Viel Lärm um Nichts? Abfall, Schmutz und Verunreinigung in der Sicht der Ethnologie Hans Voges Von der direkten zur übertragenen Bedeutung Wenn man als Ethnologe von den Resten menschlicher Tätigkeiten und des menschlichen Stoffwechsels, ihrer Bedeutung und dem Umgang mit ihnen, spricht, muß man die zeitgenössische Thematik von Müll und Abfall, von Abfallbeseitigung und Kreislaufwirtschaft hinter sich lassen und sich merkwürdigen Gegenständen wie dem Heiligen, den Riten, der Hexerei oder dem Menstruationsblut zuwenden. Man verläßt dabei die sich realistisch gerierenden Schreckbilder von Klimawandel und Kernkraftwerken, von saurem Regen, Müllhalden, Schwermetallen und anderen Schadstoffen, die die Elemente von Erde, Wasser und Luft verunsichern, und gelangt zu exotisch-mystisch erscheinenden Konzepten wie Speisegeboten und Meidungsvorschriften, zum Bruch sozialer Regeln (etwa durch Inzest, Ehebruch, Totschlag) und schließlich zu den ansteckend wirkenden Gefahren der Verunreinigung, die Krankheit oder Tod zur Folge haben. Da es auf dem Terrain der Ethnologie kein Werk wie das von Mary Douglas gegeben hat, das sich mit solcher Konsequenz den Phänomenen von Schmutz und Verunreinigung - dem kulturellen Kontext, in dem sie stehen gewidmet hat, ist es berechtigt, diese durch das Prisma ihres Werkes zu betrachten.1 Fenster auf einen Anfang: Angst vor dem Chaos? In der Ethnologie ist der Zugang zu Schmutz, Abfall oder Müll in einige Verständnisschichten eingetaucht, die in die Geschichte dieser Wissenschaft zurückreichen. In diesem Fall ist es die theoretische Neugierde für die sog. primitiven Religionen, von der vor allem die klassischen Autoren des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (E. Tylor, W. Robertson Smith, E. Durkheim, L. Lévy-Bruhl u.a.) umgetrieben wurden. Wenn Religion und Magie die komplementären Eckpunkte ihrer Ansichten darstellten, dann sind auch Vorstellungen von Schmutz und eventuelle ergänzende Ausdrücke mit ihnen fest verbunden. Nur durch insistierendes Fragen lassen sich diese Verständnisschichten abtragen. Wodurch kann ein Mensch sich beschmutzen? Indem ein Mensch ein Verbot (ein Tabu) nicht beachtet. Indem er z. B. einen Inzest oder einen Ehebruch begeht. Woran kann man bemerken, daß eine wichtige Regel gebrochen wurde? Indem z. B. der Verursacher sich eine bestimmte Krankheit zuzieht oder indem er stirbt. Aber es ist auch möglich, daß nicht den für die Tat Verantwortlichen ein Mißgeschick ereilt, sondern einen Unbeteiligten aus dessen näherem sozialen Umkreis. Die Gefahrenquelle ist die Persönlichkeit des Täters selbst, ein Ding oder ein Ort, der mit der ihm zugeschriebenen Tat in Zusammenhang gebracht wird. Das Eigenartige der Gefahrenquelle ist nun, daß sie in die umgebende Gesellschaft ausstrahlt: Jeder, der mit ihr in Berührung kommt, wird von ihr erfaßt und kann sie weiter verbreiten. Sie gleicht einer Krankheit, die durch Ansteckung ihren Radius erweitert. Wie soll man aber damit umgehen, wenn man eine Missetat vollbracht oder ein Tabu verletzt hat und so zu einer gefährlichen Quelle der Ansteckung für seine Mitwelt geworden ist? Am besten doch, indem man sich auf eine sehr sorgfältige, förmliche Weise davon rein wäscht, was nicht zwangsläufig durch Wasser geschehen muß. Viele Kulturen halten für diese Zwecke Reinigungsriten parat, die nicht nur die Tat (wegen ihrer mißlichen Folgen) aufheben sollen. Es geht um mehr: Diese Riten sollen die gefährlichen Kräfte, die die Untat entfesselt hat, zähmen und aufheben. Jedes - sei es eine Person, sei es ein Ort oder ein Gegenstand (oder gleich mehrere dieser Adressaten) - muß von der Ansteckungsgefahr durch kaum zu kontrollierende Kräfte befreit werden. Die Behauptung, daß diese Riten einen Reinigungsprozeß vollziehen, wird teils aus den Selbstaussagen der Beteiligten deutlich; teils ist sie daraus zu erschließen, daß die Praktiken den Zweck verfolgen, die magische Gefährdung durch ansteckende Kräfte auszulöschen. Woher kommen nun diese mehr oder weniger geheimnisumwitterten Gefahren, die durch Missetaten freigesetzt werden? Die Erwartung etwa, daß Täter einen ambivalenten Platz in einem sozialen Zwischenraum besetzen, der sie zu einem Regelbruch prädestinieren könnte, verpflichtet uns zu einer Kenntnis der sozialen Strukturen in einer fremden Gesellschaft. Darüber hinaus sind wir mit der Suche nach dem Wesen der ausgelösten Gefahren dazu aufgefordert, ein uns jeweils fremdes Orientierungssystem, sagen wir ruhig eine Kosmologie, kennen zu lernen. Ohne ein solches Wissen um die Kosmologie, nur mit der sozialen Verortung der Tat im Kopf, wäre es uns kaum möglich, den Sinn einer ganzen Kette von Handlungen, vom Ausgang der Verschmutzung bis zu ihrer Aufhebung durch Reinigung nachzuvollziehen. Bevor Mary Douglas zum Kern ihres Gegenstandes vordringen kann, muß sie sich auf eine Traditionslinie religionsethnologischer Untersuchungen und theoretischer Reflexionen einlassen. Begriffe wie Religion, Riten und Magie gehören in den Kanon ethnologischen Forschens. 2 Unter den klassischen Autoren des religionsethnologischen Genres haben sich theoretische Stereotypen herausgebildet, die Douglas mit teilweise polemischer Verve zerpflückt. Diese Stereotypen zehren von mehr oder weniger deutlich ausgesprochenen Annahmen; zu den wichtigsten, die der Abfolge der Gedanken Konsequenz verleihen, zählen: Zunächst ist ihnen der Kontrast zwischen primitiven Völkern und zivilisierten Europäern selbstverständlich (der von einer geradlinig gedachten Höherentwicklung der Menschengattung unterfüttert wird) und Vergleiche werden auf dieser Ebene häufig gezogen. Vor diesem Hintergrund gewinnen konkretere, allgemeine Aussagen an Gewicht - etwa die für unseren Kontext relevante Behauptung, daß Schmutz bzw. Verunreinigung in die Domäne der Magie falle; ergänzt durch die zuversichtlich formulierte Gewißheit, daß der Glaube an die 'mystisch-magischen' Gefahren der Verunreinigung ausschließlich einer frühen Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes (gelegentlich als primitive Mentalität apostrophiert) eigen sei. Nachdem Mary Douglas das theoretische Instrumentarium der Klassiker weitgehend hinter sich gelassen hat - wobei die auf Institutionen zentrierte Sicht Durkheims auf die Religionen unbehelligt bleibt -, stellt sie sich der konstruktiven Seite ihres Vorhabens. Zum Gelingen ihres Unternehmens hält sie es für erforderlich, tradierte theoretische Vorentscheidungen zu vermeiden und sich auf die Verwendung von schwach konturierten Begriffen zu beschränken. Ihre Begriffe sind gleichsam nur Fingerzeige auf ein sich entfaltendes Untersuchungsfeld, so wenn sie das Heilige, das manche im Zentrum von Religionen vermuten, als etwas Abgetrenntes benennt, und wenn sie Schmutz als etwas umschreibt, "das fehl am Platze ist".2 HV Überdies verstärkt sie die Bedeutung der Riten nicht allein deshalb, weil sie als Reinigungsmodus einen kaum zu überschätzenden Stellenwert habe. Vielmehr weil ihnen auch Kommentar: Zu den definitorischen Versuchen siehe S.20 (Religion) und S.52 (Schmutz). die Eigenschaft zukommt, eine Art Fenster zur Welt zu öffnen. Sie stimmt der Ansicht G. Lienhardts zu, der im Anschluß an seine Forschungen bei den Dinka im Sudan meinte, daß "Rituale Erfahrung hervorbringen und kontrollieren", indem sie z. B. dank der Regenzeremonien Erwartungen und Haltungen kanalisieren, die einen weiten Umkreis alltäglicher Erfahrungen erschließen. 