I. Objektivität und Evidenz Die sogenannte öster­reichische Tradition der Philosophie1 be­ ginnt mit Bernard Bolzano; neben Bolzano werden ihr auch noch die Träger großer Namen wie Brentano, Husserl, Meinong, Mally, Ehren­fels und viele andere zugezählt. Diese Tradition wird in­ halt­lich von zwei lange für unvereinbar gehaltenen Gegen­polen be­stimmt, zwischen denen sie hin- und herpendelt: Ob­jektivi­ tät und Evidenz. Als Repräsentanten dieser beiden Gegen­pole können Bolzano und Brentano gelten. Die Verbindung der beiden ver­meint­lich un­versöhnlichen Gegenpole erfolgt in Husserls Lo­ gischen Untersuchungen. Husserls synthetische Leistung war so stark, daß von da an Objektivität und Evidenz gar nicht mehr als Gegen­pole em­pfunden, sondern vielmehr als not­wendig zu­ sammen­ge­hörig be­trachtet wurden. Von Husserls Logischen Un­ tersuchungen ausgehend, hat sich eine realistische (oder, wie man vielleicht besser sagen würde: eine objektivistische) Phä­ nomenologie2 entwickelt. Wir versuchen hier zunächst, die hi­ sto­rischen Hintergründe dieser philosophischen Po­si­tion aus­zu­ leuchten (wo­bei Bolzano und Brentano para­digmatisch im Vor­der­ grund stehen werden) und sie systematisch zu cha­rak­te­risieren (wobei die bereits erwähnten Gegenpole von Ob­jektivi­tät und Evidenz die Hauptrolle spielen). Der zweite Ab­schnitt ist Husserl und Reinach gewidmet. In einem dritten Ab­schnitt geben wir eine Zu­sammenfassung und einen Aus­blick. Im an- und zugleich abschließenden Abschnitt 4 versuchen wir, jene zen­tralen Begriffe zu präzisieren, deren wir uns bei unserer his­to­rischen Rekonstruktion bedient haben, und jenes theoretische Gerüst zu skiz­­zieren, in dessen Rahmen eine systematische Be­hand­lung der angeschnittenen Fragen zu erfolgen hätte. 11 1. Bolzano versus Brentano: Objektivität versus Evidenz 1.1. Objektivität der Wahrheitswerte und ihrer Träger bei Bernard Bolzano Der Grundpfeiler von Bolzanos gesamter Philosophie ist seine Lehre von den (wahren und falschen) Sätzen an sich. Die Sätze an sich werden von Bolzano charakterisiert als der Denkinhalt von Urteilen einerseits und als der Sinn von sprachlichen Sätzen ande­rseits. Während jedoch Urteile und sprachliche Sätze psy­ chische bzw. physische Phänomene sind und in­folge­dessen einen An­fang und ein Ende haben, dem Wandel unter­worfen sind und in Kausalzusammenhängen stehen, sind die Sätze an sich weder räum­lich noch zeitlich, ohne Anfang und Ende, un­ver­änderlich und außerhalb jeden Kausalzusammenhangs, ja sie besitzen nach Bolzano gar keine Wirklichkeit (kein Sein bzw. keine Existenz) im eigentlichen Sinn. Obwohl die Sätze an sich nichts Wirk­liches sind, gibt es sie dennoch unabhängig von ihren psychischen und ihren sprachlichen Repräsentanten, ja es gäbe sie sogar, wie Bolzano mehrfach betont, selbst dann noch, wenn es kein einziges Bewußt­sein und kein einziges denkendes Wesen gäbe. Die Sätze an sich sind also ebenso wie die physische Realität be­wußt­ seins­un­ab­hängig und besitzen insofern Objektivität. Ge­meinsam mit mathematischen Gegenständen (Zahlen und geometrischen Figuren) gehören sie gewissermaßen einer eigenen Welt von zwar nicht wirklichen, aber dennoch objektiven (d. h. bewußtseins­ unabhängig vorhandenen) und idealen (d. h. raum- und zeit­losen) Gegenständen an. Die Sätze an sich sind aus Teilen zusammengesetzt, den sogenannten Vorstellungen an sich, denen derselbe ontologische Status zukommt wie den Sätzen an sich selbst. Zum Unterschied 12 von Vor­stellungen an sich können (und müssen!) die Sätze an sich je­doch wahr oder falsch sein. Einen wahren Satz an sich nennt Bol­zano auch ‘Wahrheit an sich’. Neben den Wahrheiten an sich gibt es auch falsche Sätze an sich, die man in Analogie zu den Wahrheiten an sich ‘Falschheiten an sich’ nennen könnte. Sätze und Vorstellungen an sich können – aufgrund ihres spe­ziellen ontologischen Status – nicht mit den Sinnen wahr­ge­ nommen werden. Wie kann man aber dennoch wissen, daß es sie tat­sächlich gibt und daß sie nicht bloße Hirngespinste und Phan­tasie­gebilde sind? Bolzano meinte, einen strengen Nach­weis dafür liefern zu können. Durch einen indirekten Be­weis (wie er üblicherweise zur Widerlegung der radikalen Skepsis verwendet wird) versucht Bolzano zunächst zu zeigen, daß es mindestens eine Wahrheit an sich geben müsse, weil sich die gegenteilige Be­ haup­tung selbst widerspräche. Daran an­schließend zeigt Bolzano durch vollständige Induktion (in mehreren Beweisvarianten), daß es sogar unendlich viele Wahr­heiten an sich geben müsse; diese Be­weise sind im Hin­blick auf den Nachweis der Existenz un­end­ licher Mengen his­to­risch äußerst interessant, und sie wurden von Cantor, Dedekind und Russell entsprechend gewürdigt. Wenn es aber auch nur eine Wahr­­heit an sich gibt, dann muß es auch Sätze an sich geben (da ja Wahr­heiten an sich nur eine besondere Art von Sätzen an sich sind) und ebenso auch Vorstellungen an sich (da ja jeder Satz an sich und somit auch jede Wahrheit an sich aus Vorstellungen an sich zusammengesetzt ist). Bolzanos Beweisversuch krankt jedoch an der “Wurzel”, in­so­ fern bereits sein Bemühen nachzuweisen, daß es mindestens eine Wahrheit an sich gibt, als gescheitert angesehen werden muß: Erstens weiß man heute, daß die bei der traditionellen Wider­ legung der radikalen Skepsis übliche “Selbstanwendung” nicht un­pro­blematisch ist, da sie auf Voraussetzungen beruht, die zu 13 Anti­nomien führen können; und zweitens würde der Be­weis, auch wenn er korrekt wäre, immer noch nicht zeigen, daß es Wahr­ heiten (und da­mit auch Sätze und Vorstellungen) an sich im Sinne Bol­zanos geben muß, sondern bestenfalls, daß es über­haupt so etwas wie Wahr­heit gibt, also wahre Aussagen oder wahre Ur­teile oder wahre Sätze an sich. Bolzanos “Kronbeweis” für die Annahme von Sätzen und Vor­­ stellungen an sich muß somit als gescheitert gelten, und die anderen Beweisversuche, die er darüber hinaus (sozu­sagen als “Drauf­ gabe”) noch vorlegt, taugen noch weniger.3 So stellt sich heraus, daß letztlich nichts anderes als der Wunsch der Vater von Bol­zanos Annahme von Sätzen und Vorstellungen an sich war, aller­dings ein sehr zielgerichteter, gewissermaßen ein “wissen­schaftlicher” Wunsch: Bolzano wollte (das war sein er­klärtes Ziel!) so­wohl Wahrheit und Falschheit als auch logisch-se­mantische Eigen­schaften und Relationen (wie. z. B. logische Wahrheit und Falschheit, logische Folge – oder Ableitbarkeit, wie es in seiner Terminologie heißt –, Unverträglichkeit usw.) als ob­jek­tive (d. h. denk- bzw. personunabhängige) Attribute definieren, die außer­dem zeit- und ortsunabhängig (und insofern “absolut”) sind, die also, sofern sie überhaupt auf gewisse Entitäten zutreffen, auf diese Entitäten immer und überall und für jedermann zutreffen müssen und nicht zu einem Zeitpunkt bzw. an einem Ort bzw. für eine Person auf diese Entitäten zutreffen können und zu einem anderen Zeitpunkt bzw. an einem anderen Ort bzw. für eine andere Per­son nicht. Wenn etwa eine Aussage (und dasselbe gilt auch für ein Ur­teil) wahr ist, dann kann sie – nach Bolzano – nicht zu einem Zeitpunkt und/oder an einem Ort und/oder für eine Person wahr sein und zu einem anderen Zeitpunkt und/oder an einem anderen Ort und/ oder für eine andere Person falsch, sondern sie muß immer und überall und für jedermann wahr oder aber immer und überall und 14 für jeder­mann falsch sein. Dies gilt nicht etwa nur für apriorische (wie z. B. mathematische), sondern sehr wohl auch für aposteriorische (empirische) Aussagen, deren Wahr­heit und Falschheit nur scheinbar zeit-, orts- und/oder personabhängig ist. Dieser Schein verfliegt sofort, wenn man die oft nur unvollständig formulierten oder auch mehrdeutigen Aus­­­­sagen durch die erforderlichen Zeitund Ortsangaben ergänzt bzw. eindeutig macht; statt zu sagen (wie es oft unkorrekter- und miß­ver­ständlicherweise geschieht), daß die Aussage ‘eine Maß Bier kostet 10 Euro’ manchmal und an gewissen Orten wahr und zu an­deren Zeiten und/oder an anderen Orten falsch sein könne, muß man nach Bolzano genaugenommen sagen: Wenn eine voll­ständig for­mulierte Aussage wie ‘eine Maß Bier kostet am 1. Oktober 2013 beim Wirt Soundso in München 10 Euro’ überhaupt wahr ist, muß sie immer und überall und für jedermann wahr sein.4 Ebenso wie die Begriffe der Wahrheit und Falschheit sollen (nach Bol­zano) auch die logisch-semantischen Begriffe zeit-, ortsund per­son­un­ab­hängig sein: Wenn eine einzelne Aussage (ein Ur­teil) oder eine Menge von Aussagen (Urteilen) wider­sprüch­lich ist, dann ist sie es immer und überall und für jeden; wenn zwei Mengen von Aussagen (bzw. Urteilen) miteinander un­ver­träglich sind oder wenn eine Aussage (Urteil) aus einer Menge von Aus­ sagen (Ur­teilen) logisch folgt (oder ableitbar ist, wie Bolzano sagen würde), dann kann dies nicht zu einem Zeitpunkt und/oder an einem Ort und/oder für eine Person gelten und zu einem anderen Zeit­punkt und/oder an einem anderen Ort und/oder für eine andere Person nicht, sondern es muß immer und überall und für jedermann so sein. Darin besteht die Objektivität und Absolutheit der logisch-semantischen Attribute (Eigenschaften und Relationen), die für Bolzano unverzichtbar ist. Da diese logischsemantischen Be­griffe letztlich mit Hilfe der Begriffe von Wahr15 heit und Falsch­heit definiert werden, ist durch die Ob­jektivität und Absolutheit dieser auch die Objektivität und Absolutheit jener gewährleistet, so­fern die zusätzlich er­forderlichen Hilfsmittel diesbezüglich keinen “Stör­faktor” dar­stellen. Das einzige zusätzliche Hilfs­mittel, das je­doch Bolzano für die Definition der logisch-semantischen Be­griffe außer den Begriffen von Wahrheit und Falschheit noch verwendet, ist die Operation der sogenannten Vor­stellungs­variation, die