212 Lineare Algebra II – Sommersemester 2015 3.3 c Rudolf Scharlau Eigenwerte und das charakteristische Polynom Definition 3.3.1 Es sei K ein Körper, V ein K-Vektorraum und F : V → V ein Endomorphismus von V . Ein Skalar λ ∈ K heißt Eigenwert von F , falls ein Vektor v ∈ V, v 6= 0 existiert mit F (v) = λv. Ein solcher Vektor v ∈ V heißt Eigenvektor von F zum Eigenwert λ. Bemerkung und Definition 3.3.2 Es sei F ein Endomorphismus von V und λ ∈ K. Wir bezeichnen mit Eig(F, λ) ⊆ V die Menge aller Eigenvektoren von F mit zugehörigem Eigenwert λ zusammen mit dem Nullvektor. Es gilt Eig(F, λ) = Kern(F − λ IdV ) . Insbesondere ist Eig(F, λ) ein Untervektorraum von V . Er heißt der zu λ gehörige Eigenraum von F . Ein Skalar λ ist genau dann ein Eigenwert von F , wenn der Kern von F − λ IdV nicht nur aus dem Nullvektor besteht, d.h. wenn F − λ IdV nicht injektiv ist. Die letztgenannte Bedingung wird im folgenden weiter ausgewertet, indem die Determinante des Endomorphismus F − λ IdV betrachtet wird (im Fall dim V < ∞). Vor dem ersten Beispiel zu Eigenvektoren schieben wir noch eine kleine Definition ein. Definition und Bemerkung 3.3.3 a) Es sei M irgendeine Menge und f : M → M eine Abbildung. Ein Fixpunkt von f ist ein Element x ∈ M , für das f (x) = x gilt. b) Die Fixpunkte einer linearen Abbildung sind genau die Eigenvektoren zum Eigenwert 1 zusammen mit dem Nullvektor. Fixpunkte spielen unter anderem in der Geometrie eine große Rolle. Der Begriff hat nicht speziell mit linearen Abbildungen zu tun. Beispiel 3.3.4 Wir betrachten eine reelle 2 × 2-Matrix der Gestalt ! a b S= wobei a, b, ∈ R, a2 + b2 = 1 , b −a sowie die zugehörige lineare Abbildung FS : R2 → R2 , ~x 7→ S~x . In Satz 2.10.26 hatten wir behauptet, dass FS eine Spiegelung ist. Insbesondere besitzt FS Fixpunkte, nämlich alle Punkte auf der Geraden, an der gespiegelt wird. Betrachten der Matrix S − E2 gestattet es, dieses zu bestätigen und die Fixpunkte unmittelbar zu bestimmen. Lineare Algebra II – Sommersemester 2015 c Rudolf Scharlau 213 Übung. Man zeige, dass auch −1 Eigenwert von FS ist und jeder Eigenvektor zum Eigenwert −1 orthogonal zu jedem Eigenvektor zum Eigenwert 1 ist. Hierbei ist das Standardskalarprodukt auf R2 zugrundegelegt. Wir wollen die Eigenwerte und Eigenvektoren von FA in Zukunft auch einfach als Eigenwerte bzw. -vektoren der Matrix A bezeichnen. Die Eigenvektoren von A zum Eigenwert λ sind also die nichttrivialen Lösungen des homogenen linearen Gleichungssystems zur Matrix A − λEn . Wir beginnen nun damit, die auf K definierte Funktion λ 7→ det(A − λEn ) genauer zu untersuchen. Die Nullstellen dieser Funktion sind genau die Werte λ, für die A − λEn nicht regulär ist, d.h. die Nullstellen sind genau die Eigenwerte. Beispiel 3.3.5 (Das charakteristische Polynom im Fall n = 2) ! ! a c a−λ c A= , A − λE2 = . b d b d−λ det(A − λE2 ) = λ2 − (a + d)λ + det A . Wir erhalten also ein quadratisches Polynom in λ; die Eigenwerte sind die Nullstellen einer quadratischen Gleichung. Wie wir gleich sehen werden, erhält man für Matrizen der Größe n entsprechend eine Polynomfunktion vom Grad n. Wir wollen im folgenden nicht nur die entsprechende Funktion auf K betrachten, sondern λ durch eine Unbestimmte X ersetzen (vergleiche Kapitel 3.1). Der Grund hierfür ist, dass wir anstelle von X später nicht nur Skalare, sondern auch andere Objekte, insbesondere Matrizen oder Endomorphismen in das Polynom einsetzen wollen. Definition und Bemerkung 3.3.6 (Charakteristisches Polynom) Für eine n×n-Matrix A mit Koeffizienten in einem Körper K wird das charakteristische Polynom als PA := det(A − XEn ) definiert. Dabei wird dieses Polynom (induktiv über n) durch Entwicklung nach der ersten Spalte gemäß der Formel in 3.2.3 gebildet. PA ist ein Polynom vom Grad n mit Leitkoeffizient (−1)n und konstantem Term det A. Als zweites Hauptziel dieses Abschnittes steuern wir nun die Definition des charakteristischen Polynoms PF ∈ K[X] für einen Endomorphismus F eines beliebigen (allerdings endlich-dimensionalen) K-Vektorraumes an. Dieses geschieht mit Hilfe der unter 2.8.1 ff. eingeführten Darstellungsmatrix. Im Abschnitt 2.8 wurde geklärt, wie sich die Darstellungsmatrix MAA (F ) ändert, wenn wir die Basis A ändern: Man geht über zu einer ähnlichen Matrix. Wir haben diese Tatsache unter 3.2.15 bereits zur Definition der Determinante eines Endomorphismus genutzt. Nun geht es um den analogen Sachverhalt für das charakteristische Polynom: 214 Lineare Algebra II – Sommersemester 2015 c Rudolf Scharlau Lemma 3.3.7 Ähnliche Matrizen haben dasselbe charakteristische Polynom. Beweis: Wir machen für den folgenden Beweis eine zusätzliche, nicht unbedingt erforderliche Annahme, nämlich dass der Grundkörper K unendlich viele Elemente besitzt. Dann wird der Beweis deutlich einfacher, weil jedes Polynom P ∈ K[X] durch die zugehörige Polynomfunktion Pe : K → K, α 7→ P (α) eindeutig bestimmt ist: Wenn P (α) = Q(α) für alle α ∈ K ist, dann gilt P = Q (Gleichheit von Polynomen, d.h. Gleichheit aller entsprechenden Koeffizienten). Aus dem Beweis von 3.2.15 wissen wir schon, dass die Determinanten von ähnlichen Matrizen übereinstimmen: det(SAS −1 ) = det A . Für jedes λ ∈ K können wir dieses auch auf die Matrix A − λEn anwenden. Wegen S(A − λEn )S −1 = SAS −1 − λSEn S −1 = SAS −1 − λEn folgt dann PA (λ) = PSAS −1 (λ), wie behauptet. Ein Beweis ohne die Zusatzvoraussetzung über K wurde in der Vorlesung gegeben. Nach der Vorarbeit in Lemma 3.3.7 macht nun die folgende Definition Sinn: Definition 3.3.8 Das charakteristische Polynom PF eines Endomorphismus F von V wird definiert als das charakteristische Polynom einer beliebigen Darstellungsmatrix von F : PF := PA = det(A − XEn ), wobei A = MBB (F ) , und B irgendeine Basis von V ist. Nun können wir das Hauptergebnis dieses Abschnittes in definitiver Form formulieren und auch leicht beweisen: Satz 3.3.9 Es sei K ein Körper und F ein Endomorphismus eines endlichdimensionalen K-Vektorraumes oder eine n×n-Matrix für ein n ∈ N. Ein Element λ ∈ K ist ein Eigenwert von F genau dann, wenn λ Nullstelle des charakteristischen Polynoms von F ist: PF (λ) = 0 Aus Satz 3.1.8 (über die Anzahl der Nullstellen eines Polynoms) ergibt sich nun eine oft benutzt einfache Folgerung: Korollar 3.3.10 Eine quadratische Matrix der Größe n bzw. ein Endomorphismus eines n-dimensionalen Vektorraumes kann höchstens n verschiedene Eigenwerte haben.