3 HV Kommentar: Godfrey Lienhardts Forschungen werden resümiert auf S.91. "Wenn das Unsaubere etwas ist, was fehl am Platz ist, so müssen wir es von der Ordnung her untersuchen. Unsauberes oder Schmutz ist das, was nicht dazugehören darf, wenn ein Muster Bestand haben soll. Sobald wir dies erkannt haben, haben wir den ersten Schritt in Richtung auf ein Verständnis von Verunreinigung getan. Er führt uns nicht zu einer klaren Abgrenzung von Heiligem und Profanem: Das gleich Prinzip gilt hier wie dort. Er führt uns auch nicht zu einer 3 speziellen Unterscheidung von primitiven und modernen Menschen: Wir unterliegen alle den gleichen Regeln. Nur daß die Regel des Musterbildens in der primitiven Kultur viel intensiver und umfassender wirkt, während sie in modernen Kulturen nur für abgetrennte, gesonderte Bereiche gilt. [...] Unreinheit ist nie etwas Isoliertes. [...] Die Vorstellung einer Verunreinigung ergibt nur einen Sinn im Zusammenhang mit einer umfassenden Denkstruktur, deren Hauptstützen, Grenzen, Randbereiche und inneren Unterteilungen durch Trennungsrituale aufeinander bezogen sind." (59f.) HV Kommentar: Versatzstücke des Zitats finden sich auf S.59-60. Wo entstehen Gefahren der Verunreinigung? Die Menschen früher sog. primitiver Gesellschaften bewohnen einen Kosmos, der die soziale Struktur mit umschließt. Ordnung und Unordnung in der sozialen Struktur ergänzen sich. Stellt Ordnung nur einen festen Satz von Möglichkeiten zur Verfügung, Verhalten zu realisieren, so birgt Unordnung ein nahezu unbegrenztes Repertoire an strukturellen Neubildungen. Erkennbare Unruheherde, die leicht zur Unordnung ausschlagen können, bilden marginale Situationen oder marginale Personen. Fügen sich erstere nicht in die überwiegend gültigen Alltagssituationen, so stehen letztere außerhalb der vorherrschenden sozialen Ordnung. Wer das Ungeordnete auf sich nimmt, dem wachsen ungeahnte Kräfte zu. Hauptquellpunkte für Unordnung stellen Hexerei oder Zauberei dar, mit denen die britische Sozialanthropologen sowohl während der späten Kolonialzeit wie in den frühen Jahren der Unabhängigkeit in Afrika häufig konfrontiert waren. Auch marginale Zustände werden als gefährlich wahrgenommen. Prototypisch gilt dies für Initiationsriten, die die Fährnisse des Übergangs von einem sozialen Status zum nächsten, z. B. vom Jugendalter zum Erwachsenendasein, auf dramatische Weise erfassen. Im Zustand der Marginalität sind die Initianden unberechenbaren Kräften ausgeliefert. Verschiedene soziale Orte, räumliche Zonen, entfalten ihre je eigenen bedrohlichen Kräfte - und zwar gerade auch in der "ungeordneten Sphäre, den Grenzgebieten, unklaren Trennlinien mit dem Bereich jenseits der äußeren Grenzen" (129). HV Kommentar: S.129. Die gängigen Gefahren werden durch Unglücksfälle manifest; gewöhnlich gehen sie auf menschliche Verursachung, d. h. eine schwerwiegende Regelverletzung, zurück. 4 Offensichtlich stehen die spirituellen Kräfte in einem Verhältnis zur sozialen Struktur, und zwar besonders zu Autoritätspositionen, denn diese werden von Personen ausgefüllt, die leicht einen Verdacht auf sich ziehen, da sie sowohl andere "gefährden" können als auch "selbst gefährdet sind" (131). HV Kommentar: S.131. Wenn "etwas Unvorhergesehenes" geschieht, lauert im Umkreis sozialstruktureller Ambivalenzen und Widersprüche Gefahr. Sie ergreift vor allem Menschen in "Zwischenpositionen"; z. B. den Mutterbruder in patrilinearen oder den Vater in matrilinearen Gesellschaften. In der Ambivalenz sozialer Beziehungen gedeihen Hexereibeschuldigungen (135). HV Kommentar: S.135. Der menschliche Körper als soziales Modell Als Modell für die Symbole von Mythen und Riten ist der Körper außerordentlich ergiebig. Ein Körper kann ja schon allein dadurch, daß er als gesund oder krank, kraftvoll oder gebrechlich wahrgenommen wird, das Vorbild für einen anzustrebenden oder abzulehnenden Zustand sein. Dank seiner spezifischen Gestalt besitzt der Körper eine metaphorische Potenz: Sowohl seine äußerliche Begrenzung, seine abgerundete Geschlossenheit als auch seine Öffnungen, die ihn zur Außenwelt hin porös machen und durch die zugleich eine sinnlich wahrnehmbare Stofflichkeit (Sekrete, Exkremente usw.) nach außen dringt, können ins Bild gerückt werden. Einzelne Körperteile können in den Brennpunkt gerückt werden und in Mythen und Riten sich einer besonderen Aufmerksamkeit erfreuen. Vom Körper, von körperlichen Eigenschaften, samt überraschender Transformationen, wird in vielen Mythen erzählt (es sei nur an purusha, den ersten Menschen in der vedischen Mythologie, erinnert). Sein choreographisches und mimetisches Ausdrucksvermögen kommt in Riten und Tänzen, sogar noch in therapeutischen Operationen, zum Vorschein. Verschwiegen sei auch nicht der Grenzfall des Körpers, der als Leichnam zu zerfallen beginnt, denn er bildet eine Wahrnehmung, die sich der sozialen Umwelt als ein so geballter sinnlicher Eindruck auferlegt, daß man sie durch ein Ritual unter Kontrolle hält. Aber schon körperliche Rohstoffe wie Haare und Nägel können als herrenloses Material, wenn sie in die falschen Hände geraten, ihrem ursprünglichen Besitzer gefährlich werden. Seine prekären Zonen - die Körperöffnungen - sind offensichtlich für die religiöse Vorstellungswelt am wichtigsten. Sie können sich als Gefahrenherde entpuppen. Ihnen muß 5 man mit sorgfältiger Pflege und besonderer Umsicht begegnen. Im übrigen umhüllt schon im profanen Leben das gesellschaftliche Auftreten eine körperliche Etiquette. Im Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit läßt sie die betroffenen Individuen erleben, wie unentbehrlich die Integrität und Kontrolle des eigenen Körpers für die Selbstbehauptung sind. Körperausscheidungen kündigen gleichsam den materiellen Zusammenhang mit dem Körper und seiner Oberfläche auf; sie verselbständigen sich. Sie sind gleichsam in ein soziales Niemandsland eingetreten und könnten vielleicht eine noch namenlose Gefahr heraufbeschwören. Wohl am häufigsten sind Ausscheidungen im Geltungsbereich der Zauberei anzutreffen (159). HV Kommentar: S.159. Mary Douglas versucht das Phänomen der symbolischen Verwendung des Körpers - genauer, seiner jeweils relevanten Eigenschaften - durch einige Leitsätze herauszupräparieren: - Kulturen machen einen selektiven Gebrauch von Körpersymbolen; - "alle Randbereiche [sind] gefährlich" (oder bieten sich als Gefahrenzonen an); - Körperöffnungen erscheinen als besonders verletzlich (womöglich, weil sie als Grenzbereiche, Schnittstellen von außen und innen, bedeutsam sind), daher auch für eine symbolische Verwendung besonders geeignet (160). Als ein hervorragendes Beispiel dafür, wie sehr Reinheitsvorschriften und Unreinheitsgefahren auf den Körper als soziales Modell angewiesen sind und so zugleich eine Gruppe als festen Bestandteil eines hierarchischen Systems kenntlich machen, können die Coorgs in Indien angeführt werden. Ihnen hat der indische Ethnologe Srinivas eine eindringliche Monographie gewidmet. 