Im Dickicht der Gebote

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Im Dickicht der Gebote
Studien zur Dialektik/von Norm und Praxis
in der Buddhismusgeschichte Asiens
Editor-in-Chief: Pete!" Schalk
Ce-Editors: Max Deeg, Oliver Freiberger.
Christoph Kleine, Astrid van Nahl
UPPSALA
UNIVERSITET
2005
14
Im Dickicht der Gebote
CHRISTOPH E~IMRlCH
Die Nachschrift der Vorschrift. Beobachtungen bei der
Erneuerung der A$tasähasrikä-prajiiäpäramitä
im Goldenen Tempel von Lalitpur
287
Kodifizierte Normen,
soziale Normen und Praxis ­
am Beispiel des chinesischen Buddhismus
KARENINA KOLLMAR- P AULENZ
Klösterliches Leben in Tibet und der Mongolei im
19· Jahrhundert: Z\\ischen sozialer Anpassung und
·' ... ".,orm
•
re 1IglOser
J.
Hllbert Seiwert
309
MICHAELPYE
Vorgabe und Praxis in den buddhistischen Pilgerfahrten
Japans
353
EDITH FRANKE
Agama Buddha - Zur Präsenz und Positionierung des
Buddhismus in Indonesien
375
J.';"\;-ICE STARGARDT
Death Rituals of the Late Iron Age and Early Buddhism
in Central Burma and Sourh-East India Whose Norms, whose Practices?
407
SASCR\ EBELING
Siva, Vi$I)u, Buddha: Anmerkungen zu Religion und Staat
im Kambodscha der Angkor-Periode (9·-14. Jh.)
JENS SCHLIETER
435
I
vVie und wann entsteht schützenswertes menschliches
Leben? Zur Normativität frühbuddhistischer Konzeptionen
vorgeburtlichem Leben .... 4 6 3
von Zeugung, Empfangnis und
,
English Summaries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 501
:Die Beiträger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5 13
Index
521
\\'ir werden im folgenden zwei Arten von Normen unterscheiden:
Kodiji'zierte Normen in Form von - in der Regel schriftlich tixierten ­
normativen Texten und soziale Sormen als die in einer Gesellschaft
oder sozialen Gruppe bestehenden Erwartungen an das Verhalten
bestimmter Personen.' Unter Praxis verstehen wir das von außen
beobachtbare, also tatsächliche, Verhalten. Als Beispiel für kodifi­
zierte Normen \"'ird uns der Vinaya dienen, ein Textkorpus, in dem
die Regeln für das Verhalten buddhistischer Mönche und Nonnen
beschrieben werden. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Tat­
sache, daß das praktische Verhalten von J\'Iönchen und Nonnen häufig
nicht den Vorschriften des Viliaya entsprach. Dies führt zu der Frage,
welche Bedeutung kodifizierte Texte für die Praxis haben und in
welchem Verhültnis sie zu sozialen Normen stehen.
Diese Frage \vird zunächst in einem theoretischen Sinne behandelt
\Iuden. Im Zentrum dieses ersten Teils steht die Beziehung zwischen
s~lllbolischen Repräsentationen - vor allem in Gestalt der sprach­
lichen Symbole, die in Texten gegeben sind - und Praxis als dem
Verhalten von Menschen. Symbolische Repräsentationen und die
durch den Körper ausgeübte Praxis sind konstitutive Elemente jeder
Religion, deren Kohärenz erst durch die Relation z\I'ischen bei den
etabliert wird. Es \vird argumentiert, daß die elementare Beziehung
mischen Text und Praxis von physischer Art sei, indem Texte Objekte
praktischen Handeins werden. Die physische Beziehung ist jeder
\ Homans definiert .,Norm" \vie folgt: .. A norm is a statement specifying ho\\' a
person is, 01' persons of a particlliur sort are, expeded to behuye in gi\'en circum­
stanCl:$ - expected, in the first instance, by thc person that utters the norm. What I
expect of you is \\'hat )'OU ought to do," (G, C. Homans, Social Behavior. Its Elemel1­
tary Forms (:\few York i974): 96, zitiert nach K-D. Opp, .. Norms·', in: )lei! J. Smelser
/Pau! B. Baltes (Hgg.). International Encyclopedia of the Social and Behal'ioral
Seien ces (Amsterdam/Oxford 2001): 10714-10720 (Online-..\lIsgabe), hier: 10714.)
..Soziale Normen" wären nach dieser Definition Erwartungen. die gesellschaftlich
bestehen.
16
Kodifizierte Normen, soziale Normen und Pra~is
Hubert Seiwert
Wirkung des semantischen Gehaltes eines Textes auf die Pra.xis
vorgelagert.
Im zweiten Teil werden die theoretischen Überlegungen am Bei­
spiel des chinesischen Buddhismus erläutert. Dabei wird gezeigt, daß
trotz offensichtlich häufiger Verstöße gegen die Vorschriften des
Vinaya der Text Gegenstand der Praxis war und als solcher großer
Bedeutung besaß. Für die Identität des Sarpgha und seine historische
Kontinuität war die Anerkennung der Bedeutung des Vinaya vvich­
tiger als die Befolgung seiner Regeln. Seine soziale Bedeutung be­
stand unabhängig von seiner semantischen Bedeutung\ die kodifizier­
ten Normen waren nicht zugleich soziale Normen.
Erst durch die Transformation kodifizierter Normen in soziale
Normen wirkt der semantische Gehalt von Texten auf das praktische
Verhalten. Im dritten Teil werden wir versuchen, einige Bedingungen
dieser Transformation zu klären. Dabei geht es um die Verknüpfung
der in Texten gespeicherten symbolischen Repräsentationen mit der
Pra;x:is alltäglicher Kommunikation.
Symbolische Repräsentationen und Praxis
In einem einflußreichen Aufsatz definiert Clifford Geertz "a religion"
als ,,(1) a system of symbols which acts to (2) establish powerful,
pervasive, and long-Iasting moods and motivations in men [... ]."2 Für
eine Betrachtung des Verhältnisses von Norm und Praxis mag dieser
Definitionsansatz als Ausgangspunkt dienen, weil er deutlich macht,
in welcher Form religiöse Normen empirisch vorliegen, und zugleich
eine bestimmte Art ihres Einflusses auf die Praxis postuliert. Für
Geertz sind "Symbole" die materielle Repräsentation von Ideen,
Vorstellungen, Haltungen oder Glaubensinhalten. 3 Die kulturell ver­
mutlich wichtigste Form von Symbolen sind sprachliche Repräsen­
tationen, d.h. gesprochene und geschriebene Texte. Nach Geertz'
Theorie sind Religionen Systeme oder Komplexe von Symbolen, die
eine spezifische Wirkung auf Menschen haben, indem sie deren
Stimmungen und Motivationen prägen und damit auch ihr Verhalten
beeinflussen.
2
C. Geertz, "Religion as a cultural system", in: M. Banton (Hg.), Anthropological
approaches to the study of religion (A.S.A. Monographs; 3) (London 1966): 1-46,
hier: 4.
3
Ibid.,5.
17
Geertz' Definition ist hilfreich, um zu erkennen, daß das, was
gelegentlich die "Glaubenswelt" einer Religion genannt wird, d.h. die
in einer religiösen Tradition überlieferten Doktrinen und Vorstellun­
gen, die empirische Gestalt von Symbolkomplexen hat, die uns vor
allem in mündlich oder schriftlich tradierten Texten vorliegen. Dies
scheint auch für Normen zu gelten, soweit sie in Te.i\.1:en kodifiziert
sind, wie es bei den buddhistischen Ordensregeln des Vinaya der Fall
ist. Die empirische Form des Vinaya ist wie die aller Texte eine
materielle, nämlich geschriebene und gesprochene Sprache, ein Kom­
plex linguistischer Symbole, deren Bedeutung hermeneutisch
erschließbar ist. Geertz verweist darauf, daß Symbolkomplexe "eA1:rin­
sic sources of information" seien, nämlich kulturelle Muster, die als
"models" sowohl für als auch von Elementen und Prozessen der
durch sie repräsentierten "Wirklichkeit" wirkten. Diese Doppe[funk­
tion gilt auch für normative Texte wie den Vinaya und führt die
historische Forschung gelegentlich in die Irre. Denn nicht immer ist
klar ersichtlich, ob die beschriebenen Verhaltensweisen Modelle von
der Wirklichkeit seien, also das tatsächliche Verhalten buddhistischer
Mönche und Nonnen beschreiben, oder nur Modelle für die Wirk­
lichkeit, die als Richtschnur für das Verhalten gelten sollen.
Geertz' Charakterisierung symbolischer Repräsentationen als extrin­
sische Informationsquellen kontrastiert sie mit genetisch übermittelten
Informationen. Während Gene innerhalb des menschlichen Körpers
tradiert werden, bestehen Symbole außerhalb des Körpers und sind
gevlissermaßen öffentlich zugänglich. Sie sind nicht Teil der biologischen
Ausstattung des j\Ienschen, sondern seines kulturellen Habitats. Aber
wie genetisch kodierte Informationen Programme für die Synthese von
Proteinen, die die organischen Funktionen der Individuen bestimmen,
seien, so stellten die in Symbolen kodierten Informationen Programme
für soziale und psychische Prozesse dar, die das gesellschaftliche Ver­
halten prägen. 4 Die Tradierung menschlicher Verhaltensmuster erfolgt
demnach durch z'wei verschiedene Medien der Informationsübermitt­
lung, nämlich durch biologische Vererbung mittels Genen und kulturelle
Vererbung mittels Symbolkomplexen. Diese "doppelte Vererbung" (dual
inhentance) ist für das Verständnis der Entwicklung menschlicher Ge­
sellschaften und der Variationen menschlichen Verhaltens von ent­
scheidender Bedeutung. 5 Da die genetische Ausstattung unterschied­
Ibid., 6.
Zu dual inheritance vgl. vV. H. Durharn, Coeuolution: Genes, culture, and human
diuersity (Standford 1991): 3-10, 161-183; kritisch dazu P. Boyer, The naturalness of
religiotls ideas: a cognitive theory ofreligion (Berkeley 1994): 27 2 - 2 84.
4
S
Hubert Seiwert
Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis
licher Populationen der Spezies homo sapiens im wesentlichen gleich ist,
muß die ungeheure Vielfalt von Verhaltensmustern in verschiedenen
Gesellschaften im wesentlichen durch "kulturelle Vererbung" erklärt
werden, die im Medium von Symbolen erfolgt.
Normative Texte scheinen ein ausgezeichnetes Beispiel für die
kulturelle Vererbung von Verhaltensmuster durch symbolische Re­
präsentationen zu sein. Indem sie in materieller Form als sprachliche
Symbole tradiert werden, besitzen sie eine Eigenexistenz, die
unabhängig vom Körper einzelner gesellschaftlicher Akteure besteht.
Zugleich stellen sie Modelle für das Verhalten innerhalb bestimmter
sozialer Gruppen dar. Alferdings ist auch deutlich, daß die Beziehung
zwischen Text und Pra'i:is nicht ohne weiteres der zvvlschen einem
Programm und seiner Ausführung gleichgesetzt werden kann.
Normative Texte mögen Modelle für die Praxis sein, aber die Pra'i:is
entspricht keineswegs immer diesen Modellen. Wenn es zutrifft - und
diese Hypothese erscheint höchst plausibel - daß kulturell bedingte
Muster des Verhaltens (und darüber hinaus auch des Glaubens,
Denkens und Fühlens) durch Symbolkomplexe vermittelt werden, die
vor allem als Texte vvle Mythen, historische Erzählungen, Lehrtexte
oder kodifizierten Normen manifest iverden, dann bedarf die
Beziehung zwischen Text und Praxis einer genaueren Betrachtung.
Denn diese Beziehung entspricht offensichtlich nicht dem scheinbar
naheliegenden Modell, wonach der semantische Gehalt der sym­
bolischen Repräsentationen seine Entsprechung in den Vorstellungen
und im Verhalten derjenigen habe, die die Texte tradieren und
gebrauchen. So wenig wie das praktische Verhalten der ~Angehörigen
einer Religionsgemeinschaft eine einfache Widerspiegelung der in
normativen Texten vorgeschriebenen Regeln ist, so wenig können wir
sicher sein, daß ihre subjektiven Vorstellungen, Glaubensinhalte oder
Gefühle ein bloßer Reflex der in dogmatischen Te:A.'ten enthaltenen
Lehren sind.
Bei der Betrachtung des Verhältnisses von Text und Praxis gilt es,
zwei Fehlschlüsse zu vermeiden: Zum einen den hermeneutischen
Fehlschluß, daß das Verständnis des semantischen Gehaltes von
Texten hinreichend sei, um Religionen als soziale Erscheinungen zu
erfassen; zum anderen den behavioristischen Fehlschluß, daß die
soziale 'Wirklichkeit allein durch das praktische Verhalten der Akteure
konstituiert werde und der semantische Gehalte der überlieferten
Symbolsysteme vernachlässigt werden könne. Der hermeneutische
Irrtum führt uns dazu, Religionen als abstrakte Systeme von Bedeu­
tung und Sinnvermittlung zu interpretieren und zu verkennen, daß
ihre empirische Gestalt sich in praktischem Handeln vollzieht, dessen
Motive und Bedingungen nicht allein vom Verlangen nach sinnhafter
Deutung der Welt und der eigenen Existenz bestimmt werden,
sondern zugleich sozialen, ökonomischen und politischen Zwängen
und Interessen unterworfen ist. Der behavioristische Irrtum verleitet
dazu, allein die Praxis zu betrachten und als Gesamtmenge indivi­
duellen Verhaltens zu interpretieren. Damit vvlrd ignoriert, daß
Religionen nicht auf das Handeln von Individuen reduziert werden
können, weil die religiöse Praxis offensichtlich auch von Faktoren
geprägt vvlrd, die jeder individuellen Existenz vorausgehen und nach
ihr fortbestehen. Diese intersubjektive Dimension von Religion be­
I steht unabhängig von einzelnen religiösen Subjekten und ihrer an den
vergänglichen Körper gebundenen Praxis in den kulturell tradierten
Mustern des Verhaltens, Denkens und Fühlens, deren 'Weitergabe
sich vor allem durch das Medium symbolischer Repräsentation in
Sprache und Texten vollzieht. 6 Die symbolischen Repräsentationen
sind ebenso empirisch gegeben und wie das praktische Handeln, und
jede Religionstheorie muß deshalb beide Dimensionen berücksich­
tigen, sofern sie Religionen als empirische Gegenstände begreift.
Da die empirische Gestalt von Religionen diese beiden Dimen­
sionen umfaßt, ist die Beziehung zvvlschen symbolischen Repräsen­
tationen und praktischem Verhalten oder - um uns auf diesen Fall zu
konzentrieren - zwischen Text und Praxis eine zentrale Relation,
durch die Religionen als kohärente Sachverhalte erst konstituiert
werden. Wenngleich es offensichtlich erscheint, ciaß es der semanti­
sche Gehalt von Texte,n ist, der ihnen Bedeutung für die religiöse und
gesellschaftliche Praxis gibt, dürfen wir nicht übersehen, daß es sich
auf der elementaren Ebene um die Beziehung zVvlschen unterschied­
lichen materiellen Gegebenheiten handelt. Die Materialität der Praxis
ergibt sich dabei aus ihrer Gebundenheit an den Körper der han­
delnden Subjekte. Denn gerade dies macht die Pra'i:is aus: Sie besteht
im tatsächlichen Verhalten konkreter Akteure, dessen Voraussetzung
deren körperliche Präsenz ist. Handeln ohne Körper ist nicht möglich;
dies gilt für rituelle Akte ebenso wie für Sprechakte. Die Materialität
von Texten ist gleichfalls mit ihrer physikalisch beschreibbaren Form
gegeben. Die materielle Gestalt symbolischer Repräsentationen ist
eine Voraussetzung ihrer Funktion als Träger von Bedeutung; dies gilt
18
- - 19
6 Allerdings ist darauf zu hinzuweisen, daß die kulturelle Tradierung von
Verhaltensmustern auch ohne symbolische Repräsentatiou durch i\achahmung
erfolgen kann. In dieser Form lassen sich kulturelle Überlieferungen auch in Tier­
populationen beobachten. Symbolische Repräsentationen scheinen dagegen auf
humane Populationen beschränkt zu sein.
20
Hubert Seiwert
nicht nur für die greifbare Materialität geschriebener Texte, sondern
auch für die ephemere Materialität gesprochener Sprache.
Indem wir Text und Praxis, in ihrer elementaren Gestalt als
materielle Gegebenheiten in den Blick nehmen, erkennen wir, daß
eine Beziehung z.vischen beiden nicht erst durch die Dekodierung des
semantischen Gehalts etabliert wird, die die in den Texten repräsen­
tierte Bedeutung als Orientierung praktischen Verhaltens verfügbar
macht. Denn die Voraussetzung jeden semantischen Verständnisses
ist zunächst eine physische Beziehung zwischen Text und gesell­
schaftlichen Akteuren, und nur unte.r dieser Bedinguvg können Text
me auch alle anderen Symbolkomplexe kulturell wirksam werden.
Die elementare Beziehung zwischen Te;.,.1: und Pra..'(is ist deshalb von
materieller Art, indem Texte Objekte praktischen HandeIns sind.
Texte werden in materieller Gestalt bewahrt und überliefert,
schriftlich oder mündlich reproduziert, rezitiert und rituell behandelt.
Im praktischen Umgang mit Texten .vird ihre soziale Bedeutung
sichtbar, die etwas anderes ist als ihre semantische Bedeutung. Die
kulturelle Wirkung eines Te;.,.1:es ist erst in zweiter Linie eine Funktion
seines semantischen Gehaltes, weil dieser folgenlos bleibt, wenn der
Text nicht Gegenstand praktischen HandeIns ist, und sei es auch nur,
indem er überliefert wird. Nur in dem Maße, in dem ein Text soziale
Bedeutung besitzt, kann seine semantische Bedeutung eine Wirkung
auf die gesellschaftliche Pra..xis entfalten. Die soziale Bedeutung aber
dokumentiert sich im Umgang mit dem Text als materiellem Objekt,
• sie ist meßbar im Maß der gesellschaftlichen Ressourcen an Zeit und
ökonomischen l\·litteln, die zu seiner Behandlung venvendet werden,
indem er rezitiert, erzählt, abgeschrieben, gedruckt, auswendig
gelernt, prachtvoll geschmückt, rituell verehrt und wie auch immer
sonst ausgezeichnet wird. Die Art und das Maß der Auszeichnung
etablieren Bedeutungsunterschiede zwischen Texten,! die von anderer
Art sind als die Unterschiede ihrer semantischen Bedeutung, doch
me diese nicht der materiellen Form inhärent sind, sondern durch
ihren Gebrauch konstituiert werden.
