der buddhismus in geschichte und gegenwart

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DER BUDDHISMUS IN GESCHICHTE
UND GEGENWART
Copyright @ Hans Gruber
Dieser Überblick gehört zum Buddhismuskapitel des Harenberg Lexikon der Religionen
(September 2002). Die im Folgenden kursiv gesetzten Lehrbegriffe werden im Teil Buddhismus von A-Z des Lexikons genauer erklärt.
1) Begriff und Bedeutung
2) Grundzüge des Glaubens,
3) Götter und Symbole
4) Geschichte des Buddhismus
5) Stifter und Leitfiguren
6) Spaltungen und Richtungen
7) Die bedeutendsten Schriften
8) Wichtige Institutionen
9) Heilige Stätten
10) Feste und Riten
11) Religion und Staat
12) Individuum und Gesellschaft:
1) Begriff und Bedeutung:
Der Buddhismus ist neben Christentum und Islam die dritte Weltreligion, die nicht weitgehend auf ein Volk beschränkt ist (wie Judentum und Hinduismus). Er geht zurück auf den
Inder Siddhârtha Gautama (560-480 v.Chr.), mit dem Sanskrit-Ehrentitel Buddha (zur
Höchsten Wahrheit „Erwachter“). Einer seiner Beinamen ist Shâkyamuni: „Der Weise aus
dem Shâkya-Geschlecht“. Denn die Familie der Gautamas gehörte zum Shâkya-Geschlecht,
das innerhalb der altindischen Ständeordnung Krieger und Adelige „Kshatriyas“ waren,
nicht Geistliche (Brâhmanen). Die Shâkyas regierten ein Fürstentum im Gebiet des heutigen Südnepal. Das Fürstenpaar Shuddhodana und Mahâmâyâ waren die Eltern des Buddha.
Südnepal bildet die Nahtstelle zwischen dem Himalaya, dem Tor zu Zentral- und OstAsien, und Indien, dem Tor zu Südostasien, Sri Lanka und Indonesien: Hier liegen auch die
späteren Verbreitungsgebiete des Buddhismus.
Die Verbreitung in Asien: Der Buddhismus ist das zentrale kulturelle Verbindungsglied
Asiens, also der Großregion, die heute neben Nordamerika und Europa wirtschaftlich wie
politisch führend ist Seine mentalitätsprägende Kraft im Morgenland gleicht der mentalitätsprägenden Kraft des Christentums im Abendland. Deshalb ist das Verständnis des
Buddhismus auch für all diejenigen notwendig, die beruflich mit der asiatischen Großregion
befasst sind. Aus dieser Einsicht ist etwa an der Hamburger Universität ein Hauptfachstudiengang „Buddhismuskunde“ geplant, der mehrere mit buddhistischen Ländern befasste
Fachbereiche einbezieht.
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Der Buddhismus ist in Form des frühbuddhistischen Theravâda (Lehre der Ältesten) heute
die maßgebliche religiöse Wertorientierung auf Sri Lanka (69 %), in Thailand (95 %,
Staatsreligion), Burma (89 %), Kambodscha (95 %, Staatsreligion) und Laos (60 %). Er ist
in Form des später entstandenen Mahâyâna (Großes Fahrzeug) gegenwärtig die größte
Religion in China (100 Millionen), Taiwan (43 %), Korea (49 %; Christen haben in Korea
mit 49 % und auf den Philippinen mit 84 % Ausnahmepositionen in Asien), Japan (101,6
Millionen Buddhisten, die häufig zugleich Shintoisten sind), Vietnam (55 %, mit einer
Theravâda-Minderheit) sowie Singapur (42,5 %).
Er ist heute in Gestalt des tibetischen Buddhismus (einschließlich des Tantrismus), der eine
ausgeprägte Mischform des gesamten altindischen Mahâyâna ist, vorherrschend in Tibet
(Staatsreligion, gegenwärtig Teil Chinas), Mongolei (90 %) und Bhutan (75 %, Staatsreligion). Ladakh und Zanskar als Staatsgebiete Indiens sind überwiegend tibetischbuddhistisch. Buddhistische Minderheiten gibt es in Sikkim (25 %, Teil Indiens) und Nepal
(7 %), beide tibetisch-buddhistisch, Bangladesch (0,6 %, Theravâda, mongolide Völkerschaft primär in den Chittagong Hills), Malaysia (17 %), Indonesien (1 %), auf den
Philippinen (3 %), in den letzteren drei Ländern handelt es sich überwiegend um wohlsituierte Chinesen, sowie in Russland (mongolide Völker, primär in der Autonomen
Republik Burjatien). Auf Indonesien gibt es (neben den Chinesen) seit 1955 auch einen
besonders aktiven einheimischen Theravâda-Orden. Im Abendland ist der Buddhismus
heute die am stärksten wachsende Religion.
Die Erforschung im Westen: Der französische Philologe Eugène Burnouf (1801–1852)
hat mit seinem Werk Einführung in die Geschichte des indischen Buddhismus (1844) die
Grundlage für dessen weitere wissenschaftliche Erforschung im Westen geschaffen. Dabei
stützte er sich ganz auf nie zuvor übersetzte, große Textsammlungen in mehreren Sprachen
(primär Sanskrit und Tibetisch, und beginnend auch Pali). Diese waren damals gerade erst
unter den Briten in Asien zusammengetragen worden. Burnouf machte erstmals bewusst,
dass alle Formen dieser Religion letztlich auf den indischen Kulturraum zurückgehen, den
Quellen des Sanskrit und Pali. Er prägte den Begriff „Buddhismus“. Bald danach kam es
zur ersten systematischen Auswertung der ältesten buddhistischen Texte in Pali, durch den
Briten William Rhys Davids (1843-1922) und den Deutschen Hermann Oldenberg (18541920). Ersterer gründete 1881 in London die „Pali Text Society“ für die Herausgabe und
Übersetzung der Quellen des Pali-Kanons. Oldenberg publizierte 1881 das grundlegende
Werk Buddha: Sein Leben, Seine Lehre, Seine Gemeinde.
Renaissance des Buddhismus: In der Buddhismuskunde spricht man von einer Renaissance des Buddhismus auf Java und Bali. Ein bekannter buddhistischer Lehrer der Niederlande, der frühere langjährige Mönch Dhammawîranâtha, steht in dieser Linie. Indien als
die Heimat des Buddhismus, aus der er im 12. Jh. verschwunden war, hat heute wieder eine
stark wachsende Minderheit von Buddhisten. Die Zahl zu China ist die offizielle Angabe
der kommunistischen Regierung, die in der Realität deutlich höher liegen dürfte. China ist
das bevölkerungsreichste Land der Erde (mit rund 1,3 Mrd Einwohnern). Es wird heute
auch in Bezug auf China von einer Renaissance des Buddhismus gesprochen. Die
exiltibetischen Siedlungen und Klöster in Indien und Nepal bilden große Anziehungspunkte
für die wachsende Zahl der westlichen Interessierten am Buddhismus. In diesen Ländern
gibt es vielbesuchte Kursstätten. Das Gleiche gilt für den südostasiatischen Raum und Sri
Lanka, wo es eine beträchtliche Zahl an Meditationsklöstern und Zentren gibt, die seit den
Sechzigern starken westlichen Zulauf haben. Das Interesse gilt auch den buddhistischen
Klöstern (besonders denjenigen des Zen) in Japan, Korea, Taiwan, Vietnam und China.
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2) Grundzüge des Glaubens:
Erste Drehung des Rades der Lehre: Die Grundlehre des Buddhismus
Der Buddhismus hat eine Sonderstellung innerhalb der fünf Weltreligionen, weil er keinen
Schöpfergott bzw. personalen Kern „Ewige Seele“ annimmt oder teilt. Der Seelenglaube
etwa gilt hier als eine primäre „Fessel“, welche für die „Endgültigen Befreiungsstufen“ auf
dem „Pfad der Edlen“ aufzulösen sei. Damit wird ein Mensch zum „Wahren Menschen“
oder Ariya (Edle, Edler). Der Buddha hat sich nicht als Propheten oder Sohn eines Gottes
betrachtet, sondern als voll erwachten Menschen, der anderen Menschen diesen „Inneren
Weg“ zum Erwachen weist. Er hat eine die (wahre) Natur (aller Dinge) zunehmend treffende, „Treffliche Sicht“ (Sammâ Ditthi) als das wichtigste Glied des Achtfachen Pfades
zur Befreiung des Nirvâna bezeichnet. Denn die Treffliche Sicht führt die anderen Glieder
des Befreiungsweges sozusagen an. Der Buddha:
„Hier geht Treffliche Sicht voran. Denn ein trefflich Sehender ist fähig zum Trefflichen
Entschluss. Ein trefflich Entschlossener ist fähig zur Trefflichen Rede. Ein trefflich
Redender ist fähig zum Trefflichen Handeln. Ein trefflich Handelnder ist fähig zum Trefflichen Lebenserwerb. Ein sich trefflich den Lebensunterhalt Verschaffender ist fähig zum
Trefflichen Bemühen. Ein sich trefflich Bemühender ist fähig zur Trefflichen Achtsamkeit.
Ein trefflich Achtsamer ist fähig zur Trefflichen Konzentration.“
Deshalb ist ein klar unterscheidender, doch zugleich wohlwollender Umgang mit anderen
Lehrmeinungen ein Hauptmerkmal der Reden des Buddha, wie sie mit den ältesten bestehenden Sammlungen (im Pali-Kanon des Theravâda) überliefert sind.
Stichhaltigkeit von Ansichten mit glaubwürdiger persönlicher Verkörperung stand im alten
Indien so hoch, dass sich häufig überzeugte Lehrer mit ihren Anhängern zur Lehre des
Überzeugenderen bekannten. Eine Lehre musste sich hier in der „testenden“ Redeauseinandersetzung bewähren können, sonst galt sie nicht viel. Dieses Prinzip wirkte auch
später fort. Auf den Konzilen in den Jahrhunderten nach Buddha kam es zu großen
Debatten, wie etwa das Werk Kathâ-Vatthu (Streitpunkte) des Pali-Kanons deutlich macht.
Am Anfang des tibetischen Buddhismus ereignete sich die zweijährige Debatte von Samye
(792 n.Chr.), auf der die Vertreter des chinesischen Chan- oder Zen-Buddhismus den Vertretern des indischen Mahâyâna-Buddhismus unterlagen. Daraufhin wurde großangelegt
alleine der letztere aus Indien eingeführt. Die Kunst der Debatte und Logik ist bis heute ein
Hauptfach an den tibetischen Klosteruniversitäten (auch im indischen Exil).
Die Vier Edlen Wahrheiten
Die „Vier Edlen Wahrheiten“ behandeln die Gründe, warum man den Befreiungspfad beschreiten sollte. In diesem Sinne sind sie Handlungsaufträge. Aber im gleichen Maße, wie
ein Mensch den Befreiungspfad verwirklicht, werden sie auch in befreiender Weise in ihrer
tiefgründigsten Bedeutung offenbar. Denn laut Kernaussagen des Pali-Kanons gipfelt der
Befreiungsweg gerade darin, dass einem die Vier Edlen Wahrheiten innerlich vollkommen
„aufgehen“. Es sind diese kontemplativen „Schauen“, die uns begütigend aus dem weisen
Antlitz der Buddhabildnisse ganz Asiens zulächeln.
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Der Buddha hat die Vier Edlen Wahrheiten (Ariya Sacca) bzw. Grundwahrheiten des Lebens mit seiner ersten Rede vom Andrehen des Dharma-Rades (Dhamma-Cakka-PavattanaSutta) verkündet, das seitdem durch die Weltkulturen rollt. In dieser Rede unmittelbar nach
seinem Erwachen machte er die Aussage: „Das Todlose ist realisiert“. Er sprach hier zu
seinen früheren fünf Weggefährten. Zwei Wochen danach verwirklichten sie die erste
Endgültige Befreiungsstufe des Stromeintritts. Die Vier Edlen Wahrheiten umfassen das
Leiden, die Ursache des Leidens, das Ende des Leidens sowie den Inneren Weg dahin. Sie
bringen den „Erlösungspragmatismus“ (laut Indologiepionier Erich Frauwallner) der Lehre
des Buddha in berühmt gewordener Weise zum Ausdruck.
Die Edle Wahrheit vom Leiden: Gemäß ihr sind (nur auf Basis des Lebensergreifens)
folgende Lebenserfahrungen „leidvoll“: Geburt, Altern, Tod, und Krankheit; Trennung und
Nichterlangen von Liebem; Zusammensein mit Unliebem. Der Erwachte resümiert es so:
„Die Fünf Aggregate des Ergreifens“ (dies heißt in dem Maße, wie sie ergriffen werden)
„sind leidvoll“. Die Fünf Aggregate sind gleichsam die Existenzbehälter, dies heißt alles
bedingt Entstandene. Dieses umfasst 1) sichtbar Körperliches oder Materielles, 2) Gefühle
und Empfindungen, 3) begrifflich bestimmtes Bewusstsein, 4) Willensformationen aller Art
sowie 5) vorbewusste, rezeptive Grundwahrnehmung. Es ist demnach also alleine das Ergreifen im Leben, das hier mit dem Leiden identifiziert wird. Im Abendland wird diese
Wahrheit häufig unzutreffend resümiert mit – „Das Leben ist Leiden“. Wenn dies zuträfe,
wäre im Leben eine Befreiung unmöglich. Mit diesem Resüme, das in den Reden des PaliKanons nicht vorkommt, hätte sich der Buddha selbst widersprochen. Denn die Befreiung
im Leben, das Nirvâna, ist das einzige Ziel seiner Praxislehre.
Die Edle Wahrheit von der Leidensursache: Sie behandelt die fortwährend wirksame
affektive oder auch kognitive Quelle dieses Ergreifens: „Der Durst nach Wiedergeburt, der
von Wollen und Verlangen begleitet hier und dort Gefallen findet, nämlich der Durst nach
den Sinnesgenüssen, der Durst nach Sein und der Durst nach Nicht-Sein.“
Die Edle Wahrheit vom Leidensende: Sie betont die Fähigkeit des Menschen, aus diesem
Durst herauszukommen – „das Versiegen des Durstes“; und alleine hinsichtlich des Durstes
– „das volle Seinlassen, Nichtmehranhaften, Sich-von-ihm-Befreien.“
Die Edle Wahrheit vom „Inneren Weg“ zum Leidensende, nämlich der „Edle Achtfache
Pfad“, der sich in die folgenden drei Pfadbereiche unterteilt – Ethische Motivation (Treffliche Rede, Treffliches Handeln und Trefflicher Lebenserwerb), Geistige Ruhe (Treffliche
Bemühung, Treffliche Achtsamkeit und Treffliche Konzentration) sowie Intuitives Wissen
(Treffliche Sicht und Trefflicher Entschluss).
Diese drei Bereiche verstärken sich wechselseitig. Ihre gemeinsame Quelle ist die Treffliche
Achtsamkeit, die allmählich die Höchste Wahrheit offenbart. Der historische Buddha hat
den Achtfachen Pfad als den „Mittleren Weg“ zwischen den Extremen der Selbstkasteiung
und der verlangenden Hingabe an die Sinnenwelt zusammengefasst. Der Erwachte wird
häufig mit einem Arzt verglichen, der eine nüchterne Krankheitsdiagnose stellt, bevor er
das Behandlungsmittel verschreibt. Die erste und die zweite Edle Wahrheit sind die
nüchterne Diagnose. Die dritte und die vierte Edle Wahrheit sind das Behandlungsmittel.
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Die Höchste Wahrheit oder Realität
Der Grundunterschied des Buddhismus zu den vier (mono)theistischen Weltreligionen (der
Hinduismus mit seinen vielen Göttern ist polytheistisch) gründet in seinem anderen Verständnis von der Höchsten Wahrheit oder Realität als das allbezogene „Nicht-Selbst“ (Anattâ). Diese buddhistische Sicht besagt, dass alles bedingt Entstandene stetig (weg)fließt
bzw. sich wandelt und deshalb letztlich nicht zu „tragen“ vermag, dies heißt im Grunde
„ungreifbar“ ist. Diese Drei Daseinsmerkmale (Flusshaftes Vergehen, Letztliche Ungreifbarkeit oder „das Nicht-Selbst aller Dinge“) sind als in der Erfahrung gesehene Tatsache
befreiend. Sie gelten als das „Herz des Buddhismus“ und ergeben sich bereits aus diesen
tiefgründigen Worten, die etwa als Buddhas „letzte Worte“ überliefert sind:
„Flusshaft-vergänglich ist alles bedingt Entstandene. Erarbeitet Euch unermüdlich die
innere Befreiung!“
Die universelle Geltung des Nicht-Selbst ist der Grund, warum der Buddhismus auch
keinen mystischen Gottesbegriff teilt. Laut letzterem ist „Gott“ nicht „personal außerhalb
der Welt“, sondern Welt und Mensch sind „seine Erscheinungen“, wie etwa Pater Wiligis
Jäger lehrt. Er ist heute der einflussreichste Vertreter einer Synthesebemühung des Christentums mit dem Zen. Die Mystik versteht also (das) „Gott“(-Selbst) als die „Wahre
Wirklichkeit“ der Welt oder die „Eine Wirklichkeit“ (dies heißt, dass es letztlich außer dem
Gott-Selbst nichts gäbe). Der Erwachte sieht das allbezogene Nicht-Selbst als die Wahre
Wirklichkeit der Welt (dies heißt, dass es letztlich außer derem Nicht-Selbst nichts gebe).
Der Buddha resümiert seine Haltung etwa im „Gleichnis von der Schlange“: „Ich sehe
keine Lehre vom Selbst, die, wenn sie ergriffen wird, nicht Unglück, Wehklagen, Schmerz,
Kummer und Verzweiflung hervorbrächte.“ Denn eine Lehre von einem „Selbst“ (die Sicht,
dass dieses im höchsten Sinne real bestehe) widerspricht der Wahren bzw. „Selbst“-losen
Natur aller Dinge. So wirkt sie unbewusst als metaphysische Rückversicherung des
Bewusstseins von „Ich und Mein“. Denn das Unbewusste schließt hier: Was für die
Höchste Realität gilt (jenes „Selbst“ oder die Dualität), muss um so deutlicher dann auch
für meine Konventionelle Wahrheit oder Erfahrung zutreffen. Jene Herzlehre des Erwachten vom allbezogenen „Nicht-Selbst“ ist primär durch die weitverzweigte Bewegung
der von Helena Blavatsky begründeten Theosophie („Weisheit Gottes“) verstellt worden.
Diese trat just zu dem Zeitpunkt hervor (ab 1880), nachdem durch die abendländische
Wissenschaft unabweisbar geworden war, dass es neben den (mono)theistischen Weltreligionen noch eine weitere gibt, die sich von deren Kardinallehren klar unterscheidet.
