieser Definitionsansatz als Ausgangspunkt dienen, weil er deutlich macht, in welcher Form religiöse Normen empirisch vorliegen, und zugleich eine bestimmte Art ihres Einflusses auf die Praxis postuliert. Für Geertz sind "Symbole" die materielle Repräsentation von Ideen, Vorstellungen, Haltungen oder Glaubensinhalten. 3 Die kulturell ver­ mutlich wichtigste Form von Symbolen sind sprachliche Repräsen­ tationen, d.h. gesprochene und geschriebene Texte. Nach Geertz' Theorie sind Religionen Systeme oder Komplexe von Symbolen, die eine spezifische Wirkung auf Menschen haben, indem sie deren Stimmungen und Motivationen prägen und damit auch ihr Verhalten beeinflussen. 2 C. Geertz, "Religion as a cultural system", in: M. Banton (Hg.), Anthropological approaches to the study of religion (A.S.A. Monographs; 3) (London 1966): 1-46, hier: 4. 3 Ibid.,5. 17 Geertz' Definition ist hilfreich, um zu erkennen, daß das, was gelegentlich die "Glaubenswelt" einer Religion genannt wird, d.h. die in einer religiösen Tradition überlieferten Doktrinen und Vorstellun­ gen, die empirische Gestalt von Symbolkomplexen hat, die uns vor allem in mündlich oder schriftlich tradierten Texten vorliegen. Dies scheint auch für Normen zu gelten, soweit sie in Te.i\.1:en kodifiziert sind, wie es bei den buddhistischen Ordensregeln des Vinaya der Fall ist. Die empirische Form des Vinaya ist wie die aller Texte eine materielle, nämlich geschriebene und gesprochene Sprache, ein Kom­ plex linguistischer Symbole, deren Bedeutung hermeneutisch erschließbar ist. Geertz verweist darauf, daß Symbolkomplexe "eA1:rin­ sic sources of information" seien, nämlich kulturelle Muster, die als "models" sowohl für als auch von Elementen und Prozessen der durch sie repräsentierten "Wirklichkeit" wirkten. Diese Doppe[funk­ tion gilt auch für normative Texte wie den Vinaya und führt die historische Forschung gelegentlich in die Irre. Denn nicht immer ist klar ersichtlich, ob die beschriebenen Verhaltensweisen Modelle von der Wirklichkeit seien, also das tatsächliche Verhalten buddhistischer Mönche und Nonnen beschreiben, oder nur Modelle für die Wirk­ lichkeit, die als Richtschnur für das Verhalten gelten sollen. Geertz' Charakterisierung symbolischer Repräsentationen als extrin­ sische Informationsquellen kontrastiert sie mit genetisch übermittelten Informationen. Während Gene innerhalb des menschlichen Körpers tradiert werden, bestehen Symbole außerhalb des Körpers und sind gevlissermaßen öffentlich zugänglich. Sie sind nicht Teil der biologischen Ausstattung des j\Ienschen, sondern seines kulturellen Habitats. Aber wie genetisch kodierte Informationen Programme für die Synthese von Proteinen, die die organischen Funktionen der Individuen bestimmen, seien, so stellten die in Symbolen kodierten Informationen Programme für soziale und psychische Prozesse dar, die das gesellschaftliche Ver­ halten prägen. 4 Die Tradierung menschlicher Verhaltensmuster erfolgt demnach durch z'wei verschiedene Medien der Informationsübermitt­ lung, nämlich durch biologische Vererbung mittels Genen und kulturelle Vererbung mittels Symbolkomplexen. Diese "doppelte Vererbung" (dual inhentance) ist für das Verständnis der Entwicklung menschlicher Ge­ sellschaften und der Variationen menschlichen Verhaltens von ent­ scheidender Bedeutung. 5 Da die genetische Ausstattung unterschied­ Ibid., 6. Zu dual inheritance vgl. vV. H. Durharn, Coeuolution: Genes, culture, and human diuersity (Standford 1991): 3-10, 161-183; kritisch dazu P. Boyer, The naturalness of religiotls ideas: a cognitive theory ofreligion (Berkeley 1994): 27 2 - 2 84. 4 S Hubert Seiwert Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis licher Populationen der Spezies homo sapiens im wesentlichen gleich ist, muß die ungeheure Vielfalt von Verhaltensmustern in verschiedenen Gesellschaften im wesentlichen durch "kulturelle Vererbung" erklärt werden, die im Medium von Symbolen erfolgt. Normative Texte scheinen ein ausgezeichnetes Beispiel für die kulturelle Vererbung von Verhaltensmuster durch symbolische Re­ präsentationen zu sein. Indem sie in materieller Form als sprachliche Symbole tradiert werden, besitzen sie eine Eigenexistenz, die unabhängig vom Körper einzelner gesellschaftlicher Akteure besteht. Zugleich stellen sie Modelle für das Verhalten innerhalb bestimmter sozialer Gruppen dar. Alferdings ist auch deutlich, daß die Beziehung zwischen Text und Pra'i:is nicht ohne weiteres der zvvlschen einem Programm und seiner Ausführung gleichgesetzt werden kann. Normative Texte mögen Modelle für die Praxis sein, aber die Pra'i:is entspricht keineswegs immer diesen Modellen. Wenn es zutrifft - und diese Hypothese erscheint höchst plausibel - daß kulturell bedingte Muster des Verhaltens (und darüber hinaus auch des Glaubens, Denkens und Fühlens) durch Symbolkomplexe vermittelt werden, die vor allem als Texte vvle Mythen, historische Erzählungen, Lehrtexte oder kodifizierten Normen manifest iverden, dann bedarf die Beziehung zwischen Text und Praxis einer genaueren Betrachtung. Denn diese Beziehung entspricht offensichtlich nicht dem scheinbar naheliegenden Modell, wonach der semantische Gehalt der sym­ bolischen Repräsentationen seine Entsprechung in den Vorstellungen und im Verhalten derjenigen habe, die die Texte tradieren und gebrauchen. So wenig wie das praktische Verhalten der ~Angehörigen einer Religionsgemeinschaft eine einfache Widerspiegelung der in normativen Texten vorgeschriebenen Regeln ist, so wenig können wir sicher sein, daß ihre subjektiven Vorstellungen, Glaubensinhalte oder Gefühle ein bloßer Reflex der in dogmatischen Te:A.'ten enthaltenen Lehren sind. Bei der Betrachtung des Verhältnisses von Text und Praxis gilt es, zwei Fehlschlüsse zu vermeiden: Zum einen den hermeneutischen Fehlschluß, daß das Verständnis des semantischen Gehaltes von Texten hinreichend sei, um Religionen als soziale Erscheinungen zu erfassen; zum anderen den behavioristischen Fehlschluß, daß die soziale 'Wirklichkeit allein durch das praktische Verhalten der Akteure konstituiert werde und der semantische Gehalte der überlieferten Symbolsysteme vernachlässigt werden könne. Der hermeneutische Irrtum führt uns dazu, Religionen als abstrakte Systeme von Bedeu­ tung und Sinnvermittlung zu interpretieren und zu verkennen, daß ihre empirische Gestalt sich in praktischem Handeln vollzieht, dessen Motive und Bedingungen nicht allein vom Verlangen nach sinnhafter Deutung der Welt und der eigenen Existenz bestimmt werden, sondern zugleich sozialen, ökonomischen und politischen Zwängen und Interessen unterworfen ist. Der behavioristische Irrtum verleitet dazu, allein die Praxis zu betrachten und als Gesamtmenge indivi­ duellen Verhaltens zu interpretieren. Damit vvlrd ignoriert, daß Religionen nicht auf das Handeln von Individuen reduziert werden können, weil die religiöse Praxis offensichtlich auch von Faktoren geprägt vvlrd, die jeder individuellen Existenz vorausgehen und nach ihr fortbestehen. Diese intersubjektive Dimension von Religion be­ I steht unabhängig von einzelnen religiösen Subjekten und ihrer an den vergänglichen Körper gebundenen Praxis in den kulturell tradierten Mustern des Verhaltens, Denkens und Fühlens, deren 'Weitergabe sich vor allem durch das Medium symbolischer Repräsentation in Sprache und Texten vollzieht. 