Der Umstand, daß nicht alle Texte die gleiche soziale Bedeutung
besitzen, begründet ihren unterschiedlichen sozialen Status. 8 Soweit
i
Da ich mich hier auf Texte konzentriere, bleiben andere Formen symbolischer
Repräsentationen außer Betracht. Es ließe sich jedoch vermutlich zeigen, daß
ähnliche Bedingungen auch sonst gelten, etwa hinsichtlich der sozialen und
semantischen Bedeutung ikonographischer Symbole.
S Für eine formale .Analyse sozialer Statuszuweisung vgl. J. R. Searle, The
construction ofsocial reality (London 1995, Nachdruck 1996): 94-126.
Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis
21
es sich um normative Texte handelt, um Gesetzbücher oder
Ordensregeln, liegt es auf der Hand, daß ihre soziale Verbindlichkeit
nicht unabhängig von der Anerkennung ihres sozialen Status besteht.
Ihr semantischer Gehalt, der durch die sprachliche Form präskrip­
tiver Sätze geprägt ist, ist allein nicht ausreichend, um ihnen
Verbindlichkeit zu verleihen. Der obligatorische Charakter des Vinaya
besteht nicht für jeden, der den Te;.,.1: liest und seine semantische
Bedeutung versteht, sondern ist an die AIlllerkennung seines verbind­
lichen Status gebunden. Diese Anerkennung vollzieht sich durch die
Praxis, die erst die soziale Bedeutung des Textes konstituiert.
Aber es ist nicht nur der status des Textes, der durch die Praxis des
Umgangs mit ihm bestimmt \.vJrd, sondern auch der Status der
Akteure. Die Anerkennung der Verbindlichkeit eines normativen
Textes etabliert Unterschiede zmschen Personen, die nicht von
physischer Qualität sind, sondern den sozialen Status betreffen. Der
verpflichtende Charakter der Ordenregeln des Vinaya besteht nur für
buddhistische Mönche und Nonnen, und die Teilnahme an der
Prätimok?a-Zeremonie dokumentiert mit ihrer Anerkennung zugleich
den Status der Teilnehmer als Angehörige des Sarpgha. 9 Indem der
Text Gegenstand praktischen HandeIns wird, etabliert die Praxis eine
dialektische Beziehung z\.vJschen Akteur und Text, die den sozialen
Status beider bestimmt. Der soziale Status gibt beiden eine Bedeu­
tung, die nicht aus ihrer physischen Qualität abgeleitet werden kann,
sondern allein aus der öffentlichen Praxis.
Die Struktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der Personen
und Dinge unterschiedliche soziale Bedeutung besitzen, ist das
Ergebnis der Summe öffentlicher Praxis. Die soziale Unterscheidung
von buddhistischen Mönchen und daoistischen Priestern, um dieses
Beispiel zu nehmen, .vird nicht durch einmalige Akte konstituiert,
sondern durch ein Netz von Handlungen, die Akteure und Objekte
zueinander in Beziehung setzt. Daß dabei Buddhisten mit anderen
Texten umgehen als Daoisten, ist nur ein Element dieses Geflechtes;
ihre Praxis unterscheidet sich auch hinsichtlich anderer Objekte, .vie
ikonographische Symbole oder Ritualutensilien, Aber auch in diesen
Fällen wird in einer dialektischen Beziehung der Status sowohl der
Akteure als auch der Objekte bestimmt: Buddhistische Ikonen sind
9 Diese Überlegungen sind beeint1ußt durch Rappaports Begriff acceptance; vgl. R­
A. Rappaport, Ritual and religion in the making of humanity (Cambridge 1999):
117-126.
22
Hubert Seiwert
Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis
die, die Gegenstand der Praxis von Buddhisten sind, und Buddhisten
sind die, deren Praxis sich auf buddhistische Ikonen bezieht.lO
Ein elementarer Aspekt der Pra.;\is ist also darin zu sehen, daß eine
Beziehung zwischen symbolischen Repräsentationen und Akteuren in
Kraft gesetzt wird, die beiden eine spezifische soziale Bedeutung gibt
und damit ihren Status bestimmt. Die semantische Bedeutung der
Symbole scheint auf dieser Ebene der Praxis nur eine untergeordnete
Rolle zu spielen.n Dies gilt auch für Texte, also sprachliche Syu1bol­
komplexe, die Gegenstand der Pra..'{is sein können, ohne daß ihr
semantischer Gehalt im Vordergrund stehtY Wir müssen di~s auch
bei der Betrachtung normativer Texte und ihrer Funktion in der
Praxis berücksichtigen.
verbreitet wie die Anerkennung des Vinaya sind allerdings auch
Klagen über die Dekadenz des Sarpgha, und schon für die früheste
Phase der Geschichte des Buddhismus finden sich Belege dafür, daß
das tatsächliche Verhalten von Mönchen gegen die Ordensregeln
verstieß.15
In China scheint der Vinaya als Text bis zur Mitte dritten
Jahrhundert nicht bekannt gewesen zu sein, ein Zustand, den der
indische Mönch Dharmakala kritisierte, der deshalb die Pratimok$a­
Regeln des Vinaya der Mahasarpghikas übersetzte. 16 Anfang des
fünften Jahrhunderts vvurden die vollständigen
Versionen
des Vinava
I
'-'
•
""
von vier Schulen (Sarvastiväda, Dharmaguptaka, Mahasarpghika und
Mahisasaka) verfügbar, die zwischen 404 und 423 in zusammen fast
200 Faszikeln übersetzt wurden. 17 Die enormen Mittel, die in die
Übersetzung dieser (und anderer) Texte investiert \"IUrden, sind ein
Indiz ihrer sozialen Bedeutung. Der Vinaya wurde auch zum Gegen­
stand buddhistischer Gelehrsamkeit, die zu zahlreichen Kommenta­
ren und zur Entstehung einer eigenen Schultradition, der Lüzong
~* (Vinaya-Schule), führte, als deren Gründer Daoxuan ~]l (596­
667) gilt. Daoxuan stützte sich auf den Vinaya der Dharmaguptakas
(Sifen lü J2]5H~) und kritisierte zugleich das Verhalte,n vieler zeit­
genössischer :Mönche, denen er vorwarf, weder Glauben noch hinrei­
chende Bildung zu besitzen und die Ordensregeln zu mißachten. Die
einzige ;\'Iöglichkeit, den Sittem'erfall des Sarpgha aufzuhalten, sah er
in der strikten Befolgung des Vinaya. 18
Eines der Motive Daoxuans, die Befolgung des Vinaya zu propa­
gieren, war demnach der Umstand, daß viele Mönche und Nonnen
sich nicht an die Regeln hielten, Daß Verstöße gegen die Regeln des
Vinaya häufig genug waren, um öffentlich wahrgenommen zu werden,
\\issen wir auch aus anderen Quellen. So wird im Mouzi lihuo lU71
Kodifizierte Normen und Praxis im chinesischen
Buddhismus
Wenn wir der Tradition Glauben schenken, daß die Ordensregeln
bereits nach dem Tod des Buddha mündlich kodifiziert wurden,1 3
dann wäre dies ein Beleg für die große Bedeutung, die dem Vinaya als
Text innerhalb des Sarpgha von Anfang an beigemessen \"IUrde. Auch
wenn die überlieferten schriftlichen Versionen späteren Datums sind
und ge\\isse Varianten auhveisen, so gilt der Vinaya doch als ein
zentraler Text fast aller buddhistischen Schulen. i4 Ähnlich weit
10
Deshalb ist die Struktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht statisch, denn
der soziale Status der Akteure und Objekte kann sich durch die Praxis verändern.
11
Dies ist deutlich vor allem bei gewissen ikonographischen Symbolen, deren
semantische Bedeutung unschmi ist und von unterschiedlichen Akteuren auch
unterschiedlich interpretielt wird. Ein Beispiel ist die semantische Bedeutung von
Emblemen (eh,'a einer Staatsflagge).
1."
Im Extremfall kann es vorkommen, daß Texte in der Praxis gebraucht werden, die
für die Akteure unverständlich sind, et\,'a \,'eil sie in einer fremden Sprache abgefaßt
sind. Beispiele sind der Gebrauch lateinischer Texte in der katholischen '\'Iesse (vor
dem zweiten Vaticanum) und das Memorieren des arabischen Textes des Korans
durch .-",kteure, die des Arabischen nicht mächtig sind. Im Falle des chinesischen
Buddhismus kann man auf den rituellen Gebrauch \'on Sanskrit-Formeln vef\,'eisen.
Ein Verständnis der semantischen Bedeutung ist in diesen Fällen offenbar nicht
Voraussetzung'für die .tvlerkennung der sozialen (d.h. hier: religiösen) Bedeutung der
sprachlichen Symbole.