Der Befreiungsweg in Trefflicher Achtsamkeit
Das zunehmende Verstehen dieser wahren „Natur der Dinge“ geschieht auf dem Achtfachen Befreiungspfad. Er unterteilt sich in jene drei „Schulungsgebiete“ Ethische
Motivation Sîla, Geistige Ruhe Samâdhi und Intuitives Wissen Paññâ, die sich wechselseitig aufbauen. Die Quelle dieses „Inneren Weges“ ist eine Treffliche bzw. Sehende Achtsamkeit (Sammâ Sati), die mit den „Vier Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit“ und dem
„Bewussten Ein- und Aus-Atmen“ entwickelt wird. Dies geschieht auf spontane Weise im
Alltag und eher systematisch durch Meditation (Bhâvanâ). So kommt die Treffliche Achtsamkeit allmählich mit jenem Wahren oder „Selbst“-losen Wesen aller Dinge in Einsichtsharmonie, offenbart es. Dieser Weg befreit von den Ursachen des Leidens; nämlich der
Identifikation mit den stetig fließenden, letztlich ungreifbaren Erscheinungen als das „Ich
und Mein“ oder ein getrenntes „Selbst“, der herumwerfenden „Fixierung“, bzw. der
(geistigen) „Rotation“ in Nichtsehen, Durst und Ergreifen mit deren Ablegern Innere
Zwänge. Die nach Buddha prägendste Größe des Buddhismus, Nâgârjuna, resümiert es so:
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„Die Befreiung bedeutet das Versiegen aller leidvoll bindenden Handlungen aus den
Inneren Zwängen. Diese begleiten die Vorstellungen des Menschen in Begrifflicher Verselbstständigung. Diese hat Fixierung zur Quelle. Diese vergeht im Sehen der Leerheit aller
Dinge von einem Selbst.“
Im Buddhismus ist die innerste Erfahrung des Menschen (bzw. die Vier Edlen Wahrheiten
und die Drei Daseinsmerkmale) die höchste Erkenntnisquelle. Eben aus diesem Grunde
steht hier jene Treffliche Achtsamkeit hinsichtlich der natürlichen Gegebenheiten von Körper oder Geist sowie Meditation (Bhâvana) als deren systematische Einübung im Zentrum
der Praxis. Der Erwachte hat diesem Thema berühmte Reden gewidmet. Er sagt etwa in der
„Rede von den Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit“ (Satipatthâna Sutta):
„Dies ist der Direkte und Eine Weg zur Läuterung der Lebewesen, zum Überwinden von
Traurigkeit und Wehklagen, zum Verschwinden von Leiden, Angst und Unzufriedenheit,
zum Erlangen der wahren Methode und zur Verwirklichung des Nirvâna, nämlich die Vier
Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit.“ Sie sind alles Körperliche, die Empfindungen,
Geistesqualitäten und Natürlichen Wahrheiten.
Die Treffliche Achtsamkeit wird in der Rede so definiert: „Bleibt fortwährend verankert in
eingehender Betrachtung des Körperlichen im Körperlichen: Entschlossen, klar wissend
und achtsam gegenwärtig, nachdem Verlangen und Bekümmern hinsichtlich der Welt abgelegt worden sind. Das Gleiche gilt für die Empfindungen (oder Gefühlsreaktionen),
Geistesqualitäten und Natürlichen Wahrheiten.“
Die meditativen Ansätze des Vipassanâ des frühen Buddhismus Theravâda beruhen direkt
auf diesen alten Achtsamkeitsreden des Buddha. Doch Achtsamkeit ist auch im späteren
Buddhismus bzw. Mahâyâna noch zentral; als Herz des Zen, beim Zazen und Shikantaza,
als Herz der höchsten Meditationsformen des tibetischen Buddhismus, dem Dzogchen
(Große Vollendung) der Nyingmapas und der Mahâmudrâ (Großes Siegel) der Kagyüpas.
Die tibetische Grundpraxis des Lamrim („Stufenweg“ zum Erwachen) der Gelugpas ist
gedanklich-analytisch; jedoch betrachtet sie dabei die Erkenntnisinhalte jener direkten
Achtsamkeit des frühen Buddhismus. In Shântidevas Hauptwerk Eintritt in den Wandel zum
Erwachen, der meistzitierten Quelle des ethischen Ideals vom selbstlosen Weltbefreier
Bodhisattva, ist die Achtsamkeit ebenfalls zentral. Ferner ist sie ein Hauptelement der Praxis von Nenbutsu und Tariki in der großen östlichen Reines-Land-Schule.
„Achtsamkeit“ ist also der Hauptbestandteil aller buddhistischen Grundlehren. Dies gilt
nicht für die Urtexte der monotheistischen Weltreligionen. Sie orientieren sich ihrem
Wesen nach an unverifizierbaren Dogmen (unpolemisch gesagt, denn der Begriff „Dogma“
spielt hier eine zentrale Rolle), die einfach objektiv unserer Naturerfahrung widersprechen,
wie „Ewiges Leben“, „Auferstehung von den Toten“, „Jungfrauengeburt“, Wunder wie ein
sich spaltendes Meer, um den Weg freizumachen, oder ähnlich die Kausalitätseinbildungen
hinter einem „Jüngsten Gericht“ und einer Erlösung aller Menschen durch einen Kreuzestod. Dem Erwachten gilt alles Leben als der Inbegriff des bedingt Entstandenen und deshalb
unweigerlich Vergänglichen. Er hat etwa ein „Ewiges Leben“ explizit als „vollkommen
närrisch“ zurückgewiesen (im „Gleichnis von der Schlange“ der „Mittleren Sammlung“).
Diese Grundhaltung prägt das Weltempfinden der gewöhnlichen Buddhisten in Asien in
einer unbewusst tiefgehenden Weise. Der schweizer Ordinierte im Theravâda der Ordensgemeinschaft, Ajahn Akiñcano, der lange Zeit in Thailand gelebt hat, betont etwa: „Es ist
sehr schwierig, einem Thailänder den christlichen Glauben an die Einmaligkeit des Lebens
nahezubringen: Da ist erst nichts. Dann lebt man 70 oder 80 Jahre, wird nach dem Tod
gerichtet und kommt ins Töpfchen oder ins Kröpfchen. Damit war dann alles vorbei: Das
wars, tut mir leid! Alles wandelt und verändert sich, alles erneuert sich, bloß beim
Menschen sei es ganz anders ... das scheint allen Erfahrungswerten zu widersprechen.“
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Der Buddhismus ist keine Glaubenslehre. Er ist eine Praxislehre, mit der eigenen Erfahrung
und kritischer Prüfung als primärer Leitschiene der Befreiung. Im Vîmamsaka-Sutta etwa
führt der Erwachte Kriterien an, wie seine Lehre (sehr) kritisch zu prüfen sei. Erst wenn sie
einer solchen Prüfung standhalte, solle der nächste Schritt gegangen werden. Er hatte kein
Interesse an blinder Gefolgschaft. In seiner Praxislehre sind die „Drei Weisheitszugänge“
(Ti-Pannâ) die alleinige Quelle „Gültiger Erkenntnis“:
1) Durch Nachdenken oder Wägen erworbenes Verstehen (Cintâ-Mayâ-Paññâ);
2) Durch Hören oder Aufnehmen, Lernen oder Lesen erworbenes
Verstehen (Suta-Mayâ-Paññâ);
3) Durch Meditation erworbenes, Intuitives Verstehen (Bhâvanâ-Mayâ-Paññâ).
Grundvoraussetzung ist hier also das eigene Nachdenken. Ein „medialer Zugang“ zu höheren Mächten (Spiritismus), „Göttliche Offenbarung“ oder „Heilige Schriften“ sind hier
keine Quellen Gültiger Erkenntnis. Das macht beispielsweise die „Rede an die Kalâmer“
klar. Sie suchen den Buddha auf, weil sie sich von den Wahrheitsansprüchen der unterschiedlichen Meister verwirrt fühlen. Der Erwachte rät ihnen:
„Recht habt Ihr, Kalāmer, daß Ihr hier im Unklaren seid und Zweifel hegt. In einer Sache,
bei der man wirklich im Unklaren sein kann, seid Ihr es. Folgt nicht als geoffenbart angesehenen Lehren, altehrwürdigen Überlieferungen, der Autorität ,Heiliger Schriften’, der
landläufigen Meinung, bloßen Vernunftgründen oder Schlüssen aus reiner Theorie, dem
einnehmenden ,Charisma’ oder der vorgetragenen ,Größe’ eines Meisters. Aber wenn Ihr
tief in Euch selbst versteht: ,Diese Dinge sind heilsam, förderlich, von den Weisen empfohlen; und, wenn man sie akzeptiert und durchführt, bringen sie allseits Nutzen und
Glück’, dann solltet Ihr auch dementsprechend handeln.“
Das Zeitlose, Universelle Gesetz
Der Erwachte beschreibt den Befreiungspfad als das „Zeitlose, Universelle Gesetz“ oder die
„Natürliche Wahrheit“ Dharma (Das, was trägt oder hält), als kulturübergreifend. Wer den
Dharma auf seinem individuellen Wege zunehmend klar erkenne und beachte, verwirkliche
die wahre Befreiung von Herz oder Geist inmitten und für die Welt. Der folgende Vers des
Pali-Kanons wird in den Ordenstraditionen des Theravâda täglich feierlich rezitiert:
„Der Erwachte hat den Dharma wohl gewiesen. Dieser ist direkt einleuchtend, zeitlos
gültig, persönlich einladend, innerlich voranbringend oder von jedem, der weise ist,
individuell zu verwirklichen. Ich suche keinen anderen Freiort. Der Dharma sei mein einziger Freiort. Möge mir durch die Macht dieser Wahrheit der innere Sieg in Freude zuwachsen.“
In der Indologie gilt der Buddha nicht als Philosoph, sondern als „Erlösungspragmatiker“.
Er hat eine konsequente Praxislehre verkündet, die für das kurze und unberechenbare Leben
das Höchste will, solange die „goldene Chance“ dazu bestehe: Das Leben des Menschen.
Denn andere Existenzformen würden diese Chance kaum eröffnen. Der Erwachte sagt:
„Nur eines lehre ich, jetzt wie früher: Das Leiden und das Ende des Leidens!“ Einmal
nahm er im Wald eine „Handvoll Blätter“ und fragte, was mehr sei: Die Blätter in seiner
Hand oder die Blätter des Waldes. Nach der selbstverständlichen Antwort betonte er: „In
ähnlicher Weise ist auch das viel mehr, was ich erkannt und nicht verkündet habe, als das,
was ich verkündet habe. Warum habe ich jenes andere nicht verkündet? Weil es Euch
keinen Gewinn brächte, weil es nicht zum Versiegen der Inneren Zwänge, zum Frieden
durch Schau, zum Erwachen, zum Nirvâna führte, ist es unverkündet geblieben.“
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Im alten Indien sind natürlich genauso die „Großen Fragen“ gestellt worden; etwa ob das
Universum räumlich und zeitlich einen Anfang und ein Ende habe, wer es erschaffen habe,
ob das „Ich“ oder die „Seele“ im abstrakten Sinne existiere oder nicht, oder wie ein Erlöster
nach dem Tode bestehe. Als dem Buddha diese Fragen einmal (fordernd) gestellt wurden,
antwortete er mit einem berühmten Gleichnis: Ein Mann ist von einem Pfeil getroffen, und
ein Arzt wird geholt, damit er den Pfeil herauszieht. Doch der Getroffene sagt: „Ich lasse
mir den Pfeil nicht herausziehen, bevor ich nicht weiß, wer ihn abgeschossen hat, mit
welchem Bogen es geschehen ist, und aus welchem Material der Pfeil besteht.“ Der Mann
müsste sterben, bevor der Arzt handeln könnte. Ähnlich erginge es dem Suchenden, der
Antworten auf jene spekulativen Fragen wollte. Er müsste sterben, bevor er sie gefunden
hätte. Damit wäre ihm das Wichtigste im Leben entgangen: Die Beschreitung des Befreiungsweges. Der Erwachte beendet das Gespräch, indem er (ähnlich fordernd) betont:
„Deshalb, Mâlunkyâputra, was ich nicht gelehrt habe, lass nicht gelehrt sein, und was ich
gelehrt habe, lass gelehrt sein. Was habe ich gelehrt? Dies ist das Leiden, die Ursache des
Leidens, das Ende des Leidens und der Weg, der zum Ende des Leidens führt.“
Die ethische Rückseite des Inneren Sehens:
Die Vier Unbegrenzten oder „Wohnorte der Götter“ (Brahmavihâras)
Das Intuitive Verstehen der Höchsten, „Selbst“-losen „Natur der Dinge“ hat die ethische
Rückseite Liebe, Mitgefühl und Mitfreude in Gleichmut. In diesem Sinne bedeutet es auch
„Wahre Ethik“, wie etwa Ajahn Buddhadâsa betont. Mit Wahrer Ethik bewegt sich unser
Sinnen und Trachten ganz im „Selbst“-losen, ungespaltenen Allwesen. Dieses im Herzgeist
zu spüren heißt, ihm handelnd gerecht werden zu müssen. Ethische Motivation ist die
selbsttätige Übersetzung des noch inaktiven Sehens des „Nicht-Selbst“ im Geist in die
aktiven Handlungsmotive im Herzen. Anders gesagt: Das Intuitive Wissen Paññâ hat unweigerlich Konsequenzen für unsere Motive, sobald Handlungen erfolgen.
Der Buddha hat zwischen diesen beiden Ebenen nicht getrennt. Pali Chitta bedeutet genaugenommen „Herzgeist“ oder „Gefühlsgeist“, nicht abstrakt bzw. mental „Geist“. Das weise
Durchschauen der universellen Leerheit von einem „Selbst“ im letztlichen Nichtgetrenntsein aller Dinge bedeutet für unsere Handlungsmotive das Empfinden der Gefühle und
Sehnsüchte der anderen Lebewesen (die buddhistische Ethik umfasst ebenfalls die Tiere)
als Teil von sich selbst. Deshalb werden in den Reden des Pali-Kanons die dort
gleichermaßen wichtigen „Vier Unbegrenzten“ Liebende Güte, Mitgefühl und Mitfreude in
Gleichmut so begründet: „Sich selbst in allem wiedererkennend, durchstrahlt ein (Wahrer)
Mensch die ganze Welt mit einem Herzgeist voller Liebender Güte, Mitgefühl und Mitfreude in Gleichmut: Mit einem großen, erhabenen und unbegrenzten Herzgeist.“
In dieser Weise empfindet ein „(Wahrer) Mensch“ (Sappurisa) die Welt. Er teilt im
Innersten wissend das Verlangen der anderen Lebewesen nach Glück, ihr Leiden und ihre
Freude. Die Vier „Unbegrenzten“ (da nicht durch den Glauben an ein getrenntes „Selbst“
begrenzt) sind der buddhistische Inbegriff des offenen, aktiven Weltbezugs im zunehmend
spürenden Verstehen der Wahren, „Selbst“-losen Realität. Sie „sind“ die Ausweitung des
„Ich“ auf alle Dinge im letztlich untrennbaren Weltganzen. Mit den Vier Unbegrenzten
manifestiert sich das Intuitive Sehen der universellen Leerheit (in der Höchsten Wahrheit,
wo nichts ein „Selbst“ ist) in Form konkreter Motive (in der Konventionellen Wahrheit, wo
alles ein getrenntes „Selbst“ ist). Die Vier Unbegrenzten heißen auch die „Wohnstätten der
Götter“ (im eigenen Herzen) oder Brahmavihâras. Denn mit ihnen erfährt und verwirklicht
man göttliche Daseinsbereiche schon in diesem Leben (Jhâna).
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Der Weg des Erwachens bedeutet, dass die Begrenzte Wahrheit der Dualität und die Ganze
Wahrheit der Nicht-Dualität (im allbezogenen Nicht-Selbst) als gleichberechtigte Realitätsebenen hervortreten. So werden sie im „Weltempfinden“ (Denken, Sprechen und Handeln)
immer müheloser integriert. Auf diesem „Inneren Weg“ (so heißt der „Buddhismus“ etwa
in Tibet) wird die Volle Wahrheit zur tragenden Einsichts-, Freiheits- oder Herzens-Quelle,
während die Relative Wahrheit hier das konkrete Umsetzungs- oder Bewährungs-Feld von
Einsicht, Stille oder Herz ist (die Beiden Wahrheiten). Die Höchste Realität ist die letztlich
ungreifbare Innendimension und die Konventionelle Realität die nur greifbar scheinende
Außendimension des Lebens.
Die Krone des Weges: Tugend im Gleichmut
Der „Gleichmut“ (Upekkha), der im Pali-Kanon häufig vorkommt, ist die Freiheit von
Verlangen, Abneigung und Gleichgültigkeit; also im Gegensatz zu Gleichgültigkeit eine
von Bewusstheit oder tiefem Sehen getragene Herzensqualität. Ein Mahâyâna-Vers aus der
„Rede von der Blumengirlande“ (Avatamsaka-Sûtra) bringt es auf den Punkt: „Körper und
Geist gleichmütig: Innerlich und äußerlich befreit, stets verankert in wahrer Bewusstheit,
unverhaftet, nicht mehr hörig.“ Was uns am freien Antlitz der Buddhabildnisse Asiens im
Innern rührt, ist dieser sehende Gleichmut. Denn er ist das Versiegen des Leidens, wie es
im Sehen des Nicht-Selbst aller Dinge, im Schwinden von Fixierung, Begrifflicher Verselbstständigung oder Innerem Zwang eintritt. So erblüht auch die ethische Rückseite dieses
Sehens: Die anderen drei Unbegrenzten Liebe, Mitgefühl und Mitfreude.
Alles für andere und damit rückwirkend für einen selbst „Unheilsame Wirken“ (Akusala
Kamma) resultiert aus den Leidursachen Nichtsehen, Durst oder Ergreifen mit den Inneren
Zwängen (Kilesa). Nur die Qualität der eigenen Willensformationen (Karma) bestimmt, ob
glückvolle oder leidvolle Bewusstseinszustände bzw. Existenzbereiche erfahren werden
(Kreislauf der Wiedergeburten). Allein dieses innere Gesetz von Ursache und Wirkung
beim absichtsvoll Handelnden heißt Karma (Wirken, Rückwirken). Der Buddha definiert
Karma mit einem Wort: „Absicht“. Der Maßstab für eine Heilsame oder Unheilsame Absicht (für das entsprechende Karma) ist, ob bei anderen und damit letztlich einem selbst
Glück oder Leid hervorgerufen wird.
Im Gleichmut versiegt alles Unheilsame Wirken: In geistiger Hinsicht getriebenes Verlangen, Übelwollen und Mitgefühlslosigkeit; in sprachlicher Hinsicht Lügen, verleumderische Rede (Zwischenträgerei), Hassrede und Geschwätz; und in körperlicher Hinsicht Töten oder auch bewusstes Schädigen der naturgemäß stets an ihrem Leben
hängenden Lebewesen, die Aneignung von Nichtgegebenem (Stehlen), sowie ein Sexualverhalten, das für einen der Beteiligten (einer der beiden Sexualpartner oder eine verbundene dritte Person) vermeidbares Leiden bedeutet. Im Gleichmut versiegen alle unbewusst ins Unheilsame „treibenden“ Willensimpulse des „Ich und Mein“: Die „Drei
Wurzeln des Unheilsamen“ oder auch „Drei Geistesgifte“ (Akusala Mûla) Gier, Hass und
Verwirrung. Somit ist der Gleichmut identisch mit Tugend bzw. den „Drei Wurzeln des
Heilsamen“ (Kusala Mûla) Gierlosigkeit, Hasslosigkeit und Verwirrungslosigkeit.
Im Gleichmut werden wie von selbst die „Fünf Gelübde“ (Sikkhâpada) tief beachtet. In der
ganzen buddhistischen Welt sind sie das Herz jeder ernsthaften Laienpraxis. Sie werden
dort in den Klöstern von den Laien feierlich aufgenommen, aber auch gleichermaßen von
den westlichen Buddhisten, etwa auf den Meditationskursen oder in den Zentren. Sie bestehen im gezielt bewussten Ausschluss des primären körperlichen und sprachlichen Unheilsamen Wirkens; in anderen Worten heißt dies
1) Nichttöten und auch Nichtschädigen von Leben (das Erste oder Höchste Gebot des Erwachten oder Buddha);
2) Nichtnehmen von Nichtgegebenem (Nichtstehlen);
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3) Vermeiden jenes sexuellen Fehlverhaltens;
4) Nichtlügen;
5) Nichteinnehmen berauschender Substanzen, da diese eine „Quelle von Sucht, Streit,
Krankheit, Ansehensverlust und Schamlosigkeit sind“, sowie „die höhere oder befreiende
Einsicht schwächen“.
