Ergative und unergative Verben aus romanistischer Sicht

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NATASCHA MÜLLER
Ergative und unergative Verben aus romanistischer Sicht
1. Einleitung
Die sogenannten Ergativsprachen wie das Baskische verwenden einen nicht-nominativischen Kasus
– den Ergativ – für den in anderen Sprachen wie den romanischen Sprachen und dem Deutschen
üblichen Nominativ des Subjekts in transitiven Konstruktionen: Bei transitiven Verben erscheint
das "Subjekt" (das Agens) nicht im Nominativ, sondern im Ergativ, das Objekt der Handlung steht
im Absolutiv. Einen Akkusativkasus gibt es nicht. Bei intransitiven Verben steht das "Subjekt"
ebenso im Absolutiv, es wird demnach mit demselben morphologischen Kasus versehen, wie das
Objekt einer transitiven Konstruktion. Mit anderen Worten, in Ergativsprachen wird das "Subjekt"
transitiver Verben morphologisch anders ausgedrückt als das intransitiver Verben. Auf der
syntaktischen Ebene – der Ebene der grammatischen Funktionen "Subjekt" und "Objekt" – wird der
Zusammenhang zwischen Sätzen wie Charlotte a cuit le poulet 'Charlotte hat das Huhn gekocht'
bzw. Carlotta ha bollito le patate 'Charlotte hat die Kartoffeln gekocht' und Le poulet a cuit bzw. Le
patate hanno bollito auch als ergativ bezeichnet. Das Objekt der transitiven Konstruktion wird zum
Subjekt der intransitiven oder das Subjekt des intransitiven Verbs wird Objekt eines entsprechenden
transitiven, als Agens wird ein neues ergatives Subjekt eingeführt. Plank (1979) (S. 4) faßt den
Unterschied zwischen Ergativ(/Absolutiv) und (Nominativ/) Akkusativsystemen wie folgt
zusammen: "A grammatical pattern or process shows ergative alignment if it identifies intransitive
subjects (Si) and transitive direct objects (dO) as opposed to transitive subjects (St). It shows
accusative alignment if it identifies Si and St as opposed to dO."
Seit Perlmutter (1978) ist bekannt, daß auch Akkusativsysteme ergative Eigenschaften aufweisen.
Im folgenden soll es um derartige Eigenschaften in den romanischen Sprachen gehen.
2. Zwei intransitive Verbklassen
Burzio (1981) hat sich in seiner Dissertation eingehend mit den intransitiven Verben im
Italienischen beschäftigt. Er zeigt, daß es sich bei der Klasse der in der traditionellen Grammatik als
intransitiv bezeichneten Verben um eine nicht homogene Klasse handelt (vgl. Burzio 1986). So
unterscheidet Burzio neben den transitiven Verben, die intransitiven unergativen und die
intransitiven ergativen Verben:
•= transitive Verben wie construire 'bauen', costruire sind zweistellige Prädikate
•= intransitive (unergative) Verben wie dormir 'schlafen', dormire sind einstellige Prädikate
•= intransitive (ergative) Verben wie arriver 'ankommen', arrivare sind einstellige Prädikate,
sie werden auch als unakkusative Verben bezeichnet
Abbildung 1: Transitive Verben
Abbildung 2: Unergative Verben
In der generativen Grammatik geht man davon aus, daß das Subjekt des Satzes (das externe
Argument auf der Ebene der Argumentstruktur) außerhalb des "V(+Objekt)" Komplexes
syntaktisch abgebildet wird. Dies ist u.a. deshalb sinnvoll, da die Präsenz eine Subjektes nicht vom
Verb abhängt (Verben sind nicht für Subjekte subkategorisiert), sondern von allgemein
grammatischen Eigenschaften gefordert wird. Bei transitiven und bei unergativen Verben ergeben
sich VP-Strukturen wie in Abbildung (1) für transitive und Abbildung (2) für unergative Verben
(Müller & Riemer 1998).