4 HV Innerhalb des Kastensystems scheint es darauf anzukommen, Trennungslinien nach außen wie nach innen - vom Standpunkt der jeweiligen Gruppe aus - festzuschreiben. Daher ergibt die Metapher eines Körpers, dessen stoffliche Transaktionen mit der Außenwelt geregelt und kontrolliert werden müssen, das geeignete Vorbild für ein arbeitsteiliges und hierarchisches Gesellschaftssystem. Von ihrer Position in der sozialen Pyramide aus hat es für eine Gruppe den Anschein, als gähnte unter ihr ein Abgrund von "Strukturlosigkeit, gegen [den] Barrieren errichtet werden müssen" (163). 6 Kommentar: Einige Grundzüge des sozialen Systems der Coorgs werden auf S.162ff. zusammengefaßt. HV Kommentar: S.163. Die Coorgs, als "isolierte Gemeinschaft", die " in einer abgeschiedenen Bergregion" siedelten, hatten gleichwohl einen Platz innerhalb des Kastensystems; als Minderheit entsprachen sie einer Subkaste. Anbetrachts der ungewissen Position innerhalb des Systems wie der Sorge um die Selbsterhaltung stand der Körper als imaginäre Größe bereit, in dessen Bild sich Antworten auf viele Ängste finden ließen. Aufkommende Befürchtungen gegenüber den körperlichen Sekreten, den Exkrementen und dem Verfallsprozeß von Leichen trafen im Bild des Körpers auf Resonanz und ließen sich durch die Gegenmaßnahmen der Reinheitsvorschriften bändigen. Das Modell des Körpers fungierte als "Brennpunkt für Ängste", der dank der spezifischen symbolischen Bewältigung, die bis in alltägliche Handlungen übergreift, Energien für die Stabilisierung des hierarchischen Systems aktiviert (163ff.). HV Kommentar: S.163-65. Für ein soziales System ist der Zugang und Abgang von wesentlichen Elementen wie etwa von Personen oder von Dingen gleich lebenswichtig. Transaktionen, die im kleinen den individuellen Körper betreffen und im großen den Körper der Gesellschaft angehen, unterliegen zwecks einer geregelten Selbsterhaltung der Kontrolle. Am Körper-Modell treten zwei besonders sensible Stellen des sozialen Kosmos in Erscheinung: die Rolle der Frauen und die der Nahrung. 5 HV Kommentar: Was die Rolle der Frauen betrifft siehe S.165f., die der Nahrung S.166ff. In der Erhaltung der Kastenhierarchie spielt die Sexualität bzw. die Fruchtbarkeit eine große Rolle. Der Zugang zur Gruppe ist qua Heirat oder qua Geburt geregelt. Die Zugehörigkeit zu einer Kaste erwirbt man über eine Frau, d. h. die Mutter. Das sexuelle Verhalten der Frauen, sei es vor der Ehe, sei es nach der Heirat, ist von symbolischen, normativen Reglementierungen rigoros eingehegt. Was von der einen Seite die gewissenhafte Befolgung von Reinheitsvorschriften ist, hat seine Kehrseite in den Sanktionen gegen Verunreinigung. Frauen müssen rein sein, in dieser Regel verschränkt sich der Eintritt in die Ehe mit dem Verbleib in der Kaste. Die sexuelle Reinheit der Männer wird dagegen weniger penibel abgewogen. Auf ihnen lastet eine andere imaginäre Hypothek. Der Mann wird vielmehr "von der Sorge um seinen Körper und dessen Grenzen" umgetrieben (166). Er erscheint in der sozialen Imagination wie HV Kommentar: S.166. ein zerbrechliches Gefäß, das seine kostbare Substanz im Kontakt mit Frauen verlieren kann: D. h. er muß sich vor allem davor hüten, seinen Samen zu verschwenden. - Welche Last diese strengen Beschränkungen und tiefsitzenden Befürchtungen für das wechselseitige Verhältnis bzw. Verständnis der Geschlechter bedeuten, lasse ich dahingestellt. 7 Die Perspektive des sozialen Ein- und Austritts erstreckt sich auch auf die Transaktion, die Verarbeitung und die Einnahme von Nahrungsmitteln. Vor dem Hintergrund der symbolischen Prozesse in einem Kastensystem, mit der Metapher des Körpers als Dreh- und Angelpunkt, wird diese Problematik besonders deutlich. Inwieweit verunreinigt gekochte Nahrung? Inwieweit kann Verunreinigung durch Nahrung bzw. Essen übertragen werden? Was ist Kochen? Für die Gefahren, die von der Nahrung ausgehen können, hält Douglas eine Erklärung bereit. Sie erblickt einen Ausgangspunkt darin, "daß Nahrung überhaupt nur dann als verunreinigend angesehen wird, wenn die äußeren Grenzen des sozialen Systems unter Druck stehen" (167). HV Wie jede komplexe Gesellschaft beruht das Kastensystem auf einer ausgefeilten Arbeitsteilung, Kommentar: S.167. - und so kommt das fertige Essen am Ende einer Kette von Tätigkeiten, an der mehrere Leute beteiligt sein können, zustande. Diese Tätigkeiten sind in unterschiedlichem Grade mit Unreinheit belastet, die ihnen die elaborierte Symbolik der Kastenhierarchie zuschreibt. Vor der Einnahme des Essens muß ein symbolischer Bruch gegenüber jener sozialen Sphäre vollzogen werden, aus der eine Verunreinigung droht - und wie könnte das anders geschehen, als daß das Kochen "reinen Händen anvertraut wird" (168) . HV Kommentar: S.168. Gefahren der Verschmutzung können im sozialen Verkehr zwischen hierarchisch strikt voneinander getrennten Gruppen - die Coorgs veranschaulichen das - besonders virulent werden und lassen dadurch das Verlangen nach Reinigungsriten dringlich erscheinen. Grenzziehungen nach innen, drohende Verunreinigung und moralische Konflikte Gesellschaften oder Gruppen grenzen sich nach außen ab oder sie halten, in einem hierarchischen System, nach unten Abstand. Ebenso kann man im Innern einer Gesellschaft auf "Trennlinien" stoßen, die von den Akteuren zu beachten sind. Charakteristische Beispiele sind Inzest, Ehebruch und Totschlag, sobald sie innerhalb eines engen sozialen Feldes (Mitgliedern eines Klans u. dgl.) begangen werden. In diesem Fall werden die "inneren Trennlinien" verletzt (170), die ihren Kreis um nahe Verwandtschaftsgrade HV Kommentar: S.170. schlagen. Selbst dann, wenn hier Verhaltensgebote besonders nachdrücklich eingeschärft werden, wird doch zugleich der Appell an das Gewissen laut. 8 Mit zwei exemplarischen Situationen kann diese Mischung aus Risiken der Verunreinigung, die dem Bruch eines starken Gebots entspringen, und aus dem Auftreten von Gewissenskonflikten veranschaulicht werden: Nehmen wir einen Fall aus Afrika, aus dem südlichen Sudan.6 Bei den Nuer wird ein Inzest HV dadurch manifest, daß der Betroffene post factum von einer Hautkrankheit befallen wird. Ist dieser kausale Zusammenhang erkannt, lassen rituelle Maßnahmen gegen die Unreinheit nicht Kommentar: Zu den Nuer im südlichen Sudan siehe S.171ff. lange auf sich warten. Der Verursacher hat ein Opfertier zu übergeben. Bei den Nuer tragen die Verbotsregelungen in bezug auf Inzest und Ehebruch zur "Integrität der sozialen Struktur" bei HV (173). Im Falle ihres Bruchs werden die Beziehungen zwischen den Gruppen gestört, die durch Kommentar: S.173. ein komplexes Bündel von Regeln, z. B. denen der Heirat oder des Beistands, geordnet sind. Beim Eintreten solcher Verfehlungen droht Unglück. Obgleich dem öffentlichen Bewußtsein die Vorschriften und Sanktionen bekannt sind, weicht der je einzelne Fall davon ab und es werden unterschiedliche Meinungen dazu geäußert. Die "moralische Mißbilligung" hält