Die Vier Unbegrenzten Liebende Güte, Mitgefühl und Mitfreude mit ihrer Einbettung in
Gleichmut bedeuten natürlich auch „Tugend“, bloß in noch höherem Sinne, nämlich als die
aktiv heilsamen Gegenstücke zu allem Unheilsamen. Diese aktiv heilsamen Gegenstücke
sind (als die konkrete Umsetzung der Unbegrenzten in die Tat) Helfen und Nähren allen
Lebens, Freigiebigkeit, Geduld, Energie, versöhnendes oder einigendes Sprechen und Verhalten, wohlwollende Rede (was im Buddhismus mit Kritik und klarer Unterscheidung voll
kompatibel ist), und wahrheitsliebende, sinnvolle oder klare Rede.
Freigiebigkeit und Geduld haben unter den buddhistischen Laienanhängern Asiens einen
besonders hohen Stellenwert, weil sie der alltäglichen emotionalen Verhaftung an das
„Selbst“ besonders wirksam entgegenwirken. Dabei gilt es als besonders verdienstreich,
wenn man die buddhistischen Ordinierten unterstützt, die ihrerseits die Laienanhänger
spirituell durch Lehre und Zeremonie fördern. Dieses Wechselverhältnis ist dort zutiefst
etabliert. Wie weit das geht, zeigen auch dortige Alltagsfloskeln. In Sri Lanka etwa ist es
nicht üblich, „Danke“ zu sagen. Man glaubt hier nicht, dass der andere mit einer heilsamen
Tat ein Opfer vom „Ich“ gebracht habe, wofür man sich zu bedanken habe. Anstatt
„Danke“ wird ein mitfreudig gemeintes „Oh, Verdienst!“ gesagt. So wird hier fast neidvoll
zum Ausdruck gebracht: „Mit dieser heilsamen Tat hast Du Dir selbst etwas echt Gutes
getan.“ Auch „Wie geht es Dir?“ ist in buddhistischen Ländern nicht gebräuchlich.
Die buddhistischen Fünf Gelübde finden sich heute in wachsenden religiösen Bewegungen
wieder, weil sie offenbar auch von Nichtbuddhisten als ideales Ethikresüme empfunden
werden. Der katholische Theologe Hans Küng etwa vertritt sie heute (außer dem fünften)
als sein „Weltethos“ weltweit. Mit seinem Werk „Spurensuche: Die Weltreligionen auf dem
Weg“ hat er die „Spuren“ (als Anfänge) des Christentums in den anderen Religionen gesucht, gerade in einer Zeit, wo diese im Westen immer attraktiver werden.
Die vietnamesische Neureligion „Caodaism“ (fünf Millionen Anhänger; „Cao Dai“ gilt als
„Gott, der Vater, das höchste Wesen, der Schöpfer, die Letztliche Wirklichkeit des Universums“) ist hauptsächlich von Christentum und „Theosophie“ (Weisheit Gottes) getragen,
verschmilzt wie die Theosophie die Welttraditionen des Spiritismus und beruht auf menschlichen „Medien“ mit angeblich direktem Kontakt zu „Cao Dai“. Sie betont: „Adepten
werden aufgefordert, den grundlegenden Werten aller Weltreligionen zu folgen, wie sie in
den fünf Ausschlüssen stehen.“ Nun kommen (außer Nichtstehlen) die buddhistischen Fünf
Gelübde (Nichtlügen wird betont in zwei Gebote unterteilt).
Zweite Drehung des Rades der Lehre:
Das „Große Fahrzeug“ Mahâyâna
Das „Große Fahrzeug“ Mahâyâna trat ab der Zeitwende im alten Indien hervor und mit der
Dritten Drehung des Rades der Lehre ab dem fünften Jahrhundert das „Diamantfahrzeug“
Vajrayâna bzw. der tantrische Buddhismus. Sie waren die Quelle der großen Traditionen,
die ganz Zentral- und Ostasien geprägt haben. Die altindischen Fundamente dafür entstanden im ersten Jt. n.Chr.. Das primäre Motiv zum Mahâyâna war, den inneren
Befreiungsweg möglichst breitangelegt zugänglich, d. h. leicht begehbar zu machen. In
diesem Zusammenhang wurden nun etwa das Mitgefühl mit allen Wesen zum
„entscheidenden“ Beweggrund der nach Befreiung Strebenden. Damit rückte das alte Ideal
vom Bodhisattva ins Zentrum, aufbauend auf jenen Vier Unbegrenzten oder
Brahmavihâras des frühen Buddhismus Theravâda. Dieser galt nun abwertend als das
„Kleine Fahrzeug“ (Hînayâna) einer reinen „Selbsterlösung“, gegenüber dem überlegenen
„Großen Fahrzeug“, dem Mahâyâna, das zahlreiche Lebewesen zur Befreiung führe: Eine
Unterscheidung des Mahâyâna, die sich durch die Jahrhunderte ziehen sollte.
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Die zur Zeitwende beginnende Verbreitung zuerst nach China förderte rückwirkend die
altindischen Basisentwicklungen. Denn der Buddhismus sollte für die ihn jetzt einführende,
höchst pragmatische Großmacht noch attraktiver werden. Die ausgeprägte Form des altindischen Mahâyâna trat erst hervor, nachdem China im 1. Jh. n.Chr. ein klares Interesse
am Buddhismus gezeigt hat.
Drei Unterschiede zwischen Mahâyâna und Theravâda
Die Hauptunterschiede zwischen dem Mahâyâna und dem Theravâda betreffen drei Bereiche: 1) Das Verständnis von der Höchsten Wahrheit oder Realität, die mit der Inneren
oder Intuitiven Schau befreit. 2) Das Verständnis vom Buddha, der diese Höchste Wahrheit
verwirklicht hat. 3) Das Verständnis vom Weg des Menschen dahin.
1) Die Sicht von der Höchsten Wahrheit: Im Mahâyâna wird die Höchste Wahrheit zunehmend konventionell vorstellbar, also zu einem „absoluten Sein“, das „jenseits“ der
menschlichen Erfahrung liegt, zum metaphysischen oder ganz anderen „Gegenstück“. Laut
dem historischen Buddha ist das Nirvâna kein transzendentes „Absolutes“, sondern
daseinsimmanent. Im Pali-Kanon gilt es zwar als unmittelbar realisierbar, doch nicht als
konventionell vor-stell-bar oder begreifbar; d. h. nicht als ein „Selbst“. In dem alten Werk
„Die Feierlichen Worte“ (Udâna) heißt es etwa: „Es gibt ein Nichtgeborenes, Nichterzeugtes, Nichtgemachtes oder Nichtbedingtes. Weil dieses existiert, ist die innere Freiheit
vom Geborenen, Erzeugten, Gemachten oder Bedingten möglich.“ Oder: „Für alles Gehaltene gilt Instabilität. Für alles Nichtgehaltene gilt `keine Instabilität´. Wenn es somit
keine Instabilität gibt, tritt innere Stille hervor. Wenn innere Stille hervortritt, weicht das
Hingeneigtsein. Wenn das Hingeneigtsein weicht, gibt es kein Kommen und Gehen. Ohne
Kommen und Gehen gibt es kein Entstehen und Vergehen. Ohne Entstehen und Vergehen
gibt es kein `Diesseits´ noch `Jenseits´ noch `Zwischen-diesen-Beiden´. Dies ist das Ende
des Leidens, das Nirvâna.“ Das hochpopuläre alte Verswerk Sutta-Nipâta des Pali-Kanons
sagt zu jenem daseinsimmanenten Nirvâna:
„Kein Maß ermisst den Menschen, der zur Stille findet. Keine Worte genügen, um ihn noch
zu erfassen. Denn wenn alle Dinge im vollkommenen Sehen abgelegt sind, ist damit auch
der Rede jeder Pfad verschlossen.“
2) Die Sicht vom Buddha: Mit jener „absoluten“ Sicht des Mahâyâna zur Höchsten Wahrheit werden nun die Buddhas und Bodhisattvas, welche diese erfasst haben, auch selbst zu
„absoluten“, ewigen oder erlösungsmächtigen Heilsgestalten. Sie wirken jetzt sozusagen
von einer „jenseitigen Welt“ herab. Dies macht die im Mahâyâna zentrale Lehre von den
Drei Körpern (Tri-Kâya) ganz klar. Hier besitzt der Buddha drei transzendente Körper,
nämlich den Dharmakâya oder „Wahrheitskörper“, den Sambhogakâya oder „Genusskörper“ sowie den Nirmânakâya oder „Verwandlungskörper“.
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3) Die Sicht vom Weg: Die bedeutendste Neuerung des Mahâyâna ist das Ideal vom
Bodhisattva oder „Dem Erwachen hingegebenen Wesen“, das immer stärker aus dem Mitgefühl heraus fühlt, denkt und handelt. Am Ende will es nichts mehr, als das von der dualistischen Weltspaltung in „Selbst“ und „andere(s)“ freie oder „Große Mitgefühl“ Mahâkarunâ
vollständig umsetzen, für eine möglichst weitreichende allgemeine Befreiung. Der
Bodhisattva erstrebt das volle Erwachen zu einer Höchsten Realität, die hier als unbegrenzt
hilfsfähig gilt. Die Selbstlosigkeit ist der Motor dieses Befreiungsweges, der im Maße
seiner Umsetzung die „Geschickte Hilfsfähigkeit“ Upâya Kaushalya bedeutet. Der
Bodhisattva verwirklicht die „Sechs Vollkommenheiten“ Pâramitâ: Freigiebigkeit, Ethik,
Geduld, Energie, Meditative Vertiefung und Weisheit in und für die Welt. Diese „Selbst“lose Haltung in Geist und Tat ist der „Geist des Erwachens“ Bodhichitta. Das Fehlen der
dualistischen Sicht in diesem Geist ist die Ursache für das höchste Erwachen. Für den
Bodhisattva gilt: „Er ist in der Welt, aber nicht von ihr“, so wie die Lotusblüte im Schlamm
wurzelt und sich bloß daraus ernährt, aber zugleich selbst frei darüber steht. Shântideva (7.8. Jh., Indien) hat dieses Ideal auf rein menschlicher Ebene gedeutet oder tief fundiert. Mit
seinem Hauptwerk Eintritt in den Wandel zum Erwachen ist er dessen Hauptvater.
Im Mahâyâna Zentral- und Ostasiens werden transzendente Bodhisattvas als erlösungsmächtige Heilsgestalten weithin verehrt. Man bittet sie um Hilfe zur Lösung der alltäglichen Sorgen und Nöte, und sie sind auch Leitstern für die eigene spirituelle Praxis. Denn
auch sie haben ihren Weg einmal als menschliche Bodhisattvas begonnen, mit jenem selbstlosen Streben nach dem unbegrenzt hilfsfähigen Erwachen. Die Lehre von den Drei Körpern bezieht sich auf die Buddhas. Im Vergleich dazu gelten die transzendenten Bodhisattvas als „weltnahere“ Wesen, die auf ihre volle Befreiung verzichten, um der Welt direkt
beizustehen. Sie wirken aus jenseitigen Sphären herab oder manifestieren sich als Menschen. Der Dalai Lama etwa gilt als Verkörperung des Bodhisattvas Avalokiteshvara.
Dieser Bodhisattva des „Allumfassenden Mitgefühls“ wird in Tibet als Chenrezig (die
Nationalgottheit), in China als Guanyin (eine weibliche, mannigfach in der Kunst dargestellte Gestalt) oder in Japan als Kannon vom Volk breit verehrt („Kannon“ findet sich
auch im Firmennamen des japanischen Elektronikkonzerns „canon“ wieder). Die tibetische
Form ist der tausendarmige und vielköpfige Avalokiteshvara (Sanskrit „Der voll Mitgefühl
Hinabblickende“), der so seine Hände ausstreckt und in alle Richtungen blickt, um die
Lebewesen aus dem Kreislauf der Wiedergeburten zu erretten. Seine vielen Hände
repräsentieren die Geschickte Hilfsfähigkeit.
Aus den Tränen Avalokiteshvaras über das Leiden der Lebewesen im Nichtsehen ist „Târâ“
(die „Hinübersetzerin“ über den Strom der Existenzen) hervorgegangen, die wichtigste
weibliche Bodhisattva des Mahâyâna. Im alten Indien galt sie als Verkörperung der Mutter
des historischen Buddha, und, davon abgeleitet, auch als die „Mutter aller Buddhas“. Sie
steht Avalokiteshvara zur Seite und wird häufig mit einem ausgestreckten Bein dargestellt.
Denn sie verkörpert das besonders aktive Mitgefühl. Im tibetischen Buddhismus ist die
Verehrung der Târâ zentral. Mit ihren 21 Formen (entsprechend ihren vielen Hilfsaktivitäten) ist sie ein Hauptmotiv der Rollbilder Thangkas. Die 108 Perlen der tibetischen Gebetskette „Mâlâ“ symbolisieren die 108 Ehrennamen der Târâ.
Die Fundamente des ganzen Mahâyâna
Jene drei Unterscheidungsmerkmale des „Großen Fahrzeuges“ Mahâyâna zeigen sich in
dessen altindischen Fundamenten, aus denen alle buddhistischen Haupttraditionen Zentralund Ostasien entstanden sind. Diese Fundamente sind:
1) Die Mahâyâna-Sûtras, d. h. die Reden des Buddha aus Sicht des Mahāyāna. Sie sind
dessen älteste Quelle und in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten im alten Indien verfasst worden
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2) In der bis heute weitverzweigten Philosophie des Nur-Geist Yogachâra (ab 4. Jh.), aus
dem sich auch (durch Dignâga und Dharmakîrti) die buddhistischen Systeme von Logik
und Erkenntnistheorie entwickelt haben, werden jene drei Unterscheidungsmerkmale als
volles Lehrsystem manifest. Die Abhandlungen Âsangas, Maitreyanâthas und Vasubandhus
des Älteren (4. Jh. n.Chr.), der Begründer der Nur-Geist-Schule, sind im tibetischen
Buddhismus zentral. Die Nur-Geist-Schule lehrt, dass in Wahrheit die Objektwelt „nur
Geist“ oder „Reine Vorstellung“ sei, die in unserem „Bewusstmachungsakt“
(Vijñaptimâtra) gründe. Die phänomenale Welt sei völlig „irreal“, ohne objektive Existenz
außerhalb unseres subjektiven Bewusstseins. Ein von den Objekten getrenntes „Subjekt“
oder „Ich“ existiere genausowenig. „Nur“ der „Geist“ existiere, in dem alles letztlich eins
sei. Die Außenwelt erscheine nur so, indem sie sich aus den „Samen“ (Bîja) unseres
„Speicherbewusstsein“ (Âlayavjñâna) entfalte, in Illusion oder Projektion. Diese Entfaltung
habe unterschiedliche Qualität, je nach dem Karma des Erfahrenden. Es wird hier also die
Außenwelt absolut verneint, und der „Geist“ als ihre alleinige Quelle absolut bejaht.
Die Befreiung werde verwirklicht, wenn in der meditativen Versenkung (Jhâna) dieses
Wahre Wesen der Dinge zunehmend durchschaut werde (der letztlich alleine bestehende
oder waltende Geist). Die Entwicklung des Bodhisattva verlaufe über Zehn Stufen
(Bhûmis). Mit der Philosophie des Nur-Geist hat auch jene Kernlehre des Mahâyâna von
den Drei Körpern (Tri-Kâya) eines absoluten Buddhas ihre endgültige Form angenommen.
3) Auch die Denkrichtung (ursprünglich nicht Philosophie) des Mittleren Weges
Madhyamaka zwischen Positivismus und Nihilismus, Existenzglaube und Existenzverneinung, Ewigkeitsansicht und Vernichtungsansicht oder Theismus und Materialismus ist
im Mahâyâna tief prägend geworden. Aber sie hat in ganz unterschiedliche Richtungen
gewirkt und in ihrem Ursprung nicht das Mahâyâna vertreten. Dieser Ursprung sind „Die
Wurzelverse zum Mittleren Weg“ Mûla-Madhyamaka-Kârikâ, das Hauptwerk Nâgârjunas
(2.-3. Jh. n.Chr., Indien). Der altindische Hauptvater des Bodhisattva-Weges Shântideva
(7.-8. Jh., Indien) steht in dieser Denkrichtung. Er resümiert den Mittleren Weg etwa so:
„Wenn sich der Geist nicht mehr in der Erfassung von `existent´ oder `inexistent´ verfährt,
tritt Klare Stille hervor. Denn einen anderen Anhaltspunkt für Fixierung gibt es nicht.“
Nâgârjuna hat die Hauptlehren des Buddha (bis heute) wieder tief ins Bewusstsein gerückt:
Den Mittleren Weg, das Entstehen in Abhängigkeit bzw. die universelle Leerheit (Shûnyatâ)
von einem „Selbst“, die Begriffliche Verselbstständigung (Prapañca), die Beiden Wahrheiten und, so Nâgârjuna, „Samsâra ist Nirvâna“ (was die Befreiung des Nirvâna, wie es
der Buddha versteht, als rein daseinsimmanent betont). Auf diese Weise ist Nâgârjuna
gegen zunehmende scholastische oder verabsolutierende Überlagerungen des ursprünglichen Praxisweges (ob im Mahâyâna oder im Theravâda) aktiv geworden. Nach Buddhas
Reden gilt sein Hauptwerk als das prägendste Werk des Buddhismus. Es wirft gleichsam
„Versbomben“ auf die gewöhnliche, „Selbst“-fixierte oder leidschaffende Wahrnehmung,
d. h. auf unseren inneren Motor des Kreislaufes der Wiedergeburten Samsâra.
Die Mahâyâna-Sûtras
Die Mahâyâna-Sûtras sind inhaltlich und stilistisch sehr heterogen. In der Indologie gelten
sie nicht als die Reden des Buddha, sondern als von unterschiedlichen Autorengruppen in
gezielt reaktiver Weise in späterer Zeit verfasst. Ihr primäres Anliegen ist, bestimmte
Aspekte in Buddhas Lehre zu betonen und anderen zu widersprechen oder diese wegzulassen. Die Struktur der Reden im Pali-Kanon des Theravâda zeigt, dass sie von den Ordinierten nur memoriert und möglichst wortgetreu niedergeschrieben worden sind. Diese
Schriften weisen kohärent bestimmte Merkmale und Grundlehren auf, die auf eine einzige
überragende Quelle hinweisen, den vollkommen „Erwachten“ Menschen „Buddha“.
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Die Mahâyâna-Sûtras unterteilen sich in zwei Gruppen: Die eine und frühere steht der
Lehre dieses „Erwachten“ Menschen „Buddha“ noch sehr nahe (Prajñâpâramitâ-Sûtra,
Ratnakûta-Sûtra und das Vimalakîrtinirdesha-Sûtra). Diese Redengruppe ist für die Denkrichtung des Mittleren Weges im Mahâyâna wesentlich geworden, wie diese im Hauptwerk
Nâgârjunas gründet und später etwa in der für einen alltäglichen Bodhisattva-Weg grundlegenden Lehre Shântidevas eine weitere Form angenommen hat. Auch das chinesische
Chan oder Zen ist stark von diesen alten Mahâyâna-Reden geprägt worden.
Die andere und spätere Gruppe der Mahâyâna-Sûtras hat neue, z. T. nun auch ein
„(Wahres) Selbst“ behauptende Lehren entwickelt. Sie sind für die Philosophie des NurGeist, die Richtungen, die absolute oder erlösungsmächtige Buddhas und Bodhisattvas
vertreten, sowie die Tradition der einer „Ewigen Seele“ ähnlichen Buddha-Natur wesentlich geworden. Diese Redengruppe umfasst das Lotos-Sûtra (Tendai-Schule, NichirenBuddhismus, Sôka Gakkai und Risshô Kôsei-kai), Avatamsaka-Sûtra, SukhâvatîvyûhaSûtras sowie Amitâyur-Dhyâna-Sûtra (Reines-Land-Schule), Tathâtagatagârbha-Sûtra
(Buddha-Natur und Ratnagotavibhâga), Samdhinirmochana-Sûtra und Bhadrapâla-Sûtra
(letztere beiden sind zentral für die Nur-Geist-Schule).