Bei den ergativen Verben geht man davon aus, daß das einzige Argument auf einer zugrundeliegenden Strukturebene ein direktes Objekt (direktes internes Argument) ist, kein Subjekt (externes
Argument), und somit in der kanonischen Objektposition generiert und später in die Subjektposition
verschoben wird; vgl. Abbildung (3) und Abbildung (4).1
Die Subjekte von ergativen Verben sind somit vergleichbar mit den Subjekten in Passivsätzen (1),
welche zugrundeliegende Objekte darstellen. Man spricht in beiden Fällen von sogenannten
derivierten (abgeleiteten) Subjekten.
Abbildung 3: Ergative Verben: Zugrundeliegende Struktur
Abbildung 4: Ergative Verben: Oberflächenstruktur
(1) a.
Un ami
a réparé les tables
Ein Freund hat repariert die Tische
'Ein Freund hat die Tische repariert.'
b.
Les tables ont été réparées (par un
ami)
Die Tische wurden repariert (von einem Freund)
c.
Un amico ha riparato i tavoli
d.
I tavoli sono stati riparati (da un amico)
Betrachten wir die Aktiv-Passiv-Satzpaare in (1) genauer. Das Verb réparer bzw. riparare in der
Aktivkonstruktion vergibt die thematische Rolle THEMA an das interne Argument (les tables / i
tavoli) und die Theta-Rolle AGENS wird an das externe Argument (un ami / un amico) zugewiesen.
Was passiert nun in Passivsätzen, in denen das Argument mit der Theta-Rolle THEMA als Subjekt
realisiert wird (es kongruiert mit dem finiten Verb) und das externe Argument mit der Theta-Rolle
AGENS nicht mehr als NP realisiert wird, sondern fakultativ wird und als PP erscheint? Das Verb
weist seinem Komplement (dem direkten Objekt) die Theta-Rolle THEMA zu. Wir sehen in den
Passivsätzen, daß die externe Theta-Rolle (AGENS) fakultativ durch eine PP realisiert wird.
Diejenige Position (SpecVP), welche im Falle der Aktivkonstruktion die externe Theta-Rolle erhält,
bleibt im Falle der Passivkonstruktion auf einer zugrundeliegenden Strukturebene leer. Die leere
Position wird in der Struktur mit "ec" (engl.: "empty category") angegeben.
1 Um die Darstellung zu vereinfachen, wird in den abgebildeten Strukturen auf die Einführung funktionaler Kategorien
verzichtet. Vgl. hierzu Müller & Riemer (1998).
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Abbildung 5: Passivkonstruktion: Zugrundellegende Struktur
Im Französischen entspricht die lineare Abfolge der Elemente in Struktur (5) noch nicht der
eigentlichen Abfolge, anders als im Italienischen: *a été construite une maison vs. è stata costruita
una casa 'wurde gebaut ein Haus'. In beiden Sprachen ist es jedoch möglich, das interne Argument
der zugrundeliegenden Struktur in die Position vor das finite Verb zu verschieben, wo es wie ein
"richtiges Subjekt" mit dem Verb kongruiert: La maison a été construite rapidement und La casa è
stata costruita velocemente 'das Haus wurde gebaut schnell'. Die Verschiebung der direkten
Objekt-NP wird nun damit erklärt, daß ein Verb mit Passivmorphologie die Fähigkeit verliert,
(strukturellen) Kasus (Akkusativ) an sein Komplement zuzuweisen. Darüber hinaus wird die externe
Theta-Rolle (AGENS) suspendiert. Diese beiden Phänomene stehen in einer Abhängigkeitsbeziehung, die von Burzio (1986) (S. 184) wie folgt formuliert wurde: Burzios Generalisierung
Ein Verb, das keine externe Theta-Rolle vergibt, weist seinem Komplement keinen (strukturellen)
Kasus (Akkusativ) zu und umgekehrt, ein Verb, das keinen (strukturellen) Kasus (Akkusativ) an sein
Komplement zuweisen kann, läßt die externe Argumentposition theta-unmarkiert. Die
Komplement-NP im Passivsatz erhält zwar eine Theta-Rolle, aber keinen Kasus (direkt vom Verb).