6 Die symbolischen Repräsentationen sind ebenso empirisch gegeben und wie das praktische Handeln, und jede Religionstheorie muß deshalb beide Dimensionen berücksich­ tigen, sofern sie Religionen als empirische Gegenstände begreift. Da die empirische Gestalt von Religionen diese beiden Dimen­ sionen umfaßt, ist die Beziehung zvvlschen symbolischen Repräsen­ tationen und praktischem Verhalten oder - um uns auf diesen Fall zu konzentrieren - zwischen Text und Praxis eine zentrale Relation, durch die Religionen als kohärente Sachverhalte erst konstituiert werden. Wenngleich es offensichtlich erscheint, ciaß es der semanti­ sche Gehalt von Texte,n ist, der ihnen Bedeutung für die religiöse und gesellschaftliche Praxis gibt, dürfen wir nicht übersehen, daß es sich auf der elementaren Ebene um die Beziehung zVvlschen unterschied­ lichen materiellen Gegebenheiten handelt. Die Materialität der Praxis ergibt sich dabei aus ihrer Gebundenheit an den Körper der han­ delnden Subjekte. Denn gerade dies macht die Pra'i:is aus: Sie besteht im tatsächlichen Verhalten konkreter Akteure, dessen Voraussetzung deren körperliche Präsenz ist. Handeln ohne Körper ist nicht möglich; dies gilt für rituelle Akte ebenso wie für Sprechakte. Die Materialität von Texten ist gleichfalls mit ihrer physikalisch beschreibbaren Form gegeben. Die materielle Gestalt symbolischer Repräsentationen ist eine Voraussetzung ihrer Funktion als Träger von Bedeutung; dies gilt 18 - - 19 6 Allerdings ist darauf zu hinzuweisen, daß die kulturelle Tradierung von Verhaltensmustern auch ohne symbolische Repräsentatiou durch i\achahmung erfolgen kann. In dieser Form lassen sich kulturelle Überlieferungen auch in Tier­ populationen beobachten. Symbolische Repräsentationen scheinen dagegen auf humane Populationen beschränkt zu sein. 20 Hubert Seiwert nicht nur für die greifbare Materialität geschriebener Texte, sondern auch für die ephemere Materialität gesprochener Sprache. Indem wir Text und Praxis, in ihrer elementaren Gestalt als materielle Gegebenheiten in den Blick nehmen, erkennen wir, daß eine Beziehung z.vischen beiden nicht erst durch die Dekodierung des semantischen Gehalts etabliert wird, die die in den Texten repräsen­ tierte Bedeutung als Orientierung praktischen Verhaltens verfügbar macht. Denn die Voraussetzung jeden semantischen Verständnisses ist zunächst eine physische Beziehung zwischen Text und gesell­ schaftlichen Akteuren, und nur unte.r dieser Bedinguvg können Text me auch alle anderen Symbolkomplexe kulturell wirksam werden. Die elementare Beziehung zwischen Te;.,.1: und Pra..'(is ist deshalb von materieller Art, indem Texte Objekte praktischen HandeIns sind. Texte werden in materieller Gestalt bewahrt und überliefert, schriftlich oder mündlich reproduziert, rezitiert und rituell behandelt. Im praktischen Umgang mit Texten .vird ihre soziale Bedeutung sichtbar, die etwas anderes ist als ihre semantische Bedeutung. Die kulturelle Wirkung eines Te;.,.1:es ist erst in zweiter Linie eine Funktion seines semantischen Gehaltes, weil dieser folgenlos bleibt, wenn der Text nicht Gegenstand praktischen HandeIns ist, und sei es auch nur, indem er überliefert wird. Nur in dem Maße, in dem ein Text soziale Bedeutung besitzt, kann seine semantische Bedeutung eine Wirkung auf die gesellschaftliche Pra..xis entfalten. Die soziale Bedeutung aber dokumentiert sich im Umgang mit dem Text als materiellem Objekt, • sie ist meßbar im Maß der gesellschaftlichen Ressourcen an Zeit und ökonomischen l\·litteln, die zu seiner Behandlung venvendet werden, indem er rezitiert, erzählt, abgeschrieben, gedruckt, auswendig gelernt, prachtvoll geschmückt, rituell verehrt und wie auch immer sonst ausgezeichnet wird. Die Art und das Maß der Auszeichnung etablieren Bedeutungsunterschiede zwischen Texten,! die von anderer Art sind als die Unterschiede ihrer semantischen Bedeutung, doch me diese nicht der materiellen Form inhärent sind, sondern durch ihren Gebrauch konstituiert werden. Der Umstand, daß nicht alle Texte die gleiche soziale Bedeutung besitzen, begründet ihren unterschiedlichen sozialen Status. 8 Soweit i Da ich mich hier auf Texte konzentriere, bleiben andere Formen symbolischer Repräsentationen außer Betracht. Es ließe sich jedoch vermutlich zeigen, daß ähnliche Bedingungen auch sonst gelten, etwa hinsichtlich der sozialen und semantischen Bedeutung ikonographischer Symbole. S Für eine formale .Analyse sozialer Statuszuweisung vgl. J. R. Searle, The construction ofsocial reality (London 1995, Nachdruck 1996): 94-126. Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis 21 es sich um normative Texte handelt, um Gesetzbücher oder Ordensregeln, liegt es auf der Hand, daß ihre soziale Verbindlichkeit nicht unabhängig von der Anerkennung ihres sozialen Status besteht. Ihr semantischer Gehalt, der durch die sprachliche Form präskrip­ tiver Sätze geprägt ist, ist allein nicht ausreichend, um ihnen Verbindlichkeit zu verleihen. Der obligatorische Charakter des Vinaya besteht nicht für jeden, der den Te;.,.1: liest und seine semantische Bedeutung versteht, sondern ist an die AIlllerkennung seines verbind­ lichen Status gebunden. Diese Anerkennung vollzieht sich durch die Praxis, die erst die soziale Bedeutung des Textes konstituiert. Aber es ist nicht nur der status des Textes, der durch die Praxis des Umgangs mit ihm bestimmt \.vJrd, sondern auch der Status der Akteure. Die Anerkennung der Verbindlichkeit eines normativen Textes etabliert Unterschiede zmschen Personen, die nicht von physischer Qualität sind, sondern den sozialen Status betreffen. Der verpflichtende Charakter der Ordenregeln des Vinaya besteht nur für buddhistische Mönche und Nonnen, und die Teilnahme an der Prätimok?a-Zeremonie dokumentiert mit ihrer Anerkennung zugleich den Status der Teilnehmer als Angehörige des Sarpgha. 9 Indem der Text Gegenstand praktischen HandeIns wird, etabliert die Praxis eine dialektische Beziehung z\.vJschen Akteur und Text, die den sozialen Status beider bestimmt. Der soziale Status gibt beiden eine Bedeu­ tung, die nicht aus ihrer physischen Qualität abgeleitet werden kann, sondern allein aus der öffentlichen Praxis. Die Struktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der Personen und Dinge unterschiedliche soziale Bedeutung besitzen, ist das Ergebnis der Summe öffentlicher Praxis. Die soziale Unterscheidung von buddhistischen Mönchen und daoistischen Priestern, um dieses Beispiel zu nehmen, .vird nicht durch einmalige Akte konstituiert, sondern durch ein Netz von Handlungen, die Akteure und Objekte zueinander in Beziehung setzt. Daß dabei Buddhisten mit anderen Texten umgehen als Daoisten, ist nur ein Element dieses Geflechtes; ihre Praxis unterscheidet sich auch hinsichtlich anderer Objekte, .vie ikonographische Symbole oder Ritualutensilien, Aber auch in diesen Fällen wird in einer dialektischen Beziehung der Status sowohl der Akteure als auch der Objekte bestimmt: Buddhistische Ikonen sind 9 Diese Überlegungen sind beeint1ußt durch Rappaports Begriff acceptance; vgl. R­ A. Rappaport, Ritual and religion in the making of humanity (Cambridge 1999): 117-126. 