13 VgL A. Bareau, Les premiers conciles bouddhiques (Annales du Musee Guimet,
Bibliotheque d'etudes; 60) (Paris 1955): 22.
14
Eine wichtige Ausnahme stellen die während der Kamakura-Zeit entstandenen
Schulen des japanischen Buddhismus dar, die den im Vinaya überlieferten Ordens-
23
regeln keine normati'.-e Autorität zubilligen. Vgl. dazu K. Lekshe Tsomo, "Buddhist
ethics in .Japan and Tibet: A comparative study of the adoption of bodhisath'a and
priitimok~a precepts", in: Ch. Wei-hsun Fu/S. A. vl;'awrytko (Hgg.), In Buddhist be­
havioml eodes and the modern world: An internatt"onal symposium (VI'estport,
COllll./London 1992): 123-138.
15 Vgl. R. Gombrich, Therayada Buddhism: A soeial history jrom aneient Benares to
modern Colombo (London 1988): 93-95, 110.
'6
Andere Teile des Vinayas verschiedener Schulen wurden ebenfalls im dritten
.Jahrhundert übersetzt; \'gl. E. Zürcher, The Buddhist conquest of China. Bd. 1-2
(Leiden 1959): 55 f.
,- VgL 1'. Satö, "Dao-xuan and his religions precepts", in: Ch. vVei-hsun Fu/S. A.
\\-awrytko (Hgg.), In Buddhist behavioral codes and the modern world: An interna­
tional symposium (Westport, Conn./London 1992): 67-73, hier: 72 f.
18 Vgl. ibid., 69.
Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis
Hubert Seiwert
24
iF·=f~.~~
(Über Meister .!.Uous Beseitigung der Zweife[) , einer
apologetischen Schrift, die vermutlich im vierten oder frühen fünften
Jahrhundert entstanden ist,1 9 ein fiktiver Kritiker des Buddhismus
mit den Worten zitiert:
Heutzutage sind die Mönche dem i\lkohol verfallen oder sie haben
Frauen und Kinder. Sie kaufen billige Waren ein und verkaufen sie teuer.
Ihre Spezialität sind Schwindel und Betrug. Dies ist die große Täuschung
der Welt und wohl das, was der Buddhismus unter "Nichtstun" (wuwei
~~) versteht. 20
Auch in zahlreichen Mönchsbiographien 'wird von Verletzungen der
Ordensregeln berichtet, von Mönchen die stehlen, Alkohol trinken
und Fleisch essen. 21 Wir können davon ausgehen, daß zu allen Zeiten
- wenn auch vielleicht nicht immer im gleichen Ausmaß - eine nicht
unbeträchtliche Zahl von Mönchen und Nonnen die Ordensregeln
mißachtete. Dies gilt für die Neuzeit nicht weniger als für das
Mittelalter, wie folgender Bericht aus dem späten 19. Jahrhundert
über die Mönche in Taiwan zeigt:
Diejenigen Ivlönche, die die Speisevorschriften und Mönchsgebote
beachten . sind nur sehr wenige. Unter ihnen gibt es zwar einige, die in die
Hauslosigkeit gehen (chu jia I:f:j %~), die meisten aber sind Nichtstuer, die
den Müßiggang lieben, eine höchst ungebildete Sorte. Ihr Motiv sind drei
Mahlzeiten am Tag und sie gehen nicht \-v:irklich in die Hauslosigkeit.
Denn wenn man in die Hauslosigkeit geht, darf man keine Frau qehmen
. und kein Fleisch essen. Die Mönche in Taiwan aber nehmen in der
Mehrzahl eine Frau und essen Fleisch. 22
Die historischen Berichte erlauben es kaum, zu bestimmen, in
welchem Maße solche eklatanten Verstöße gegen die Ordensregeln
vorkamen. Ohne Zweifel gab es zu allen Zeiten Schwindler und
Nichtstuer im Mönchsgewand, aber ebenso sicher ist, daß nicht alle
Mönche arbeitsscheue Scharlatane waren. 23 Dabei dÜlien wir nicht
,
25
übersehen, daß die verbreitete Mißachtung konkreter Regeln des
Vinaya nicht bedeutet, daß in chinesischen Klöstern ein Zustand der
Anarchie geherrscht habe. Nicht nur gab es spätestens seit der Tang­
Zeit eine staatliche Gesetzgebung, die das Leben der Mönche in
hohem Maße reglementierte,2 4 sondern es bestanden auch interne
Klosterregeln,2S ohne die das Zusammenleben gar nicht möglich
gewesen wäre, auch wenn es nicht allein und auch nicht in erster
Linie die Pratimok:;;a-Regeln des Vinaya waren, die die Lebensfüh­
rung chinesischer Mönche bestimmten. 26
Seit dem frühen Mittelalter war die vorherrschende Richtung des
Buddhismus in China das Mahayäna, während' die Vinaya-TextE! von
verschiedenen Hinayana-Schulen stammten. Die Vorschriften des
Vinaya waren für den Bestand des Sarpgha unter anderem deshalb
wichtig, weil sie die formale Geltung der Ordination gewährleisteten.
~ach den Lehren des Mahayana war das Ideal religiöser Lebens­
führung jedoch nicht das Leben als Mönch mit dem Ziel, die eigene
Erleuchtung zu erlangen, sondern die Karriere eines Bodhisattvas, die
nicht an ein monastisches Leben gebunden ist. Da die Regeln des
Vinaya dazu dienen sollten, auf hinayanistische Weise als Mönch die
eigene Erlösung zu verfolgen, waren sie aus mahayänistischer Sicht
von untergeordneter Bedeutung, denn dieses Ziel widersprach' in
gevvisser Weise dem Bodhisattva-Ideal, das die eigene Erlösung der
Erlösung aller Lebewesen hintanstellte. Dies konnte zu der Folgerung
führen, daß es unter "C"mständen notwendig und gerechtfertigt sei,
gegen die Regeln des Vinaya zu verstoßen, 'Nenn damit der Erlösung
anderer gedient werde, was im E.,"'\.tremfall das Töten aus Mitleid
legitimieren konnte. Den Vorschriften des Vinaya wurde damit eine
gewissermaßen höhere Ethik für Bodhisattvas gegenübergestellt,
Die ältesten erhaltenen Gesetze stammen allerdings erst aus der Song-Zeit. Vgl.
\\'. Eichhorn, Beitrag zur rechtlichen Stellung de,s Buddhismus und Taoismus im
SUl1g-Staat (Leiden 1968).
'5 Eine einflußreiche Sammlung monastischer Regeln, die während der Yuan Dyna­
'9 Der Text v"ird einem Autor der späten Han-Zeit zugeschrieben. Zur Datierung­ stie
sproblematik vgl. J. P. Keenan, How Ylaster j:Hou remOL'es our doubts. A reader­
herausgegeben wurde, ist das Chi:ä.u Baizhang qinggui ~®:83t;Wm, das sich
auf ältere Ordnungen stützt. Vgl. l\I. D. Reis-Habito, Die DhäraTJ.l des Großen
response study and translation ofthe 'IVlou-tzu Li-huo lun' (Albany(New York 1994):
Erbarmens des Bodhisattva Avalokitesvara mit tausend Händen und Augen.
3-7·
"ber'setzung und Untersuchung ihrer textlichen Grundlagen sowie Erforschung
20 Hong ming ji 5LE~W (T 2102), fase. 1, Bd. 52Aa, 16-18.
ihres Kultes in China (~Ionumenta Serica Monograph Series; 27) (Nettetal 1993):
2'
Für Quellenbelege siehe Tso Sze-bong, "The decline of the Buddhist Vinaya in
310-315·
China form a historical and cultural perspecti\'e", in: Ch. Wei-hsun Fu/S. A. Waw­
26 Zum Konflikt z\\ischen Vinaya und Klosterregeln vgl. Tso Sze-bong, "The confliet
I)tko (Hgg.), Buddhist behavioral codes and the modern world: An international
bep,,'een Vinaya and the Chinese monastic mIes: The dilemma of disciplinary
symposium (Westport, Conn./London 1992): 111-122, hier: 111 f.
venerable Hung-i", in: Ch. Wei-hsun Fu/S. A. Waw[\tko (Hgg.), In Buddhist ethics
22 Anping xian zaji 3C~~~1I.~, S. 20.
and modern society: An international symposium (New York/Westport, Conn./
23 Vgl. K. 1. Reichelt, Truth and tradition in Chinese Buddhism (Shanghai 1928;
London1990:69-80 .
:-;-achdruck: Taibei 1976): 2331'.