sich in Grenzen. Unter den Nuer ist zu beobachten, daß sich Moralkodex und Reinheitsvorschriften teilweise "überschneide(n)" (173f.). Anders gesagt: "Reinheitsvorschriften ..., die Inzest oder Totschlag HV Kommentar: S.173f. innerhalb der lokalen Gemeinschaft verbieten, zeigen eine größere Nähe zum Moralkodex" (174f.). HV Kommentar: S.174f. Eine alternative Gelegenheit zum Regelbruch, bei der eine innere Trennlinie mißachtet wird, ist der Ehebruch. Die "Verunreinigung durch Ehebruch" gefährdet (176), je nachdem wer der HV Verursacher ist, unterschiedliche Personenkategorien - sei es den betrogenen Ehemann, sei es Kommentar: S.176. umgekehrt die gebärende Frau oder seien es die Kinder eines Paares. Welche "ehelichen Rechte und Pflichten" sowie welche "Interessen und Vorteile" der beteiligten Parteien ins Spiel gebracht werden, definiert das Spannungsfeld, das durch den Ehebruch aufgebaut wird, und deutet die Richtung an, in der die ausgelöste Gefahr durchschlägt (177). Eine betroffene HV Kommentar: S.177. schwangere Frau kann eine Fehlgeburt haben, und der Missetäter wird eine Wiedergutmachung anbieten müssen. Viele Verunreinigungen in diesem moralisch-normativen Feld lassen sich "aufheben" - sei es durch ein "Reinigungsritual", sei es durch "Versöhnungsriten". Oft genügt jedoch die rituelle "Gegenhandlung" nicht. Man sieht "die rastlosen Anstrengungen ..., die unternommen werden, um die innere Einstellung und Gesinnung mit der öffentlichen Handlung in Einklang zu bringen. Der Widerspruch zwischen äußerem Verhalten und verborgenen Gefühlen ist häufig die Ursache von Furcht und Unglückserwartungen" (179). HV Kommentar: S.179. 9 Wir sind hier mit der paradoxen Tatsache konfrontiert, daß ein Problem oder Konflikt mit dem Akt der rituellen "Gegenhandlung" nicht vollständig ausgeräumt worden ist. Was wohl nichts anderes bedeutet, als daß die Unruhe moralischer Reflexionen innerhalb dieses engen sozialen Feldes selbst noch in den rituellen Vorkehrungen zu spüren ist , die eine Untat rückgängig machen sollen. Man kann das an den Versuchen bemerken, die moralische Kausalität nicht so sehr im Sinne eines Aufhebungsrituals auszublenden, als vielmehr die Verantwortung im Sinne eines Bekenntnisses, eines "Beichtritus", öffentlich festzuhalten. Sollte sich etwa in einigen Gesellschaften eine Tendenz manifestieren, daß Reinigungsriten in heftige Konkurrenz mit subjektiv empfundenen moralischen Konflikten, d. h. mit Gewissensbissen, treten? Werden Gewissenszweifel und rechtliche Ausgleichsprozeduren als die angemessenere Reaktion auf den Bruch von Tabus empfunden? Die Geschlechterfrage: Gefahren der Verunreinigung und interne Gewalt In außereuropäischen Gesellschaften können sich "strukturelle Widersprüche", genau wie in den westlichen auch, zu zentrifugalen Energien anstauen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt sprengen. Eine elementare Einsicht ist hier maßgebend: "In primitiven Kulturen ist die Unterscheidung nach Geschlechtern nahezu per definitionem die primäre gesellschaftliche Unterscheidung" (184). HV Kommentar: S.184. Häufig drücken die Institutionen Trennung und Gegensatz der Geschlechter aus, in dem sie etwa durch Reinheitsvorschriften die internen Trennlinien hervorheben. Es überrascht daher kaum, die Aussage zu lesen, daß das "Zusammenwirken der beiden Geschlechter" (183) als ein In den verschiedenen sozialen Formen, die sich der Durchsetzung bzw. der Erhaltung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern annehmen, ist ein Kriterium entscheidend: die Entfesselung oder die Zähmung von Gewalt (oder womöglich auch ein Vor-sich-hin-Schwelen des Antagonismus). Douglas' Differenzierungen im Spektrum der Gewalt reichen von - HV Kommentar: S.183. zentrales Konfliktfeld der besprochenen Gesellschaften diagnostiziert wird. dem Einsatz nackter Gewalt; dessen Ziel ist, die Vorrangstellung der erwachsenen Männer zu zementieren (184ff.); 10 - zur männlichen Hegemonie, die durch jurale Einschränkungen bzw. "Fiktionen" "abgepolstert" sein kann (186ff); - über ein Doppelspiel, in dem der männliche Vorrang zwar öffentlich anerkannt wird, aber HV inoffiziell, gleichsam hinter dem Rücken der Erwählten, den Frauen ein Raum gewährt wird, Kommentar: S.186ff. wo sie die männlichen Bemühungen konterkarieren können (195ff.); - bis zu den Gesellschaften, die mit "gravierenden Paradoxien" geschlagen sind (190ff.). HV Kommentar: S.195ff. HV Kurzum, steht die Chance, mit der Anwendung von Gewalt zu drohen in einem umgekehrten Kommentar: S.190ff. Verhältnis zur Verschmutzungsgefahr? Die Bereitschaft von Gesellschaften, Gewaltanwendung intern zuzulassen, schwankt mit den gesellschaftlichen Modellen und ihren Struktureigenschaften. Je nach der gröberen oder feineren Dosierung von Gewalt, die in das Verhältnis der Geschlechter einfließt, scheinen sie stärker oder schwächer durch Unreinheit bedroht zu sein. Die in den Fallstudien anklingenden Sozialmodelle verweisen auf das Ausmaß, in dem mit Verunreinigungen und den dazugehörigen Gefahren jeweils zu rechnen ist. - Ein einfacher Sachverhalt gilt offenbar immer dann, wenn die Anwendung "physischer Gewalt" nahezu unbeschränkt möglich ist. Zu den zentralaustralischen Walbiri, einer Ethnie von Jägern und Sammlern, ist festzustellen: "Wenn die männliche Vorherrschaft als zentrales Prinzip der sozialen Organisation angesehen wird und ohne Einschränkungen und mit dem vollen Recht zum physischen Zwang gilt, ist es wenig wahrscheinlich, daß der Glaube an eine geschlechtliche Verunreinigung besonders stark entwickelt ist" (186). HV Kommentar: S.186. - Anarchisch-wettbewerbsorientierte Gesellschaften wie etwa die der Nuer (die segmentär organisiert sind), weisen den Frauen einen relativ unabhängigen Status zu (sie sind "auffallend frei") (187). Da aber zugleich ein hoher männlicher Status aus paternalen Rechten resultiert, HV Kommentar: S.187. bringen sie es fertig, "ihre sozialen Institutionen ohne den beschwerlichen Glauben an geschlechtliche Verunreinigung zu organisieren"(188). HV Kommentar: S.188. - In Gesellschaften des 'Doppelspiels' kann männliche Vorherrschaft durch diverse Prinzipien relativiert werden - indem etwa den Frauen Schutz gewährt werden muß oder indem der Status der Männer durch Rechte, die über Frauen vermittelt sind, definiert wird. Letzteres trifft für die Lele aus dem Kongo zu. Ihr soziales System krankt "beständig an dem Widerspruch zwischen dem männlichen Anspruch auf Vorherrschaft und den Schachzügen der Frauen" (195). In HV Kommentar: S.195. 