22 Hubert Seiwert Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis die, die Gegenstand der Praxis von Buddhisten sind, und Buddhisten sind die, deren Praxis sich auf buddhistische Ikonen bezieht.lO Ein elementarer Aspekt der Pra.;\is ist also darin zu sehen, daß eine Beziehung zwischen symbolischen Repräsentationen und Akteuren in Kraft gesetzt wird, die beiden eine spezifische soziale Bedeutung gibt und damit ihren Status bestimmt. Die semantische Bedeutung der Symbole scheint auf dieser Ebene der Praxis nur eine untergeordnete Rolle zu spielen.n Dies gilt auch für Texte, also sprachliche Syu1bol­ komplexe, die Gegenstand der Pra..'{is sein können, ohne daß ihr semantischer Gehalt im Vordergrund stehtY Wir müssen di~s auch bei der Betrachtung normativer Texte und ihrer Funktion in der Praxis berücksichtigen. verbreitet wie die Anerkennung des Vinaya sind allerdings auch Klagen über die Dekadenz des Sarpgha, und schon für die früheste Phase der Geschichte des Buddhismus finden sich Belege dafür, daß das tatsächliche Verhalten von Mönchen gegen die Ordensregeln verstieß.15 In China scheint der Vinaya als Text bis zur Mitte dritten Jahrhundert nicht bekannt gewesen zu sein, ein Zustand, den der indische Mönch Dharmakala kritisierte, der deshalb die Pratimok$a­ Regeln des Vinaya der Mahasarpghikas übersetzte. 16 Anfang des fünften Jahrhunderts vvurden die vollständigen Versionen des Vinava I '-' • "" von vier Schulen (Sarvastiväda, Dharmaguptaka, Mahasarpghika und Mahisasaka) verfügbar, die zwischen 404 und 423 in zusammen fast 200 Faszikeln übersetzt wurden. 17 Die enormen Mittel, die in die Übersetzung dieser (und anderer) Texte investiert \"IUrden, sind ein Indiz ihrer sozialen Bedeutung. Der Vinaya wurde auch zum Gegen­ stand buddhistischer Gelehrsamkeit, die zu zahlreichen Kommenta­ ren und zur Entstehung einer eigenen Schultradition, der Lüzong ~* (Vinaya-Schule), führte, als deren Gründer Daoxuan ~]l (596­ 667) gilt. Daoxuan stützte sich auf den Vinaya der Dharmaguptakas (Sifen lü J2]5H~) und kritisierte zugleich das Verhalte,n vieler zeit­ genössischer :Mönche, denen er vorwarf, weder Glauben noch hinrei­ chende Bildung zu besitzen und die Ordensregeln zu mißachten. Die einzige ;\'Iöglichkeit, den Sittem'erfall des Sarpgha aufzuhalten, sah er in der strikten Befolgung des Vinaya. 18 Eines der Motive Daoxuans, die Befolgung des Vinaya zu propa­ gieren, war demnach der Umstand, daß viele Mönche und Nonnen sich nicht an die Regeln hielten, Daß Verstöße gegen die Regeln des Vinaya häufig genug waren, um öffentlich wahrgenommen zu werden, \\issen wir auch aus anderen Quellen. So wird im Mouzi lihuo lU71 Kodifizierte Normen und Praxis im chinesischen Buddhismus Wenn wir der Tradition Glauben schenken, daß die Ordensregeln bereits nach dem Tod des Buddha mündlich kodifiziert wurden,1 3 dann wäre dies ein Beleg für die große Bedeutung, die dem Vinaya als Text innerhalb des Sarpgha von Anfang an beigemessen \"IUrde. Auch wenn die überlieferten schriftlichen Versionen späteren Datums sind und ge\\isse Varianten auhveisen, so gilt der Vinaya doch als ein zentraler Text fast aller buddhistischen Schulen. i4 Ähnlich weit 10 Deshalb ist die Struktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht statisch, denn der soziale Status der Akteure und Objekte kann sich durch die Praxis verändern. 11 Dies ist deutlich vor allem bei gewissen ikonographischen Symbolen, deren semantische Bedeutung unschmi ist und von unterschiedlichen Akteuren auch unterschiedlich interpretielt wird. Ein Beispiel ist die semantische Bedeutung von Emblemen (eh,'a einer Staatsflagge). 1." Im Extremfall kann es vorkommen, daß Texte in der Praxis gebraucht werden, die für die Akteure unverständlich sind, et\,'a \,'eil sie in einer fremden Sprache abgefaßt sind. Beispiele sind der Gebrauch lateinischer Texte in der katholischen '\'Iesse (vor dem zweiten Vaticanum) und das Memorieren des arabischen Textes des Korans durch .-",kteure, die des Arabischen nicht mächtig sind. Im Falle des chinesischen Buddhismus kann man auf den rituellen Gebrauch \'on Sanskrit-Formeln vef\,'eisen. Ein Verständnis der semantischen Bedeutung ist in diesen Fällen offenbar nicht Voraussetzung'für die .tvlerkennung der sozialen (d.h. hier: religiösen) Bedeutung der sprachlichen Symbole. 13 VgL A. Bareau, Les premiers conciles bouddhiques (Annales du Musee Guimet, Bibliotheque d'etudes; 60) (Paris 1955): 22. 14 Eine wichtige Ausnahme stellen die während der Kamakura-Zeit entstandenen Schulen des japanischen Buddhismus dar, die den im Vinaya überlieferten Ordens- 23 regeln keine normati'.-e Autorität zubilligen. Vgl. dazu K. Lekshe Tsomo, "Buddhist ethics in .Japan and Tibet: A comparative study of the adoption of bodhisath'a and priitimok~a precepts", in: Ch. Wei-hsun Fu/S. A. vl;'awrytko (Hgg.), In Buddhist be­ havioml eodes and the modern world: An internatt"onal symposium (VI'estport, COllll./London 1992): 123-138. 15 Vgl. R. Gombrich, Therayada Buddhism: A soeial history jrom aneient Benares to modern Colombo (London 1988): 93-95, 110. '6 Andere Teile des Vinayas verschiedener Schulen wurden ebenfalls im dritten .Jahrhundert übersetzt; \'gl. E. Zürcher, The Buddhist conquest of China. Bd. 1-2 (Leiden 1959): 55 f. ,- VgL 1'. Satö, "Dao-xuan and his religions precepts", in: Ch. vVei-hsun Fu/S. A. \\-awrytko (Hgg.), In Buddhist behavioral codes and the modern world: An interna­ tional symposium (Westport, Conn./London 1992): 67-73, hier: 72 f. 18 Vgl. ibid., 69. Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis Hubert Seiwert 24 iF·=f~.~~ (Über Meister .!.Uous Beseitigung der Zweife[) , einer apologetischen Schrift, die vermutlich im vierten oder frühen fünften Jahrhundert entstanden ist,1 9 ein fiktiver Kritiker des Buddhismus mit den Worten zitiert: Heutzutage sind die Mönche dem i\lkohol verfallen oder sie haben Frauen und Kinder. Sie kaufen billige Waren ein und verkaufen sie teuer. Ihre Spezialität sind Schwindel und Betrug. Dies ist die große Täuschung der Welt und wohl das, was der Buddhismus unter "Nichtstun" (wuwei ~~) versteht. 20 Auch in zahlreichen Mönchsbiographien 'wird von Verletzungen der Ordensregeln berichtet, von Mönchen die stehlen, Alkohol trinken und Fleisch essen. 21 Wir können davon ausgehen, daß zu allen Zeiten - wenn auch vielleicht nicht immer im gleichen Ausmaß - eine nicht unbeträchtliche Zahl von Mönchen und Nonnen die Ordensregeln mißachtete. Dies gilt für die Neuzeit nicht weniger als für das Mittelalter, wie folgender Bericht aus dem späten 19. Jahrhundert über die Mönche in Taiwan zeigt: Diejenigen Ivlönche, die die Speisevorschriften und Mönchsgebote beachten . sind nur sehr wenige. Unter ihnen gibt es zwar einige, die in die Hauslosigkeit gehen (chu jia I:f:j %~), die meisten aber sind Nichtstuer, die den Müßiggang lieben, eine höchst ungebildete Sorte. Ihr Motiv sind drei Mahlzeiten am Tag und sie gehen nicht \-v:irklich in die Hauslosigkeit. Denn wenn man in die Hauslosigkeit geht, darf man keine Frau qehmen . und kein Fleisch essen. Die Mönche in Taiwan aber nehmen in der Mehrzahl eine Frau und essen Fleisch. 