U
26
Hubert Seiwert
deren ideale Verhaltensweisen auch in eigenen Texten, vvie dem
Fanwangjing ~;t~ (Brahmanetz-Sutra), kodifiziert waren. 27
Es gab also eine in der Lehre des Mahayana begründete Recht­
fertigung für die Mißachtung der traditionellen Ordensregeln, und es
scheint, daß in der Tat die Vorschriften des Pratimok~a bestenfalls
zum Teil befolgt wurden. So scheint das Gebot für Mönche, die eigene
Nahrung zu erbetteln, in China nur in Ausnahmefällen beachtet
worden zu sein, und die Klöster verfügten über eigene Küchen. Auch
die Kritik, die von manchen Vinaya-Gelehrten am Verhalten ihrer
Mitmönche geäußert vvurde, zeigt daß viele Ordensregeln in der
Pra..,"'(is nicht beachtet wurden. 28 Um so bemerkenswerter ist es, daß in
der Geschichte des chinesischen Sarpgha die Anerkennung der Vor­
schriften des Pratimok~a ein zentrales Element der Mönchsordination
blieb. 2 9 Obwohl die Ordinationszeremonie um die Bodhisattva-Ge­
lübde erweitert wurde, wurde der Pratimok~a selbst in einem Text wie
dem Fanwang jing formal anerkannt,3 0 wenn auch inhaltlich im
Sinne des Bodhisattva-Ideals interpretiert. Bei der Ordination hatten
Mönche zunächst die 250 Gebote des Pratimok~a anzunehmen, bevor
sie die Bodhisattva-Gelübde ablegten. 31 Diese Pra..,"'(is blieb bis in die
Gegenwart erhalten.32 Zumindest in einigen Klöstern wurde \vohl
auch die nach dem Vinaya vorgeschriebene Praxis der Po~atha-Zere­
monie regelmäßig abgehalten, bei der am 1. und 15. Tag jedes Mohd­
monats die Pratimoksa-Regeln von den .Mönchen rezitiert vlurden. 33
Es kann alsQ kein Zweifei 'Destehen, daß der Status des Vinaya als
eines Textes von hoher Bedeutung im chinesischen Buddhismus
Kodifizierte Normen, soziale l\ormen und Pra..xis
27
erhalten blieb. Dies zeigt sich auch in den zahlreichen Kommentaren
und Abhandlungen zu diesem Text, die im Laufe der Geschichte
"erlaßt wurden. 34 Diese soziale Bedeutung des Vinaya bestand, wie
v\ir gesehen haben, unabhängig davon, daß viele Regeln im prakti­
schen Verhalten nicht befolgt wurden, ja sogar die Verbindlichkeit der
Regeln gelegentlich mit in der Lehre des Mahayana begründeten
Argumenten in Frage gestellt wurde. Diese Spannung zwischen
formaler Anerkennung des Textes und Mißachtung seines semanti­
schen Gehalts blieb natürlich nicht verborgen. Im Zhengming jing
~Bjj*~, einem Text" der vermutlich aus dem sechsten Jahrhundert
Stammt, wird das t~erhalten ordinierter Mönche kritisiert:'
Was die Mönche und Nonnen betrifft, die ihr Haupt geschoren haben und
klerikale Ge\\'änder tragen, so ist zu sagen: Selbst wenn sie die 250 Gebote
[des Prat.imok~a] akzeptiert haben, sie aber nicht einhalten, so sind sie
nicht denen gleich\\'ertig, die nur die zehn Regeln (Tm. sik$äpada)35
akzeptiert haben und sie einhalten, indem sie die zehn guten Werke [der
Laien] tun; die auf luxuriöse Roben verzichten und von ganzem Herzen
_~kese praktizieren, keine Befleckung in ihrem Geist aufKommen lassen,
sich zurückziehen und barml1erzige Liebe praktizieren; [.. .]3 6
Der Text vertritt eine radikale Position des Mahayana, indem die 250
Ivlönchsgebote und damit der formale Status als Mönch als unwesent­
lich erachtet und statt dessen die Tugenden eines Bodhisattva
propagiert werden, der alle Wesen voller NIitleid belehrt, um sie
durch Überwindung der Unwissenheit von den Bindungen der Welt
zu erlösen. Allerdings entstammt der Text, der in der frühen Tang­
Zeit anscheinend weite Verbreitung fand, einem Milieu, das offen­
sichtlich in einer gewissen Spannung zum etablierten Kloster­
buddhismus stand. Von diesem ",rich er nicht nur hinsichtlich der
Geringschätzung der Ordensregeln ab, sondern auch durch die
Verbreitung eschatologischer Ideen über den nahen Untergang der
gegenwärtigen Welt; der kommenden Katastrophe würden die Sünder
zum Opfer fallen und nur die Gläubigen durch Aufnahme in das Reich
Zur Spannung zwischen mahäyänistischen Auffa~sungen und Vinaya-Vorschrif­
ten und zum *Brahmajäla-:;ütra (Fanwang jing) siehe auch den Beitrag von
Christoph Kleine in diesem Band.
28 Allerdings hielten sich selbst Vinaya-?v1eister, die für die strikte Befolgung der
Ordensregeln eintraten, nicht notwendig selbst an alle Gebote. VgL Tso, "The conflict
ber.\een Finaya and the Chinese monastic mIes", 72-73.
29 Zum praktischen Vei'stoß gegen die Regeln des Vinava bei gleichzeitiger Anerken­ nung seiner .'l.utorität siehe Sheng-Yen, "The renaissance of Vinaya thought during
the late Ming dynasty of China", in: Ch. vVei-hsun Fu/S. A. V'ia\\T}Lko (Hgg.), In Bud­
J4 Vgl. Sheng·Yen, "The renaissance of Yinaya thought", 4 2 .
dhist ethics and modern soc:iety: An international symposium (New York/Westport,
'JS Die zehn zentralen Regeln für Mönche, die auch schon von ~o\i2en angenommen
Conn./ London 1991): 41-;54.
werden und sich hier mäglichel'\\'eise im Vnterschied zu den 250 Prätimoksa-Regeln
jO
Fanwangjing t.t.~~ (T 1484) Bd. 24:10°33,15-22.
auf nicht im Sinne des Vinaya voll ordinierte i\lönche beziehen.
J1
VgL L~kshe Tsomo, "Buddhist ethics in .Japan and Tibet", 125; Satö, "Dao-xuan
30 Plu:ian pllsa shuo zhengming jing l.tiHHB.~H!fßJj~ (T 2879) Bd. 85:1363a. Zu
and his religious precepts", 70 f.
diesem Text und seinem sozialen Umfeld siehe H. Seiwert, Popu/ar re/igious moue­
32 VgL H. vI/eich, The practice of Chinese BuddlJism 1900-1950 (Cambridge, :\lass.
ments und heterodox sects in Chinese history (China Studies; 3) (Leiden 2003): 141­ 1967; second printing 1972): 290-294.
154 und A. Forte, Po/itica/ propaganda and ide%gy in China at the end of the seu­
33 );ach \Ve1ch, The practice ofChinese Bllddhism 1900-1950, 110 \llJrde im frühen
('nth
century: Inqlliry into the nature, autnors and junctions of the Tunhuang
20. Jahrhundert die Uposatha-Feier nur in \v'enigen Klöstern regelmäßig durch­
document S 6502fol/owed by an annotated translation (Napoli 1976): 159- 16 4.
geführt.
27
28
des Buddha Maitreya entgehen. Im Unterschied zum regulären
Sarpgha, dessen Dekadenz in dem Text angeprangert wird, hatte die
Gruppe radikaler Mönche und Laien, die hohe sittliche Ansprüche
vertrat und einforderte, jedoch keinen Bestand. Der Text geriet in
Vergessenheit und wurde erst im frühen 20. Jahrhundert in den
Höhlen von Dunhuang v{ieder entdeck-t.
Die Gemeinde, die sich um das Zhengming jing gebildete hatte,
war nur eine von zahlreichen buddhistischen Gruppierungen des
Mittelalters, die außerhalb oder am Rande des regulären Sarpghas
bestanden. Viele von ihnen galten aus der Sicht des Staates als
heterodox und manche waren tatsächlich in RebelTionen verwickelt.
Ein extremes Beispiel ist der Aufstand des Mönchs Faqing itlf im
Jahre 515, der erst durch den Einsatz einer großen Armee nieder­
geschlagen werden konnte. Faqings Angriffe richteten sich vor allem
gegen Klöster; die Aufständischen metzelten Mönche und Nonnen
nieder und verbrannten buddhistische Texte und Statuen. Unter dem
Slogan "Der neue Buddha ist erschienen und rottet die Dämonen aus"
sollte der Buddhismus von Dämonen im Mönchsge\vand befreit
werden. Es hieß, daß jemand, der zehn davon töte, ein Bodhisattva
der zehnten Stufe (shizhu pusa +1±lHi) werde. 37
Die Gruppe um Faqing war in ihrer Militanz außergewöhnlich, in
ihrer Opposition gegen die Klöster und Mönche aber kein Einzelfall.
Im sechsten Jahrhundert waren die großen Klöster bereits zu reichen
Institutionen mit großem Grundbesitz geworden, und die Befreiung
der Mönche von Steuern und Fronarbeit hatte \iele aus anderen als
religiösen Motiven dem Orden beit'reten lassen. 38 In einer solchen
Situation trugen nicht wenige ein IVlönchsgewand, dit= dem Ansehen
des Sarpgha schadeten. Es konnte aber auch vorkommen, daß
Mönche sich vom offiziellen Sarpgha distanzierten und Gemeinden
von Laienanhängern um sich scharten, die eine andere Form von
Buddhismus vertraten, als in den Klöstern praktiziert wurde. 39 Nach
den Lehren des Mahayana \~'ar die Gründung von Laiengemeinden
leicht zu legitimieren. Für den Bestand des Sarpgha erwuchs daraus
freilich eine ernste Gefahr, nicht nur weil es zu gewaltsamen
Zur Bc\\'egung des Mönchs Faqing siehe Sei\\ert, Popular religious movements
and heterodox sects in Chinese history, 111-116.