Auch das Lankavatâra-Sûtra („Rede vom Herabstieg auf Sri Lanka“) und
Mahâparinirvâna-Sûtra gehören hierher. Ihr Titel zeigt, dass sie auf den frühen Buddhismus Theravâda „zielen“. Er war bereits damals in Sri Lanka maßgeblich; und das gleichnamige Mahâparinibbâna-Sutta im Pali-Kanon zu Buddhas letzten Tagen gilt im Theravâda
als eine der zentralen, weil die alte Lehre „resümierenden“ Reden. In jenen beiden
Mahâyâna-Sûtras steht auch eine Lehre von einem „Selbst“, entgegen Buddhas Lehre zur
Höchsten Wahrheit als das allbezogene Nicht-Selbst. Das ebenfalls späte, aber dem
Prajñâpâramitâ-Sûtra verwandte Samâdhirâja-Sûtra gilt als eine Quelle der im tibetischen
Buddhismus zentralen Meditation der Mahâmudrâ, die direkte Befreiung bezweckt.
Die Buddha-Natur
Die Lehre von der „Buddha-Natur“ (Tathâgatagarbha) zieht sich durch maßgebliche Reden
und spätere Traditionen des Mahâyâna, erscheint aber nicht in den Reden des Buddha im
Pali-Kanon des Theravâda. Ihr Ausgangspunkt ist jene „absolute“ Sicht von der Höchsten
Realität bzw. von den Buddhas oder Bodhisattvas, welche diese realisiert haben, was sie
auch selbst zu „absoluten“ oder erlösungsmächtigen Heilsgestalten macht. Aber es fehlt ein
„Element“ im gewöhnlichen Lebewesen, das die aktive Erlösungswirkung jenes Absoluten
ermöglicht. Dieses Element ist die Buddha-Natur. Sie ist das absolute Band zum Absoluten,
das später zu dessen voller Verwirklichung führen könne. Sie ist die an einer „Ewigen
Seele“ orientierte Mahâyâna-Umdeutung der Lehre des Erwachten vom „Wahren
Menschen“ (Sappurisa), das alte Synonym für den Ariya-Puggala („Edler Mensch“).
Der Ariya(-Puggala) hat eine der Endgültigen Befreiungsstufen des inneren Weges verwirklicht. Dieser „Wahre Mensch“ ist der Mensch in Wahrheit: Mensch(lich) und im höchsten
Sinne. Hier wird der Mensch „Mensch“, ist schlicht und einfach das, was seinem tiefsten
Wesen entspricht. Der Wahre Mensch hat den Achtfachen Befreiungspfad mit wachsender
Trefflicher Achtsamkeit umgesetzt. Er hat den „Selbst“-losen „Menschen“ in sich wahr
gemacht, keine „Ewige Seele“ bzw. ein „(Wahres) Selbst“ (um das es auch bei der
modernen „Selbstverwirklichung“ geht, ein Begriff, der in Buddhas Reden nicht vorkommt). Das „Sap“ (in Pali „Sap-Purisa“ für „Wahrer Mensch“) ist das Partizip „seiend“.
So geht es hier um einen Menschen, der eben dies wahrhaft „ist“, d. h. authentisch oder
natürlich. Dieser authentische „Mensch“, der einfach natürlich ist (sich nicht mit „etwas“
als „Ich und Mein“ identifiziert, es „hat“), verwirklicht „sich“, als „Mensch“, hier und jetzt.
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Die Tradition der Buddha-Natur zweigt sich auf: Die eine Hauptlinie versteht die BuddhaNatur als Potential des Menschen. Hier ist er nicht Buddha, kann es aber werden. Dies ist
die Lehre vom „Buddha-Element“ oder der „Buddha-Sphäre“ (Buddha-Dhâtu), wie im
Mahâparinirvâna-Sûtra. Die andere Hauptlinie versteht die Buddha-Natur als ausgereiftes
„Buddha-Sein“ im Menschen, als dessen Ursprüngliches Erwachtsein als „Embryo des
Buddha“ (Tathâgatagarbha), wie im Tathâgatagarbha-Sûtra oder der späteren zentralen
Abhandlung (der Nur-Geist-Schule) Ratnagotravibhâga. In dieser Sicht „ist“ der Mensch
Buddha, er weiß es bloß noch nicht! Er muss sich dessen nur voll gewahr werden. Hier liegt
(neben der universellen Leerheit, die letztlich auch bloß spontan erfahrbar ist) eine Hauptwurzel der Betonung des „Hier und Jetzt“ im Zen. In der „Abhandlung vom Hervorbringen
des Vertrauens in das Mahâyâna“ (Mahâyâna-Shraddhotpâda-Shâstra) steht diese Lehre
vom „Ursprünglichen Erwachtsein“ ausformuliert. In Fernost gilt dieser Text als umfassende Einführung ins Mahâyâna und ist auch für den Zen wichtig geworden. Die
Buddha-Natur ist tief buddhistisch, wo sie die Möglichkeit des Menschen betont, selbst ein
Erwachter oder Buddha zu werden. Hier ist sie das buddhistische Gegenstück zum monotheistischen Glauben an „Sündenfall“, „Vertreibung aus dem Paradies“ oder „Erbsünde“.
Diese Glaubenssätze bedeuten die Festschreibung des menschlichen Wesens auf Sünde
oder auf die Bedürftigkeit der Gnade eines allmächtigen, absoluten Gottes.
Dritte Drehung des Rades der Lehre: Der tantrische Weg im Mahâyâna
In der letzten Phase des indischen Buddhismus (ab Mitte des ersten Jahrtausends bis zu
dessem Ende im 12. Jahrhundert) entstand im Mahâyâna mit jener Dritten Drehung der
tantrische Buddhismus bzw. das „Diamantfahrzeug“ Vajrayâna. Dies geschah auch in
gegenseitiger Beeinflussung mit dem Hinduismus. Die Einführung des frühen Buddhismus
Theravâda nach Sri Lanka unter dem altindischen Kaiser Ashoka (3. Jh. v.Chr.) und des
frühen Mahâyâna nach China unter Kanishka (78-144 n.Chr.) war lange vorher. Erst ab
dem achten Jahrhundert gelangte der Buddhismus dann nach Tibet. So bezog sich das Interesse der Tibeter auch stark auf das Vajrayâna. Dies sollte dem tibetischen Buddhismus
sein unverwechselbares Gepräge aus Vajrayâna im philosophischen und klösterlichen
Mahâyâna geben. Die erste einführende „Macht“ nach Tibet war der tantrische Großmeister
Padmasambhava (8. Jh.). Im Indien seiner Zeit begann sich jene neue Form des Buddhismus voll zu etablieren, bis sie dort im zwölften Jahrhundert die maßgebliche Form geworden war. Vor allem im tibetischen Buddhismus hat der tantrische Buddhismus bis heute
und stark fortgelebt (und daneben noch in der japanischen Shingon-Schule).
Das Tantra hat sich ursprünglich als Gegenbewegung zu den eher starren Wegen des philosophischen Studiums im Mahâyâna und der klösterlichen Mönchsdisziplin formiert. Seit
den tantrischen Anfängen (2. Jh. in Orissa, Bengalen und Kaschmir) kamen die
Praktizierenden und Meister aus allen Schichten, häufig niederen Kasten. Darunter fanden
sich auch Frauen, was einen Bruch der Tradition bedeutete, wie es schon zur Zeit des
Buddha war. Die verwirklichten Tantriker standen häufig im gewöhnlichen Leben.
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Der Tantrismus betont die praktische und weltzugewandte Seite der spirituellen Entwicklung. Hier gibt es Anknüpfungspunkte zum frühen Buddhismus. So berichten die
Reden des Pali-Kanons von zahlreichen endgültig Befreiten unten den Laien aller Stände
(Frauen wie Männer), die im gewöhnlichen Leben standen. Auch galten im Buddhismus
schon immer die wahrhaft Verwirklichten (Buddhas, Bodhisattvas und Arhats) als „Meister
der Methode“, d. h. als fähig, durch geschickte Anpassung an die Situation tief wirksam zu
helfen. Unter diesem Aspekt hat der Innere Weg letztlich wenig mit äußeren Formen zu
tun: Das Ideal der Tantriker. Sie betrachten auch die Sinnenwelt mit ihren Verlockungen als
potentiell direktes Werkzeug für die innere Befreiung. Die Unterscheidung „rein“ oder
„unrein“ gilt ihnen nichts. Diese ist aber in der hinduistischen Kultur absolut zentral. Im
Kastensystem sind die Menschen, ihre Berufe und Nahrung gemäß einer ausgefeilten
Hierarchie geburtlich bestimmter Reinheitsgrade getrennt. Die Tantriker folgen dagegen
dem Gelübde, sich überall die Reinheit aller Dinge bewusstzumachen (mit einem heutigen
buddhistischen Meister gesprochen: „Für einen Reinen sind alle rein“). Für sie heißt Reinheit die „Auflösung aller Gegensätze“, wie die Indologin Sabine Klein-Schwind betont. So
wird hier Nâgârjunas Sicht der Allleerheit, d. h. Allungreifbarkeit zentral.
Die Praxis des Tantra
Der tantrische Guru gibt eine Einweihung. Diese „ermächtigt“ einen dazu, im Praxisritual
Sâdhana („Mittel zur Vollendung“) eine bestimmte Meditationsgottheit zu visualisieren
und schließlich zu verinnerlichen. Diese „Meditationsgottheit“ (tibet. Yidam) repräsentiert
einen bestimmten Aspekt des Buddha-Geistes, d. h. eine (verborgene) erleuchtete und erleuchtende „Energie“ (im eigenen Körper). Der Guru ist durch seine hohe Realisierung eins
mit dieser Meditationsgottheit. Im Sâdhana identifiziert sich nun die eingeweihte Person
mit der Gottheit, damit deren „Energie“ zum eigenen Selbst wird. Dies ist hier der Weg, um
die eigene Buddha-Natur zu verwirklichen, die als jenes innere „Band“ zum transzendenten
Buddha gilt. Deshalb könne der durch die Meditationsgottheit verkörperte Aspekt des
Buddha-Geistes auch in den Tantriker eingehen. Dafür wird in der Aufbauphase des Praxisrituals die Gottheit in das Meditationsbild Mandala als deren „Wirkungssphäre“ eingeladen. In der Auflösungsphase wird die Schau der Leerheit rituell vollzogen, indem die
Gottheit (nach der Identifikation mit ihr) als letztlich „leer“ gesehen oder als Teil des eigenen Selbst wieder aufgelöst wird. Jene Energie der Gottheit gehe nun über.
Die Hilfsmittel für diesen meditativen Akt sind: 1) „Heilige Silben“ Mantras. 2) Jene
Mandalas (Kreise, Scheiben) als „Meditationsbilder“ bzw. innere „Gleichnisse“ des Kosmos, die dessen Komplexität in energiegeladene Einheit auflösen. Hier sind sie die
„Wirkungssphäre“ der Meditationsgottheit. Die berühmten Mandalas erscheinen etwa auf
den tibetischen Rollbildern Thangkas oder werden kunstvoll mit farbigem Sand errichtet.
Sie verbildlichen die Allinterdependenz: Das Sich-gegenseitig-Spiegeln aller Weltphänomene, was mit ihrer Hilfe direkt erfahrbar werde. 3) Rituelle „Gesten“ Mudrâs. Diese
drei Hilfsmittel unterscheiden sich je nach Sâdhana-Praxis mit zugeordneter Meditationsgottheit sowie der übergreifenden Tantra-Klasse. Vor der Ausübung der Sâdhana-Praxis ist
wichtig: Das Nehmen der Zuflucht und das Wachrufen der selbstlosen Motivation des
Bodhisattva, die volle Erleuchtung zum Wohle aller Wesen zu realisieren. Eine echte Einweihung ist auch vom Nehmen strenger „Gelübde“ Samaya begleitet, die sich auf das
Praxisritual Sâdhana und die Lebensweise des Adepten beziehen.
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Das Hauptsymbol des Vajrayâna ist der „Vajra“ (Diamant). Er steht für die diamantene
Leerheit aller Dinge, die ihrer Essenz nach „unzerstörbar“ ist, aber zugleich alles „durchlässt“; eben wie ein Diamant. Im tibetischen Buddhismus spielen tantrische Einweihungen
eine zentrale Rolle und werden häufig von Tausenden besucht. Im Westen gelten solche
„öffentlichen“ Einweihungen als unverbindliche Segensspender, weil sie ohne die strengen
tantrischen Gelübde Samaya gegeben werden. Der Dalai Lama gibt etwa am 11.-23.
Oktober 2002 wieder eine riesige Kâlachakra-Einweihung in Graz. Diese Einweihung gilt
als ein Beitrag zum Weltfrieden, der mit dem wenig hoffnungserweckenden Beginn des 21.
Jahrhunderts hochaktuell ist. Traditionell erhält allein der engagierte Adept nach eingehender Prüfung durch den Guru die höheren Stufen einer Einweihung.
Im Tantra (sanskrit für „Webstuhl“) wird das für das Erwachen notwendige Zusammenkommen von Methode Upâya (männlich) und Weisheit Paññâ (weiblich) auf dem Inneren
Weg durch die Vereinigung der Buddhas mit deren Gefährtinnen (tibet. Yab-Yum) repräsentiert: Ein häufiges Motiv auf den tibetischen Rollbildern Thangkas. Im Praxisritual
Sâdhana wird diese Vereinigung von den Tantrikern symbolisch und auch real nachvollzogen. Denn der Zusammenfluss des männlichen und des weiblichen Prinzips im vollen
(rein inneren) Maße (d. h. ohne dualistisch verfangenes Nichtsehen, Dürsten und Ergreifen)
ist das Erwachen. So zeigt sich hier Nâgârjunas Sicht, dass im Licht der Höchsten Wahrheit
nichts mehr als getrenntes „Selbst“ erscheint bzw. „Samsâra ist Nirvâna“.
Resüme: Das Tantra arbeitet in ritueller Form unmittelbar „mit den Sinnen“; nämlich mit
meditativ visualisierten Meditationsbildern Mandalas (gemalt auf Rollbildern Thangkas
oder in Sand errichtet), Heiligen Klängen Mantras, Bewegungen als Handgesten Mudrâs
und im höchsten oder Anuttara-Yoga-Tantra unter bestimmten Voraussetzungen auch mit
der ihrer (wahren) Natur nach heiligen Bewegung der Sexualität (Karma-Mudrâ). Auch die
visualisierten Meditationsgottheiten erscheinen ja in sinnlich reich ausgestatteten Formen.
Die verschiedenen Meditationsgottheiten repräsentieren stets verschiedene Aspekte des
Buddhageistes. Dieser wird hier also immer vielschichtig „sinnlich“.
Ursprung, Merkmale, Unterschiede
Der Ursprung des tantrischen Buddhismus ist weitgehend unklar. Denn es gibt deutliche
Unterschiede zu den älteren Formen des indischen Buddhismus:
1) Die überragende Position des Meisters Guru im Tantra. Im frühen Buddhismus
Theravâda ist der Meister nicht heilsentscheidend. Er hat hier die Stellung eines
„Spirituellen Freundes“ (Kalyâna-Mitta), eine Selbstbezeichnung des Buddha.
2) Der „geheime“ (griech. „esoterische“) Charakter der tantrischen Methoden, wie die Einweihung und die einweihungsbedüftige Schlüsselsprache der tantrischen Literatur zeigen.
Die älteren Traditionen des Buddhismus sind direkt zugänglich, also nicht „geheim“. Laut
dem Theravâda tritt die innere Befreiung hervor, wenn der Innere Weg (Ethik, Ruhe und
Einsicht aus Trefflicher Achtsamkeit) primär selbstverantwortlich umgesetzt wird (nicht
durch eine verborgene oder höhere Macht, die wachzurufen oder einzuladen ist).
3) Das Arbeiten mit den Feinstofflichen Körperenergien und Energiezentren Chakren
stammt aus dem hinduistischen Yoga, nicht aus Buddhas Lehre.
4) Das Tantra gilt als ein besonders schneller oder wirksamer, aber ebenso gefährlicher
Pfad. Der frühe Buddhismus bietet keine gefährlichen Praktiken. Auch er versteht sich nicht
als einen mühseligen, langen Weg. Ein Vers des im Theravâda besonders populären „Weg
der Natürlichen Wahrheit“ (Dhammapada) des Pali-Kanons: „Lang erscheint die Nacht
dem Schlaflosen. Lang erscheint die Wegstrecke dem Müden. Lang erscheint der Daseinskreislauf dem Törichten, der die Natürliche Wahrheit nicht sieht.“
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Sexualkulte waren im Nordosten Indiens (Orissa und Bengalen) beheimatet, wo die ersten
Tantriker im zweiten Jahrhundert auftraten. Manche der tantrischen Methoden sind auf die
heiligen Schriften der hinduistischen Brahmanen, die Veden und Upanishâden, zurückzuführen. Andererseits werden im Tantra aber genauso bestimmte Grundzüge des frühen
Buddhismus deutlich und daneben Nâgârjunas tiefgehender Mittlerer Weg. Die ersten
Tantriker wurden zur Zeit Nâgârjunas (2.-3. Jh.) aktiv.
Das machtvolle Fortwirken
Im achten Jahrhundert konnte sich das Tantra in Indien etablieren. Es fand nun Eingang in
die buddhistischen Klosteruniversitäten, wo die Grundtexte der tantrischen Literatur, wie
das Guhyasamâja-Tantra, Hevajra-Tantra und Kâlachakra-Tantra, entstanden. Das relativ
späte Entstehen dieser Lehrsysteme Jahrhunderte nach den Anfängen zeigt, dass das alte
Tantra einen „anarchischen“ Zug gehabt hat. Es wurde auch ursprünglich bloß mündlich
weitergegeben. Ebenfalls ab dem achten Jahrhundert knüpfte die charismatische Bewegung
der 84 Mahâsiddhas („Große Vollendete“) wieder an diese tantrischen Ursprünge an. Sie
wirkten als gewisser Gegenpol zum entstehenden Vajrayâna der Klosteruniversitäten. Die
Mahâsiddhas, zuerst Saraha, verfassten die spontanen Gesänge des Erwachens Dohas.
Diese sehr poetischen und tiefgründigen Texte betonen Individualismus, Alltagsnähe und
die letztliche Ungreifbarkeit der Dinge in der Allleerheit. Die Dohas bergen Einsichtsschätze. Die Mahâsiddhas haben machtvoll in Tibet fortgewirkt, etwa mit dem „größten
Heiligen“ des Schneelandes, Milarepa, sowie dessen „Hunderttausend Gesängen“, oder
dem „Heiligen Narr“ Drugpa Künleg (1455-1570). Dieser war ein überaus beliebter, durch
Tibet streifender Verfasser von Befreiungsgesängen. Im 8. Jh. hat der Mahâsiddha
Padmasambhava den Buddhismus nach Tibet gebracht. Altindische Mahâsiddhas waren die
Urväter der meisten großen Schulen des tibetischen Buddhismus.