22 Die historischen Berichte erlauben es kaum, zu bestimmen, in welchem Maße solche eklatanten Verstöße gegen die Ordensregeln vorkamen. Ohne Zweifel gab es zu allen Zeiten Schwindler und Nichtstuer im Mönchsgewand, aber ebenso sicher ist, daß nicht alle Mönche arbeitsscheue Scharlatane waren. 23 Dabei dÜlien wir nicht , 25 übersehen, daß die verbreitete Mißachtung konkreter Regeln des Vinaya nicht bedeutet, daß in chinesischen Klöstern ein Zustand der Anarchie geherrscht habe. Nicht nur gab es spätestens seit der Tang­ Zeit eine staatliche Gesetzgebung, die das Leben der Mönche in hohem Maße reglementierte,2 4 sondern es bestanden auch interne Klosterregeln,2S ohne die das Zusammenleben gar nicht möglich gewesen wäre, auch wenn es nicht allein und auch nicht in erster Linie die Pratimok:;;a-Regeln des Vinaya waren, die die Lebensfüh­ rung chinesischer Mönche bestimmten. 26 Seit dem frühen Mittelalter war die vorherrschende Richtung des Buddhismus in China das Mahayäna, während' die Vinaya-TextE! von verschiedenen Hinayana-Schulen stammten. Die Vorschriften des Vinaya waren für den Bestand des Sarpgha unter anderem deshalb wichtig, weil sie die formale Geltung der Ordination gewährleisteten. ~ach den Lehren des Mahayana war das Ideal religiöser Lebens­ führung jedoch nicht das Leben als Mönch mit dem Ziel, die eigene Erleuchtung zu erlangen, sondern die Karriere eines Bodhisattvas, die nicht an ein monastisches Leben gebunden ist. Da die Regeln des Vinaya dazu dienen sollten, auf hinayanistische Weise als Mönch die eigene Erlösung zu verfolgen, waren sie aus mahayänistischer Sicht von untergeordneter Bedeutung, denn dieses Ziel widersprach' in gevvisser Weise dem Bodhisattva-Ideal, das die eigene Erlösung der Erlösung aller Lebewesen hintanstellte. Dies konnte zu der Folgerung führen, daß es unter "C"mständen notwendig und gerechtfertigt sei, gegen die Regeln des Vinaya zu verstoßen, 'Nenn damit der Erlösung anderer gedient werde, was im E.,"'\.tremfall das Töten aus Mitleid legitimieren konnte. Den Vorschriften des Vinaya wurde damit eine gewissermaßen höhere Ethik für Bodhisattvas gegenübergestellt, Die ältesten erhaltenen Gesetze stammen allerdings erst aus der Song-Zeit. Vgl. \\'. Eichhorn, Beitrag zur rechtlichen Stellung de,s Buddhismus und Taoismus im SUl1g-Staat (Leiden 1968). '5 Eine einflußreiche Sammlung monastischer Regeln, die während der Yuan Dyna­ '9 Der Text v"ird einem Autor der späten Han-Zeit zugeschrieben. Zur Datierung­ stie sproblematik vgl. J. P. Keenan, How Ylaster j:Hou remOL'es our doubts. A reader­ herausgegeben wurde, ist das Chi:ä.u Baizhang qinggui ~®:83t;Wm, das sich auf ältere Ordnungen stützt. Vgl. l\I. D. Reis-Habito, Die DhäraTJ.l des Großen response study and translation ofthe 'IVlou-tzu Li-huo lun' (Albany(New York 1994): Erbarmens des Bodhisattva Avalokitesvara mit tausend Händen und Augen. 3-7· "ber'setzung und Untersuchung ihrer textlichen Grundlagen sowie Erforschung 20 Hong ming ji 5LE~W (T 2102), fase. 1, Bd. 52Aa, 16-18. ihres Kultes in China (~Ionumenta Serica Monograph Series; 27) (Nettetal 1993): 2' Für Quellenbelege siehe Tso Sze-bong, "The decline of the Buddhist Vinaya in 310-315· China form a historical and cultural perspecti\'e", in: Ch. Wei-hsun Fu/S. A. Waw­ 26 Zum Konflikt z\\ischen Vinaya und Klosterregeln vgl. Tso Sze-bong, "The confliet I)tko (Hgg.), Buddhist behavioral codes and the modern world: An international bep,,'een Vinaya and the Chinese monastic mIes: The dilemma of disciplinary symposium (Westport, Conn./London 1992): 111-122, hier: 111 f. venerable Hung-i", in: Ch. Wei-hsun Fu/S. A. Waw[\tko (Hgg.), In Buddhist ethics 22 Anping xian zaji 3C~~~1I.~, S. 20. and modern society: An international symposium (New York/Westport, Conn./ 23 Vgl. K. 1. Reichelt, Truth and tradition in Chinese Buddhism (Shanghai 1928; London1990:69-80 . :-;-achdruck: Taibei 1976): 2331'. U 26 Hubert Seiwert deren ideale Verhaltensweisen auch in eigenen Texten, vvie dem Fanwangjing ~;t~ (Brahmanetz-Sutra), kodifiziert waren. 27 Es gab also eine in der Lehre des Mahayana begründete Recht­ fertigung für die Mißachtung der traditionellen Ordensregeln, und es scheint, daß in der Tat die Vorschriften des Pratimok~a bestenfalls zum Teil befolgt wurden. So scheint das Gebot für Mönche, die eigene Nahrung zu erbetteln, in China nur in Ausnahmefällen beachtet worden zu sein, und die Klöster verfügten über eigene Küchen. Auch die Kritik, die von manchen Vinaya-Gelehrten am Verhalten ihrer Mitmönche geäußert vvurde, zeigt daß viele Ordensregeln in der Pra..,"'(is nicht beachtet wurden. 28 Um so bemerkenswerter ist es, daß in der Geschichte des chinesischen Sarpgha die Anerkennung der Vor­ schriften des Pratimok~a ein zentrales Element der Mönchsordination blieb. 2 9 Obwohl die Ordinationszeremonie um die Bodhisattva-Ge­ lübde erweitert wurde, wurde der Pratimok~a selbst in einem Text wie dem Fanwang jing formal anerkannt,3 0 wenn auch inhaltlich im Sinne des Bodhisattva-Ideals interpretiert. Bei der Ordination hatten Mönche zunächst die 250 Gebote des Pratimok~a anzunehmen, bevor sie die Bodhisattva-Gelübde ablegten. 31 Diese Pra..,"'(is blieb bis in die Gegenwart erhalten.32 Zumindest in einigen Klöstern wurde \vohl auch die nach dem Vinaya vorgeschriebene Praxis der Po~atha-Zere­ monie regelmäßig abgehalten, bei der am 1. und 15. Tag jedes Mohd­ monats die Pratimoksa-Regeln von den .Mönchen rezitiert vlurden. 33 Es kann alsQ kein Zweifei 'Destehen, daß der Status des Vinaya als eines Textes von hoher Bedeutung im chinesischen Buddhismus Kodifizierte Normen, soziale l\ormen und Pra..xis 27 erhalten blieb. Dies zeigt sich auch in den zahlreichen Kommentaren und Abhandlungen zu diesem Text, die im Laufe der Geschichte "erlaßt wurden. 