er ebenfalls auf absolute und objektive (zeit-, orts- und personunabhängige) Weise einführt: Bestimmte Teile in einem Satz an sich (nämlich bestimmte Vorstellungen an sich) werden dabei einfach als “veränderlich” (in einem unzeitlichen Sinne des Wortes!) angesehen, indem man sie durch andere Vor­stellungen an sich ersetzt denkt und nun darauf achtet, ob die da­raus resultierenden Sätze an sich allesamt wahr, allesamt falsch, oder teils wahr und teils falsch sind5; genaugenommen be­ trachtet man dabei also ganze Klassen von Sätzen an sich, die bis auf ge­wisse Teile (nämlich die dabei als “veränderlich” an­ge­ sehenen Vor­stellungen an sich) miteinander identisch sind. Wie kann nun die Objektivität von Wahrheit und Falschheit und damit gleichzeitig auch die Objektivität aller logisch-semantischen Attribute ge­­währleistet werden? Bolzano sieht die beste (und wohl auch einzige) Möglichkeit, um die Absolutheit und Objektivität sämt­licher semantischen Attribute (nämlich von Wahrheit und Falsch­heit und auch der logisch-semantischen Attribute) zu garantieren, darin, daß er ideale und objektive Träger für diese Attribute ein­führt, also Entitäten, denen diese Attribute zu­kom­ men können und die selbst zeitlos und raumlos sowie person- und somit auch denkunabhängig sind; und das sind seine Sätze und Vorstellungen an sich. Es ist wichtig zu sehen, daß es Bolzano bei der Ein­füh­rung der Sätze an sich nicht darum ging, den Unter­ schied zwischen Wahr­heit (wahren Urteilen oder Aussagen) und 16 Falschheit (falschen Ur­teilen oder Aussagen) zu charakterisieren, wie Brentano und manche seiner Schüler unterstellten; daß dazu die Ein­füh­rung der Sätze an sich untauglich wäre, kann man schon sehr leicht daran erkennen, daß es nach Bolzano ja neben den wahren auch falsche Sätze an sich gibt.6 Bolzano wollte also durch die Ein­füh­rung der Sätze an sich nicht den Unterschied zwischen Wahr­heit und Falschheit erklären, sondern vielmehr die Ab­solutheit und Ob­jek­tivi­tät von Wahrheit und Falschheit und der da­rauf auf­bauenden logisch-semantischen Begriffe garantieren. Man wird Bolzano wohl zugestehen können, daß die Ob­jek­tivi­ tät der se­man­tischen Attribute durch die Objektivität ihrer Träger ge­sichert würde und daß die von ihm als Träger der se­man­tischen At­tri­bute eingeführten Sätze und Vorstellungen an sich ihrem on­ to­lo­gischen Status nach zweifellos objektive Entitäten darstellten. Die Frage ist aber, ob der Einsatz so drastischer ontologischer Mittel (Annahme von Sätzen und Vorstellungen an sich) für das ge­setzte Ziel (Absicherung der Objektivität der seman­tischen Attri­bute) auch unbedingt erforderlich ist oder ob man nicht das­ selbe Ziel auch mit sparsameren Mitteln erreichen könnte. Eine solche durch Ockhams Sparsamkeitsprinzip motivierte Frage ist zweifel­los legitim, sobald man eingesehen hat, daß Bol­zano keinen echten Beweis dafür liefern kann, daß es die von ihm pos­tu­ lierten Sätze und Vorstellungen an sich auch tatsächlich gibt, wo­ durch sich die Diskussion auf die pragmatische Ebene und so­mit in einen Bereich verlagert, wo Sparsamkeitsgesichtspunkte ins Spiel kommen können und müssen. Bei einer solchen kritischen Be­wer­tung und Beurteilung von Bolzanos Einführung der Sätze und Vorstellungen