Um Kasus erhalten zu können, muß die NP in eine Position verschoben werden, in der sie Kasus
erhalten kann.
Konstruktionen mit ergativen Verben haben also mit Passivkonstruktionen gemeinsam, daß ihr
"Subjekt" eigentlich ein verschobenes direktes Objekt darstellt. Im Gegensatz zum Passiv, bei dem
die Suspension der Agens-Theta-Rolle und die Unfähigkeit der Kasuszuweisung an das
Komplement eine über die Passivmorphologie derivierte Eigenschaft ist, können ergative Verben
qua inhärent lexikalischer Eigenschaft keinen Kasus an ihr Komplement zuweisen und auch keine
externe thematische Rolle vergeben. Häufig werden aus diesem Grund die ergativen Verben auch
als unakkusative Verben bezeichnet: Sie können ihrem Komplement keinen Akkusativkasus
zuweisen und dieses muß somit in eine Position (die Subjektposition) verschoben werden, in der es
Kasus erhalten kann.
Welche Evidenz haben wir nun in den romanischen Sprachen für die Annahme, daß intransitive
Verben keine homogene syntaktische Gruppe bilden, sondern sich in zwei Klassen mit
unterschiedlichen syntaktischen Eigenschaften aufteilen?
3. Eigenschaften von (un)ergativen Verben
3.1 NE/EN-KLITISIERUNG
Das Italienische und Französische haben die Möglichkeit, das quantifizierte Objekt oder Teile des
Objekts mit dem Klitikum "ne/en" zu pronominalisieren. Diese Pronominalisierung ist nun auch mit
den "Subjekten" derjenigen Klasse von Verben möglich, die als ergative Verben bezeichnet werden,
wohingegen die Subjekte der reinen Intransitiva (=Unergativa) nicht pronominalisiert werden
können (vgl. in (2) und in (3) (Burzio 1986).
(2) a.
Mangio tre
mele
Esse
drei Äpfel
'Ich esse drei Äpfel.'
45
b.
c.
d.
e.
f.
g.
(3)
a.
b.
c.
d.
e.
f.
Nei
mangio tre eci
Davon esse
drei
'Ich esse drei davon.'
Tre
uomini
dormono
Drei
Menschen schlafen
* Nei
dormono tre eci / * Tre eci nei dormono
Davon schlafen drei
Molti esperti
arrivano
/ Arrivano molti esperti
Viele Experten kommen an
arrivano
molti eci
Nei
Davon kommen an viele
'Viele davon kommen an.'
* Molti eci
nei
arrivano
Viele
davon kommen an
Marie lira
trois livres
Marie wird lesen drei Bücher
'Marie wird drei Bücher lesen.'
Marie eni
lira
trois eci
Marie davon wird lesen drei
'Marie wird drei davon lesen.'
Trois livres paraitront
bientôt
Drei
Bücher werden erscheinen bald
'Drei Bücher werden bald erscheinen.'
paraitront
bientôt
*Trois eci eni
Drei
davon werden erscheinen bald
Trois filles
arriveront
bientôt
Drei Mädchen werden ankommen
bald
'Drei Mädchen werden bald ankommen.'
Trois eci eni
arriveront
bientôt
Drei
davon werden ankommen bald
'Drei davon werden bald ankommen.'
3.2 AUXILIARSELEKTION
Im Französischen und Italienischen selegieren transitive Verben für die Bildung des
zusammengesetzten Perfekts das Auxiliar avoir/avere. Auch bei der Selektion der Auxiliare
verhalten sich die reinen Intransitiva (oder unergativen Verben) und die ergativen Verben
unterschiedlich. Die reinen Intransitiva erfordern avoir/avere und die ergativen Verben être/essere;
vgl. in (4).
(4) a.
Jean a acheté une voiture
Hans hat gekauft ein Auto
'Hans hat ein Auto gekauft.'
b.
Gianni ha comprato una macchina
c.
Jean
a
té1éphoné
Hans hat telephoniert
d.
Gianni ha telefonato
e.
Jean
est arrivé
Hans
ist angekommen
f.