34 Diese soziale Bedeutung des Vinaya bestand, wie v\ir gesehen haben, unabhängig davon, daß viele Regeln im prakti­ schen Verhalten nicht befolgt wurden, ja sogar die Verbindlichkeit der Regeln gelegentlich mit in der Lehre des Mahayana begründeten Argumenten in Frage gestellt wurde. Diese Spannung zwischen formaler Anerkennung des Textes und Mißachtung seines semanti­ schen Gehalts blieb natürlich nicht verborgen. Im Zhengming jing ~Bjj*~, einem Text" der vermutlich aus dem sechsten Jahrhundert Stammt, wird das t~erhalten ordinierter Mönche kritisiert:' Was die Mönche und Nonnen betrifft, die ihr Haupt geschoren haben und klerikale Ge\\'änder tragen, so ist zu sagen: Selbst wenn sie die 250 Gebote [des Prat.imok~a] akzeptiert haben, sie aber nicht einhalten, so sind sie nicht denen gleich\\'ertig, die nur die zehn Regeln (Tm. sik$äpada)35 akzeptiert haben und sie einhalten, indem sie die zehn guten Werke [der Laien] tun; die auf luxuriöse Roben verzichten und von ganzem Herzen _~kese praktizieren, keine Befleckung in ihrem Geist aufKommen lassen, sich zurückziehen und barml1erzige Liebe praktizieren; [.. .]3 6 Der Text vertritt eine radikale Position des Mahayana, indem die 250 Ivlönchsgebote und damit der formale Status als Mönch als unwesent­ lich erachtet und statt dessen die Tugenden eines Bodhisattva propagiert werden, der alle Wesen voller NIitleid belehrt, um sie durch Überwindung der Unwissenheit von den Bindungen der Welt zu erlösen. Allerdings entstammt der Text, der in der frühen Tang­ Zeit anscheinend weite Verbreitung fand, einem Milieu, das offen­ sichtlich in einer gewissen Spannung zum etablierten Kloster­ buddhismus stand. Von diesem ",rich er nicht nur hinsichtlich der Geringschätzung der Ordensregeln ab, sondern auch durch die Verbreitung eschatologischer Ideen über den nahen Untergang der gegenwärtigen Welt; der kommenden Katastrophe würden die Sünder zum Opfer fallen und nur die Gläubigen durch Aufnahme in das Reich Zur Spannung zwischen mahäyänistischen Auffa~sungen und Vinaya-Vorschrif­ ten und zum *Brahmajäla-:;ütra (Fanwang jing) siehe auch den Beitrag von Christoph Kleine in diesem Band. 28 Allerdings hielten sich selbst Vinaya-?v1eister, die für die strikte Befolgung der Ordensregeln eintraten, nicht notwendig selbst an alle Gebote. VgL Tso, "The conflict ber.\een Finaya and the Chinese monastic mIes", 72-73. 29 Zum praktischen Vei'stoß gegen die Regeln des Vinava bei gleichzeitiger Anerken­ nung seiner .'l.utorität siehe Sheng-Yen, "The renaissance of Vinaya thought during the late Ming dynasty of China", in: Ch. vVei-hsun Fu/S. A. V'ia\\T}Lko (Hgg.), In Bud­ J4 Vgl. Sheng·Yen, "The renaissance of Yinaya thought", 4 2 . dhist ethics and modern soc:iety: An international symposium (New York/Westport, 'JS Die zehn zentralen Regeln für Mönche, die auch schon von ~o\i2en angenommen Conn./ London 1991): 41-;54. werden und sich hier mäglichel'\\'eise im Vnterschied zu den 250 Prätimoksa-Regeln jO Fanwangjing t.t.~~ (T 1484) Bd. 24:10°33,15-22. auf nicht im Sinne des Vinaya voll ordinierte i\lönche beziehen. J1 VgL L~kshe Tsomo, "Buddhist ethics in .Japan and Tibet", 125; Satö, "Dao-xuan 30 Plu:ian pllsa shuo zhengming jing l.tiHHB.~H!fßJj~ (T 2879) Bd. 85:1363a. Zu and his religious precepts", 70 f. diesem Text und seinem sozialen Umfeld siehe H. Seiwert, Popu/ar re/igious moue­ 32 VgL H. vI/eich, The practice of Chinese BuddlJism 1900-1950 (Cambridge, :\lass. ments und heterodox sects in Chinese history (China Studies; 3) (Leiden 2003): 141­ 1967; second printing 1972): 290-294. 154 und A. Forte, Po/itica/ propaganda and ide%gy in China at the end of the seu­ 33 );ach \Ve1ch, The practice ofChinese Bllddhism 1900-1950, 110 \llJrde im frühen ('nth century: Inqlliry into the nature, autnors and junctions of the Tunhuang 20. Jahrhundert die Uposatha-Feier nur in \v'enigen Klöstern regelmäßig durch­ document S 6502fol/owed by an annotated translation (Napoli 1976): 159- 16 4. geführt. 27 28 des Buddha Maitreya entgehen. Im Unterschied zum regulären Sarpgha, dessen Dekadenz in dem Text angeprangert wird, hatte die Gruppe radikaler Mönche und Laien, die hohe sittliche Ansprüche vertrat und einforderte, jedoch keinen Bestand. Der Text geriet in Vergessenheit und wurde erst im frühen 20. Jahrhundert in den Höhlen von Dunhuang v{ieder entdeck-t. Die Gemeinde, die sich um das Zhengming jing gebildete hatte, war nur eine von zahlreichen buddhistischen Gruppierungen des Mittelalters, die außerhalb oder am Rande des regulären Sarpghas bestanden. Viele von ihnen galten aus der Sicht des Staates als heterodox und manche waren tatsächlich in RebelTionen verwickelt. Ein extremes Beispiel ist der Aufstand des Mönchs Faqing itlf im Jahre 515, der erst durch den Einsatz einer großen Armee nieder­ geschlagen werden konnte. Faqings Angriffe richteten sich vor allem gegen Klöster; die Aufständischen metzelten Mönche und Nonnen nieder und verbrannten buddhistische Texte und Statuen. Unter dem Slogan "Der neue Buddha ist erschienen und rottet die Dämonen aus" sollte der Buddhismus von Dämonen im Mönchsge\vand befreit werden. Es hieß, daß jemand, der zehn davon töte, ein Bodhisattva der zehnten Stufe (shizhu pusa +1±lHi) werde. 37 Die Gruppe um Faqing war in ihrer Militanz außergewöhnlich, in ihrer Opposition gegen die Klöster und Mönche aber kein Einzelfall. Im sechsten Jahrhundert waren die großen Klöster bereits zu reichen Institutionen mit großem Grundbesitz geworden, und die Befreiung der Mönche von Steuern und Fronarbeit hatte \iele aus anderen als religiösen Motiven dem Orden beit'reten lassen. 38 In einer solchen Situation trugen nicht wenige ein IVlönchsgewand, dit= dem Ansehen des Sarpgha schadeten. Es konnte aber auch vorkommen, daß Mönche sich vom offiziellen Sarpgha distanzierten und Gemeinden von Laienanhängern um sich scharten, die eine andere Form von Buddhismus vertraten, als in den Klöstern praktiziert wurde. 39 Nach den Lehren des Mahayana \~'ar die Gründung von Laiengemeinden leicht zu legitimieren. Für den Bestand des Sarpgha erwuchs daraus freilich eine ernste Gefahr, nicht nur weil es zu gewaltsamen Zur Bc\\'egung des Mönchs Faqing siehe Sei\\ert, Popular religious movements and heterodox sects in Chinese history, 111-116. 38 YgI. K. K. S. eh'en, Buddhism in China, A historical survey (Princeton 1964): 154 -158, :.l9 Ein solcher Fall ist der Mönch :'Iiaoguang r);;Yt, der 510 - also fünf Jahre vor dem Aufstand des Faqing - eigene Schriften verfaßte und eine große Gefolgschaft sammelte. Vgl. Seiwert, Popular religious movements ana heterodox sects in Chinese hi.story. 155 f. 37 Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis Hubert Seiwert 29 Übergriffen kommen konnte, sondern auch weil die Integrität des buddhistischen Ordens durch Bewegungen, die volksreligiöse und heterodoxe Züge trugen, bedroht wllrde. Vor diesem Hintergrund ermahnte der Mönche Tanxuan ~ili (531-625) seine Schüler: Der Buddhadharma wird langsam Tode gebracht. Dies ist vor allem, weil :--.IÖnche, die keine Tugend besitzen, die Laienanhänger aufrühren können, so daß die Gefahr einer Rebellion entsteht. "Wenn ihr eine große Gefolgschaft sammelt, ist es unmöglich, sie in den Prinzipien der Loyalität und des aufrichtigen Glaubens zu untenveisen. 40 Seit der Buddhadharma sich nach Osten ausgebreitet hat, gab es nicht wenige Scharlatane und Betrtiger. Während einer früheren Dynastie gab es die Dacheng ("Mahäyäna") Banditen [des Faqing],4 1 heutzutage gibt es die gefährlichen Lehren über Maitreya. Die Anhänger von Leuten, die den Ulmissenden falsche Lehren predigen, sind zahlreich. Ich habe gehört, daß ihr eine große Gefolgschaft sammelt, und ich fürchte, daß ihr damit vielleicht unsere Lehre zerstörtY ** Ein Problem, vor dem der Sarpgha stand, war die Aufrechterhaltung klarer Grenzen. Für Tanxuan ging es vor allem um die Abgrenzung von heterodoxen Bewegungen, von denen manche chiliastische Lehren verkündeten und in ~ebellionen verwickelt waren, die staat­ liche Verfolgung nach sich zogen. Dies erforderte eine deutliche Distanzierung des Sarpghas von solchen Gruppen, um nicht selbst das Mißtrauen des Staates zu provozieren. Anführer solcher Sekten waren nicht selten IV!