an sich geht es aber selbstverständlich nicht um die wissenschaftshistorische Frage nach der Be­deut­sam­keit dieser Einführung für Bolzanos weitere Leistungen, also nicht um 17 eine Bewertung des sogenannten Ent­stehungs­zu­sammen­hangs, son­­dern einzig und allein um eine Bewertung im Rahmen des Be­ grün­dungs­zu­sammen­hangs: Wenn man auch die wis­sen­schafts­­ his­to­rische Bedeutung von Bolzanos Einführung der Sätze und Vor­stellungen an sich und ihre Wichtigkeit für seine weiteren phi­lo­­so­phischen und speziell logischen Errungen­schaften (ge­ra­de im Hinblick auf die von ihm erstmals in der Geschichte der Logik ent­wickelte strenge Definition des semantischen Fol­ge­rungs­be­ griffs) nicht unterschätzen darf 7, so kann doch nicht über­sehen werden, daß diese Leistungen sachlich unabhängig von der An­ nahme von Sätzen und Vorstellungen an sich sind. Heute weiß man, daß sich alle semantischen Begriffe in einem absoluten und ob­jek­tiven Sinn (d. h. so, daß die semantischen Attribute da­bei zeit-, orts- und personunabhängig bleiben) definieren lassen, ohne daß man deswegen zu Sätzen und Vorstellungen an sich Zu­ flucht nehmen müßte. Das entscheidende Manko in Bolzanos Philosophie be­steht so­mit darin, daß seine An­nahme von Sätzen und Vor­stellungen an sich letztlich einer Recht­fertigung entbehrt: Seine Be­weis­ ver­suche dafür, daß es solche Sätze und Vorstellungen an sich gibt, schlugen fehl, und eine pragmatische Analyse der Situation läßt die An­nahme solcher Sätze und Vorstellungen an sich zur Lösung des Ob­jek­tivi­täts­pro­blems, also zur Garantie der Ob­jek­ tivi­tät der se­man­tischen Attribute, nicht gerechtfertigt erscheinen. Da Bol­zano selbst von der Stich­haltig­keit seiner Beweise (und spe­ziell seines “Kron­be­weises”) überzeugt war, kam er gar nicht auf den Ge­dan­ken, nach alternativen Recht­fertigungen Aus­schau zu halten. Aber sicherlich wäre er, wenn er die Mangel­haftig­keit seiner Beweise durchschaut hätte, kaum auf die Idee ver­fallen, die mangelnden Beweise durch Inanspruchnahme einer di­rekten und un­mittel­baren Erkenntnis der Sätze 18 und Vor­stellungen an sich zu kompensieren. Bolzano war nämlich, was die Inan­spruch­nahme von direkter, unmittelbarer Erkenntnis betrifft, sehr zurückhaltend, wie folgende Stelle zeigt, in der er sich kri­tisch dazu äußert, daß solche unmittelbaren Einsichten und Er­kennt­nisse sehr oft – gerade auch von Kant und den Deutschen Idealisten – überstrapaziert wurden: Bolzano kritisiert hier die zeit­ge­nössischen Philosophen in Deutschland, daß sie – auch wenn sie sonst in keinem Punkt mehr Kantisch gesinnt seien – ihm zu­mindest in jener Behauptung zustimmen, “laut deren er jeden Welt­weisen von der Verbindlichkeit strenger Beweise sowohl als auch genauer Erklärungen in seiner Wissenschaft lossprach. Sie thun dieß mit um so ruhigerem Gewissen, da sie fast alle über­zeugt sind, ein eigenthümliches Vermögen zu besitzen, durch welches sie die sämmtlichen Wahrheiten, die sie, ein jeder in seinem Systeme, aufstellen, unmittelbar erkennen. Vernunft, Vernehmung, Ahnung, Gefühl, Glaube, Of­ fenbarung, innere Er­fahrung, Bewußtseyn, tiefstes und innerstes Urbewußtseyn, Anschauung, rationale, intellectuelle, transcen­ dentale, ideale, ab­so­lute