Gianni è
arrivato
46
3.3 ABSOLUTE PARTIZIPIALKONSTRUKTIONEN UND ADJEKTIVISCHES PARTIZIP
Wie bereits von Perlmutter (1978) beobachtet wurde, ist die absolute Partizipialkonstruktion mit
transitiven und ergativen Verben möglich, nicht aber mit unergativen (vgl. auch Belletti 1981), wie
die Beispiele in (5) aus Cinque (1990) zeigen. Mit anderen Worten, die Präsenz eines Objektes
(internen Arguments) ist erforderlich. Dies gilt für das Französische und das Italienische, aus
Platzgründen wird aber auf die französischen Beispiele verzichtet.
(5) a.
Mangiate le fragole,
Maria uscì
Gegessen die Erdbeeren, Maria ging hinaus
'Nachdem sie die Erdbeeren gegessen hatte, ging Maria hinaus.'
neppure
b.
Arrivata
in ritardo, Maria non si
scusò
Angekommen spät,
Maria nicht sich entschuldigte einmal
'Nachdem sie zu spät angekommen war, entschuldigte Maria sich nicht einmal.'
c.
*Telefonato a
casa, Maria seppe che era stata
promossa
Telefoniert nach Hause, Maria lernte daß war gewesen versetzt
d.
*Parlato
con Mario, andò a
casa
Gesprochen mit Mario, ging nach Hause
e.
Arrivata
Maria,
partimmo
Angekommen Maria,
gingen los
'Nachdem Maria angekommen war, gingen wir los.'
f.
*Telefonato Gianni,
tutti uscirono
Telefoniert Gianni,
jeder ging hinaus
g.
*Parlato
il Presidente, nessuno chiese la
parola
Gesprochen der Präsident, niemand bat um das Wort
Das adjektivische Partizip ist mit ergativen Verben möglich, nicht aber mit unergativen (Grimshaw
1986, Labelle 1992): les invités arrivés 'die angekommenen Gäste' vs. *1'homme téléfoné 'der
telefonierte Mann'. Mit anderen Worten, die modifizierte NP muß ein Objekt sein.
3.4 PASSIVIERUNG
Ergative und unergative Verben verhalten sich unterschiedlich mit Hinblick auf die Möglichkeit der
Passivierung. Ergative Verben sind nicht passivierbar, im Gegensatz zu den unergativen Verben
(Fanselow 1992): *Il a été arrivé 'Es wurde angekommen' vs. Il a été beaucoup téléphoné pendant
les dernières deux heures 'Es wurde viel telefoniert während der letzten zwei Stunden', *È stato
arrivato vs. È stato telefonato molto durante le ultime due ore.
3.5 "COGNATE OBJECTS"
Unergative Verben lassen die Besetzung der Objektposition durch ein deriviertes Nomen zu,
während ergative Verben dies nicht erlauben (Keyser & Roeper 1984, Ruwet 1988): Il toussait une
toux nerveuse 'Er hustete einen nervösen Husten', Il vit une vie de chien 'Er lebt ein Hundeleben',
Vive una vita serena 'Er lebt ein unbeschwertes Leben' vs. *Il arrive une arrivée inattendue.
3.6 NOMINALISIERUNG AUF -EUR/-TORE
Auch mit Hinblick auf bestimmte morphologische Prozesse verhalten sich ergative und unergative
Verben unterschiedlich. Die Nominalisierung auf -eur/-tore ist mit unergativen, aber nicht mit
ergativen Verben möglich (Keyser & Roeper 1984): dormeur, dormitore vs. *arriveur, *arrivatore,
Schläfer vs. *Ankommer.
4. si als Ergativierer im Italienischen
Die bisher genannten syntaktischen Beispiele machen deutlich, daß ergative und unergative Verben
in der syntaktischen Komponente einer Grammatik unterschiedlich abgebildet werden müssen:
Wohingegen das einzige Argument bei unergativen Verben ein externes ist, handelt es sich um ein
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internes Argument bei den ergativen Verben. Bisher wurde gesagt, daß die Ergativität eine inhärent
lexikalische Eigenschaft von Verben wie arriver / arrivare ist. In beiden romanischen Sprachen gibt
es nun auch die Möglichkeit der "Ergativierung", d.h. der regelhaften Ableitung einer Ergativkonstruktion. Dies erfolgt im Falle der Affigierung von ital. si 'sich' und (eingeschränkt) von frz. se.