önche, von denen es viele gab, die sich außerhalb der lderikalen Struk-turen bewegten. piese zentrifugalen Kräfte ließen sich lzaum mit 'doktrinären Mitteln aufheben, zumal die Lehren des Mahäyäna eine ungeheure Vielfalt der Interpretationen zuließen, die durch keine zentrale Lehrinstanz zu kontrollieren waren. Die Bewahrung der Struktur des Sarpgha und die Aufrechterhaltung von Grenzen war primär eine Sache der Praxis. Auch ohne daß die Regeln des Vinaya im einzelnen alle befolgt wurden, war bereits die formale Anerkennung seiner Autorität durch rituelle Akte vvie die Ordination und die Po:;;atha-Feiern ein GegengeVlricht zu zentrifugalen Kräften. Denn damit \>vurde öffentlich der Status eines Mönchs dokumentiert, der so in Strukturen der Praxis eingebunden war, denen andere, die sich gleichfalls auf den Buddhismus beriefen, fernstanden. Es ist für unseren Zusammenhang wichtig, daran zu erinnern,·daß die Akzep­ Xu Caoseng zhuan ~t1,'iiif';l:i~ (T 2060), fase. 24, Bd. 50: 641b, 1-3· Der Mönche Faqing, der die Rebellion von 515 führte, hatte den Namen Dacheng angenommen. 40 Xu Caoseng zhuan, fase. 24, Bd. 50: 641e, 1-3· 40 41 30 Hubert Seiwert tanz des Vinaya in der rituellen Praxis und andere Formen der Aner­ kennung seiner Bedeutung nicht voraussetzten, daß die Vorschriften befolgt wurden. Der semantische Gehalt war zwar nicht unwesentlich, aber für den Grenzerhalt des SaJ1lgha war das primäre, daß der Text ein Bezugspunkt der Pra.\:is war. Wieweit einzelne Mönche sich an die Regeln hielten, war für den Bestand des Ordens ebenso zweitrangig wie die Frage, ob sie das, was in dogmatischen Texten formuliert war, auch persönlich glaubten. Die Anerkennung des Vinaya als normativer Text war ein öffent­ licher A1<t, der unabhängig von den jeweilsbeste~endensubjektiv.en Befindlichkeiten wirksam war. Indem der Vinaya als Text zum Bezugspunkt vielfaltiger Praxis ,v"lude - von bloßen Verweis auf die 250 Regeln des Pratimok;;a, über ihre rituelle Rezitation bis hin zum Kopieren und Kommentieren des Vinaya-Textes - wurden Strukturen und Grenzen etabliert, die diejenigen einschlossen, die sich an dieser Praxis beteiligten. Die Art des prahischen Umgangs mit dem Text zeigte seine soziale Bedeutung und bestimmte damit zugleich den sozialen Status der Akteure. Zusammen mit anderen Formen der Pra,'(is, deren Gegenstand ebenfalls symbolische Repräsentationen waren - andere Texte, ikonographische Symbole, Stüpas - wurde ein Geflecht von Handlungsstrukturen geschaffen, das dem SaJ1lgha als soziale Institution Identität und Kontinuität verlieh. .Die materielle Gestalt des Vinaya, \..ne auch anderer Symbol­ komplexe, erlauDte den praktischen Umgang damit, ohne immer und jedes Mal s~inen semantischen Gehalt zu dekodieren. Die Rezitation von Texten kann auch mechanisch erfolgen,43' Stüpas können umschritten werden, ohne dabei jedesmal die mit den Reliquien repräsentierten Heilsgestalten zu vergegenwärtigen. 44 Wichtiger für den Bestand religiöser Institutionen ist jedoch ein anderer Aspeh: Die materielle Gestalt der Symbole ist eine Voraussetzung für die Kontinuität von Handlungsstruhuren. Sie erlaubt es, Handlungs­ struhuren zu schaffen und zu tradieren, die das Leben der indivi­ Kieffer-Pülz bemerkt, daß schon früh in der Geschichte des Buddhismus die "zum bloßen Ritual erstarrt" sei; P. Kieffer-Pülz, "Die buddhistische Gemeinde", in: H. Bechert/J. Bronkhorst et al. , Der Buddhismus 1. Der indische Buddhismus und seine Verzweigungen (Die Religionen der Menschheit; 24,1) (Stuttgart 2000): 281-419, hier: 380. . 44 Xach .J. S. Strong, Relics oj the Buddha (PrincetonjOxford 2004): 233 besitzen buddhistische Reliquien einen starken semantischen Gehalt, indem sie bei den Gläubigen die gesamte Biographie des Buddha veFgegen"·ärrigen. Man \~ird jedoch einräumen müssen, daß sie dies nicht bei allen Gläubigen, die die Reliquien verehren, immer in gleichem i\laße der Fall ist. 43 Prätimok~a-Rezitation Kodifizierte Normen, soziale ::;ormen und Praxis 31 duellen Akteure überdauern. Die Annahme der 250 Regeln des Prätimok~a bei der Mönchsordination im 20. Jahrhundert ist die aleiche rituelle Praxis wie im sechsten Jahrhundert, weil der ö Gegenstand der gleiche ist. Die Akteure dagegen sind verschieden. Obwohl weder im sechsten noch im zwanzigsten Jahrhundert die Regeln im Detail befolgt wurden, hat der Text eine Funktion, die freilich eine andere ist als seine semantische Bedeutung. Nicht nur der Vinaya, sondern im Grundsatz alle symbolischen Repräsentationen können - wenn auch in unterschiedlichem Maße ­ als Objekte der religiösen Praxis gebraucht werden, die damit eine Struktur erhält, die die einzelnen Akteure"und individuellen Hand­ lungen transzendiert. Dies ist möglich, weil die Objekte eine Eigenexistenz besitzen, die vom Körper der religiösen Subjekte unabhängig ist. Im Falle des Buddhismus ist die Anerkennung des Vinaya als normativer Text - nicht die genaue Befolgung der in ihm formulierten Normen - vielleicht eines der wichtigsten Elemente religiöser Praxis zur Sicherung der Identität und Kontinuität des SilJ1lgha. Denn diese Anerkennung erlaubt es nicht nur, die Grenzen zu bestimmen und einer Auflösung der Strukturen von den Rändern her entgegenzuwirken, sie macht es auch möglich, über zeitliche und räumliche Distanzen durch den Bezug zu einem Text mit sich identisch zu bleiben. Wie groß auch die Unterschiede der alltäglichen Prllxis und religiösen Vorstellungen mischen chinesischen rvlahä­ yäna-i\lönchen und ihren Ordensbr'L.idern im TheravädD. Buddhismus sein mögen, die gemeinsame Anerkennung des Vinaya macht sie zum Teil desselben SaJ1lgha. Natürlich ist der Vinaya nicht das einzige Symbol, das diese Funktion erfüllt. Für die Identität des Buddhismus insgesamt sicher noch wichtiger ist das Symbol des Buddha, sei es in sprachlicher oder ikonographischer Form. Aber wie im Falle des Vinaya ist auch hier erkennbar, daß der Gebrauch des Symbols in der Pra.\:is - das Reden von Buddha oder Ehrbezeugungen vor Buddha­ statuen - eine Kontinuität von Handlungsstruhuren schafft, bei der der semantische Gehalt sekundär ist. Denn was dieses Symbol für die je~veiligen Akteure bedeutet, läßt sich kaum feststellen und unterliegt jedenfalls einer enormen Variationsbreite. Aber auch wenn "Buddha" ganz verschiedenes bedeuten kann, ob das Symbol nun auf den Buddha I Sakyamüni verweist, im Sinne der "Buddhanatur" des Mahäyäna, in der Formel des Nianfo (z:iI~ die rituelle Anrufung des Namens eines Buddha, meist Amitäbha) oder beim Schmücken einer Buddhastatue gebraucht wird - so entstehen doch durch die Praxis des Symbolgebrauchs Handlungsstrukturen, die einen gemeinsamen Bezugspunkt haben und darin von anderen unterscheidbar sind. Hubert Seiwert Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis Semantische Bedeutung und die Transformation kodifizierter Normen in soziale Normen können Teile daraus, Bruchstücke gewissermaßen, in den Symbol­ raum öffentlicher Kommunikation diffundieren. Man mußte nicht den Vinaya gelesen haben, um zu sagen, daß Mönche sich des Geschlechtsverkehrs enthalten und keinen Alkohol trinken sollen. Äußerungen in diesem Sinne waren nicht selten. Sie waren Teil der gesellschaftlichen Pra..xis, denn ein wichtiger Teil der Praxis sind Sprechhandlungen. Normative Texte - sofern sie soziale Bedeutung besitzen - haben Teil an der Strukturierung des Sprechens.4~ Sie bilden ein Reservoir an Sätzen, die Gegenstand des Sprechens werden, indem sie wieder­ holt, bestätigt, bestritten, kommentiert und umformülieli werden oder wie auch immer sonst in die Kommunikation eingehen. Ohne Z\~'eifel ist der Gebrauch bestimmter Sätze und Begriffe mit mentalen Prozessen verbunden, die uns freilich verborgen bleiben. Wir können nicht wissen, was die Sprecher und Schreiber denken oder fühlen, Aber wir können feststellen, daß der Gebrauch sprachlicher S)mbole und Symbolkombinationen eine Struktur aufweist, die nicht allein durch die Synta..'