11 einem matrilinear akzentuierten Verwandtschaftssystem können Männer über ihre Schwiegersöhne ein Gefolge aufbauen. Ihre Konkurrenz wird durch die Polygamie gesteigert, denn bei dieser Heiratsregel gehen die jungen Männer gewöhnlich leer aus. Für die Transaktionen, etwa den matrimonialen Austausch, sind die Frauen unentbehrlich: sie stellen so etwas wie die "Pfänder" dar, die die Männer in ihren "Prestigespielen" miteinander tauschen (197). Dennoch ist der Sinn für Gefahren wach, die durch Geschlechtsverkehr und durch HV Kommentar: S.197. menstruierende Frauen beständig provoziert werden können. Diese Furcht, d. h. die "Vorstellung einer Verunreinigung durch die Frauen", zehrt von der doppelten Rolle, die den Frauen aufgetragen ist: Sie sollen sowohl eine "Währung in den männlichen Transaktionen" darstellen, als auch Personen sein. Es entfaltet sich so ein "Antagonismus der Geschlechter", der in der Vorstellung gipfelt, das jeweils andere Geschlecht sei eine Gefahr für das eigene (199). HV Kommentar: S.199. - Die Gesellschaften, deren "Strukturen ..., auf einem gravierenden Paradoxon oder Widerspruch beruhen" und die keine mildernden "Fiktionen" zulassen, bieten in ihren Kosmologien den "Energien der Geschlechter" weiten Auslauf (190). - Auffällig an den Mae HV Kommentar: S.190. Enga, einer sehr kompetitiven Gesellschaft im zentralen Hochland von Neuguinea, ist, daß kriegerische Auseinandersetzungen ein Dauerzustand sind. Wo der Ehepartner grundsätzlich aus einer feindlichen Gruppierung gewählt wird, wundert es kaum, daß tiefes Mißtrauen zwischen den Geschlechtern regiert. Die Männer leben in ständiger Furcht vor der Verunreinigung durch die Frauen und dem daraus resultierenden Schaden für ihre Unternehmungen.7 HV Kommentar: Siehe S.190ff. für einige knappe Einblicke in das soziale Leben der Mae Enga. "Es scheint ..., als ob sich die Angst vor Verunreinigungen immer nur mit solchen Widersprüchen verbindet, die in irgendeiner Weise mit den Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu tun haben. Die Antwort mag darin liegen, daß kein anderer sozialer Druck potentiell so explosiv ist wie der, der diese Beziehungen einschränkt" (205f.). HV Kommentar: S.205f. Eine Aussöhnung mit Schmutz und Tod? Schmutz zuzulassen heißt aus Erfahrungen zu lernen; die produktive Rolle von Unordnung anzuerkennen. Der Umgang mit Schmutz setzt die Kenntnis einer weitgespannten intellektuellen Ordnung der Welt voraus, die über das Erkennen hinaus eine praktische Auseinandersetzung einklagt. Wer sich dagegen auf das Vorherrschen von Reinheit versteife, 12 besäße zwar eine übersichtliche und unbewegliche Realität, müßte aber dem Andrang des unablässigen Wandels schließlich weichen. Inmitten dieser gegenläufigen Prozesse zwischen Verunreinigung und Reinheit, zwischen Chaos und Ordnung ist der menschliche Körper mit seinen vielseitigen Möglichkeiten zu tatsächlichem wie symbolischem Gebrauch beharrlich präsent. "Wie wir zu zeigen versuchten, bietet der Körper ein Grundschema für alle möglichen Symbole. Es gibt wohl kaum eine Verunreinigung, die nicht irgendeinen primären physiologischen Bezug hätte. Da der Körper der Träger des Lebens ist, kann er nicht gänzlich verneint werden" (212). Mit dem Körper meldet HV Kommentar: S.212. sich die Erfahrung unüberhörbar zu Wort und selbst das für uns Modernen Symbolische ist einfach und selbstverständlich da. Es sollte uns nun nicht länger merkwürdig vorkommen, daß etwas überhaupt als Abfall oder Schmutz wahrgenommen wird. "Der Schmutz entstand durch die differenzierende Tätigkeit des Geistes, er war ein Nebenprodukt, das beim Schaffen von Ordnung anfiel" (209). Kulturen HV Kommentar: S.209. können anscheinend nicht anders, als mit umfassenden Klassifikationssystemen zu arbeiten, die es ihnen erlauben, unter den verabscheuten wie den abweichenden Dingen auszuwählen und sie unter den Bedingungen eines besonderen Umgangs festzuhalten oder ihnen den Zutritt zur Menschenwelt zu versagen (wie im Falle der Ermahnungen des Levitikus in der Bibel). Das Ungewöhnliche und Abweichende kann dadurch, daß es in den Ritus eingefügt wird, kanalisiert und gezähmt werden. Blicken wir nochmals auf die Lele vom Kasai (Kongo) (215ff.). Sie verfügen über ein HV Kommentar: S.215-25. Klassifikationssystem, das ihnen sagt, wie sie die Tierwelt einteilen sollen, welche Tiere ihnen als Nahrungsmittel zu empfehlen sind und welche zu meiden sich empfiehlt. Eine besondere Bewandnis hat für sie allerdings ein Tier, das Mary Douglas als "Wundertier" bezeichnet (217), HV Kommentar: S.217 u.ö. und das ein schuppiger Ameisenbär, ein Pangolin, ist. Das Tier wird von den Lele zwar im Alltagsleben gemieden, doch wird es zugleich auch in einem besonderen Kult verehrt. So auffällig es ist, hat das Tier mit der Fruchtbarkeit zu tun. Im Universum der Lele verbindet es besondere geistige Wesen und Kräfte, die die Tierwelt behausen, mit der Menschenwelt; und indem es die besonderen Gaben jener Sphäre in den Schoß der Menschen leitet, wird es zur Verkörperung von Fruchtbarkeit. Bedeutsam ist, daß das Tier sich selbst den Initianden des Kults als Opfer anbietet, daß es nach seiner Tötung von ihnen verspeist wird und daß sie zu besonderen Trägern von Fruchtbarkeit mutieren, die ihre Gabe weiterreichen. 13 Den Lele gelingt es, ein Tier, das als zweifelhafter Sonderfall eine Randstellung in ihrem geistigen Universum einnimmt, ins Zentrum ihrer Kultur zu rücken. Den Lele gelingt es, ein Tier, das durch die Maschen ihres Klassifikationssystems hindurchfällt und also als ein verabscheuenswertes Lebewesen abgestempelt sein müßte, nicht nur nicht daraus auszuschließen. Daß der eigentliche Status dieses ausgefallenen Tieres revidiert werden kann, verdankt sich gewiß auch seiner zentralen Rolle während der Initiation: Indem sie vielmehr seine soziale Inkorporation als Selbstopfer darstellen, werten es die Lele zu einem Medium auf, in dem sich der Knoten ihrer sozialen Widersprüche, etwa der Folgen aus der Asymmetrie der Geschlechter, aufzulösen beginnt. Daß der Präsenz eines solchen 'ortlosen' Tieres wie des Pangolin nicht mit einem Bündel besonderer Reinigungsriten begegnet wird, verweist nachdrücklich darauf, daß gegenüber alternative Wahrnehmungen und Praktiken möglich sind. Daß der Umgang mit Lebewesen, die eine ungewöhnliche, schwer zu kontrollierende Gefahr heraufbeschwören, üblicherweise verboten ist, macht gerade eines deutlich: Sind sie an einen kulturell akzeptierten Ort zu versetzen, so könne sie schlagartig einen Bedeutungswandel vollziehen und gesellschaftliche Lebenskraft spenden. Douglas' Versuch, einen weiten ethnographischen Bogen von der heiklen Balance zwischen Schmutz und Reinheit, zwischen dem Bruch tabuisierten Verhaltens und rituellen Gegenmaßnahmen bis zu den großen existenziellen "Mysterien" wie dem Tod zu spannen, zielt womöglich auch auf den eben angesprochenen Bedeutungswandel. Der Schmutz hat bei diesem, dem letzten der Dinge, seine Hand ebenfalls im Spiel, und zwar vermutlich dank der unvermeidlichen Gegenwart einer Leiche und der gefährlichen Kräfte, die ihre Zersetzung in Bewegung setzt. - Aber die hier drohende Gefahr kann gelegentlich in "eine positive, schöpferische Funktion" umschlagen (228). HV Kommentar: S.228. Es gibt eben Gesellschaften, in denen die Verschmutzungsgefahr, die der Tote in sich birgt, sich einfach so, man weiß nicht wie, verzieht. Eklatant ist dieser anscheinend seltene Vorgang im Falle des freiwilligen Todes zu greifen, den der alte Speermeister bei den Dinka im Sudan auf sich nimmt (229f.). In vorgerücktem Alter und mit dem Schwinden der Kräfte erklärt sich der HV Kommentar: S.229f. Speermeister (der eine Art Priester ist) bereit, aus dem Leben zu scheiden. Bei