Anschauung, Wissen, unbedingtes Wissen, und noch gar viele andere Benennungen sind es, welche man diesem Ver­mögen, oder den durch dasselbe begründeten Er­kennt­nissen ge­ge­ben. Am Namen wäre nun, wie mir däucht, wenig gelegen; auch stelle ich, wie man weiß, selbst nicht in Abrede, daß es gewisse reine Be­griffs­wahrheiten gebe, die wir unmittelbar erkennen: was ich nicht zulassen kann, ist nur, daß so zusammengesetzte Wahr­heiten, wie die von Gottes Daseyn, oder von unserer Freiheit, oder von der Un­sterb­lich­keit unserer Seelen, unmittelbar erkannt werden sollten; und was höchst tadelnswerth ist, daß man ein Ur­theil für unmittelbar erkläre, ohne erst dargethan zu haben, daß es auf keine Weise vermittelt seyn könne.”8 19 Man kann zusammenfassend sagen, daß Bolzano die Ob­jek­tivi­ tät und Absolutheit der semantischen Attribute für un­er­läß­lich hält und zu ihrer Absicherung objektive und ideale Entitäten, näm­lich Sätze und Vorstellungen an sich, als Wahrheitsträger ein­führt. Der Gedanke einer unmittelbaren Erkenntnis dieser Sätze und Vorstellungen an sich lag ihm hingegen fern, wie er über­haupt un­mittel­barer Erkenntnis gegenüber eher reserviert war. 1.2. Evidenz und Wahrheit bei Franz Brentano Brentano lehnt Entitäten wie Sätze und Vorstellungen an sich von Grund aus ab. Seiner reistischen Ontologie zufolge kann es nur reale (d. s. konkrete) Gegenstände geben, und Bolzanos Sätze und Vor­stel­lungen an sich sind keine solchen konkreten Ge­gen­stände und somit überhaupt keine Gegenstände, sondern Un­dinge. Außer­dem brauchen wir nach Brentano auch gar keine solchen Entitäten, da sich alles Vernünftige, was wir mit ihnen erreichen kön­­nen, auch ohne sie erreichen läßt. Ins­be­son­dere glaubt Bren­tano auch keineswegs, wegen seiner Ablehnung der Sätze und Vorstellungen an sich auf die Objektivität von Wahr­heit und Logik ver­zichten zu müssen, sondern er ist überzeugt, diese ebensogut auch auf anderem Wege absichern zu können. Brentanos Wahrheitslehre geht aus vom Begriff der Evidenz, der für Brentano allerdings nicht verbal definierbar ist; man ist viel­mehr darauf angewiesen, selbst Beispiele von evidenten Ur­ teilen zu erleben, um diesen Begriff zu fassen. Es gibt zwei große Grup­pen von (direkt) evidenten Urteilen, nämlich die Ur­teile der in­­neren Wahrnehmung einerseits und die sogenannten Axiome (das sind Urteile der Logik und Mathematik) anderseits; außer­ dem sind auch alle jenen Urteile (indirekt) evident, die aus (di20 rekt) evidenten Urteilen logisch abgeleitet werden können. Dar­ ü­ber hinaus gibt es jedoch keine evidenten Urteile. Das zeigt, daß Brentano den Begriff der Evidenz sehr eng faßte und daß er da­her auch die Auffassung vertreten konnte, daß jedes evidente Ur­teil wahr sein muß, während umgekehrt natürlich nicht jedes wahre Urteil auch evident ist, da die Wahrheit so­zu­sagen auch “blind” getroffen werden kann. Weil es also auch blinde Ur­teile – wie sie Brentano anschaulich nennt – gibt, konnte Brentano nicht einfach Wahrheit mit Evidenz gleichsetzen. Er hat je­doch den Begriff der Wahr­heit mit Hilfe des Begriffes der Evi­denz erläutert und auf diesen zurückgeführt. Die Grund­idee ist dabei die folgende: Wahr urteilt man offenbar genau dann, wenn man entweder evident urteilt