( der Sprache bedingt ist. Es ist eine semantische Struktur, die sich in der Kombination und Häufung bestimmter Symbole zeigt und es ermöglicht, verschiedene Kontexte und Zu­ sammenhänge zu unterscheiden, In einem buddhistischen Kontext ist es undenkbar, einen Diskurs über das Verhalten von Mönchen zu fühl'en, ohne explizit oder implizit auf den Vinaya Bezug zu nehmen, weil das gesamte Reservoir dabei zu benutzender \'y-örter und Sätze mit dem Vinaya venvoben ist. Wenn Kritiker des Sarpgha darauf hiri\\iesen, daß Mönche Handel trieben, Frauen und Kinder hatten oder Alkohol tranken, dann 'war ihre Kritik ebenso durch den Vinaya beeinflußt wie die derJenigen, die monierten, daß sie gegen die 250 Mönchsgebote verstießen. Dazu mußten sie den Text nicht kennen. Sein Inhalt oder genauer: Fragmente seines Inhalts waren in den Raum öffentlicher Kommuni­ kation diffundiert, wo sie mit' Wörtern und Sätzen kombiniert wurden, die anderen Quellen entstammten. 48 Jedes Reden oder Schreiben über Tvlönche mußte aus diesem Reservoir öffentlich verfügbarer Symbole schöpfen. Der semantische Gehalt des Vinaya ­ 32 Symbolische Repräsentationen - und dazu gehören in Te.\.ien kodifi­ zierte Normen - besitzen als Gegenstand der Praxis eine Bedeutung, die nicht mir ihrem semantischen Gehalt gleichzusetzen ist. Der praktische Umgang mit dem Vinaya hat Folgen, auch wenn die Normen nicht befolgt werden. Seine semantische Bedeutung wird damit nicht aufgehoben, jedoch ist ihr Verhältnis zur Praxis von anderer Art. Der praktische Umgang - und dies heißt auf elementare Weise: der körperliche Kontakt45 - mit dem Text ist die Voraus­ setzung seiner semantischen Dekodierung, auch wenn diese keineswegs eine notwendige Folge ist. Mit der Tradierung der Textgestalt bleibt ihr semantischer Gehalt jedoch zumindest ver­ fügbar. Das Verstehen seiner Bedeutung, das damit möglich wird, ist kein Akt der Praxis im hier definierten Sinne; es ist kein äußerliches Verhalten von Akteuren, sondern ein mentaler Prozeß, der sich im Körperinneren vollzieht. In welcher Weise die Wahrnehmung sprach­ licher Symbole mentale Prozesse beeinflußt und zum Verstehen von Bedeutung führt, entzieht sich historischer und sozialwissenschaft­ licher Analyse. Immerhin läßt sich feststellen, daß sprachliche Repräsentationen "verstanden" werden und ihre vVahrnehmung ein Wirkung auf den Hörer oder Leser ausüben können. Erkennbar ist diese \Virkung in äußerem Verhalten, sei es durch sprachliche Äußerungen, die sich auf den Te>..1: beziehen, sei es durch andere Reaktionen. Die Mönche, die gelehrte Kommentar~ zum Vinaya veriaßten, hatten offensichtlich die Bedeutung des Textes verstanden, wenn auch nicht alle in gleicher Weise. Unterschiedliche Interpretationen der Bedeutung des TeAies waren ja einer der Gründe für die Abfassung von Kommentaren und Schulstreitigkeiten. 46 Aber auch wenn der semantische Gehalt von Texten der Interpretation offen steht und nicht von allen im selben Sinne verstanden wird, so übt er dennoch eine Wirkung auf die Praxis aus. Diese zeigt sich nicht nur in der Praxis des Kommentareschrei­ bens und expliziten Redens über den Vinaya; der Text als Komplex sprachlicher Symbole wirkt nicht nur in seiner Gesamtheit. Es Natürlich ist die Strukturierung des Sprechens nicht die Wirkung eines einzelnen, sondern der Gesamtheit der schriftlich und insbesondere mündlich gebrauchten Texte, wenn auch nicht alle Texte gleich "irksam sind. Hier 'wird gewissermaßen eine gedankliche Isolation der Wirkung eines Textes vorgenommen, während in der Empirie weit komplexere Einflüsse vorliegen, 48 So hatte die oft geäußerte Kritik, daß ;,Iönche Fleisch äßen, ihren Ursprung nicht in Regeln des Vinaya. 47 45 Dies gilt, \,'as leicht übersehen wird, auch für oral tradierte Texte, die zumindest gehört werden müssen, womit ein körperlicher Kontakt zwischen Wort und Hörer besteht. :6 So zum Beispiel für die Kritik Yijings ~7!/l an der Vinaya-Interpretation der Hanshan Lüzong; vgl. dazu den Beitrag von Christoph Kleine in diesem Band. 33 34 Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis Hubert Seiw.ert hier vor allem der Ge- und Verbote des Pratimok$a - beeinflußte so die Praxis zunächst in Form des Sprechens über Mönche und ihr Verhalten. Dieser Einfluß mußte um so stärker sein, je größer die Nähe zum Text war: deutlich in fast allem, was die Vinaya-Meister und Kommentatoren dazu äußeren, immer noch erkennbar bei denen, die regelmäßig an der Pratimok$a-Rezitation teilnahmen, aber nur in Spuren bei jenen, die von dem Text noch nie gehört hatten. Dabei stand der Vinaya gewissermaßen in Konkurrenz zu anderen schriftlichen und mündlichen Texten und deren Wirkung auf das Sprechen, was insbesondere in einem mahäyanistischen Umfeld seinen Einfluß scbmälerte. 49 Nach einer verbreiteten Ansicht, die hier nicht bestritten werden soll, vollzieht sich Sprechen nicht unabhängig vom Denken: das Sprechen beeinflußt das Denken 'Nie auch umgekehrt. IYir müssen die genauere Klärung dieses Zusammenhangs in den Bereich der Kognitionswissenschaften venl'eisen. Jedoch kann es als sicher gelten, daß Sprache das bei weitem v\ichtigste Medium öffentlicher Kommunikation ist. Im Medium der Sprache vollzieht sich die gesellschaftliche Verständigung darüber, was die Dinge sind und sein sollen. Auch was ein ~Iönch ist und ,.vie er sein soll, ,.vird sprachlich kommuniziert. Es ist dabei nicht unerheblich, aus welchem Reservoir von I'Vörtern und Sätzen die sprachlichen Äußerungen gespeist werden. Texte, insbesondere kodifizierte Texte, die häufig und regel­ mäßig gebraucht und über Generationen tradiert werden, steJien ein Reservoir sprachlicher Symbole bereit, die das Sprachverhalten wesentlich - wenn auch abhängig vom relativen Maß ihres Gebrauchs - beeinflussen. Es ist durch Sprache, daß Erwartungen zum Verhalten von Personen mit bestimmtem Status formuliert werden, und soweit diese Erwartungen öffentlich geteilt werden, handelt es sich um soziale Normen. Die gesellschaftlichen Erwartungen an das Verhalten von r-Iönchen - ,.vir könnten auch sagen: die kollektiven Vorstellungenso darüber, wie sich Mönche verhalten sollen - lassen sich nicht auf die Erwartungen einzelner Individuen reduzieren, sondern formieren sich in einem komplexen Get1echt kommunikativer A.kte im jeweiligen sozialen lIIilieu. Deshalb sind soziale Normen nicht konstant. Im Milieu der chiliastisch geprägten Sekten bestanden andere Erwartungen an das Zum Einfluß verschiedener rnahayanistischer Texte auf die Interpretation der Ordensregeln vgl. Shen-Yen, "The renaissance of l':inaya thought", 42-44. 