einer letzten rituellen Handlung wird der alte Speermeister von jungen Männern niedergeschlagen. Da er den Tod freiwillig gewählt hat, können sich weder aus der gewaltsamen Tat noch aus dem 14 Leichnahm gefährliche oder böse Konsequenzen ergeben. Es ist so, als hätte diese freie Entscheidung, die offensichtlich aus dem Bewußtsein menschlicher Begrenztheit hervorgeht, zu einer totalen Umwertung in diesem Kapitalfall einer von einem Lebewesen ausgehenden Verschmutzung geführt. Die potentielle Gefahr, die aus dem Tod entspringt, verwandelt sich in einen Segen für die Gesellschaft. Eine Zwischenbilanz Wir wissen jetzt, woher der Schmutz kommt. Sein Ursprung sind Dinge, die in dem intellektuellen System einer Kultur keinen festen oder eindeutigen Platz finden. Sie treten als Gefahrenherde in Erscheinung. Wir wissen jetzt auch, wie sich die Unruhe und die Sorgen, die sie auslösen, bändigen lassen. Wissen reicht dabei allein nicht aus, sondern es ist nötig, Vorkehrungen ritueller Natur zu treffen: Vermeide es, Tabus, die solche zweideutigen Lebewesen betreffen, zu verletzen; brich keine Spielregeln, die einen übersichtlichen Kreis sozialer Transaktionen organisieren; sei umsichtig in sozialen Zwischenräumen, in denen diffuse oder widersprüchliche Autoritäten zum Zuge kommen; und reagiere prompt, falls Du wirklich die Gebote überschritten hast, mit rituellen Maßnahmen, die einen sich ausbreitenden Verschmutzungsherd verschwinden lassen ... So viele rituelle Regeln, die die Gefahren der Verschmutzung sichtbar machen und ihre Beseitigung garantieren sollen, antworten auf ebenso viele Möglichkeiten, daß sich Widersprüche zwischen Form und Formlosigkeit, zwischen dem starren Streben nach Reinheit und dem unvermeidlichen Auftreten von Schmutz in einem unvorhersehbaren sozialen Wandel Bahn brechen. Innerhalb einer Ethnologie, wie sie von Mary Douglas konzipiert worden ist, können wir erkennen, daß die menschliche Erfahrung von Ungewissheiten und Risiken und ihrer Bewältigung ebenso wirklich und bedrängend ist, wenn sie in einem uns völlig fremden Idiom von Verschmutzung und Tabuverletzung artikuliert worden ist. Wir müssen uns allerdings zu der Einsicht bemühen, daß Schmutz und Reinheit im Kontext von Tabus einen so starken metaphorischen, mythischen und rituellen Beiklang haben, daß im Falle ihres Auftretens menschliche Reaktionen von denen abweichen, die wir Europäer für selbstverständlicht halten. Hinweis auf eine steckengebliebene Rezeption 15 Das ausgiebig herangezogene Werk von Mary Douglas ist ein Klassiker der Ethnologie; Fachleuten und ethnologisch Interessierten ist es näher oder doch wenigstens vom Hörensagen her bekannt. 8 In der ethnologischen Religionsforschung hat dieses Werk keinen mustergültigen Frageansatz, d. h. ein Paradigma, ausgelöst. Am nächsten kamen dessen Fragestellungen, wenn auch nicht in der Weise, wie Unreinheit u.ä. mit anderen Begriffen verknüpft wurde, noch diejenigen Ethnologen, die sich mit den Religionen Indiens befaßten. HV Kommentar: Eine sehr konzise Darstellung des Werkes von Mary Douglas bietet die Monographie von Richard Fardon (1999). Sie enthält zahlreiche Hinweise auf die Rezeption in der angelsächsischen Welt. Ihre wichtigen religionsethnologischen Werke, Purity and Danger (1966) sowie Natural Symbols (1970), erschienen in einer Zeit der politischen Unruhe und eines sich anbahnenden Umbruchs in den Theorien, die in der Ethnologie dominierten. Während sich das erste Buch der vor allem symbolisch gedachten Zusammenhänge von Unreinheit, Ansteckung und Gefahr annimmt, die in außereuropäischen Kulturen ein großes Gewicht haben sollten, neigt das zweite Buch zu einer polemischen Abrechnung mit Zeittendenzen - unter der Losung "The Contempt of Ritual"9 - und zugleich zu einer kulturtheoretischen Neuorientierung. [Siehe Abschnitt 10. "Ausblick"] Es möchte ein theoretisches Modell bekräftigen, das einige systematische Korrespondenzen HV Kommentar: Siehe das gleichnamige Kapitel in Douglas (1982) sowie Douglas (1973) zur Unterbewertung von Ritual in der modernen Welt. zwischen Gruppenstruktur und Weltbild fixiert. Die bereits skizzierten Symbolisierungsmöglichkeiten des menschlichen Körpers, als einer Metaphernmaschine, werden als Ordnung stiftende Momente abermals ins Licht gerückt. Mary Douglas scheint am Ende Lesern und Leserinnen sagen zu wollen, daß wir rituellem Verhalten, so wie es auch unter uns modernen Menschen an den Tag drängt, seinen legitimen Ort nicht länger bestreiten sollten. Bald nachdem Douglas ihren komparativ angelegten Entwurf vorgelegt hatte, begann sich der Wind in den theoretischen Debatten der Ethnologie zu drehen. 10 Einzelne zentrale Themen wie Verwandtschaftsforschung oder Begriffe wie Stamm bzw. Gesellschaft oder Methoden wie Feldforschung und Kulturvergleich wurden von der Kritik zerbröselt. Unter der harschen postmodernen Kritik, die sich etwa seit Mitte der 80er Jahre formierte, gerieten Begriffe und Methoden der Ethnologie nachhaltiger ins Wanken als das zuvor geschehen war. Die Vorwürfe von Eurozentrismus, Neokolonialismus und Rassismus - zu denen sich solche neueren Datums wie der des Sexismus und der fehlender Dialogizität hinzugesellten - waren auch schon im Repertoire der älteren Sozialkritik enthalten. Doch die kritischen Motive verlagerten sich allmählich: Früher schien es nur ein Mangel an aufgeklärtem Bewußtsein zu sein, der die mißratenen Begriffe am Leben erhielt. Jetzt war es der aufklärerische Impuls selbst (mit seinen gängigen Begriffen, Themen und Methoden), der in Mißkredit geriet. 16 HV Kommentar: Zum Stand der Dinge in der angelsächsischen Ethnologie um die Mitte der 80er Jahre vergleiche den Aufsatz von Sherry Ortner (1984). Für die Ethnologie in Mitteleuropa ziehe man etwa W.Schmied-Kowarzik & J.Stagl (1993) heran. Kulturvergleichende Forschungen wie etwa die von Douglas fielen nun weitgehend aus der Tagesordnung heraus. Wer sich an sie heranwagte, war vorläufig in den Sozialwissenschaften besser aufgehoben als in der mehr und mehr kulturverstehenden, von aufklärungskritischen Motiven unterfütterten Ethnologie. Ein Phänomen als 'religiös' zu bezeichnen, konnte leicht den Verdacht auf sich ziehen, europäischen Kategorisierungen zu erliegen. Wie sehr diese Kritik im allgemeinen oder im besonderen berechtigt gewesen sein mag, soll an dieser Stelle nicht überprüft werden. Ihre Tendenz sollte nur andeuten, wie schwer es ein Werk von dem intellektuellen Zuschnitt, den die Gedanken von Mary Douglas aufwiesen, haben mußte, in der Ethnologie Fuß zu fassen. Nicht nur versetzte sie die konservative Tendenz ihrer Kulturkritik rasch an den Rand ihrer Disziplin; vielmehr hat ihr auch der Anschluß an die Durkheimsche Auffassung von Gesellschaft, in der der Status quo von Beziehungen und Gruppen im Vordergrund steht und in der die intellektuellen Ordnungssysteme (wie z. B. die sozialen und anderen Klassifikationen) für die Integration unentbehrlich sind, eine dauerhaftere Resonanz in der Ethnologie vorenthalten. Auf den interdisziplinären Wegen, die sie sowohl mit Untersuchungen zu Risikowahrnehmung und Konsumverhalten tiefer in die Sozialwissenschaften hineinführten als auch mit religionsethnologischen Fragen an die Bibel in die Theologie verwickelten, ist ihr die Aufmerksamkeit der Ethnologie dann nur noch gelegentlich zuteil geworden. 