3) Götter und Symbole:
Im frühen Buddhismus Theravâda sind „Götter“ lediglich die Devas: Eine Wesensklasse
innerhalb des Kreislaufes der Wiedergeburten. Sie gelten als vergänglich und unerwacht
wie die anderen Existenzen. Das menschliche Dasein sei letztlich wünschenswerter, weil es
eher die endgültige Befreiung des Nirvâna ermögliche. Denn hier herrsche genügend Leiden, um auf den Inneren Weg zu kommen und genügend Freiheit vom Leiden, um ihn
verwirklichen zu können. Auch sei die letztlich ungreifbare Flussnatur oder Wandelhaftigkeit des Lebens im menschlichen Dasein besonders offenkundig. Im frühen Buddhismus
stehen die Devas vorrangig für Bewusstseinsebenen im menschlichen Leben (Wiedergeburt
und Jhâna). Laut Pali-Kanon hat der Buddha Devas in der Befreiungslehre des Dharma
unterwiesen. Der neben Ajahn Buddhadâsa (Natur-Methode) einflussreichste TheravâdaMeister in der Geschichte Thailands, Ajahn Chah (Ordensgemeinschaft), resümiert die
Haltung des frühen Buddhismus so: „Das Erwachen geschieht nicht als Gnade einer göttlichen Macht, sondern als das gesetzmäßige Ergebnis der ernsthaften Bemühungen des
Menschen, den Dharma zu verstehen.“
Im Mahâyâna-Buddhismus kam es dann zur Annahme absoluter, erlösungsmächtiger
Buddhas und Bodhisattvas, die hier als transzendente Helfer verehrt werden. Sie gelten
trotzdem nicht als „Gott“-gleich, weil sie ihren Weg als Menschen begonnen haben. Deshalb ist ihre Verehrung auch immer Leitschiene für die eigene spirituelle Praxis (vgl. oben
zu diesen transzendenten Buddhas und Bodhisattvas). Innerhalb des Mahâyâna hat es auch
machtvolle Gegenströmungen zu dieser „Vergöttlichung“ gegeben, besonders Nâgârjunas
Mittlerer Weg und Shântidevas Lehre vom Bodhisattva als (Wahrer) Mensch. Nâgârjuna ist
die insgesamt prägendste Größe im Buddhismus zum Thema Weisheit. Shântideva ist die
insgesamt prägendste Größe im Buddhismus zum Thema Herz oder Ethik. Im tibetischen
Buddhismus sind zu Shântidevas Hauptwerk (Eintritt) über 200 Kommentare entstanden.
Weisheit und Herz sind die beiden Flügel des inneren Fluges zum Erwachen.
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Im tantrischen Buddhismus repräsentieren die vielen Meditationsgottheiten (Yidams im
tibetischen Buddhismus) bestimmte Aspekte des voll erwachten Buddha-Geistes, die nach
der Einweihung mit dem Praxisritual Sâdhana verinnerlicht werden. Sie werden hier durch
Visualisierung und Identifikation als letztlich „leer“ oder Teil des eigenen Selbst gesehen,
was zur Realisierung der eigenen Buddha-Natur führe. Besonders ausgeprägt wird diese
Leerheits-Praxis im Chöd des tibetischen Buddhismus.
Der Buddhismus generell hat die Verehrung der Naturgötter und Schlangengeister oder
lokaler, vorbuddhistischer Gottheiten in Südostasien und den anderen asiatischen Ländern
nicht bekämpft. So sind auch volkstümliche Koexistenzformen entstanden, mit der Befreiungslehre oder dem Dharma des Erwachten als Weg der Höchsten Wahrheit und jenen
Gottheiten als Helfer bei den alltäglichen Sorgen und Wünschen.
Symbole
Die beiden zentralen Symbole des Buddhismus sind die Lotusblüte und das „Rad der Lehre“ Dharma-Chakra. Ein weiteres übergreifendes Sinnbild sind Fußabdrücke des Buddha.
Ein zentrales Symboltier ist der Hirsch (Sârnâth). Die Schlange oder der Drache (beide
Nâga) ist im Buddhismus generell positiv besetzt: „Nâgârjuna“ etwa bedeutet: „Der es von
den Schlangen(göttern) erhalten hat“. Der Legende nach soll er die höchsten Lehren des
Buddha von den Nâgas bekommen haben, die sie über die Jahrhunderte aufbewahrt haben.
Befreite heißen manchmal auch „Mahânâgas“ für „Große Drachen“. Die Schlange
symbolisiert auch den Hass. Dieser gilt als der Innere Zwang, der mit seiner „zerstörerischen Schärfe“ der unheilsame Bruder der befreienden Schärfe des höchsten Sehens
ist. Das Hauptwerk Nâgârjunas ist das klarste Beispiel des Buddhismus für die letztere
Schärfe. Nachdem der Buddha den Massenmörder Angulimâla bekehrt hatte, verwirklichte
dieser in kurzer Zeit das höchste Erwachen. Er wurde einer der berühmtesten und engsten
Schüler des Buddha.
Die „Acht Glücksverheißenden Symbole“ des tibetischen Buddhismus
1. Weiße Muschel: Der alldurchdringende, erweckende oder befreiende Klang der „Natürlichen Wahrheit“ Dharma
2. Wertvoller Schirm: Schutz aller Lebewesen gegen die Fünf Hindernisse oder das Leiden Dukkha im Nichtsehen
3. Siegesbanner: Verwirklichung des Achtfachen Befreiungspfades, höchste Emanzipation
4. Goldene Fische: Die Furchtlosigkeit eines unfixierten Lebens (wie Fische leicht im
Wasser schwimmen), indem die Bewusstheit des „alles fließt, ist letztlich ungreifbar, im
Nicht-Selbst“ kultiviert, d. h. der Innere Weg umgesetzt wird
5. Dharma-Chakra (Rad der Lehre)
6. Unendliches Geflecht: Die Untrennbarkeit von Leerheit und Entstehen in Abhängigkeit,
d. h. für die innere Praxis die Einheit von Weisheit Paññâ und Mitgefühl
7. Lotusblüte: „Buddha ist der Mensch in Wahrheit“, Inneres Erblühen.
8. Schatzvase: Endloser Regen langen Lebens und geistigen Wohlstandes durch die Realisierung des Dharma
Symbolische Handgesten Mudrâs
Symbolische „Handgesten“ Mudrâs haben im tantrischen Buddhismus rituell unterstützende Funktion. Aber die Buddhabildnisse aller buddhistischer Traditionen zeigen
solche Handgesten. Sie drücken diese Qualitäten oder Heilstaten aus:
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* Beide Hände (jeweils Daumen und Zeigefinger im Kontakt) vorm Herz, die linke weist
nach innen und die rechte nach außen (Dharma-Chakra-Mudrâ): Das Drehen des Rades der
Befreiungslehre in der Welt (oben S. 3).
* Erhobene Hand vorm Körper, Daumen und Zeigefinger berühren sich (Vitarka-Mudrâ):
Lehrverkündigung.
* Erhobene rechte Hand, alle Finger gestreckt, Innenfläche weist nach vorne (AbhayaMudrâ): Furchtauflösung und Schutzgewährung.
* Nach unten weisende, leicht eingebogene Hand und Finger, Innenfläche weist nach vorne
(Varada-Mudrâ): Wunscherfüllung durch den Dharma.
* Beide Hände aufeinander im Schoß, Daumen berühren sich (Dhyâni-Mudrâ): Meditation.
* Rechte Hand zum Boden ausgestreckt, Innenfläche weist zum Körper (Bhûmi-SparshaMudrâ): Erdberührungsgeste des Buddha, Zeichen des unerschütterlichen Erwachens.
* Der größte Heilige und Meditationsmeister Tibets, Milarepa, erscheint häufig mit der
offenen Hand am rechten Ohr, in der Geste des Lauschens nach innen (unten S. 36).)
4) Geschichte:
Die Drei Drehungen des Rades der Lehre
Eine gängige traditionelle Unterscheidung sind jene Drei Drehungen des Rades der Lehre
Dharma-Chakra, das seit dem Buddha durch die Zeiten und Kulturen rollt und seit dem
neunzehnten Jahrhundert im Westen ankommt. Das achtspeichige Rad (für den Achtfachen
Befreiungspfad) ist ein Hauptsymbol des Buddhismus.
Die Erste Drehung: In den Jahrhunderte nach dem Erwachten kam sein Praxisweg in
Indien zu voller Blüte: Der buddhistische Kaiser Ashoka regiert von 272 bis 231 v.Chr.
über ein Großindien, das größer als der heutige Staat Indien war. Unter dieser Herrschaft
beginnt sich der frühe Buddhismus erstmals in andere Länder zu verbreiten. Ashokas Sohn
Mahinda trat dem buddhistischen Orden bei. Er brachte Buddhas Praxislehre in Form des
Theravâda („Lehre der Ältesten“) nach Sri Lanka, wo sie König Devânampiya Tissa annahm. Das indische Herrscherhaus betrachtete offenbar den Theravâda als die
authoritativste frühbuddhistische Schule, was die Wiedergabe der Lehre des Buddha anging. Der Theravâda lag ungefähr seit dem zweiten Konzil von Vaishâlî (380 v.Chr.) zunehmend im Disput mit den frühbuddhistischen Übergangsschulen zum Mahâyâna, den
Mahâsanghikas („Großgemeindler“), Sarvâstivâdins („Allexistenzvertreter“) und
Pudgalavâdins („Personvertreter“). Auf dem dritten Konzil von Pâtaliputra (253 v.Chr.),
das unter Ashokas Schirmherrschaft stand (Pâtaliputra war die Hauptstadt seines Reiches),
führten die Theravâdins einen umfassenden Disput. Sie nannten sich nun auch
Vibhajyavâdins („Klar Unterscheidende“). Ab dem elften Jahrhundert haben die südostasiatischen Länder den Theravâda von Sri Lanka übernommen. So ist er heute auch in
Burma, Thailand, Kambodscha, Laos und Teilen Vietnams maßgeblich. Sein Pali-Kanon
enthält die ältesten vollständig überlieferten Redensammlungen des Buddha.
Die Zweite Drehung: Der altindische König Kanishka (zw. 78 u. 144 n.Chr.) vom zentralasiatischen Hirtenvolk der Kushânas war ein weiterer besonderer Patron des Buddhismus.
Sein Großreich erstreckte sich von Afghanistan über Mittelindien bis nach Zentralasien.
Kanishka stand in enger Verbindung zur chinesischen Han-Dynastie. Unter seiner Herrschaft begann das „Große Fahrzeug“ Mahâyâna hervorzutreten und gelangte über die
Seidenstraße nach China – der Anfang der Verbreitung des Buddhismus über ganz Zentralund Ostasien. Von China erreichte der Buddhismus mit hier relativ neu entstandenen
Formen Vietnam, Korea, Japan, Taiwan und Singapur. Der Buddhismus entfaltete in
Kanishkas Indien große Dynamik. Die hellenistisch geprägte Schule von Gandhâra war ein
Höhepunkt der indischen Kunst. Die frühesten Buddhastatuen stammen aus ihr, die bis ins
8. Jh. auch buddhistische Kunststile in Zentral- und Ostasien beeinflusst hat.
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Die Dritte Drehung: Auch nach Kanishka gab es im alten Indien Herrscher, die den Buddhismus protegierten, z. B. Harsha (606-647), der ein nordindisches Großreich regierte oder
die ostindische Pâla-Dynastie (Bihar und Bengalen, 8.-12. Jh.). Unter dieser Dynastie führte
Tibet das Mahâyâna mit den tantrischen Buddhismus in zwei Wellen ein: Die erste begann
mit dem indischen Mahâsiddha Padmasambhava im 8. Jh. und die zweite mit dem
Gelehrten wie Tantriker Atîsha im 11. Jh..
Nach der ersten Hinwendung Tibets zum indischen Mahâyâna mit den drei „Religionskönigen“ Songtsen Gampo (um 618-650), Trisong Detsen (um 740-798) und Rälpachen
(reg. 815-836 und trat selbst dem buddhistischen Orden bei), kam es unter König Lang
Darma zur umfassenden Verfolgung der neuen Religion. Dieser König (842 ermordet)
stand der tibetischen schamanistischen Urreligion Bön nahe. Erst etwa 150 Jahre später
begann die endgültige Einführung des indischen Mahâyâna-Buddhismus ins Schneeland.
Von dort übernahm ihn die damalige Großmacht Mongolei unter Kublai Khan (1215-1294),
Enkel Dschingis Khans. Außerdem ist der tibetische Buddhismus heute in Bhutan, Sikkim,
Ladakh, Teilen Nepals und Westchinas maßgeblich.
Verfolgung von Buddhisten
Nicht nur in Tibet, auch in China gab es umfassende Verfolgungen. Manche Kaiser verwarfen den Buddhismus, während andere ihn förderten. 845 kam es hier zur größten Verfolgung, die auch von konfuzianischen und taoistischen Gegenbewegungen getragen war.
Es wurden damals rund 40 000 buddhistische Tempel zerstört, und 260 000 chinesische
Ordinierte mussten das Ordensleben aufgeben. Zwischen dem 2. und 8. Jh. erlebte der
Buddhismus in Nepal eine Blütezeit. Um 800 betrieb dort ein hinduistischer König die
Zwangskonvertierung aller Buddhisten. Im 12. Jahrhundert vernichteten die muslimischen
Eroberer Indiens die buddhistischen Geistlichen und Schriften, Klosteruniversitäten und
Stätten in der Heimat oder Ursprungskultur des Buddhismus. Im 20. Jahrhundert wüteten
kommunistische Regierungen: Während der chinesischen Kulturrevolution wurde in Tibet
umfassend zerstört und ermordet (laut Menschenrechtsorganisationen etwa eine Million
Tibeter). In Kambodscha machte der Steinzeitkommunist Pol Pot eine blühende buddhistische Kultur dem Erdboden gleich. Der sowjetische Diktator Josef W. Stalin löschte
zahlreiche buddhistische Geistliche und Klöster in der Mongolei aus. In jüngster
Vergangenheit wurden in Bangladesch die buddhistischen Völker der Chittagong Hills
durch eine aggressive Besiedlung des islamischen Staates verdrängt und verfolgt.
5) Stifter und Leitfiguren:
Der Buddha (560-480 v.Chr.)
Laut der Legende wurde Shuddodhana, dem Vater des Buddha, nach dessen Geburt von
einem Weisen prophezeit, dass sein Sohn entweder ein großer Weltherrscher oder ein vollkommen Erwachter werde. Shuddodhana als Herrscher des Shâkya-Fürstentums bevorzugte
für seinen Sohn den ersteren Weg. Er ließ ihn unter größten Annehmlichkeiten aufwachsen.
Später heiratete Shâkyamuni, wie er künftig heißen wird, Yashodarâ. Sie hatten einen Sohn,
Râhula, der später sehr jung dem Orden beitrat.
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Auf den „Vier Ausfahrten“ aus dem Palast wurde dem Buddha das Leiden tief bewusst: Er
sah einen Schwerkranken, einen gebrechlichen Alten, eine Leiche und einen Asketen, der
frei vom Leiden schien. Diese Vier Ausfahrten repräsentieren das tiefe Gewahrwerden des
„Flusshaften Vergehens“ Anicca, der Ungreifbarkeit der Dinge. Der Erwachende konnte
sich nicht mehr wirklich am Luxus erfreuen. Er zog mit 29 in die Hauslosigkeit und fand
große Meditationslehrer. Nach kurzer Zeit meisterte er, was sie ihn lehren konnten. Er zog
stets unbefriedigt weiter. Mit seinen späteren fünf ersten Schülern ging er jetzt seinen eigenen Weg. Sie praktizierten gemeinsam etwa eine Schmerzensaskese, wie sie heute auch
manche indische Sâdhus auf sich nehmen, sowie eine extreme Selbstkasteiung, die ihn bis
auf die Knochen abmagern ließ. Es gibt Bildnisse, wo der Erwachte entsprechend dargestellt ist. Aber auch diesen extremen Weg erkannte er als sinnlos („Selbst“-haft), weshalb
sich seine Gefährten von ihm abwendeten. Ein Mädchen reichte ihm zu essen. Er begab
sich wieder erstarkt in tiefe Meditation unter einem Baum in Bodh Gâyâ, wo er schließlich
zur Höchsten Wahrheit erwachte.
Hier erschaute er auch, dass viele „nur wenig Staub“ auf den Augen haben. Er ging nun
zuerst zu seinen früheren fünf Weggefährten in Sârnâth. Als sie ihn von weitem kommen
sahen, reagierten sie ablehnend. Doch je mehr er sich näherte, desto mehr schwand ihre
Ablehnung, überwältigt vom Frieden, der von ihm ausging. Einer nach dem anderen soll
sich schweigend erhoben haben. Der Buddha gab ihnen die erste Rede zu den Vier Edlen
Wahrheiten, danach intensive Unterweisungen. Alle fünf realisierten das Erwachen, als sie
die Rede zur Wahren Realität der Drei Daseinsmerkmale hörten. Bis zu seinem Tod in
Kushinagara mit 80 wies der Buddha den Weg der Läuterung. Viele Laien und Mitglieder
seines Ordens verwirklichten die höchsten Befreiungsstufen des Inneren Weges. Der Erwachte forderte seine erwachten Schüler auf, in alle Richtungen Indiens zu gehen, um möglichst viele Menschen zu befreien.
Kaiser Ashoka (272–231 v.Chr.)
Er herrschte über ein Großindien. Ashoka gilt bis heute als der bedeutendste und sozialste
Herrscher, den das Land jemals gehabt hat. Nach einer höchst blutigen Eroberung wandte
er sich bereuend zur Lehre des Erwachten. Auf Säuleninschriften überall im Land, den
ältesten Schriftzeugnissen Indiens (der eingewanderten „Indoarier“), bestimmte er die
Grundzüge seiner neuen Politik: Menschlichkeit in der Verwaltung, Aufgabe aller
kriegerischen Eroberung, Gewaltlosigkeit (Ahimsâ), das Verbot (hinduistischer) Tieropfer,
ethische Grundprinzipien und religiöse Toleranz. Die moderne Republik Indien wählte für
ihr Staatswappen etwa das Löwenkapitell einer Säule Ashokas. Diese Säule steht in
Sârnâth, dem Ort der ersten Rede des Buddha.
Der Kaiser betont auf einem jener alten Säulenedikte: „Der Sieg des Dharma ist der größte
Sieg“. Er suchte jetzt die friedliche „Eroberung durch den Dharma“, ernannte etwa „Beamte des Dharma“, die in den Provinzen sicherstellen sollten, dass die neuen Prinzipien
auch in der Verwaltung umgesetzt wurden. Er gab die traditionellen Tierjagden der
Herrscherhäuser auf, beschränkte das Schlachten und begründete die Verbreitung des
Vegetarismus in Indien. Die Straßen wurden großangelegt mit Fruchtbäumen für die
Reisenden bepflanzt und landesweit Brunnen gegraben. Der Anbau von Heilkräutern wurde
entwickelt. Ashoka erbaute zahlreiche Hospitäler für Mensch und Tier. Er gewährte auch
den anderen Religionen Indiens gewisse Unterstützung.
Unter Ashokas Herrschaft gelangte der frühbuddhistische Theravâda nach Sri Lanka. Hier
begann die Verbreitung des Buddhismus in die Welt. In einem Vers des im Theravâda
hochpopulären Dhammapada heißt es: „Auch wenn einer eine Millionen Menschen auf dem
Schlachtfeld besiegt, ist trotzdem derjenige der größere Sieger, der sich selbst besiegt.“
Ashoka hat diese Wahrheit umgesetzt.
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Leitfiguren
Im Buddhismus geht es um das Erwachen zur Höchsten Wahrheit während des Lebens. So
gab es hier durch die Zeiten und Kulturen viele Leitfiguren. Im tibetischen Buddhismus
stehen etwa die Tantriker Padmasambhava, Marpa und Milarepa für einen charismatischen
Befreiungsweg unabhängig von Klosterleben oder Ordination. Das Gleiche gilt für die 84
altindischen Mahâsiddhas („Große Vollendete“), die aus allen Schichten stammten. Sie
sind auch Poeten (Dohas) eines unscheinbaren Wahrheitspfades inmitten des Alltages. Fast
alle Dalai Lamas wurden in einfachen Familien geboren. Innerhalb ihrer Gelugpa-Tradition
gab und gibt es herausragende Mönchsgelehrte, früher besonders Tsongkhapa. Atîsha gilt
als großer Verbinder der nichttantrischen und tantrischen Lehren. Prägende klassische ZenMeister unserer Zeit sind Shunryû Suzuki und Dehimaro Rôshi. Aber das Zen hat auch
unkonventionelle Vertreter wie Glassman Rôshi und Joan Halifax Rôshi, beide Begründer
der internationalen „Peacemaker Community“.