38 YgI. K. K. S. eh'en, Buddhism in China, A historical survey (Princeton 1964): 154
-158,
:.l9 Ein solcher Fall ist der Mönch :'Iiaoguang r);;Yt, der 510 - also fünf Jahre vor dem
Aufstand des Faqing - eigene Schriften verfaßte und eine große Gefolgschaft
sammelte. Vgl. Seiwert, Popular religious movements ana heterodox sects in Chinese
hi.story. 155 f.
37
Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis
Hubert Seiwert
29
Übergriffen kommen konnte, sondern auch weil die Integrität des
buddhistischen Ordens durch Bewegungen, die volksreligiöse und
heterodoxe Züge trugen, bedroht wllrde. Vor diesem Hintergrund
ermahnte der Mönche Tanxuan ~ili (531-625) seine Schüler:
Der Buddhadharma wird langsam Tode gebracht. Dies ist vor allem, weil
:--.IÖnche, die keine Tugend besitzen, die Laienanhänger aufrühren können,
so daß die Gefahr einer Rebellion entsteht. "Wenn ihr eine große
Gefolgschaft sammelt, ist es unmöglich, sie in den Prinzipien der Loyalität
und des aufrichtigen Glaubens zu untenveisen. 40
Seit der Buddhadharma sich nach Osten ausgebreitet hat, gab es nicht
wenige Scharlatane und Betrtiger. Während einer früheren Dynastie gab es
die Dacheng
("Mahäyäna") Banditen [des Faqing],4 1 heutzutage gibt
es die gefährlichen Lehren über Maitreya. Die Anhänger von Leuten, die
den Ulmissenden falsche Lehren predigen, sind zahlreich. Ich habe gehört,
daß ihr eine große Gefolgschaft sammelt, und ich fürchte, daß ihr damit
vielleicht unsere Lehre zerstörtY
**
Ein Problem, vor dem der Sarpgha stand, war die Aufrechterhaltung
klarer Grenzen. Für Tanxuan ging es vor allem um die Abgrenzung
von heterodoxen Bewegungen, von denen manche chiliastische
Lehren verkündeten und in ~ebellionen verwickelt waren, die staat­
liche Verfolgung nach sich zogen. Dies erforderte eine deutliche
Distanzierung des Sarpghas von solchen Gruppen, um nicht selbst das
Mißtrauen des Staates zu provozieren. Anführer solcher Sekten waren
nicht selten IV!önche, von denen es viele gab, die sich außerhalb der
lderikalen Struk-turen bewegten. piese zentrifugalen Kräfte ließen sich
lzaum mit 'doktrinären Mitteln aufheben, zumal die Lehren des
Mahäyäna eine ungeheure Vielfalt der Interpretationen zuließen, die
durch keine zentrale Lehrinstanz zu kontrollieren waren. Die
Bewahrung der Struktur des Sarpgha und die Aufrechterhaltung von
Grenzen war primär eine Sache der Praxis. Auch ohne daß die Regeln
des Vinaya im einzelnen alle befolgt wurden, war bereits die formale
Anerkennung seiner Autorität durch rituelle Akte vvie die Ordination
und die Po:;;atha-Feiern ein GegengeVlricht zu zentrifugalen Kräften.
Denn damit \>vurde öffentlich der Status eines Mönchs dokumentiert,
der so in Strukturen der Praxis eingebunden war, denen andere, die
sich gleichfalls auf den Buddhismus beriefen, fernstanden. Es ist für
unseren Zusammenhang wichtig, daran zu erinnern,·daß die Akzep­
Xu Caoseng zhuan ~t1,'iiif';l:i~ (T 2060), fase. 24, Bd. 50: 641b, 1-3·
Der Mönche Faqing, der die Rebellion von 515 führte, hatte den Namen Dacheng
angenommen.
40
Xu Caoseng zhuan, fase. 24, Bd. 50: 641e, 1-3·
40
41
30
Hubert Seiwert
tanz des Vinaya in der rituellen Praxis und andere Formen der Aner­
kennung seiner Bedeutung nicht voraussetzten, daß die Vorschriften
befolgt wurden. Der semantische Gehalt war zwar nicht unwesentlich,
aber für den Grenzerhalt des SaJ1lgha war das primäre, daß der Text
ein Bezugspunkt der Pra.\:is war. Wieweit einzelne Mönche sich an die
Regeln hielten, war für den Bestand des Ordens ebenso zweitrangig
wie die Frage, ob sie das, was in dogmatischen Texten formuliert war,
auch persönlich glaubten.
Die Anerkennung des Vinaya als normativer Text war ein öffent­
licher A1<t, der unabhängig von den jeweilsbeste~endensubjektiv.en
Befindlichkeiten wirksam war. Indem der Vinaya als Text zum
Bezugspunkt vielfaltiger Praxis ,v"lude - von bloßen Verweis auf die
250 Regeln des Pratimok;;a, über ihre rituelle Rezitation bis hin zum
Kopieren und Kommentieren des Vinaya-Textes - wurden Strukturen
und Grenzen etabliert, die diejenigen einschlossen, die sich an dieser
Praxis beteiligten. Die Art des prahischen Umgangs mit dem Text
zeigte seine soziale Bedeutung und bestimmte damit zugleich den
sozialen Status der Akteure. Zusammen mit anderen Formen der
Pra,'(is, deren Gegenstand ebenfalls symbolische Repräsentationen
waren - andere Texte, ikonographische Symbole, Stüpas - wurde ein
Geflecht von Handlungsstrukturen geschaffen, das dem SaJ1lgha als
soziale Institution Identität und Kontinuität verlieh.
.Die materielle Gestalt des Vinaya, \..ne auch anderer Symbol­
komplexe, erlauDte den praktischen Umgang damit, ohne immer und
jedes Mal s~inen semantischen Gehalt zu dekodieren. Die Rezitation
von Texten kann auch mechanisch erfolgen,43' Stüpas können
umschritten werden, ohne dabei jedesmal die mit den Reliquien
repräsentierten Heilsgestalten zu vergegenwärtigen. 44 Wichtiger für
den Bestand religiöser Institutionen ist jedoch ein anderer Aspeh:
Die materielle Gestalt der Symbole ist eine Voraussetzung für die
Kontinuität von Handlungsstruhuren. Sie erlaubt es, Handlungs­
struhuren zu schaffen und zu tradieren, die das Leben der indivi­
Kieffer-Pülz bemerkt, daß schon früh in der Geschichte des Buddhismus die
"zum bloßen Ritual erstarrt" sei; P. Kieffer-Pülz, "Die
buddhistische Gemeinde", in: H. Bechert/J. Bronkhorst et al. , Der Buddhismus 1. Der
indische Buddhismus und seine Verzweigungen (Die Religionen der Menschheit;
24,1) (Stuttgart 2000): 281-419, hier: 380.
.
44 Xach .J. S. Strong, Relics oj the Buddha (PrincetonjOxford 2004): 233 besitzen
buddhistische Reliquien einen starken semantischen Gehalt, indem sie bei den
Gläubigen die gesamte Biographie des Buddha veFgegen"·ärrigen. Man \~ird jedoch
einräumen müssen, daß sie dies nicht bei allen Gläubigen, die die Reliquien verehren,
immer in gleichem i\laße der Fall ist.
43
Prätimok~a-Rezitation
Kodifizierte Normen, soziale ::;ormen und Praxis
31
duellen Akteure überdauern. Die Annahme der 250 Regeln des
Prätimok~a bei der Mönchsordination im 20. Jahrhundert ist die
aleiche rituelle Praxis wie im sechsten Jahrhundert, weil der
ö
Gegenstand der gleiche ist. Die Akteure dagegen sind verschieden.
Obwohl weder im sechsten noch im zwanzigsten Jahrhundert die
Regeln im Detail befolgt wurden, hat der Text eine Funktion, die
freilich eine andere ist als seine semantische Bedeutung.