17 Ausblick auf eine Theorie mit einem seltsamen Namen Die Hauptstoßrichtung ethnologischen Fragens in bezug auf einen Themenkomplex, der Schmutz, Abfall und Müll in modernen westlichen Gesellschaften beträfe, wäre die folgende: Wie werden Umweltprobleme von unterschiedlichen sozialen und kulturellen Gruppierungen wahrgenommen? Eine Gruppe mit den prägenden Bedingungen ihrer Selbstbehauptung und ihren kulturellen Vorannahmen wird dazu gebracht, sich in einer besonderen Weise zu einem ökologischen Gefahrenherd zu verhalten. Was wird von einer Gruppe überhaupt als ökologisches Problem wahrgenommen? Wie wird die von ihm ausgehende Bedrohung eingeschätzt? Auf welchen sozialen und politischen Wegen glaubt sie, Abhilfe schaffen zu können? Und wie verhält sie sich zu abweichenden Einschätzungen und Abhilfevorschlägen, die von anderen Gruppen oder Organisationen vorgebracht werden? In ethnologischer Perspektive ist vor allem die Einsicht ernst zu nehmen, daß das Wahrnehmen, Denken und Handeln - das kollektive mehr als das individuelle - in organisatorische bzw. institutionelle Zusammenhänge fest eingebettet sind. Um die soziokulturelle Determination der Akteure zu unterstreichen genügt es eben nicht, sich auf freischwebende kulturelle Bedeutungssysteme oder ihre Assoziation mit bestimmten sozialen Lagen zu berufen, die den Personen bei der Wahl zwischen mehreren Entscheidungen einen weiten Spielraum gestatten würden. So gibt es zwischen dem spezifischen sozialen und kulturellen Charakter einer Gruppe einerseits und dem Zuschnitt der Fragen und Antworten andererseits, die sie angesichts eines ökologischen Problems (z. B.) aufwerfen, einen notwendigen Zusammenhang. Sobald eine Gruppe gewisse kulturelle Vorannahmen hegt und sich zu einem gewissen Naturbild bekennt, werden Problemwahrnehmung und Lösungsvorschläge sich auch nicht in einem beliebigen Rahmen entwickeln. Das soll heißen: Sowohl bei der Wahrnehmung und Diagnose einer ökologischen Gefahr oder eines Unfalls wie auch bei den 'therapeutischen' Gegenmaßnahmen gehen die Akteure, die sich im Horizont unbewußter Gruppenzwänge und einer kulturellen Perspektive bewegen, hochgradig selektiv vor. Diese starke kulturelle und soziale Determinierung der Akteure führt diejenigen Gruppen, die ein ökologisches Problem identifiziert haben und seine Beseitigung betreiben wollen, unweigerlich in Konflikte mit den Meinungen und Strategien anderer, deren Gesichtsfeld durch ein abweichendes soziokulturelles Modell begrenzt ist. Je nach Art des Problemfeldes und der 18 darin erreichten Konfliktintensität kann die Chance auf eine Kooperation und Abstimmung der an der Situation beteiligten Parteien, und damit eine Lösung, in sich zusammenfallen. An eben diesem Punkt könnte ein ethnologischer Ansatz als produktiver Vermittler ins Spiel treten, der es fertig brächte, den kollektiven Akteuren die Selektivität ihrer kulturellen und sozialen Voraussetzungen vor Augen zu halten. 11 HV Für vertrackte Lagen wie diese, in die kollidierende Wahrnehmungen und Strategien angesichts vieler ökologischer Brennpunkte die beteiligten Gruppen versetzen können, haben sich Douglas und andere Forscher in ihrem Gefolge seit Jahren interessiert. Zur Befreiung aus dem Gestrüpp von Nichtverstehen und Handlungsblockaden haben sie an einer soziokulturellen Theorie Kommentar: Wie politische Gruppierungen, die von typischen soziokulturellen Vorannahmen ausgehen, Umweltgefahren wahrnehmen und welche Folgerungerungen zur Abhilfe sie aus ihren Wahrnehmungen ziehen, hat Douglas zuerst 1982 (gemeinsam mit A.Wildavsky) am Beispiel der USA untersucht. gearbeitet und diese nach häufigen empirischen Tests immer wieder revidiert. Wenngleich diese Theorie in ihrem begrifflichen Zusammenspiel noch in Bewegung ist, scheinen doch ihre Grundlinien festzustehen. Sie sollte überdies in der Hoffnung vorgestellt werden, daß die Ethnologie auch zu unwegsamen Problematiken, die in der modernen westlichen Welt herrschen, einen Beitrag zu Reformkonzepten liefern könnte.12 HV Eine gewisse Irritation könnte immerhin dadurch aufkommen, daß Mary Douglas, Michael Thompson & Co ihren theoretischen Ansatz seit langem als "cultural theory" bezeichnen. Auch wenn es im Bereich der ehemaligen Geisteswissenschaften nur weniges gibt, was nicht so firmieren möchte, so sollten wir uns nicht davon ablenken lassen, sie etwas bekannter zu machen. Ihre spezifische Differenz ist im übrigen, daß sie in der Kultur nicht nur ein Betätigungsfeld für das Verstehen sieht, sondern ihr vielmehr die Aufgabe anträgt, zur Erklärung von sozialem Verhalten beizutragen. Den vielfach aufgefächerten Bedeutungen von Kultur hat Douglas einen weiteren originellen Dreh versetzt. Kultur ist der Bestandteil einer Weltsicht, dessen 'innerstes' Ziel ein Streben nach Kohärenz aller Lebensbereiche ist; und so gibt sie ihren Trägern oder Mitgliedern ein Gefühl, sich nicht nur in der Welt orientieren sondern auch in ihr zu Hause sein zu können. Kultur zerfällt daher in zwei Komponenten: die eine spiegelt einen Sinn für Ordnung, der sich als System sozialer und anderer Klassifikationen darstellt; die andere besteht in so etwas wie Rechtfertigung, da diejenigen, die an einer Kultur teilhaben, sich immer wieder über die Bedeutung der verwendeten Ausdrücke und die vorgenommenen Einteilungen von Dingen, Lebewesen und Situationen verständigen müssen. Damit Menschen die Kohärenz ihrer Lebensweise erfahren können, müssen sie sich ab und zu vergewissern, ob und wie sie 19 Kommentar: Mary Douglas hat ihren kulturtheoretischen Ansatz erstmals in Ritual, Tabu und Körpersymbolik entworfen (vgl. auch das Kapitel "Cultural bias" in Douglas (1982)); und sie hat ihn, auch in Zusammenarbeit mit M.Thompson, A.Wildavsky, S.Rayner u.a., mehreren Revisionen unterzogen. welchen Gruppen angehören und in welchem Grade das eng- oder weitmaschige Netzwerk ihrer sozialen Beziehungen durchreguliert, d. h. von Normen und ähnlichen Spielregeln bestimmt ist. Die Verflechtung dieser beiden sozialen Dimensionen, einerseits die Gruppe, andererseits das ego-zentrische Beziehungsgeflecht - kurz als "grid-group" Schema bezeichnet - ist die Voraussetzung dafür, das sich eine 'existenzfähige Lebensweise' herausbildet. Auf der Suche nach der empirischen Vielfalt der menschlichen Lebensweisen entdeckt die "cultural theory", daß, wenn man die "grid-group" Schema enthaltenen sozialen Merkmale in ihren Variationsmöglichkeiten ausschöpft, letztlich nur vier 'existenzfähige' Grundmodelle übrigbleiben: ein hierarchisches, ein egalitäres, ein individualistisches und ein fatalistisches. Der Vorzug des "grid-group" Schemas liegt darin, daß es verschiedene Ebenen - die beiden sozialen Dimensionen, die kulturellen Vorannahmen ("cultural bias") und eventuell auch noch einige, jeweils voneinander abweichende Vermutungen über die Natur ("myths of nature") flexibel miteinander verzahnt. Auf diese Weise - durch