Die Väter der vier Vipassanâ-Hauptansätze stehen archetypisch für „Grundformen“ des
Befreiungsweges als individuelle Aufgabe: Mahasi Sayadaw, der Begründer des Benennens, war ein großer Gelehrter, der dann die Meditation praktisch erforscht hat. U Ba
Khin und S. N. Goenka sind unübertreffliche Pragmatiker, die nie im Kloster gelebt haben,
führende Positionen in der Welt gehabt und den einflussreichsten Ansatz des Körperhineinfließens vertreten. Ajahn Buddhadâsa war von jung an ordiniert, ist aber bald schon seinen
eigenen Weg der Studien und Meditation im Wald außerhalb des etablierten Theravâda
gegangen. Er hat die Natur-Methode geprägt und wurde ein Hauptvater des weltweiten
„Engagierten Buddhismus“. Auch Ajahn Chah war von jung an ordiniert und hat einen
Meditationsweg als Waldmeister außerhalb des etablierten Theravâda genommen; wobei er
Studien gegenüber skeptisch gewesen ist. Er erweckt auch Assoziationen an Zen-Meister.
Mahasi Sayadaw und U Ba Khin gelten als die einflussreichsten Meister in der Geschichte
Burmas. Das Gleiche gilt für Ajahn Buddhadâsa und Ajahn Chah in Thailand.
Drei besonders bedeutende Leitfiguren repräsentieren die drei Haupttraditionen des Buddhismus im Westen, den tibetischen Buddhismus, den Zen und den Theravâda: Sie verkörpern ebenfalls die individuell verankerte Friedfertigkeit des Buddhismus:
Dalai Lama: Der Friedensnobelpreisträger Dalai Lama ist mit seinem langjährig unermüdlichen Einsatz für die Sache der Tibeter, seiner ausstrahlenden Authentizität in den Augen
praktisch aller, der für ein Oberhaupt unübertrefflichen Popularität im eigenen Volk und
seinem weltweiten Ansehen als buddhistischer Meister wie Autor ein höchst glaubwürdiges
Symbol des Friedens.
Thich Nhat Hanh: Bereits Martin Luther King schlug den neben dem Dalai Lama heute
populärsten buddhistischen Meister im Westen, den vietnamesischen Zen-Meister Thich
Nhat Hanh, zum Friedensnobelpreis vor. Er lebt wegen seines unbeirrbaren Friedenseinsatzes im Vietnam-Krieg seitdem im französischen Exil. Er ist der einflussreichste Verbinder des frühen Buddhismus Theravâda mit den Traditionen des „Großen Fahrzeuges“
Mahâyâna; und zugleich ein umfassender Gelehrter wie alltagsbezogener Meditationsmeister. Außerdem ist er eine führende Stimme des weltweiten „Engagierten Buddhismus“.
Heute folgen seinem „Orden des Interseins“ rund 300 Gemeinschaften, die meisten davon
bestehen im Westen.
Aung San Suu Kyi: Die burmesische Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Sie
ist in ihrer Heimat die Führerin der Opposition, die mit ihr 1990 die freien Wahlen erdrutschartig gewann. Das sozialistische Militärregime annulierte dieses Ergebnis und
reagierte mit großer Repression des Volkes. Seitdem stand Aung San Suu Kyi regelmäßig
unter Hausarrest. Das Regime bleibt mit Hilfe Chinas und gegen den überragenden Mehrheitswillen der Burmesen an der Macht. Diese mutige Frau ist eine bekennende Buddhistin.
Sie nennt das Vipassanâ des Benennens ihre Kraftquelle und sagt etwa: „Ich praktiziere
Achtsamkeit und Wissensklarheit in jeder Verrichtung des Tages.“
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6) Strömungen und Richtungen:
Das chinesische Chan und der japanische Zen
Der Zen ist (neben dem tibetischen Buddhismus und dem Theravâda mit dem Vipassanâ)
eine der drei Haupttraditionen des Buddhismus im Westen. So soll es hier etwas näher
behandelt werden. Dabei geht der Blick ins alte China, wo der Zen als „Chan“ mit prägenden Orientierungsfiguren und Grundlagen hervorgetreten ist.
Der Zen beruht zum einen auf der Betonung von Meditation und Vertiefung, wie sie der
Buddhismus seit jeher betont hat. Diese frühbuddhistische Wurzel des Zen zeigt sich etwa
in dessen zentraler Praxis des Zazen (Sitzen in Vertiefung) als Shikantaza (Nichts anderes
tun als sitzen). In China wurde das altindische Sanskritwort „Dhyâna“ (Pali: Jhâna) für
„Versenkung“ lautmalerisch als „Chan“ und später in Japan als „Zen“ wiedergegeben.
Dennoch ist das Chan oder Zen das Produkt der Verschmelzung des altindischen DhyânaBuddhismus mit dem chinesischen Taoismus, der etwa die Erfahrung des „Inneren Lichts“
(Zhuangzi) betont. Der Zen gilt bis heute auch als „Die Schule der Erleuchtung“. Die
charakteristischen Merkmale des Zen, Wortkargheit, spirituell befreiender Witz oder die
paradoxen Fragen Kôans wurzeln primär im Taoismus (nicht den altindischen Basistexten).
Es gibt sie innerhalb des Buddhismus auch nur im Zen. Sprachliche Argumente, gedankliche Analyse und Debatte treten hier zurück.
Auch von buddhistischer Seite laufen im Chan divergierende Lehrstränge zusammen: NurGeist wie Leerheit gleichermaßen. Der Inder Bodhidharma, der aus einer Brahmanenfamilie
stammte, wurde Anfang des 6. Jh. der erste chinesische Patriarch des Chan, dessen Begründer. Er betonte das Lankâvatâra-Sûtra, das Lehrmeinungen der Nur-Geist-Schule und
auch eine Lehre vom „Selbst“ vertritt. Andererseits wurden im Zen genauso die „Reden von
der Überschreitenden Weisheit“ (Prajñâpâramitâ-Sûtras) maßgeblich, besonders das
Diamant-Sûtra und das Herz-Sûtra. Letzteres ist die meistrezitierte Schrift des Zen. In
diesen Mahâyâna-Sûtras wird (angelehnt an den frühen Buddhismus Theravâda) die universelle Leerheit vom Selbst betont. Auch hier wird versucht, was „jenseits des Denkens“
liegt (griech. „para dokein“ oder „Paradox“) direkt zu erfassen. Doch im Fall dieser Schriften sind nun Argumente und Analyse zentral. So hat (all dies vereinigend) die Lehre von
der „Nicht-Dualität“ im Zen einen überragenden Stellenwert erhalten.
Der dritte Patriarch des Chan, Jianzhi Sengcan (gest. 606), etwa verkörpert dies. Er schrieb
die prägende „Meißelschrift vom Glauben an den Geist“ Xinxinming, und darin: „Hege
keine dualistischen Anschauungen. Vermeide absolut, ihnen zu folgen. Existiert auch bloß
ein wenig richtig und falsch, geht der Geist in Verwirrung verloren.“ Auch der Großmeister
des ganzen Zen, der sechste Patriarch Dajian Huineng (638-713), betont in der Niederschrift
seiner Lehren, dem besonders einflussreichen „Sûtra des Sechsten Patriarchen“: „Buddhismus ist die Lehre von der Nicht-Zweiheit.“ Er gilt als der „Vater des eigentlichen Zen“, so
der deutsche Lektor und Zen-Praktizierende Stephan Schuhmacher.
Die berühmten Grundmerkmale des Zen, nämlich Plötzliche Erleuchtung, pragmatische
Diesseitigkeit, die Ablehnung starrer Formen, Skepsis gegenüber reinen Schriftstudien,
paradoxe Fragen und Naturnähe nehmen ihren deutlichsten Ausgang bei Huineng. Er bringt
die altindischen Grundlagen des Zen erstmals nahtlos in den chinesischen Geist ein.
Ein Satz aus dem Diamant-Sûtra war für Huineng ursprünglich prägend: „Die Bodhisattvas
sollten einen reinen, lichten Geist entwickeln, der bei keiner Eigenschaft, ja keinem einzigen Ding verweilt.“ Er selbst schrieb später den Satz: „Nicht-Verweilen ist das Ursprüngliche Wesen des Menschen.“ Auch diese maßgebliche Zenlehre vom „Ursprünglichen Wesen, Gesicht oder Geist“ ist in erster Linie durch ihn begründet worden. Er fragte zuerst die
berühmte Zen-Frage: „Ohne zu denken `gut´, ohne zu denken `schlecht´: Was ist Dein Ursprüngliches Gesicht jetzt in diesem Augenblick?“
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Huineng übertrug den Dharma als der erste Patriarch des Chan klar an mehrere Schüler. In
den beiden Jahrhunderten danach kam es in China zum „Goldenen Zeitalter“ des Chan mit
einer Vielzahl prägender Meister. Besonders zu nennen sind dabei Mazu Daoyi (709-788),
der für seine unkonventionellen Methoden berühmt wurde (Schrei, Stock, Paradoxa) und
Shitou Xiqian (700-790). Ihre Nachfolger haben die „Fünf Häuser“ (Schulen) des Chan
gegründet; zwei davon sind das berühmte Rinzai- und Sôtô-Zen, wie sie dann später in
Japan genannt worden sind.
Im 12. und 13. Jh. brachten die Japaner Eisai Zenji und Nampo Shômyô das Rinzai-Zen
sowie Dôgen Zenji das Sôtô-Zen von China nach Japan, wo diese beiden Hauptlinien bis
heute die maßgeblichen Traditionen des Zen bilden. Dôgen Zenji (1200-1253) gilt vielen
als der größte Zen-Meister Japans. Das Rinzai-Zen wurde für seine paradoxen Fragen
Kôans berühmt, logisch unlösbare Fragen, um das logisch-begriffliche Denken spontan zu
transzendieren. „Was ist der Ton des Klatschens einer Hand?“ lautet etwa ein berühmtes
Kôan des großen Erneuerers des japanischen Rinzai-Zen, Hakuin Zenji (1685-1768). Er
wurde auch einer der bedeutendsten japanischen Maler von Tuschebildern. Kôans bedeuten
spontane Fragen aus der Perspektive der begrifflich nicht-fassbaren, Höchsten Wahrheit der
Soheit (Tathatâ) oder Leerheit, um gleichsam dahin zu „katapultieren“. Kôans sind Worte
als intuitive „Sprungbretter“ in die Erfahrung des Höchsten, wofür ein Schüler häufig lange
Zeit innerlich mit ihnen arbeitet. Das Sôtô-Zen ist berühmt für jenes Zazen als Shikantaza.
Mazu Daoyis Dharma-Erbe war Baizhang Huaihai (720-814), der spezifische Regeln für
das Leben in Zen-Klöstern aufstellte, was zu eigenständigen Zen-Klöstern führte. Er betonte
auch die Notwendigkeit, Meditation mit körperlicher Arbeit zu verbinden: „Ein Tag ohne
Arbeit ist ein Tag ohne Essen“. Sein Dharma-Erbe war der heute besonders vielzitierte
Zen-Meister Huangbo (gest. 850). Er lehrt etwa: „Alle Buddhas und alle Wesen sind nichts
anderes als der Eine Geist, neben dem nichts anderes existiert“. Huangbos Meisterschüler,
Linji Yixuan (japan. Rinzai Gigen, gest. 867), war der eigentliche Begründer der chinesischen Linji-(japan. Rinzai-)Schule. Sie ist schon in China prägend.
Dajians Huinengs Konkurrent Shenxiu (606-706) begründete offenbar die Tradition der
Allmählichen Erleuchtung, die Studien betonte. Trotz Unterstützung durch die chinesischen
Herrscher ging sie bald unter. Huinengs Tradition der Plötzlichen Erleuchtung ist zur bedeutendsten Quelle des Zen geworden. (Dies ist die gängige traditionelle Sicht, gegen die
sich manche Wissenschaftler, besonders Jon R. McRae, aussprechen.)
Die Verehrungswege im Mahâyâna
Zu den im alten China voll entstandenen Verehrungswegen im Mahâyâna, die später in
ganz Fernost bestimmend geworden sind, gehören: 1) Die Reines-Land-Schule oder der
Amitâbha-Buddhismus, woraus in Japan die dort besonders einflussreiche „Wahre Schule
vom Reinen Land“ des Shinran (1172-1263) hervorgegangen ist. 2) Die Volksbewegungen
der Hingabe an das Lotos-Sûtra, dem einflussreichsten unter den Mahâyâna-Sûtras. Diese
Lotos-Traditionen sind die ganz Fernost betreffende Tendai-Schule und der weitgehend auf
Japan beschränkte (dort große) Nichiren-Buddhismus mit dessen modernen Hauptablegern
Sôka gakkai und Risshô Kôsei-kai. In all diesen Richtungen steht die Devotion im Zentrum.
Der tibetische Buddhismus
Es gibt vier Hauptrichtungen im tibetischen Buddhismus: Nyingmapa, Kagyüpa, Sakyapa
und Gelugpa, die alle auf altindische Meister des tantrischen Buddhismus und des Mahâyâna zurückgehen. Die Alten Kadampa sind später in den Gelugpa aufgegangen. Daneben
sind besondere Bewegungen das Chöd und Rime.
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Alte Kadampa: 1042 wurde der indische Mönchsgelehrte und Tantriker Atîsha (980-1054)
nach Tibet eingeladen. Er etablierte hier den Buddhismus endgültig. Er war ein umfassender Gelehrter, der die Ordensdisziplin (Vinaya) betont hat, aber auch das Tantra. In
der Folge kam es zur typischen Verbindung dieser beiden Stränge in den tibetischen
Klöstern, eine Verbindung, die schon ähnlich die altindischen Klosteruniversitäten
charakterisierte. Atîsha integrierte alle buddhistischen Wege mit einem abgestuften System,
um allmählich die Ethik des Bodhisattva zu entwickeln. Dabei sind analytische
Meditationen zentral, um die Motivation immer mitfühlender zu gestalten. In Tibet ist
dieses Vorgehen als Lamrim (Stufenweg) prägend geworden.
Atîsha hat auch die Verehrung des transzendenten Bodhisattva Avalokiteshvara betont, die
spätere Nationalgottheit Tibets.
Der Meisterschüler Atîshas war der Tibeter Dromdön (1008-1064). Er begründete die
Schule der Alten Kadampa („Buddhas Wort Folgende“). Sie lehrte das bis heute prägende
Übungssystem Lodjong („Läuterung des Geistes“), um systematisch das Bodhichitta
(„Geist des Erwachens“) eines Bodhisattva hervorzubringen. Dazu gehört auch eine gezielte Meditation zur Entwicklung von Mitgefühl, Tonglen, eine visualisierte Übernahme
des Leidens anderer. Die Alten Kadampas gingen im 14. Jh. in der Schule der Gelugpa
(„Anhänger des Tugendweges“) bzw. Neuen Kadampa auf, der zuletzt entstandenen Hauptströmung Tibets. Die „Gelbhut“-Oberhäupter der Gelugpas sind die Dalai Lamas, die ab
dem 17. Jh. die geistliche und weltliche Führung Tibets übernommen haben.
Nyingmapa („Anhänger der Alten“): Sie folgen den „Alten Tantras“ aus der Ersten Einführung des Buddhismus nach Tibet. Die Schule beruft sich auf den indischen Mahâsiddha
Padmasambhava (Lotusgeborener, 8. Jh.) oder Guru Rinpoche (Kostbarer Meister), der den
Mahâyâna-Buddhismus zuerst in Tibet eingeführt hat. Die Nyingmapas betrachten
Padmasambhava (wie auch den historischen Buddha Shâkyamuni) als einen „Verwandlungskörper“ (Nirmânakâya) des Bodhisattva Avalokiteshvara. Den gleichen Status
hat in Tibet generell der Dalai Lama. Die Nyingmapas blieben im Unterschied zu den
anderen tibetischen Hauptströmungen ohne organisierte Hierarchie. Sie verwickelten sich
auch nicht in die politischen Kämpfe des Landes. Ihr Ansatz beruht etwa auf Haushältermeistern, die in den Dörfern leben („Dorftantriker“). Vor der Verfolgung des Buddhismus
soll Padmasmabhava (dies vorhersehend) für die spätere Zeit der Wiedereinführung
Schriften in der Natur versteckt haben. Diese Schriften heißen Terma („Verborgene
Schätze“) und deren Auffinder Tertön („Offenbarer der Schätze“). Es handelt sich hier um
Tantras, Ritualtexte und Werke der direkten Befreiungspraxis Dzogchen. In nachfolgenden
Epochen wurden diese Schätze auch innerlich geschaut, als „Geistige Schätze“.
Kagyüpa: Der Tibeter Marpa (1012-1096) gilt als Begründer der Schule der Kagyüpa
(„Anhänger der Mündlichen Überlieferung“), die stark an der mündlichen Unterweisung
durch verwirklichte Meister orientiert ist. Marpa brachte die „Sechs Yogas“ (Nâro
Chödrug) der indischen Tantrikers Nâropa (1016-1100) nach Tibet, bei dem er 16 Jahre
gelernt hatte. Zu diesen „Sechs Yogas“ zählen „Die Erfahrung des Körpers als Schein“, der
„Traumyoga“ und das „Sehen des Klaren Lichts“. Nâropa war ein gelehrter Mahâsiddha
oder im Tantra Verwirklichter. Die Hauptpraxis der Kagyüpas, die direkte Befreiung durch
die Meditation der Mahâmudrâ (Großes Siegel), geht auf den indischen Mahâsiddha Tilopa
zurück („Mann, der Sesam mahlt“; 988-1069). Nâropa gab eine hohe Lehrposition an der
größten buddhistischen Klosteruniversität Nâlandâ auf, um bei dem Sesamölhersteller Tilopa zu lernen (der sich für einige seiner Kernlehren auf Nâgârjuna berief). Es heißt, Tilopa
habe die tantrischen Hauptlehren Indiens harmonisch integriert.
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Marpa galt auch selbst als Haushältermeister und hochverwirklichter Tantriker. Außerdem
war er ein gelehrter Übersetzer (Lotsâwa) indischer Sanskritwerke ins Tibetische. Sein
Meisterschüler war nun der berühmte Siddha („Vollendete“) Milarepa („Baumwollgekleideter Asket“, 1052-1135). Er soll lediglich mit dünner Baumwolle bekleidet in den
Berghöhlen meditiert und über große Magiemächte verfügt haben (etwa die Praxis der
„Inneren Hitze“, um dort im Winter leben zu können). Milarepa ist ein hochbeliebtes Motiv
für die tibetischen Rollbilder Thangkas. Die „Hunderttausend Gesänge“ des Milarepa sind
eines der Hauptwerke des tibetischen Buddhismus. Die primären Tantras der Kagyüpas sind
das indische Guhyasamâja- und Chakrasamvara-Tantra.
Mehrere Kagyüpa-Schulen führten sich auf Milarepas Meisterschüler Gampopa (10791153) zurück, von denen die Karma-Kagyüpas bis heute prägend sind. Ihr Oberhaupt ist der
Karmapa, nach dem Dalai Lama praktisch der einflussreichste Würdenträger Tibets. Die
tibetische Institution der gezielten Reinkarnation eines verstorbenen Lama in einem neugeborenen Kind als Tulku hat mit dieser Schule der Karma-Kagyüpa begonnen. Vor einigen
Jahren hat ein Streit über die rechte Wiedergeburt des Karmapa diese Schule entzweit, was
auch durch westliche Medien gegangen ist. Die nach dem Kloster „Drug“ (Drache) benannten Drugpa-Kagyüpa kamen im 17. Jahrhundert nach Bhutan, das nach ihnen „Land
des Drachen“ heißt. Seit jener Zeit sind sie hier die vorherrschende Schule. Gampopas sehr
einflussreiches Hauptwerk ist der „Juwelenschmuck der geistigen Befreiung“, womit er die
Lehren der Kagyüpas mit denen der Alten Kadampas verschmilzt. Es ist das älteste Werk
der tibetischen Textgattung des Lamrim („Stufen des Weges“), das unmittelbar in jener
integrativen Systematik und analytischen Meditation der Alten Kadampas wurzelt. In Tibet
wurde Gampopas „Juwelenschmuck“ zum Vorbild für viele Werke.