oder doch zumindest so, wie auch ein evident Urteilender urteilen würde, sofern es einen solchen über­haupt gibt. Ein Urteil ist also wahr genau dann, wenn jedes evidente Urteil, das mit dem betreffenden Urteil hinsichtlich seiner Materie übereinstim­mt, auch in der Qualität mit ihm übereinstimmen muß. Man kann daher auch sagen: Ein Urteil ist wahr genau dann, wenn es unmöglich ist, daß es ein evidentes Urteil gibt, das zwar dieselbe Materie, nicht aber dieselbe Qualität besitzt.9 Diese Wahrheitsauffassung, die vom Begriff der Evidenz grund­­­­­­­legend Gebrauch macht, ist nach Brentano jedoch keines­­ wegs subjektivistisch. Brentano lehnt vielmehr jeden Sub­jek­ti­ v­ismus, Re­la­ti­vismus und Skeptizismus ab und sieht gerade in seiner Evi­denz­lehre den Garanten für die Objektivität und All­ ge­mein­gültig­keit der Erkenntnis, die nach Brentano darin besteht, daß zwei evidente Urteil einander niemals widersprechen können.10 Trotz seines sehr subjektiven Ausgangspunktes, nämlich dem Erlebnis der Evidenz, und seiner strikten Ablehnung von ob­ 21 jek­tiven und idealen Entitäten (wie Bolzanos Sätzen an sich) als Wahrheitsträgern kommt also auch Brentano zu einer ob­ jek­tivistischen Position, insofern auch bei ihm die Ob­jek­tivi­tät (d. h. Per­sonunabhängigkeit) und Absolutheit (d. h. Zeit- und Orts­un­ab­hängigkeit) der Wahrheit (nicht aber der Wahrheits­ träger!) auf­recht­er­halten bleibt. Diese Übereinstimmung im Er­ geb­nis kann aber nicht über den radikalen Gegensatz zwischen Bol­zanos und Brentanos Philosophie hinwegtäuschen: Zwar stimmen sie in ihrer harten Kritik an der Philosophie Kants und in ihrer Ab­lehnung des Deutschen Idealismus sowie in ihrer Achtung für Leibniz überein, doch Brentanos eigene philosophische Grund­aus­richtung weicht radikal von derjenigen Bolzanos ab. So schreibt auch Brentano in einem Brief an Oskar Kraus: “Aristo­ teles hat hier also wirklich auf mich Einfluß geübt, während ich von Bol­zano nie auch nur das geringste angenommen habe. Nur An­regung zur Be­handlung gewisser Fragen, die ich aber dann in ganz an­derer Weise und mit Verwerfung seiner Lösung beantwortete, habe ich von diesem mir trotzdem wahrhaft achtbaren Forscher empfangen.”11 Die beiden gegensätzlichen Standpunkte von Bolzano und Bren­tano werden nun aber in der Frühphilosophie Husserls auf inter­es­sante und kreative Weise miteinander vereinigt, so daß man das bekannte Wort von Peter Wust “Bolzano genuit Brentano, Bren­tano genuit Husserl”12 wohl folgendermaßen korrigieren kann und muß: Bolzano et Brentano genuerunt Husserl. Daß diese korrigierte Genealogie ihre Berechtigung hat, soll im fol­genden Ab­schnitt gezeigt werden. 22 2. Husserl und die realistische Phänomenologie: Objektivität und Evidenz 2.1. Objektive Wahrheitsträger und Evidenz bei Edmund Husserl Bolzano vertrat einen Wahrheitsträger-Objektivismus und einen Wahr­heits­träger-Idealismus; er glaubte, durch die Person­unab­ hän­­gig­keit (Objektivität) sowie Raum- und Zeitlosigkeit der Wahr­heits­träger – und wohl auch nur durch sie – die Ob­jek­tivi­tät und Ab­so­lutheit der Wahrheit selbst sichern zu können. Brentano hin­ge­gen lehnte objektive und ideale Wahr­heits­träger strikt ab und vertrat die Objektivität und Absolutheit der Wahr­heit ohne