50 Vgl. dazu E. Durkheim. "Representations individuelles et representations collecti­ ves", ReL'ue de JJ{;taphy~i(Jue et de J\lorale 6 (1898): 273-302. I 35 Verhalten von Mönchen als in einem Kloster unter Leitung eines Vinaya-E;"''Perten; die staatliche Verwaltung erwartete anderes von ihnen als die Bauern. Selbst der monastisch lebende Sarpgha bildete kein homogenes Milieu, sondern die einzelnen Klöster standen in der Tradition verschiedener Schulen, die unterschiedliche Te;..,'1e präferier­ ten. Der Vinaya war nur einer dieser Texte; und ""eil seine soziale Bedeutung, die sich in der Art und Intensität des Umgangs mit dem Te:-..t zeigte, nicht überall gleich war, war auch sein Einfluß darauf, was und wie geredet vrorde, unterschiedlich stark. Im Austausch darüber, wie sich l'vlönche verhalten sollten, bildeten sich die sozialen Normen als kollehive Vorstellungen und Erwartungen.' • Der Umstand, daß sich die sozialen Normen in verschiedenen ?vIilieus unterscheiden, erlaubt keine direhen Rückschlüsse darauf, in welchem }Iaß die Normen im praktischen Verhalten befolgt wurden. Die J,·löglichkeit, durch Sank'1ionen eine Erfüllung der Envartungen zu erreichen, ist offensichtlich von bestehenden Machtverhältnissen abhän­ gig, Diese aber sind in verschiedenen Milieus unterschiedlich. Mönche, die sich überwiegend im bäuerlichen Milieu außerhalb der großen Klöster bewegten, waren von den Envartungen ihrer Klientel durchaus abhängig und hatten sie zu erfüllen, wenn sie nicht deren ökonomische Unterstützung verlieren wollten. Die Äbte der großen Klöster und Führer des Sarpgha dagegen waren auf dieser Unterstützung wenig angewiesen. Dafcir standen sie dem sozialen :Milieu der politischen Eliten und staatlichen Verwaltung sehr viel näl1er und. hatten auf deren Erwar­ tungen Rücksicht zu nehmen. Die Sanhionsmöglichkeiten des Staates waren beträchtlich. So ergab sich durch das Bestehen unterschiedlicher sozioler \\Iilieus mit unterschiedlichen Machtstrukturen ein komplexes Gefüge sozialer Normen und Sanhionen, in dem das Verhalten der Nlönche sich zu verorten hatte. Die kodifizierten Normen des Vinaya waren nicht mehr als ein Fahor, der das praktische Verhalten beein­ flußte. i\llerdings übt er trotz aller Relativierungen seines Inhaltes und praktischen Verstöße bis heute eine Wirkung aufdie Diskurse über das Verhalten von Mönchen aus und beeinflußt so nicht nur die gesell­ schaftlichen Envartungen und sozialen Normen, sondern indirekt auch das tatsächliche Verhalten. Dies ist nur möglich, weil der Vinaya als Texi über die Jahrhunderte sozial anerkannt und tradiert wurde und damit als Komplex symbolischer Repräsentationen erhalten blieb, die in die kommunikative Praxis einfließenY 49 Zum Einfluß des Vinaya auf die Diskurse seit der ~Iing-Zeit vgl. Sheng-Yen, "The renaissance of Vinaya thought" und Tso, "Tbe conflict between Vinaya and the Chi­ nese monastic mIes". 51 Hubert Seiwert Kodifizierte Normen, soziale ~ormen und Praxis Das Ergebnis dieser Analyse ist einerseits nicht überraschend, weil sie das erklärt, was \-'iir schon am Anfang wußten: daß nämlich der Einfluß des Vinaya auf die in chinesischen Klöstern bestehenden sozialen Normen und das Verhalten der Mönche begrenzt war. Er war begrenzt, weil soziale Normen nicht ein bloßer Reflex kodifizierter Normen sind, sondern das Ergebnis praktischer Kommunikation. Andererseits liefert die Analyse jedoch zumindest den Ansatz einer Klärung der Frage, auf welche Weise der Einfluß kodifizierter Texte auf soziale Normen sich vollzieht. Die alltägliche Kommunikation, in der die kollektiven Erwartungen sich formieren, schöpft aus dem im je\veiligen Milieu verfügbaren' Reservoir an sprachlichen Symbolen, dessen Inhalt nicht zuletzt davon abhängt, welche Texte gebraucht werden. Der praktische Gebrauch eines Texies ist deshalb eine Voraussetzung der Wirkung seines semantischen Gehaltes. y\'enn auch der Einfluß des Vinaya im i\Iahäyäna durch die Bedeutung anderer Texte deutlich gemindert wurde, so sicherte doch sein fortdauernder Gebrauch in der Praxis dem chinesischen Sarpgha ­ anders als etwa dem japanischen - eine bemerkenswerte Kontinuität als soziale Institution. Forte, A., Political propaganda and ideology in China at the end of the seu­ enth century: Inquirlj into the nature, authors and functions of the Tun!wang document S 6502 followed blj an annotated translation. Na­ poli 1976. Geertz, c., "Religion as a cultural system". In: M. Banton (Hg.), Anthro­ pological approaches to the study of religion (AS.A. Monographs; 3). London 1966: 1-46. Gombrich, R., Therauada Buddhism: A social history from ancient Benares to modern Colombo. London 1988. 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Themenstellung ~Iit meinem Beitrag möchte ich einleitend einige terminologische und methodologische Probleme erörtern, die sich für Religionshistoriker aus dem Thema "Norm und Praxis" geradezu z''''angsläufig ergeben. Dabei ist es mir wichtig, alle theoretischen Erwägungen unmittelbar mit der Forschungspr~xis zu verknüpfen und anhand eines konkreten Beispiels zu erproben. Meine Überlegungen basieren - sofern sie die Quellenkritik betreffen - vornehmlich auf der Forschung zu meiner Habilitation über religiöse Biographien im ostasiatischen Buddhis­ mus. Das Problem des Verhältnisses von Norm und Praxis möchte ich dagegen am Beispiel meiner aktuellen Forschung diskutieren. In dem ursprünglich von Ma..x Deeg konzipiel1en und unter der Leitung von Hubert Seiwert in Leipzig seit Anfang 2002 von' mir durchgeführten' DFG-Projekt geht es um die kritische Aus"'1ertung eines Textes, der Generationen von Buddhologen als eine der Haupt­ quellen zur Rekonstruktion des monastischen Buddhismus im Indien des T Jahrhunderts gedient hat. Es handelt sich dabei um den sogenannten "Reisebericht" eines chinesischen Mönchs namens Yijing ~$ (635-713), der im Jahr 671 über Sumatra nach Indien reiste, wo er zahlreiche Schriften übersetzte, darunter die fast vollständigen Ordensregeln der lVIülasarvästiväda-Schule. 1 Yijing kehrte erst 69.5. also nach knapp 25 Jahren, nach China zurück. Zuvor aber verfaßte er im Jahr 691 in Sribhoja auf Sumatra einen Bericht über den monastischen Buddhismus in Indien und auf den malaiischen Inseln, den er zusammen mit seiner G'oersetzung der Ordensregeln sowie einer Sammlung von Biographien chinesischer und koreanischer Pilger- Zur Frage der Vollständigkeit der Vinaya-Übersetzung Yijings siehe S. Clarke, .,The lIJülasär'västivada Finaya: ABrief Reconnaissance Report", Early Buddhis11l and Abhidharma Thought: In Honor of Doctor Hajime Sakurabe on His Seuenty­ seventh Birthday (Kyöto 2002).