Sakyapa: Diese Schule ist nach dem berühmten Kloster Sakya benannt. Sie wurde von
Drokmi (992-1072) begründet. Auch er hatte indische Mahâsiddhas als Meister, besonders
den gelehrten Shântipa. Die Sakyapas favorisieren als Tantra das indische Hevajra Tantra.
1073 gründete Drokmis Schüler Könchog Gyalpo das Kloster Sakya nahe Nepal und
Indien, das mit der Übersetzung vieler Werke aus dem Sanskrit ins Tibetische bald ein
hochgelehrtes Zentrum wurde. 1244 ernannte der mongolische Khan Godan das SakyapaOberhaupt Sakya Pandita (1182-1251) zum Regenten des sich freiwillig untergebenden
Tibet. Damit begann die tibetische Institution der Führung des Landes durch Geistliche, die
bis 1959 währen sollte. Sakya Panditas Neffe Pakpa (1235-1280) wurde von Kublai Khan
protegiert, offenbar wegen seiner Magiemächte. Auch Marco Polo, der an Kublai Khans
Hof weilte, berichtet von großen Magiemächten dortiger tibetischer Lamas. Als Kaiser von
China erwies sich Kublai Khan als großer Gönner des Buddhismus. Nach dem Niedergang
der Mongolen und Sakyapas im 14. Jahrhundert übernahmen die Kagyüpas die Macht in
Tibet bis ins 17. Jahrhundert, und dann mit den Gelugpas die Dalai Lamas.
Gelugpa: Der Begründer dieser „Schule des Tugendweges“ Gelugpa war Tsongkhapa
(1359-1419), der ein 18-bändiges Gesamtwerk (über 200 Einzelwerke) zum Mahâyâna und
Vajrayâna verfasst hat. Er gilt als der einflussreichste gelehrte Lama des Schneelandes. Mit
seiner „Großen Darlegung des Stufenweges“ Lamrim Chenmo und „Großen Darlegung des
Geheimen Mantra“ Ngagrim Chenmo hat er jeweils die Kernaussagen des Mahâyâna und
des Vajrayâna systematisiert. Er betonte die Ordensdisziplin und alle nichttantrische Philosophen Indiens, kommentierte aber genauso die Tantras (wie früher Atîsha). Wie alle
tibetischen Schulbegründer vor ihm betrachtete auch er das Tantra als die höchste Praxisstufe. Das die buddhistischen Traditionen abgestuft integrierende Lamrim („Stufenweg“),
Studium, Ordensleben und innere Disziplin charakterisieren die Gelugpas. Der heute
renommierteste Meister des Buddhismus ist ein Gelugpa, der Dalai Lama. Die größten
Klöster Tibets Ganden, Drepung und Sera gehen auf Tsongkhapa zurück. Die Haupttantras
dieser Schule sind das indische Guhyasamâja-, Cakrasamvara- und Kâlachakra-Tantra.
Nach den Gelugpas traten in Tibet kaum noch einschneidende Neubewegungen hervor, und
das Land konzentrierte sich ganz auf sich. Es schottete sich gegenüber China und Indien ab,
bis zum unsanften Erwachen durch das kommunistische China des 20. Jh..
27
Chöd (für „Abschneiden“ des Denkprozesses) konfrontiert in einer schamanistisch geprägten und anarchisch-tantrischen Praxis zur universellen Leerheit vom Selbst mit den
Angstvorstellungen aus unserer „Ich und Mein“-Verhaftung. Das Chöd wird „konfrontativ“
in der Natur etwa an Leichenstätten oder in den Bergen geübt. Die Begründer sind der südindische Yogi Phadampa Sanggye (gest. 1117) und dessen tibetische Schülerin Machig
Labdrönme (1055-1145), die eine große Mystikerin gewesen ist („Die Gesänge der Freiheit“, garuda). Die Lehren Nâgârjunas und der Prajñâpâramitâ-Sûtras wurden hier ganz
zentral. Im Chöd gelten die Zornvollen Meditationsgottheiten als reine Geistesschöpfungen.
Wenn diese (ihre) wahre oder „leere“ Natur durchschaut wird, lösen sich auch alle Ängste
auf, weil sie bloß im Haften an einem getrennten „Selbst“ gründen.
Rime (Unparteiische) ist die maßgebliche Integrationsbewegung zu allen tibetischen Traditionen als gleichrangig, die im 19. Jahrhundert begann. Auf die Nyingmapas und die Karma-Kagyüpas hat sie bis heute großen Einfluss. Ihr Hauptvertreter war Jamgön Kongtrul
(1811-1899), der als Tulku galt und viele prägende Werke schrieb.
7) Die wichtigsten Schriften:
Der frühe Buddhismus Theravâda
Der Pali-Kanon des frühbuddhistischen Theravâda ist der älteste vollständig überlieferte
Textkanon zur Lehre des Buddha (moderne Übersetzungen: www.accesstoinsight.org). Er
hat „Drei Körbe“ Ti-Pitaka: Die Reden des Buddha Sutta in fünf umfassenden Sammlungen
(Nikâya), der Ordenskodex (Vinaya) zu den Regeln mit der Ordensentwicklung sowie die
späteren philosophischen und psychologischen Abhandlungen (Abhidhamma) zu den
Worten des Erwachten. Der Pali Kanon und die weiteren Kommentaren dazu umfassen
etwa 60 000 Seiten in 40 Bänden, die heute kostenlos auf CD-Rom des „Vipassanâ
Research Institute“ innerhalb der Vipassanâ-Tradition des Inders Satya Narayan Goenka
erhältlich sind. Diese CD wird mit ihren vielen Hilfsprogrammen auch in der Wissenschaft
hoch geschätzt.
Buddhas letzte Worte
Die Letzten Worte des Buddha (Mahâparinibbâna-Sutta): „Ich habe lediglich einen Dharma
vermittelt, nicht einen geheimen und einen öffentlichen. Nichts Wichtiges ist unverkündet
geblieben, als sei es in einer geschlossenen Faust. Ein Erwachter denkt nicht: `Ich muss die
Jüngerschaft führen. Sie sollte sich auch weiterhin auf mich verlassen!´ Deshalb sage ich:
`Seid Euch selbst das führende Licht, seid Euch selbst der Freiort, wählt niemand anderen
zum Freiort. Nehmt den Inneren Weg zum führenden Licht, nehmt den Inneren Weg zum
Freiort, wählt nichts anderes zum Freiort. Wie könnt Ihr Euch selbst Freiort sein? Bleibt
stets verankert in eingehender Betrachtung des Körperlichen im Körperlichen: Entschlossen, klar wissend und achtsam gegenwärtig, nachdem Verlangen und Bekümmern hinsichtlich der Welt abgelegt worden sind. Das Gleiche gilt für die Empfindungen, Geistesqualitäten und Natürlichen Wahrheiten. Diejenigen, die jetzt oder künftig so leben, werden das
Höchste verwirklichen! Was ich Euch als den Weg gewiesen und erläutert habe, wird nach
meinem Dahinscheiden Euer Lehrer sein. Flusshaft-vergänglich ist alles bedingt
Entstandene. Erarbeitet Euch unermüdlich die Befreiung!“ Diese machtvollen Worte bedeuten auch eine klare Absage an Esoterik (griech. „Geheimlehre“).
Die Rede von der Allgüte
Buddhas „Rede von der Allgüte“ (Mettâ-Sutta) ist einer der in Südostasien von den Laien
und Ordinierten meistrezitierten Kurztexte des Pali-Kanons. Wegen ihrer Schönheit und
Kraft erscheint sie hier in Neuübersetzung vollständig (Kasten des Lexikons). Solche Aussagen des Erwachten demonstrieren auch, warum manche Indologen seine Praxislehre als
„Ethisierung des altindischen Denkens“ resümiert haben.
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Die beiden kanonischen Textsammlungen des Mahâyâna
Die umfassenden Quellen des Mahâyâna sind an den altindischen Klosteruniversitäten
Nâlandâ, Vikramashîla, Otantapurî und Taxila entstanden. Während der Hochblüte des
Mahâyâna studierten in Nâlandâ rund 10 000 Mönche, wie der Reisebericht des chinesischen Pilgers Xuanzang (602-664 n.Chr.) verdeutlicht. Dieser Reisebericht war damals in
China und dessen Nachbarländern sehr populär. Der indische König Harsha stand im engen
Kontakt mit Xuanzang. Im 12. Jh. wurde Nâlandâ von den muslimischen Eroberern Indiens
völlig zerstört. Xuanzang, der chinesische Pilger Faxian (337-422 n.Chr.) oder auch die
Begründer einiger Haupttraditionen des tibetischen Buddhismus studierten viele Jahre an
diesen Klosteruniversitäten. Von hier nahmen sie die grundlegenden Sanskrit-Schriften in
ihre Heimatländer mit, Faxian etwa 657 Werke, von denen er selbst 75 aus dem Altindischen (Sanskrit) ins Chinesische übersetzt hat. Ein berühmter Übersetzer ins Chinesische
war der Inder Kumârajîva (344-413 n.Chr.). So entstand allmählich die Textbasis für den
umfassenden chinesischen und den tibetischen buddhistischen Kanon.
Der Kanon der fernöstlichen Mahâyâna-Traditionen
Der im zehnten Jahrhundert fertiggestellte chinesische „Dreikorb“ (chines. Sanzang) mit
den Reden (Sûtras), der Ordensdisziplin (Vinaya) und der Scholastik (Abhidharma) umfasst
2500 Einzelwerke (Taishô Tripitaka). Er ist grundlegend für den ganzen fernöstlichen
Buddhismus. In diesen chinesischen Übersetzungen finden sich die ursprünglich im Sanskrit verfassten Werke des indischen Mahâyâna wieder, die in Indien verlorengegangen sind.
Dieser Kanon enthält auch zentrale Bestandteile der frühbuddhistischen Übergangsschulen
zum Mahâyâna (vgl. oben „4) Geschichte: Die Erste Drehung“), deren Reden Buddhas
„Âgamas“ und Ordenskodizes. Seit einiger Zeit arbeitet das „Numata Center for Buddhist
Translation and Research“ der wohlhabenden japanischen buddhistischen Stiftung Bukkyô
Dendô Kyôkai („Gesellschaft zur Förderung des Buddhismus“) des Industriellen Dr. Yehan
Numata an einer vollständigen Übersetzung des chinesischen Kanons ins Englische. Dabei
handelt es sich um ebenso populär orientierte Ausgaben (BDK English Tripitaka Series),
die bereits zum Teil erhältlich sind. Damit sind auch bald Haupttexte der anderen
frühbuddhistischen Schulen breiter zugänglich.
Nâgârjuna
Nâgârjuna (2.-3. Jh., Indien) gilt mit seiner direkten Befreiungsschau als ein Urvater des
chinesischen Chan oder Zen und im ganzen tibetischen Buddhismus als der „Zweite Buddha“. Außerdem ist er ein Hauptvater des tantrischen Buddhismus und prägt auch heute
maßgebliche Lehrende des frühen Buddhismus Theravâda (etwa einen der Gründermeister
des Vipassanâ, Ajahn Buddhadâsa aus Thailand, oder den Engländer Christopher Titmuss).
Nâgârjuna ist der insgesamt einflussreichste Denker des Buddhismus, nach dem Buddha der
Großmeister zur Weisheit. Im Kasten (des Lexikons) stehen neu übersetzt fünf „Wurzelverse“ aus dem „Herzen“ der Höchsten Wahrheit. Sie gehören zum Kapitel „Untersuchung
des Selbst“ des Hauptwerkes Mûla-Madhyamaka-Kârika.
Shântideva
Shântideva (7.-8. Jh., Indien) steht in der von Nâgârjuna begründeten Denkrichtung des
Mittleren Weges. Er ist der einflussreichste Vater des ethischen Ideals vom Bodhisattva, das
in Zentral-und Ostasien ein Kernelement des Mahâyâna ist. Shântidevas Hauptwerk Eintritt
in den Wandel zum Erwachen ist das meistkommentierte Werk des Buddhismus. Der
heutige Dalai Lama sieht es als seine primäre Inspirationsquelle. Der buddhistische Bestsellerautor Stephen Batchelor („Buddhismus für Ungläubige“) erkennt in ihm die „klarste
buddhistische Formulierung“ dessen, was es heißt, „authentisch mit anderen zu sein“. Der
Senior-Vipassanâ-Lehrer Christopher Titmuss findet hier die „Ethik der Zukunft“. In
diesem philosophischen Lehrgedicht (Kasten im Lexikon) besingt Shântideva mit rund
1000 Strophen über zehn Kapitel den inneren Werdegang des Bodhisattva. Seit Jahrhunderten haben aus diesen Einsichtsschätzen ordinierte Meister wie gewöhnliche Laien
Kraft geschöpft. Verse daraus sind etwa in die tibetische Folklore eingegangen. Shântideva
ist nach dem Buddha der buddhistische Großmeister zu den Herzensqualitäten, der Ethik.
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Der Kanon des tibetische Buddhismus mit dem tantrischen Weg
Der tibetische Kangyur („Wort des Buddha“) enthält 108 Bände (Mahâyâna-Sûtras, Ordensdisziplin Vinaya, Scholastik Abhidhamma sowie Tantras) und der Tengyur (die altindischen Abhandlungen und Kommentare) weitere 225 Bände. Der Gelehrte Butön (12901364) hat alles kompiliert. Insgesamt handelt es sich um 4700 Einzelwerke. Wenn man zu
diesem Kanon noch die ähnlich zahlreichen, durch die Jahrhunderte verfassten Schriften der
tibetischen Lamas, Rinpoches und Gelehrten dazunimmt, ist zu sagen: Tibet ist die an religiösen Schriften reichste Kultur der Welt.
Die altindischen Mahâsiddhas spielen im tibetischen Buddhismus eine besondere Rolle.
Drei der vier Hauptrichtungen des tibetischen Buddhismus gehen auf sie zurück. Deren
Befreiungsgesänge Dohas haben in Tibet stark fortgewirkt und große Nachahmer gefunden,
etwa mit Milarepa und Drukpa Künleg. Der altindische Mahâsiddha Saraha, von Beruf
Pfeilschmied, illustriert die Reinheitssicht der tantrischen Verwirklichten: Die Vereinigung
von Methode und Weisheit oder Yogin und Yogini bzw. Nâgârjunas Sicht, dass im Licht
der höchsten Schau nichts ein „Selbst“ bleibt oder „Samsâra ist Nirvâna“. Saraha stand am
Anfang der Übertragungslinie der Mahâmudrâ („Großes Siegel“). Er offenbart auch die
Intention dieser direkten Meditation. (Kasten des Lexikons)
8) Wichtige Institutionen:
Konzil: Im Buddhismus ist das Konzil Sangâyanâ („Gemeinsame Rezitation“) die große
Zusammenkunft der führenden Ordinierten, um die kanonischen Texte einer umfassenden
Durchsicht zu unterziehen. Dabei geht es um die Sicherung der Worte des historischen
Buddha. Ursprünglich sind diese mündlich weitergegeben worden, wobei die Versammlung
die Korrektheit der „Rezitationen“ prüfte. Deshalb beginnen die Reden des Erwachten im
ältesten vorhandenen oder Pali-Kanon des Theravâda auch: „So habe ich gehört: Zu einer
Zeit weilte der Erhabene ...“ Nun kommen zuerst kurz die Umstände der „gehörten“ Rede,
bevor diese möglichst wortgetreu wiedergegeben wird. Am Ende wird die Wirkung auf die
Zuhörer beschrieben, manchmal eine Befreiungsstufe.
Es hat bisher sechs große Konzile gegeben, das erste direkt nach Buddhas Tod. Auf dem 2.
Konzil von Vaishâlî (380 v.Chr.) begann sich die Urgemeinde in zwei Richtungen zu trennen, die „Großgemeindler“ Mahâsanghikas, eine Übergangsschule zum Mahâyâna, und die
„Anhänger der Lehre der Ältesten“ Sthaviravâdins, die späteren Theravâdins. Auf dem 3.
Konzil von Pâtaliputra (253 v.Chr.) unter Ashokas Schirmherrschaft entstanden weitere
Übergangsschulen (oben S. 24 und Zeittafel) zum Mahâyâna, das ab der Zeitwende in Indien voll hervorgetreten ist und Zentral- und Ostasien geprägt hat. Das vierte Konzil fiel in
die Zeit des buddhistischen indischen Königs Kanishka (zw. 78 u. 144 n.Chr.). Das fünfte
Konzil tagte 1871 in Mandalay, Burma, und das sechste Konzil 1954-56 in Burmas Hauptstadt Rangoon, als 2500 Mönche aus ganz Südostasien den Pali-Kanon geprüft sowie modern ediert haben.
Klöster und Gesellschaft: Der Zweck der Ordensgemeinschaft, deren Mitglieder sich
vollständig der Praxis des Inneren Weges widmen, ist die Bewahrung der Lehre. Dies ist
kein Selbstzweck: Die Früchte dieser ungeteilten Widmung machen die Ordinierten zu
Helfern der Gesellschaft: Unterweisung in der Befreiungslehre, persönliche Beratung oder
Beistand in Krisensituationen wie Verlust, Krankheit und Tod. Neben dieser Vermittlung
des Inneren Weges tragen buddhistische Ordinierte heute in Asien ebenfalls Waisenhäuser,
Aidshilfeklöster, Kliniken oder Altenheime. Traditionell haben die Klöster auch Schulen
für die Jungen betrieben, die bis heute neben den staatlichen existieren. Im alten Indien gab
es große monastische Universitäten, eine Tradition, die sich in den späteren buddhistischen
Ländern bis in die Gegenwart fortgesetzt hat. Im jungen „Westlichen Buddhismus“ gibt es
bereits eine buddhistische Universität: Das von dem tibetischen Lama Chögyam Trungpa
(1939-87) begründete Naropa-Institute in Boulder, USA.
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Leben in den Klöstern: Dieses ist durch den Ordenskodex Vinaya (Pali-Kanon) geregelt.
Die Entscheidungen der Klostergemeinschaft beruhen auf dem Konsensprinzip. Das Hauptelement des Vinaya sind die 227 Verhaltensregeln Pâtimokkha, die in den Klöstern monatlich an den Tagen des Voll- und Neumonds feierlich rezitiert werden. Ihr Zweck ist das
Schaffen möglichst günstiger Bedingungen für die Befreiungspraxis. Früher gab es bloß
einzelne westliche Ordinierte, was sich in den letzten Jahrzehnten geändert hat. Es ist ein
historisches Novum, dass sich im Westen eine ganze frühbuddhistische Klostertradition
etablieren kann: Die Ordensgemeinschaft des thailändischen Meisters Ajahn Chah, deren
Klöster von Laien vielbesucht sind. Ajahn Chah zum Zweck der Regeln: „Sie schaffen eine
einfache, harmonische Umgebung. Ihre Essenz ist das Betrachten der Absicht.“ Denn die
Läuterung der Absichten ist das Fundament des Weges. Im Westen gibt es heute auch andere buddhistische Gemeinschaften aus westlichen Ordinierten.
Orden und Kirche: In Asien sind die Orden die primären Träger und Vermittler der buddhistischen Lehre, nicht Laieninstitutionen (Kirchen) mit bezahlten Laiengeistlichen, die in
einer engeren Verbindung mit staatlichen Interessen stehen. Aber es existieren im Buddhismus heute auch große, völlig unabhängige Laienorganisationen (etwa die weltweite
Vipassanâ-Tradition des Körperhineinfließens von S. N. Goenka oder im Westen Shambhala von Chögyam Trungpa, die „Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens“ von Sangharakshita, Diamantweg von Ole Nydahl und Rigpa von Sogyal Rinpoche). Laut PaliKanon haben zur Zeit der Urgemeinde ebenfalls Laien in großer Zahl die Endgültigen
Befreiungsstufen verwirklicht. Im westlichen Buddhismus spielen Laienorganisationen die
wichtigere Rolle, was die Vermittlung der buddhistischen Befreiungslehre angeht.