Einer der auffälligsten Unterschiede zwischen se/si und den nicht-reflexiven Objektklitika ist der
Effekt der Detransitivierung bzw. Ergativierung von se/si. So verhält sich im Französischen der
se+V Komplex wie andere einstellige Prädikate mit Hinblick auf die stilistische Inversion, die
unpersönliche Konstruktion und faire-Kausative (vgl. auch Grimshaw 1982, Kayne 1975, Rouveret
& Vergnaud 1980). Dies kann hier nur am Beispiel der stilistischen Inversion im Französischen
demonstriert werden (vgl. in (6) aus Wehrli (1986)). Die stilistische Inversion ist mit einstelligen,
nicht aber mit mehrstelligen Prädikaten möglich. Interessant ist nun, daß die stilistische Inversion
mit dem se+V Komplex zu einem grammatischen Ergebnis führt.
(6) a.
Je me demande quand partira
ton ami
Ich mich frage
wann wird ankommen dein Freund
'Ich frage mich, wann dein Freund ankommen wird.'
b.
* Je me demande quand achètera
Paul la
maison
Ich mich frage
wann wird kaufen Paul das Haus
c.
Je me
demande comment s'
est rasé Paul
Ich mich frage
wie
sich ist rasiert Paul
'Ich frage mich, wie Paul sich rasiert hat.'
d.
Je me
demande comment les a rasé Paul
Ich mich frage
wie
sie hat rasiert Paul
'Ich frage mich, wie Paul sie rasiert hat.'
Die Daten zeigen, daß der se/si+V Komplex eine syntaktische Position weniger aufweist als die
Konstruktion mit einem nicht-reflexiven Objektklitikon. Wehrli (1986) stellt die folgende
Generalisierung in (7) auf:
(7)
se/si absorbiert ein Argument.
M.a.W. in der Reflexivkonstruktion wird eine syntaktische Position unterdrückt. Der syntaktischen
Position fehlt nicht nur der phonologische Inhalt wie bei der Objektposition in einer Konstruktion
mit nicht-reflexivem Objektklitikon (cc), sondern die syntaktische Position wird nicht abgebildet
(vgl. z.B. Halder & Rindler-Schjerve 1987, Rosen 1990). Der syntaktische Unterschied zwischen
reflexiven Klitika und nicht-reflexiven Objektklitika wäre der in Abbildung-(6). Reflexivpronomina
sind somit keine alternative syntaktische Ausdrucksweise zur kanonischen Objektposition, wie die
Konstruktionen mit nicht-reflexivem Objektklitikon.
Abbildung 6: Syntaktische Repräsentation von reflexiven und nicht-reflexiven Klitika
Der kategoriale Status von si und se ist in der Literatur weitgehend unkontrovers: Die Derivation
erfordert eine Manipulation der Argumentstruktur desjenigen Verbs, welches mit dem klitischen
Pronomen verbunden wird (Burzio 1986, Belletti 1982, Cinque 1988, Grimshaw 1982, 1990,
Haider & Rindler-Schjerve 1987, Jackendoff 1990, Manzini 1986, Marantz 1984, Monachesi 1995,
Rosen 1990, Wehrli 1986, Zubizarreta 1982). Da sich das Französische in dieser Hinsicht ein wenig
komplexer darstellt, soll im folgenden das Italienische besprochen werden (zum Französischen vgl.
Müller & Riemer 1998, S. 115ff.).
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Man unterscheidet in der traditionellen Grammatik vier Interpretationen von si: reflexiv/reziprok (8
a,b), inhärent "pronominal" (8 c), medial (8 d), und ergativ (8 e).
(8) a.
Maria si lava
b.
Maria e Lucia si sono pulite
c.
Maria si è pentita di aver fatto il viaggio
d.
I vestiti si sono venduti bene
e.