Nicht nur der Vinaya, sondern im Grundsatz alle symbolischen
Repräsentationen können - wenn auch in unterschiedlichem Maße ­
als Objekte der religiösen Praxis gebraucht werden, die damit eine
Struktur erhält, die die einzelnen Akteure"und individuellen Hand­
lungen transzendiert. Dies ist möglich, weil die Objekte eine
Eigenexistenz besitzen, die vom Körper der religiösen Subjekte
unabhängig ist. Im Falle des Buddhismus ist die Anerkennung des
Vinaya als normativer Text - nicht die genaue Befolgung der in ihm
formulierten Normen - vielleicht eines der wichtigsten Elemente
religiöser Praxis zur Sicherung der Identität und Kontinuität des
SilJ1lgha. Denn diese Anerkennung erlaubt es nicht nur, die Grenzen
zu bestimmen und einer Auflösung der Strukturen von den Rändern
her entgegenzuwirken, sie macht es auch möglich, über zeitliche und
räumliche Distanzen durch den Bezug zu einem Text mit sich
identisch zu bleiben. Wie groß auch die Unterschiede der alltäglichen
Prllxis und religiösen Vorstellungen mischen chinesischen rvlahä­
yäna-i\lönchen und ihren Ordensbr'L.idern im TheravädD. Buddhismus
sein mögen, die gemeinsame Anerkennung des Vinaya macht sie zum
Teil desselben SaJ1lgha. Natürlich ist der Vinaya nicht das einzige
Symbol, das diese Funktion erfüllt. Für die Identität des Buddhismus
insgesamt sicher noch wichtiger ist das Symbol des Buddha, sei es in
sprachlicher oder ikonographischer Form. Aber wie im Falle des
Vinaya ist auch hier erkennbar, daß der Gebrauch des Symbols in der
Pra.\:is - das Reden von Buddha oder Ehrbezeugungen vor Buddha­
statuen - eine Kontinuität von Handlungsstruhuren schafft, bei der
der semantische Gehalt sekundär ist. Denn was dieses Symbol für die
je~veiligen Akteure bedeutet, läßt sich kaum feststellen und unterliegt
jedenfalls einer enormen Variationsbreite. Aber auch wenn "Buddha"
ganz verschiedenes bedeuten kann, ob das Symbol nun auf den
Buddha I Sakyamüni verweist, im Sinne der "Buddhanatur" des
Mahäyäna, in der Formel des Nianfo (z:iI~ die rituelle Anrufung des
Namens eines Buddha, meist Amitäbha) oder beim Schmücken einer
Buddhastatue gebraucht wird - so entstehen doch durch die Praxis
des Symbolgebrauchs Handlungsstrukturen, die einen gemeinsamen
Bezugspunkt haben und darin von anderen unterscheidbar sind.
Hubert Seiwert
Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis
Semantische Bedeutung und die Transformation
kodifizierter Normen in soziale Normen
können Teile daraus, Bruchstücke gewissermaßen, in den Symbol­
raum öffentlicher Kommunikation diffundieren. Man mußte nicht
den Vinaya gelesen haben, um zu sagen, daß Mönche sich des
Geschlechtsverkehrs enthalten und keinen Alkohol trinken sollen.
Äußerungen in diesem Sinne waren nicht selten. Sie waren Teil der
gesellschaftlichen Pra..xis, denn ein wichtiger Teil der Praxis sind
Sprechhandlungen.
Normative Texte - sofern sie soziale Bedeutung besitzen - haben
Teil an der Strukturierung des Sprechens.4~ Sie bilden ein Reservoir
an Sätzen, die Gegenstand des Sprechens werden, indem sie wieder­
holt, bestätigt, bestritten, kommentiert und umformülieli werden
oder wie auch immer sonst in die Kommunikation eingehen. Ohne
Z\~'eifel ist der Gebrauch bestimmter Sätze und Begriffe mit mentalen
Prozessen verbunden, die uns freilich verborgen bleiben. Wir können
nicht wissen, was die Sprecher und Schreiber denken oder fühlen,
Aber wir können feststellen, daß der Gebrauch sprachlicher S)mbole
und Symbolkombinationen eine Struktur aufweist, die nicht allein
durch die Synta..'( der Sprache bedingt ist. Es ist eine semantische
Struktur, die sich in der Kombination und Häufung bestimmter
Symbole zeigt und es ermöglicht, verschiedene Kontexte und Zu­
sammenhänge zu unterscheiden, In einem buddhistischen Kontext ist
es undenkbar, einen Diskurs über das Verhalten von Mönchen zu
fühl'en, ohne explizit oder implizit auf den Vinaya Bezug zu nehmen,
weil das gesamte Reservoir dabei zu benutzender \'y-örter und Sätze
mit dem Vinaya venvoben ist.
Wenn Kritiker des Sarpgha darauf hiri\\iesen, daß Mönche Handel
trieben, Frauen und Kinder hatten oder Alkohol tranken, dann 'war
ihre Kritik ebenso durch den Vinaya beeinflußt wie die derJenigen, die
monierten, daß sie gegen die 250 Mönchsgebote verstießen. Dazu
mußten sie den Text nicht kennen. Sein Inhalt oder genauer:
Fragmente seines Inhalts waren in den Raum öffentlicher Kommuni­
kation diffundiert, wo sie mit' Wörtern und Sätzen kombiniert
wurden, die anderen Quellen entstammten. 48 Jedes Reden oder
Schreiben über Tvlönche mußte aus diesem Reservoir öffentlich
verfügbarer Symbole schöpfen. Der semantische Gehalt des Vinaya ­
32
Symbolische Repräsentationen - und dazu gehören in Te.\.ien kodifi­
zierte Normen - besitzen als Gegenstand der Praxis eine Bedeutung,
die nicht mir ihrem semantischen Gehalt gleichzusetzen ist. Der
praktische Umgang mit dem Vinaya hat Folgen, auch wenn die
Normen nicht befolgt werden. Seine semantische Bedeutung wird
damit nicht aufgehoben, jedoch ist ihr Verhältnis zur Praxis von
anderer Art. Der praktische Umgang - und dies heißt auf elementare
Weise: der körperliche Kontakt45 - mit dem Text ist die Voraus­
setzung seiner semantischen Dekodierung, auch wenn diese
keineswegs eine notwendige Folge ist. Mit der Tradierung der
Textgestalt bleibt ihr semantischer Gehalt jedoch zumindest ver­
fügbar. Das Verstehen seiner Bedeutung, das damit möglich wird, ist
kein Akt der Praxis im hier definierten Sinne; es ist kein äußerliches
Verhalten von Akteuren, sondern ein mentaler Prozeß, der sich im
Körperinneren vollzieht. In welcher Weise die Wahrnehmung sprach­
licher Symbole mentale Prozesse beeinflußt und zum Verstehen von
Bedeutung führt, entzieht sich historischer und sozialwissenschaft­
licher Analyse.
Immerhin läßt sich feststellen, daß sprachliche Repräsentationen
"verstanden" werden und ihre vVahrnehmung ein Wirkung auf den
Hörer oder Leser ausüben können. Erkennbar ist diese \Virkung in
äußerem Verhalten, sei es durch sprachliche Äußerungen, die sich auf
den Te>..1: beziehen, sei es durch andere Reaktionen. Die Mönche, die
gelehrte Kommentar~ zum Vinaya veriaßten, hatten offensichtlich die
Bedeutung des Textes verstanden, wenn auch nicht alle in gleicher
Weise. Unterschiedliche Interpretationen der Bedeutung des TeAies
waren ja einer der Gründe für die Abfassung von Kommentaren und
Schulstreitigkeiten. 46 Aber auch wenn der semantische Gehalt von
Texten der Interpretation offen steht und nicht von allen im selben
Sinne verstanden wird, so übt er dennoch eine Wirkung auf die Praxis
aus. Diese zeigt sich nicht nur in der Praxis des Kommentareschrei­
bens und expliziten Redens über den Vinaya; der Text als Komplex
sprachlicher Symbole wirkt nicht nur in seiner Gesamtheit. Es
Natürlich ist die Strukturierung des Sprechens nicht die Wirkung eines einzelnen,
sondern der Gesamtheit der schriftlich und insbesondere mündlich gebrauchten
Texte, wenn auch nicht alle Texte gleich "irksam sind. Hier 'wird gewissermaßen eine
gedankliche Isolation der Wirkung eines Textes vorgenommen, während in der
Empirie weit komplexere Einflüsse vorliegen,
48 So hatte die oft geäußerte Kritik, daß ;,Iönche Fleisch äßen, ihren Ursprung nicht
in Regeln des Vinaya.
47
45 Dies gilt, \,'as leicht übersehen wird, auch für oral tradierte Texte, die zumindest
gehört werden müssen, womit ein körperlicher Kontakt zwischen Wort und Hörer
besteht.
:6 So zum Beispiel für die Kritik Yijings ~7!/l an der Vinaya-Interpretation der
Hanshan Lüzong; vgl. dazu den Beitrag von Christoph Kleine in diesem Band.
33
34
Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis
Hubert Seiw.ert
hier vor allem der Ge- und Verbote des Pratimok$a - beeinflußte so
die Praxis zunächst in Form des Sprechens über Mönche und ihr
Verhalten. Dieser Einfluß mußte um so stärker sein, je größer die
Nähe zum Text war: deutlich in fast allem, was die Vinaya-Meister
und Kommentatoren dazu äußeren, immer noch erkennbar bei
denen, die regelmäßig an der Pratimok$a-Rezitation teilnahmen, aber
nur in Spuren bei jenen, die von dem Text noch nie gehört hatten.