9) Heilige Stätten:
Die länderübergreifend heiligsten Stätten des Buddhismus sind die Orte von Buddhas Geburt (Lumbinî), vollem Erwachen (Bodh Gayâ), erster Rede bzw. Lehrbeginn (Sârnâth)
sowie Tod (Kushinagara) in Südnepal und Nordindien. Daneben gibt es weitere Orte in
Nordindien, wo sich der Buddha regelmäßig aufgehalten oder des öfteren Reden gegeben
hat, wie Shrâvastî, Kaushâmbî oder Râjagriha.
Die wichtigsten Pilgerstätten Chinas sind die Vier Heiligen Berge, nämlich Wutei-Gebirge,
Emei-Gebirge, Putuo-Insel und Jiuhua-Gebirge. Zentrale Wallfahrtsorte in Japan sind die
Berge Hiei und Kôyasan. Auf dem Berg Hiei bei Kyôto hat Saichô 788 seinen Tempel
errichtet, der vielen Japanern als die „Wiege des japanischen Buddhismus“ gilt. Saichô ist
der Begründer der japanischen Tendai-Schule. Auf dem Berg Kôyasan südlich von Kyôto
hat Kûkai (774-835) das Zentrum des tantrischen Shingon-Buddhismus gegründet, ein bis
heute vielbesuchter, tempelreicher Ort. Der mit 16 Metern höchste Bronzebuddha der Welt
steht im japanischen Nara: Der Allbuddha Vairochana der Kegon-Schule. Er ist auch im
größten Holzbauwerk der Welt, dem Tempel Tôdaiji.
Die beiden Hauptbauformen des Buddhismus sind der Stûpa (rundlicher Reliquienschrein)
und die Pagode (etagenförmiger Sakralbau mit Schirmdächern). Vier ganz zentrale Stûpas
stehen an jenen heiligsten Orten Lumbinî, Bodh Gayâ, Sârnâth und Kushinagara, die heute
wieder Pilgerstätten für Buddhisten aus aller Welt sind. Der älteste erhaltene Stûpa steht in
Sâñchî, Mittelindien: Der „Große Stûpa“ (3. Jh. v.Chr.), der zum Bauvorbild geworden ist.
Berühmte Stûpas sind auch Bodhnâth (5. Jh.) und Swayambhûnâth in Nepal. Von ihren
Seiten blicken große, allsehende Buddha-Augen. Bodhnâth ist auch das nepalesische Zentrum der Exiltibeter, mit mehr als zehn Klöstern im Umfeld des Heiligtums. Eine häufig
abgebildete Pagode ist die riesige Shwedagon-Pagode in Burmas Hauptstadt Rangoon, wo
immer ein lebhaftes Treiben herrscht: Berufstätige machen dort Mittagspause, alte Frauen
plaudern beim Kartoffelschälen oder Ordinierte beraten und segnen Laien.
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Besonders große Tempelanlagen aus vergangenen Epochen sind die Tempel von Borobudur
auf Java (9. Jh.) und das Khmer-Heiligtum Angkor Wat in Kambodscha (12. Jh.). Borobudur (33 Meter hoch, 123 Meter breit, mit 72 Stûpas) zeugt auch von der Blüte des Buddhismus im damaligen Indonesien, wohin später der Islam vorgedrungen ist. Es ist die
größten Stûpa-Anlage der Welt. Pagan in Burma war die Hauptstadt des ersten
burmesischen Großreiches (849-1287). Der Ort wird auch die „Stadt der Pagoden“ genannt.
Von den damals 9000 Pagoden existieren heute noch etwa 5000.
10) Feste und Riten:
Südostasien: Zentrale buddhistische Feiertage sind hier die vier Mondwendtage Uposatha
(besonders Vollmond und Neumond), wenn sich die Laien in den Tempeln zu Zeremonien
versammeln. Der höchste Feiertag des Jahres ist der Vollmondtag im Mai, Vesak, als der
Buddha in Bodh Gayâ das volle Erwachen (Bodhi) verwirklicht hat. In Südostasien und auf
Sri Lanka gilt Vesak auch als der Tag von Buddhas Geburt, Auszug als Erwachsener, um
das Heilsziel zu realisieren und Sterbens. Der andere Hauptfeiertag ist hier das mehrtägige
Neujahrsfest ab dem Vollmondtag im April. Bei thailändischen und burmesischen Feierlichkeiten des Buddhismus sind die Haustüren mit farbigen Laternen, Papierfahnen und
Palmblättern geschmückt. In den Tempeln werden dann bei Kerzenflackern, Blumen und
dem Rauch der Räucherstäbchen die heiligen Texte des Pali-Kanons rezitiert.
Sri Lanka: Auf Sri Lanka wird am Poson-Tag zum Vollmond im Juni oder Juli die Ankunft des Buddhismus auf Sri Lanka gefeiert. Dann werden großen Prozessionen (Peraheras) veranstaltet, festlich geschmückte Elephanten tragen Statuen, und Trommler begleiten
den Umzug. Von den Bäumen hängen flackernde Öllämpchen. Die Tempel sind reich
dekoriert. Die größte Feier findet in Mihintale bei Anuradhapura statt. Der ceylonesische
König ist hier Ashokas Sohn Mahinda begegnet, der den Theravâda von Indien nach Sri
Lanka gebracht hat. In Anuradhapura steht auch ein Ableger des Bodhi-Baums, unter dem
der Buddha vollkommen erwacht ist.
Am Asalha-Tag feiern die Singhalesen Buddhas erste Rede in Sârnâth. Während dieser
riesigen 15-tägigen Perahera im August wird in Kandy das größte Heiligtum des Landes auf
Elephanten durch die Straßen getragen: Ein Zahn des Buddha.
Tibet: In Tibet ist das größte Fest Losar, das tibetische Neujahrsfest im Februar. Es beginnt
am Vollmond und dauert 15 Tage. In dieser Zeit finden in den Klöstern etwa Heilige Tänze
in prächtigen Kostümen statt. Die Laien führen Fastentage durch, geben etwas hin, was sie
loslassen wollen, aber bisher nicht konnten oder nehmen in den örtlichen Tempeln an den
Verehrungszeremonien Pûjas teil. Ein weiterer Hauptfeiertag des tibetischen Buddhismus
liegt im Juli, der „Geburtstag von Guru Rinpoche“. Es ist der Geburtstag des hochverehrten
Mahâsiddha Padmasambhava, der den Buddhismus im 8. Jh. nach Tibet gebracht hat. Dann
werden etwa in den Tempeln feierlich Kerzen und Nahrung dargebracht, die Schriften oder
Heilige Silben Mantras rezitiert und still gemeinsam meditiert.
Japan: In Japan ist etwa das Blumenfest Hana Matsuri zentral, das zu Buddhas Geburtstag
gefeiert wird. Dieser liegt hier auf dem 8. April. In dieser Frühjahrszeit der Kirschblüte
finden Folkloretänze statt oder wird in den Tempelhöfen mit kunstvollen Aufführungen das
historische Ereignis der Geburt des Erwachten gefeiert.
Pûjâ: Die wichtigste buddhistische Verehrungszeremonie ist die Pûjâ (Sanskrit „Verehrung, Zeremonie“). Während einer Pûjâ im frühen Buddhismus Theravâda singen etwa
die Ordinierten Buddhas Reden im Pali-Kanon, Laien nehmen mit feierlichen Formeln die
Drei Freiorte sowie Fünf Gelübde und am Ende wird still gemeinsam meditiert (etwa an
jenen monatlichen Feiertagen Uposatha in den lokalen Tempeln).
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11) Religion und Staat:
Die Rolle des Staates
Das Verhältnis des buddhistischen Ordens zum Staat ist von Land zu Land unterschiedlich.
Im sozialistischen Burma versucht der Staat, den Orden stark zu kontrollieren. In Thailand
hat der Staat in Angelegenheiten des Ordens ein letztliches Entscheidungsrecht, das er aber
selten ausübt. Der Orden hat hier einen sehr hohen Status. In Sri Lanka sind Staat und Orden, zumindest formell, getrennt. Im allgemeinen gilt für die buddhistischen Länder mit
sozialistischen Regierungen (China, Vietnam, Laos), dass hier der Staat mehr Einfluss auf
den Orden zu nehmen versucht. Aber dessen altetablierte Verankerung im Herzen des Volkes setzt dem klare Grenzen. Die zunehmende wirtschaftliche Liberalisierung und Öffnung
für den Westen fördern hier auch die Freiheit des Ordens. In den anderen nichtsozialistischen Ländern (Japan, Korea, Taiwan, Kambodscha, Singapur, Mongolei) besitzt
der Orden Freiraum. Im alten Tibet und heutigen Bhutan (tibetischer Buddhismus) gibt es
eine enge Verzahnung des Staates mit dem Orden, der hier eine große Machtfülle besitzt.
Der Engagierte Buddhismus
Der gesellschaftlich besonders aktive Engagierte Buddhismus ist in Asien entstanden, aber
seit vielen Jahren auch zunehmend im Westen manifest, im Tier- und Umweltschutz,
Sozialprojekten, Friedensinitiativen oder der Sterbebegleitung. Eine zentrale Ausdrucksform sind die zahlreichen Gemeinschaften und Hilfsprojekte, die sich der Nothilfe, Unterstützung von Kindern, Aufbauarbeit und politischen Freiheit der buddhistischen Völker
Asiens widmen. Besondere Aufmerksamkeit gilt hier dem tibetischen Volk. Im Westen sehr
populäre Vertreter des Engagierten Buddhismus sind der vietnamesische Zen-Meister Thich
Nhat Hanh mit seinem 300 Gemeinschaften zählenden „Orden des Interseins“, Sogyal
Rinpoche mit der Organisation „Spirituelle Fürsorge“ zur Hospizarbeit, Bernhard Glassman
Rôshi mit der internationalen „Peacemaker Gemeinschaft“ oder Christopher Titmuss, eine
maßgebliche Stimme zur Verbindung des Buddhismus mit der Ökologie. Eine wichtige
Organisation in dieser Verbindung ist etwa der „Earth Sangha“ (earthsangha.org). Die deutsche Website (buddhanetz.de) bietet umfassende Informationen und Links. 1989 ist in
einem thailändischen Kloster von engagierten Ordinierten und Laien das „International
Network of Engaged Buddhists“ (INEB) gegründet worden, mit Sitz in Bangkok. Es soll
die bestehenden weltweiten Aktivitäten zusammenführen, ausbauen und mit anderen Bewegungen in Kontakt bringen. 1993 wird für den deutschen Sprachraum das „Netzwerk
Engagierter Buddhisten (NEB)“ gegründet, das Franz-Johannes Litsch in Berlin leitet.
Der Theravâda ist heute ein besonders aktiver Motor des Engagierten Buddhismus. In Südostasien gibt es etwa die „Development Monks“, Aidshilfe-Klöster, die von Mönchen getragene Bewegung zur Ordination (damit Unantastbarkeit) vom Niederschlag bedrohter
Urwaldbäume, den UNESCO-Friedenspreisträger, vielfachen Autor und Ordinierten Phra
Payutto, autarke buddhistische Landgemeinschaften, den Sozialreformer Sulak Sivaraksa,
den Patriarchen Kambodschas, Mahâ Ghosânanda, der für internationale Friedensmärsche
bekannt geworden ist oder die große Selbsthilfe-Bewegung Sarvodaya („Kraft durch Wahrheit“) auf Sri Lanka unter dem Gandhi-Friedenspreis-Träger Dr. Ariyaratne, die in Tausenden von Dörfern Entwicklungsarbeit geleistet hat.
Der thailändische Professor und Sozialreformer Sulak Sivaraksa hat das INEB initiiert, das
heute in über 30 Ländern vertreten ist. Es ermöglicht über das Internet regelmäßige
Konferenzen und bei länder- oder themenspezifischen Treffen intensiveren Erfahrungsaustausch. Drei prominente Vertreter jeweils der drei buddhistischen Haupttraditionen haben
die Schirmherrschaft des INEB übernommen: Ajahn Buddhadâsa für den Theravâda (nach
dessem Tod 1993 der in Kambodscha besonders aktive höchste Mönch des Landes, Mahâ
Ghosânanda), Thich Nhat Hanh für den Mahâyâna-Buddhismus im allgemeinen und der
Dalai Lama für den tibetischen Buddhismus.
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Zu den Mitbegründern des INEB gehört die amerikanische, 1979 von dem Zen-Meister
Robert Aitkin Rôshi gegründete und in Friedensarbeit engagierte „Buddhist Peace Fellowship (BPF)“. Sie wurde eine der größten buddhistischen Gemeinschaften des Westens und
ist heute der nordamerikanische und australische Zweig des INEB. Der bekannteste westliche Schüler Ajahn Buddhadâsas, der britische Vipassanâ-Lehrer Christopher Titmuss, ist
ein Gründungsmitglied des internationalen Beirates der BPF, der zwölf Mitglieder hat. Drei
von ihnen, Thich Nhat Hanh, Mahâ Ghosânanda und Sulak Sivaraksa, sind mehrfach für
den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden. Ein weiteres Mitglied dieses Beirates ist Dr.
Ariyaratne aus Sri Lanka, der den „Mahâtma Gandhi Friedenspreis“ für seine Hilfsarbeit
mit jener „Sarvodaya Self Help Movement“ (als deren Präsident) in seiner konfliktgeplagten Heimat erhalten hat.
In Vietnam existieren das Mahâyâna und der Theravâda seit jeher nebeneinander. Es hat in
diesem Land auch eine starke christliche Mission mit deutlichen Gegenreaktionen gegeben.
Die vietnamesischen Buddhisten zeigen ausgeprägtes politisches Engagement. 1966 führten
etwa Demonstrationen und Selbstverbrennungen von Mönchen zum Putsch gegen den diktatorischen katholischen Ministerpräsidenten Ngo Dinh Diem; und 1966 erzwangen
Buddhisten von der Militärregierung Ky Wahlen.
Auch in Burma sind die Mönche eine wesentliche Stütze der Opposition. Nachdem hier das
sozialistische Militärregime den 1990 in freien Wahlen von der Oppositionspartei erzielten
„Erdrutsch-Sieg“ annulliert hatte, kam es zu großangelegten Demonstrationen und Inhaftierungen von Mönchen. Die Führerin dieser Opposition ist die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Sie praktiziert wie Mahâ Ghosânanda, Sulak Sivaraksa und Dr.
Ariyaratne die Achtsamkeitsmeditation Vipassanâ.
Bei der Gefängnisarbeit (ein Kernbereich buddhistischen Engagements) ist an erster Stelle
Satya Narayan Goenka zu nennen. Nach einer höchsten indischen Regierungsempfehlung
wird das von ihm vertretene Vipassanâ des Körperhineinfließens gegenwärtig an den
meisten indischen Gefängnissen gelehrt, zunehmend auch in westlichen Gefängnissen.
Weitere Organisationen in diesem Bereich sind „Angulimala: The Buddhist Prison
Chaplaincy Organisation“ (angulimala.org.uk) und als Zweig jener „Buddhist Peace
Fellowship“ das „Prison Dharma Network“ (prisondharmanetwork.org). Eine vielseitig
engagierte Organisation ist die „International Buddha´s Light Association“ (blia.org).
12) Individuum und Gesellschaft:
Ethische Richtlinien
In der buddhistischen Welt sind die Fünf Gelübde das Herz jeder ernsthaften Laienpraxis:
Nichttöten, Nichtstehlen, Vermeiden sexuellen Fehlverhaltens (das für einen der Sexualpartner oder eine liierte weitere Person vermeidbares Leiden bedeutet), Nichtlügen und
Vermeiden berauschender Substanzen. Ethik gilt als das Fundament des inneren Befreiungsweges, was etwa ein tibetisches Gleichnis illustriert: Ein Mann fällt mit einer Axt
einen Baum, der für die Ursachen des Leidens steht: Nichtsehen, Durst und Ergreifen. Die
schneidende Axt symbolisiert Intuitives Wissen Paññâ, der schlagende Arm Geistige Ruhe
Samâdhi und der auf dem Boden stehende Körper Ethische Motivation Sîla. Deren höchste
Form sind die „Vier Unbegrenzten“ oder „Göttlichen Wohnstätten“ im Herzen (Brahmavihâras): Liebende Güte, Mitgefühl und Mitfreude in Gleichmut.
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Die Frau im Buddhismus
Auch der Buddhismus hat patriarchale Züge. Auch in seiner Geschichte hat es viel mehr
Meister als Meisterinnen gegeben, zumindest unter den bekannten Persönlichkeiten. Ein
weiblicher Dalai Lama oder Karmapa im tibetischen Buddhismus etwa ist nicht überliefert.
Doch im Vergleich der Weltreligionen steht der Buddhismus am besten da: Der Erwachte
hat explizit keinen Unterschied gemacht, was die Befreiungsfähigkeit der Geschlechter
angeht. Er gründete (gegen den Widerstand einer sehr patriarchalischen Kultur) einen weiblichen Orden. Er war der erste spirituelle Meister im alten Indien, der Frauen in den engsten
Schülerkreis aufnahm. Es gab hier eine beträchtliche Zahl von Frauen unter den Ordinierten
wie Laien, die voll erwacht sind oder eine der Endgültigen Befreiungsstufen vorher
realisiert haben. Diese Fakten gelten nicht für die Ausgangslagen der anderen Weltreligionen. Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen es gestatten, wie gegenwärtig im
Buddhismus des Westens, erlangen buddhistische Frauen die gleiche Position wie Männer
unter den Praktizierenden, Lehrenden, Autoren und Realisierten. Aus diesem Grunde sind
es immer bloß die gesellschaftlichen Bedingungen, die eine spirituelle Gleichstellung der
Frau im Buddhismus verhindern.
Auch haben Frauen aktuell in manchen buddhistischen Orden Asiens eine sehr starke
Position. Im dynamischen Buddhismus des modernen Taiwan zählen die weiblichen
Ordinierten, die hier häufig besonders gebildet und engagiert sind, gegenüber den männlichen deutlich mehr. Auch in Korea ist ihre Position gleichberechtigt. Die Frauen haben
hier volle Ordination, eigene Meisterinnen oder Äbtissinnen und sind finanziell ziemlich
unabhängig (siehe auch den Beitrag Der Buddha und die Frau).
Ehe und Familie
In buddhistischen Ländern ist das Wechselverhältnis von materieller Unterstützung der
Ordinierten durch die Laien und spiritueller Unterstützung der Laien durch die Ordinierten
generell zutiefst etabliert. So erfüllen letztere auch eine wichtige Funktion bei Hochzeiten
oder der spirituellen Begleitung eines Paares. Bei einer Trauungsfeier in Thailand etwa
führen die Mönche eine Schutzzeremonie durch. Sie rezitieren Buddhas „Rede von der
Allgüte“ oder seine „Rede vom Höchsten Segen“ Mangala-Sutta. Hier betont der Erwachte
unter anderem: „Mutter und Vater zu fördern, den Ehemann oder die Ehefrau und die Kinder, dies ist der Höchste Segen.“ Eine der fünf Redensammlungen des Pali-Kanons sind
Reden Buddhas, die speziell den Laien galten (Angereihte Sammlung).
Der Buddhismus im Westen entspricht zunehmend den spirituellen Bedürfnissen der Familien. Die Gemeinschaft des besonders populären vietnamesischen Zen-Meisters Thich Nhat
Hanh zum Beispiel bietet jeden Sommer vierwöchige Familiencamps mit Hunderten von
Teilnehmern. In den Theravâda-Klöstern der westlichen Ordensgemeinschaft gehen täglich
Familien ein und aus, die hier Rat und Inspiration bekommen. Die weltweit größte Vipassanâ-Tradition des Körperhineinkommens bietet ein System von Meditationskursen, worunter auch spezielle und populäre Meditationskurse für Kinder sind.
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