die Variation der elementaren Bestandteile des Schemas - gelingt es der Theorie, den proportionalen Anteil der vier Grundmodelle an einer Gesellschaft ebenso zu berücksichtigen wie den oft sprunghaften sozialen Wandel einzubeziehen. Das Produktive an der Betrachtungsweise von Douglas, Thompson u.a. ist, daß sie die Gesamtheit einer Lebensweise im Blick zu halten versuchen und sich weigern, die kulturellen Vorannahmen (cultural bias) aus der Verflechtung mit den sozialen Beziehungsmustern herauszusprengen. Sie versuchen mit Hilfe der vorgeschlagenen Sozialtypologie vorausschauendes politisches Handeln auf lange Sicht zu erleichtern. Z. B. könnte es Verhandlungen auf einer der Ebenen des politischen Prozesses in eine günstigere Ausgangslage versetzen, wenn man die 'mentalen' Voraussetzungen und Spielräume der beteiligten 'Lager' berücksichtigte, um die Art und die Reihenfolge der Schritte, die den Weg zur Lösung eines Problems weisen, aufzuzeigen. Gewiß sollte man sich mit der Rede über Verhaltensvorhersagen zurückhalten, aber es lassen sich nun einmal wahrscheinliche und weniger wahrscheinliche Verhaltenserwartungen in bezug auf einen bestimmten Gruppentyp unterscheiden. Das Verhalten gegenüber einem ökologischen Mißstand samt der implizierten Abhilfe wird voraussichtlich an einer bestimmten Managementstrategie ausgerichtet, und nicht an einer anderen. Und es ist gerade die "cultural 20 theory", die die Wahl zwischen mehreren solcher Strategien mit plausiblen Gründen vorhersagen kann, unter der Voraussetzung, daß keine plötzlichen Umschwünge eintreten. Im Unterschied zur kulturellen Hermeneutik, die die grundsätzliche Annahme pflegt, jede Gesellschaft, vielmehr jede einzelne Kultur, sei ein besonderer Fall, dessen Öffnung sich nur einer besonderen Sensibilität erschließt und sich also dem Akt des Vergleichens entzieht, versteht sich die "cultural theory" als ein besonderer Kniff zur Reduktion von Komplexität. Für sie sind Kulturen oder Gesellschaften 'existenzfähige' Lebensweisen, die in der Empirie sich in ein Geviert einfügen, dessen Extrempunkte (oder Ecken) von den vier Grundmodellen dargestellt werden. Die "cultural theory" beharrt auf dieser typologischen Vereinfachung, weil sie sich das Recht zum Vergleichen nicht nehmen lassen möchte und weil sie den theoretisch exklusiven Gegensatz von Verstehen und Erklären nicht anerkennt. Im Unterschied zur kulturellen Hermeneutik eines Clifford Geertz und seiner Nachfolger, die häufig von der anarchischen Geste der Subversion eingefahrener Begriffe und der in ihrem Namen konstruierten Zusammenhänge zehrt, hat sich die "cultural theory" eher einer reformerischen Attitüde verschrieben. Sie möchte in einer hochkomplexen sozialen Welt - in einem sich globalisierenden Kapitalismus - immer dann eingreifen können, wenn es den wachsamsten, neugierigsten oder sensibelsten Beobachtern nötig erscheint. Ihr Anwendungsschwerpunkt ist derzeit gewiß das Feld der ökologischen Krisen; in anderen Erweiterungen, wie etwa in denen der Analyse von Politikfeldern, die sich z. B. mit der Implementation von Reformprojekten beschäftigt, wird sie neuerdings ebenfalls heimisch. Nachdem sie im Fall einzelner Problemlagen die jeweils gültige Konstellation von Sozialmodellen herausgefunden hat, ist sie bemüht vorherzusagen, welche Agenda von Lösungsvorschlägen im Hinblick auf einen gewünschten Zustand unter den gegebenen Voraussetzungen zu konzipieren und so eine möglichst weitgehende Zustimmung unter den Beteiligten zu erreichen wäre. Daß sie sich einem breiten Spektrum von Konflikten und Problemlösungsansätzen verschrieben hat und mit Interessenten - von staatlichen Agenturen über internationale Organisationen bis zu NROs - rechnet, könnte man, je nachdem, als ihre Stärke oder Schwäche interpretieren. 13 HV Kommentar: Einen relativ neuen Überblick über verschiedene Politikfelder - von den Umweltproblemen bis zur Europäischen Union bietet der von M.Thompson, G.Grendstad & P.Selle (1999) herausgegebene Band. 21 Literatur: Douglas, M. 1966 Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Frankfurt a.M. 1988 (zuerst engl. 1966). Douglas, M. 1973: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt a.M. 1986 (engl., 2.Aufl. 1973). Hans Voges! 11.7.07 23:19 Formatiert: Englisch (Großbritannien) Douglas, M. 1982:In the active voice. London 1982. Douglas, M. und Wildavsky, A. 1982: Risk and Culture: An Essay on the Selection of Technological and Environmental Dangers. Berkeley1982. Fardon, R. 1999: Mary Douglas: an intellectual biography. London 1999. Ortner, S. 1984: Theory in Anthropology Since the Sixties. Comparative Studies in Society and History 26 (1984): 126-66. Schmied-Kowarzik, W. und Stagl, J. 1993 (Hrsg.): Grundfragen der Ethnologie. Beiträge zur gegenwärtigen Theorie-Diskussion. Berlin 1993 (2.Aufl.). Thompson, M., Ellis, R.J. und Wildavsky, A. 1990: Cultural Theory. Boulder 1990. Thompson, M., Grendstad, G. und Selle, P. 1999 (Hrsg.): Cultural Theory as Political Science. Hans Voges! 11.7.07 23:19 Formatiert: Englisch (Großbritannien) London 1999. 1 Unter dem Werk von Mary Douglas versteht der Autor hier die beiden Bücher „Reinheit und Gefährdung“ sowie „Ritual, Tabu und Körpersymbolik“ (siehe unter Literatur). Diese beiden sind in ihrer theamtik wie in ihren Intentionen miteinander verschränkt. Die folgenden Quellenangaben beziehen sich auf „Reinheit und Gefährdung“ in der deutschen Fassung von 1988. 2 Zu den definitorischen Versuchen vgl. S. 20 (Religion) und S. 52 (Schmutz). 3 Godfrey Lienhardts Forschungen werden resümiert auf S. 91. 4 Einige Grundzüge des sozialen Systems der Coorgs werden auf S. 162ff. zusammengefasst. 5 Was die Rolle der Frauen betrifft siehe S. 165f., die der Nahrung S. 166ff. 6 Zu den Nuer im südlichen Sudan siehe S. 171ff 7 Siehe s. 190ff. für einige knappe Einblicke in das soziale Leben der Mae Enga. 8 Eine sehr konzise Darstellung des Werkes von Mary Douglas bietet die Monographie von Richard Fardon (1999). Sie enthält zahlreiche Hinweise auf die Rezeption in der angelsächsischen Welt. 9 Siehe dazu das gleichnamige Kapitel in Douglas/Wildavsky (1982) sowie Douglas (1973) zur Unterbewertung von Ritual in der modernen Welt. 10 Zum Stand der Dinge in der angelsächsischen Ethnologie um die Mitte der 1980er Jahre vgl. Ortner (1984). Für die Ethnologie in Mitteleuropa vgl. Schmied-Kowarzik/Stagl (1993). 11 Wie politische Gruppierungen, die von typischen soziokulturellen Vorannahmen ausgehen, Umweltfragen wahrnehmen und welche Folgerungen zur Abhilfe sie aus ihren Wahrnehmungen ziehen, hat Douglas zuerst 1982 (zusammen mit Wildarvsky) am Beispiel der USA untersucht. 12 Douglas hat ihren kulturtheoretischen Ansatz erstmals in Ritual, Tabu und Körpersymbolik entworfen (vgl. auch das Kapitel „Cultural bias“ in Douglas 1982); und sie hat ihn, auch in Zusammenarbeit mit Michael thompson, Wildavsky und Rayner u.a., mehreren Revisionen unterzogen. 13 Einen relativ neuen Überblick über verschiedene Politikfelder – von den Umweltproblemen bis zur Europäischen Union – bietet Thompson/Grendstadt/Selle (1999). 22 Hans Voges! 5.8.09 15:42 Gelöscht: e