I rami si sono spezzati
Im Italienischen gilt die Generalisierung in (7). Man kann zeigen, daß si im Italienischen immer das
externe Argument unterdrückt. Mit anderen Worten, das transitive Verb, an das si affigiert, wird zu
einem ergativen Verb. Ist diese Hypothese plausibel, so sollte sich der si+V Komplex auch
syntaktisch wie eine Konstruktion mit arrivare verhalten. Dies ist in der Tat der Fall. So führt die
NE-Klitisierung bei allen Interpretationen von si zu einem grammatischen Ergebnis; vgl. (9) und
Abbildung (7).
(9) a.
Molti bambini si
lavano
/ Si lavano molti bambini
Viele Kinder sich waschen
'Viele Kinder waschen sich.'
b.
Se ne
lavano molti
Sich davon waschen viele
'Viele davon waschen sich.'
Molti esperti si
sbaglieranno / Si sbaglieranno molti esperti
c.
Viele Experten sich werden irren
'Viele Experten werden sich irren.'
d.
Se ne
sbaglieranno molti
Sich davon werden irren viele
'Viele davon werden sich irren.'
e.
Alcuni vestiti si
vendono
bene / Si vendono bene alcuni vestiti
Einige Sachen sich verkaufen gut
'Einige Sachen verkaufen sich gut.'
f.
Se ne
vendono bene alcuni
Sich davon verkaufen gut einige
'Einige davon verkaufen sich gut.'
g.
Molti vetri
si
rompono / Si rompono molti vetri
Viele Scheiben sich zerbrechen
'Viele Scheiben zerbrechen.'
h.
Se
ne
rompono
molti
Sich
davon zerbrechen
viele
'Viele davon zerbrechen.'
(a) Reflexiva auf der zugrundeliegenden
Strukturebene
(b) Reflexiva auf der Oberflächenstruktur
Abbildung 7: Syntaktische Repräsentation von si-Konstruktionen
Es wird ferner in allen si-Konstruktionen das "ergative" Auxiliar essere gewählt; Maria si è lavata.
49
5. Witterungs- und Bewegungsverben und Auxiliarselektion
Bisher konnte gezeigt werden, daß die Ergativität im Französischen und Italienischen syntaktisch
abgebildet werden muß. Des weiteren wurde zwischen einer inhärent lexikalischen
(arrivare-Beispiel) und einer abgeleiteten (si-Affigierung) Form der Ergativität unterschieden. Mit
der si-Affigierung haben wir einen Bereich kennengelernt, in dem der Ergativierer si unabhängig
von der Verbsemantik operiert: Die Affigierung von si an ein transitives Verb hat als Ergebnis ein
ergatives Verb, unabhängig von der Semantik des transitiven Verbs. Eine interessante Frage ist nun,
welche Eigenschaft die Ergativität einer Konstruktion ausmacht, wenn ein und dieselbe Verbform
sowohl typisch ergative als auch typisch unergative Charakteristika aufweist. Ein für die
Beantwortung dieser Frage interessanter Bereich stellen die Witterungsverben im Italienischen dar.
Benincà & Cinque (1992) stellen für die italienischen Witterungsverben fest, daß alle avere zulassen, ein Teil aber auch essere, wie in (10); vgl. auch Schmitz (1997).
(10) a.
Ha / è piovuto
Hat / ist geregnet
'Es hat geregnet.'
b.
Ha / ?è gelato
stanotte
Hat / ist gefroren heute nacht
'Es hat heute nacht gefroren.'
c.
Ha / è nevicato
fino all' alba
Hat / ist geschneit bis zum Morgengrauen
'Es hat bis zum Morgengrauen geschneit.'
d.
Ha / *è lampeggiato fino all' alba
Hat / ist geblitzt
bis zum Morgengrauen
'Es hat bis zum Morgengrauen geblitzt.'