Dabei stand der Vinaya gewissermaßen in Konkurrenz zu anderen
schriftlichen und mündlichen Texten und deren Wirkung auf das
Sprechen, was insbesondere in einem mahäyanistischen Umfeld
seinen Einfluß scbmälerte. 49
Nach einer verbreiteten Ansicht, die hier nicht bestritten werden
soll, vollzieht sich Sprechen nicht unabhängig vom Denken: das
Sprechen beeinflußt das Denken 'Nie auch umgekehrt. IYir müssen die
genauere Klärung dieses Zusammenhangs in den Bereich der
Kognitionswissenschaften venl'eisen. Jedoch kann es als sicher
gelten, daß Sprache das bei weitem v\ichtigste Medium öffentlicher
Kommunikation ist. Im Medium der Sprache vollzieht sich die
gesellschaftliche Verständigung darüber, was die Dinge sind und sein
sollen. Auch was ein ~Iönch ist und ,.vie er sein soll, ,.vird sprachlich
kommuniziert. Es ist dabei nicht unerheblich, aus welchem Reservoir
von I'Vörtern und Sätzen die sprachlichen Äußerungen gespeist
werden. Texte, insbesondere kodifizierte Texte, die häufig und regel­
mäßig gebraucht und über Generationen tradiert werden, steJien ein
Reservoir sprachlicher Symbole bereit, die das Sprachverhalten
wesentlich - wenn auch abhängig vom relativen Maß ihres Gebrauchs
- beeinflussen. Es ist durch Sprache, daß Erwartungen zum Verhalten
von Personen mit bestimmtem Status formuliert werden, und soweit
diese Erwartungen öffentlich geteilt werden, handelt es sich um
soziale Normen.
Die gesellschaftlichen Erwartungen an das Verhalten von r-Iönchen
- ,.vir könnten auch sagen: die kollektiven Vorstellungenso darüber, wie
sich Mönche verhalten sollen - lassen sich nicht auf die Erwartungen
einzelner Individuen reduzieren, sondern formieren sich in einem
komplexen Get1echt kommunikativer A.kte im jeweiligen sozialen
lIIilieu. Deshalb sind soziale Normen nicht konstant. Im Milieu der
chiliastisch geprägten Sekten bestanden andere Erwartungen an das
Zum Einfluß verschiedener rnahayanistischer Texte auf die Interpretation der
Ordensregeln vgl. Shen-Yen, "The renaissance of l':inaya thought", 42-44.
50 Vgl. dazu E. Durkheim. "Representations individuelles et representations collecti­
ves", ReL'ue de JJ{;taphy~i(Jue et de J\lorale 6 (1898): 273-302.
I
35
Verhalten von Mönchen als in einem Kloster unter Leitung eines
Vinaya-E;"''Perten; die staatliche Verwaltung erwartete anderes von
ihnen als die Bauern. Selbst der monastisch lebende Sarpgha bildete
kein homogenes Milieu, sondern die einzelnen Klöster standen in der
Tradition verschiedener Schulen, die unterschiedliche Te;..,'1e präferier­
ten. Der Vinaya war nur einer dieser Texte; und ""eil seine soziale
Bedeutung, die sich in der Art und Intensität des Umgangs mit dem
Te:-..t zeigte, nicht überall gleich war, war auch sein Einfluß darauf, was
und wie geredet vrorde, unterschiedlich stark. Im Austausch darüber,
wie sich l'vlönche verhalten sollten, bildeten sich die sozialen Normen
als kollehive Vorstellungen und Erwartungen.'
•
Der Umstand, daß sich die sozialen Normen in verschiedenen ?vIilieus
unterscheiden, erlaubt keine direhen Rückschlüsse darauf, in welchem
}Iaß die Normen im praktischen Verhalten befolgt wurden. Die
J,·löglichkeit, durch Sank'1ionen eine Erfüllung der Envartungen zu
erreichen, ist offensichtlich von bestehenden Machtverhältnissen abhän­
gig, Diese aber sind in verschiedenen Milieus unterschiedlich. Mönche,
die sich überwiegend im bäuerlichen Milieu außerhalb der großen
Klöster bewegten, waren von den Envartungen ihrer Klientel durchaus
abhängig und hatten sie zu erfüllen, wenn sie nicht deren ökonomische
Unterstützung verlieren wollten. Die Äbte der großen Klöster und Führer
des Sarpgha dagegen waren auf dieser Unterstützung wenig angewiesen.
Dafcir standen sie dem sozialen :Milieu der politischen Eliten und
staatlichen Verwaltung sehr viel näl1er und. hatten auf deren Erwar­
tungen Rücksicht zu nehmen. Die Sanhionsmöglichkeiten des Staates
waren beträchtlich. So ergab sich durch das Bestehen unterschiedlicher
sozioler \\Iilieus mit unterschiedlichen Machtstrukturen ein komplexes
Gefüge sozialer Normen und Sanhionen, in dem das Verhalten der
Nlönche sich zu verorten hatte. Die kodifizierten Normen des Vinaya
waren nicht mehr als ein Fahor, der das praktische Verhalten beein­
flußte. i\llerdings übt er trotz aller Relativierungen seines Inhaltes und
praktischen Verstöße bis heute eine Wirkung aufdie Diskurse über das
Verhalten von Mönchen aus und beeinflußt so nicht nur die gesell­
schaftlichen Envartungen und sozialen Normen, sondern indirekt auch
das tatsächliche Verhalten. Dies ist nur möglich, weil der Vinaya als Texi
über die Jahrhunderte sozial anerkannt und tradiert wurde und damit
als Komplex symbolischer Repräsentationen erhalten blieb, die in die
kommunikative Praxis einfließenY
49
Zum Einfluß des Vinaya auf die Diskurse seit der ~Iing-Zeit vgl. Sheng-Yen, "The
renaissance of Vinaya thought" und Tso, "Tbe conflict between Vinaya and the Chi­
nese monastic mIes".
51
Hubert Seiwert
Kodifizierte Normen, soziale ~ormen und Praxis
Das Ergebnis dieser Analyse ist einerseits nicht überraschend, weil
sie das erklärt, was \-'iir schon am Anfang wußten: daß nämlich der
Einfluß des Vinaya auf die in chinesischen Klöstern bestehenden
sozialen Normen und das Verhalten der Mönche begrenzt war. Er war
begrenzt, weil soziale Normen nicht ein bloßer Reflex kodifizierter
Normen sind, sondern das Ergebnis praktischer Kommunikation.
Andererseits liefert die Analyse jedoch zumindest den Ansatz einer
Klärung der Frage, auf welche Weise der Einfluß kodifizierter Texte
auf soziale Normen sich vollzieht. Die alltägliche Kommunikation, in
der die kollektiven Erwartungen sich formieren, schöpft aus dem im
je\veiligen Milieu verfügbaren' Reservoir an sprachlichen Symbolen,
dessen Inhalt nicht zuletzt davon abhängt, welche Texte gebraucht
werden. Der praktische Gebrauch eines Texies ist deshalb eine
Voraussetzung der Wirkung seines semantischen Gehaltes. y\'enn
auch der Einfluß des Vinaya im i\Iahäyäna durch die Bedeutung
anderer Texte deutlich gemindert wurde, so sicherte doch sein
fortdauernder Gebrauch in der Praxis dem chinesischen Sarpgha ­
anders als etwa dem japanischen - eine bemerkenswerte Kontinuität
als soziale Institution.
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Das Norm-und-Praxis Problem
am Beispiel von Yijings Bericht über den
indischen Buddhismus des 7. Jahrhunderts
Christoph Kleine
1.
Themenstellung
~Iit meinem Beitrag möchte ich einleitend einige terminologische und
methodologische Probleme erörtern, die sich für Religionshistoriker
aus dem Thema "Norm und Praxis" geradezu z''''angsläufig ergeben.
Dabei ist es mir wichtig, alle theoretischen Erwägungen unmittelbar
mit der Forschungspr~xis zu verknüpfen und anhand eines konkreten
Beispiels zu erproben. Meine Überlegungen basieren - sofern sie die
Quellenkritik betreffen - vornehmlich auf der Forschung zu meiner
Habilitation über religiöse Biographien im ostasiatischen Buddhis­
mus. Das Problem des Verhältnisses von Norm und Praxis möchte ich
dagegen am Beispiel meiner aktuellen Forschung diskutieren.
In dem ursprünglich von Ma..x Deeg konzipiel1en und unter der
Leitung von Hubert Seiwert in Leipzig seit Anfang 2002 von' mir
durchgeführten' DFG-Projekt geht es um die kritische Aus"'1ertung
eines Textes, der Generationen von Buddhologen als eine der Haupt­
quellen zur Rekonstruktion des monastischen Buddhismus im Indien
des T Jahrhunderts gedient hat. Es handelt sich dabei um den
sogenannten "Reisebericht" eines chinesischen Mönchs namens Yijing
~$ (635-713), der im Jahr 671 über Sumatra nach Indien reiste, wo
er zahlreiche Schriften übersetzte, darunter die fast vollständigen
Ordensregeln der lVIülasarvästiväda-Schule. 1 Yijing kehrte erst 69.5.
also nach knapp 25 Jahren, nach China zurück. Zuvor aber verfaßte er
im Jahr 691 in Sribhoja auf Sumatra einen Bericht über den
monastischen Buddhismus in Indien und auf den malaiischen Inseln,
den er zusammen mit seiner G'oersetzung der Ordensregeln sowie einer
Sammlung von Biographien chinesischer und koreanischer Pilger-
Zur Frage der Vollständigkeit der Vinaya-Übersetzung Yijings siehe S. Clarke,
.,The lIJülasär'västivada Finaya: ABrief Reconnaissance Report", Early Buddhis11l
and Abhidharma Thought: In Honor of Doctor Hajime Sakurabe on His Seuenty­
seventh Birthday (Kyöto 2002).
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