Auch für den Bereich der Bewegungsverben lassen sich derartige Alternationen für die
Auxiliarselektion belegen. Mit avere beschreibt das Verb einfach eine Aktivität, mit essere wird der
Ortswechsel eines Objekts beschrieben (Zielgerichtetheit) (vgl. in (11) aus Centineo 1986). Bei den
Witterungsverben können piovere und nevicare den Ortswechsel einer Substanz (Regen, Schnee)
beschreiben. Dies ist nicht möglich bei lampeggiare und marginal möglich bei gelare
(Aggregatzustandswechsel).
(11) a.
Luisa ha corso
nel parco per/*in
un'
ora
Luisa hat gelaufen im Park
während/in einer Stunde
Luisa ist ... im Park gelaufen.'
b.
Luisa è corsa
a
casa in/ *per
un'
ora
Luisa ist gelaufen nach Hause in/während einer Stunde
'Luisa ist ... nach Hause gelaufen.'
c.
L' uccello ha volato
solo
per qualche minuto
Der Vogel hat geflogen nur
für einige Minuten
'Der Vogel flog für nur wenige Minuten.'
d.
L' uccello è volato
via
Der Vogel ist geflogen weg
'Der Vogel ist weggeflogen.'
e.
Ida ha saltato
sul letto
Ida hat gesprungen auf's Bett
'Ilda ist im Bett auf und ab gesprungen.'
f.
Ida è saltata
dalla finestra
Ida ist gesprungen vom Fenster
'Ida ist aus dem Fenster gesprungen.'
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Die Beispielsätze in (10) und (11) zeigen, daß der lexikalischen Semantik (der Verbsemantik
zusammen mit den VP-'Mitspielern') eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung der Ergativität
zukommt. Offenbar ist die lexikalische Komponente CHANGE von Bedeutung. Wie bei correre, das
die Auxiliaralternation aufweist, aber regelhaft bei correre a casa das "ergative" Auxiliar erzwingt,
könnte nun auch für zielgerichtete Bewegungsverben wie arrivare, die immer essere benötigen,
vermutet werden, daß die ergativen Charakteristika über die lexikalisch-semantische Komponente
einer Grammatik vorhersagbar sind. Es bleibt dennoch eine Gruppe von Verben, für die der Nachweis
von semantischen auslösenden Komponenten weitaus schwieriger ist, wie z.B. für das ital. Verb
sembrare: Gianni è / *ha sembrato intelligente 'Gianni ist / hat geschienen intelligent' und Gianni è /
*ha sembrato capire la situazione 'Gianni ist / hat geschienen (zu) verstehen die Situation' (vgl.
Belletti 1988). Gemeinsam ist diesen Verben wieder, daß sie derivierte Subjekte aufweisen; vgl. z.B.
psychologische Verben wie piacere: A Gianni è sempre piaciuta la musica 'Gianni ist immer gefallen
die Musik' und La musica è sempre piaciuta a Gianni. Dies verbindet sie mit Verben wie arrivare.
Inwieweit die Eigenschaft, ein derivierte Subjekt zu fordern, über das Zusammenspiel zwischen
Semantik und Syntax vorhersagbar ist, bedarf noch weiterer Forschungen (vgl. u.a. Levin &
Rappaport Hovav 1995 und Pustejovsky 1995).
6. Schlußbetrachtungen
Dieser Beitrag hat am Beispiel des Französischen und Italienischen deutlich gemacht, daß die
intransitiven Verben keine homogene Klasse bilden. Es wurde zwischen einer (intransitiven)
ergativen und einer (intransitiven) unergativen Klasse unterschieden, welche jeweils
unterschiedliche syntaktische Abbildungen erfordern. Inwieweit diese in ihrer Gesamtheit
semantisch determiniert ist, muß in diesem Beitrag offenbleiben. Weiterführend ist für diesen
Bereich die Arbeit von Pustejovsky (1995) (Kap. 9), in der die Position des Kopfes des durch das
Verb bezeichneten Ereignisses von Bedeutung ist. Legt man diese Arbeit zugrunde, so drängt sich
das Ergebnis auf, daß das Phänomen der Ergativität im Französischen und Italienischen in seiner
Gesamtheit über die aspektuellen Eigenschaften der jeweiligen Konstruktion vorhersagbar ist.
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