Wahr­heits­träger-Objektivismus und Wahrheits­träger-Ide­al­is­mus; um die Objektivität und Absolutheit der Wahrheit ohne ob­jek­ tive und ideale Wahrheitsträger zu sichern, führte er einen sehr strengen Evidenz-Begriff ein, auf den Bolzano völlig ver­zichtete. Husserl führt nun die beiden gegensätzlichen Auffassungen von Bolzano und Brentano zusammen: Er glaubt einerseits, nicht auf ob­jek­tive und ideale Wahrheitsträger verzichten zu können, und anderseits ist für ihn auch die Evidenz im Sinne Brentanos (oder zumindest etwas Analoges) unerläßlich. Tut Husserl damit des Guten nicht zuviel? Es soll im folgenden gezeigt werden, war­ um nach Husserl beide Komponenten benötigt werden. Husserl war von der Objektivität der Mathematik und aller Wissen­schaften und Erkenntnisinhalte überhaupt über­zeugt und hielt eine “psychologische Begründung des Logischen”, wie sie zu seiner Zeit noch vor­herrschte, damit für unvereinbar (Husserl 1922, Vol. I, p.VII). Er be­mühte sich infolgedessen um die Neu­ be­grün­dung einer reinen – d. h. nicht-psychologischen und nichtsub­jekt­i­vistischen – Logik und Erkenntnistheorie. Gemäß der 23 von Husserl konzipierten “Idee der reinen Logik” (Husserl 1922, Vol. I, pp.227ff.) hat die Logik von den psychologischen Be­din­ gungen des Zustandekommens von Erkenntnis abzusehen (Husserl 1922, Vol. I, p. 237), und es geht letztlich in der Logik um den ob­jek­tiven und idealen Inhalt der Er­­kenntnis (Husserl 1922, Vol. I, pp.239f.): “In der Tat hat es die reine Logik, wo immer sie von Be­griffen, Ur­teilen, Schlüssen handelt, ausschließlich mit diesen idealen Ein­heiten, die wir hier Bedeutungen nennen, zu tun” (Husserl 1922, Vol. II/1, pp. 91f.). Anders ausgedrückt: Husserl glaubt, ob­jek­tive und ideale Träger für die Wahrheitswerte und die lo­gischen Eigenschaften und Relationen einführen zu müssen, um deren Objektivität und Absolutheit zu sichern. Damit stimmt er aus­drück­lich mit Bolzano über­ein, dem er ja auch an der be­kannten und vielzitierten Stelle der Logischen Un­ter­ su­chungen (Husserl 1922, Vol. I, pp. 224 –227) seine Reverenz erweist. Gleich­zeitig verweist jedoch Husserl auch auf empfind­ liche Mängel bei Bolzano “in erkenntnistheoretischer Rich­tung”, auf­grund deren es Bolzanos Logik nicht gelinge, “das Wesen ihrer Ge­gen­­­stände und Aufgaben klarzumachen” (Husserl 1922, Vol. I, p. 227). Husserl hat damit wohl jenen kritischen Punkt in Bol­ zanos Logik angesprochen, auf den wir zuvor bereits auf­merk­sam ge­macht haben: Es gelingt Bol­zano nicht zu zeigen, wie wir uns der objektiven und idealen Träger der Wahrheitswerte und der lo­ gischen Attribute, also der Sätze und Vorstellungen an sich, “ver­ sichern” können. Zwar glaubte er, einen strengen Beweis dafür liefern zu können, daß es diese objektiven und idealen Wahr­ heits­träger gibt, aber sein Beweisversuch mißlang. Was blieb, war besten­falls eine mehr oder weniger rationale und ziel­ge­richtete Mo­ti­vation, die ihn zur Einführung der Sätze an sich ver­an­laßte, um gewisse Probleme zu lösen (insbesondere, um die Ob­jek­tivi­tät und Ab­so­lut­heit der Wahrheitswerte und der logischen Attri­bute 24 zu sichern). Auf eine solche pragmatische Rechtfertigung für seine Einführung der Sätze und Vorstellungen an sich ließ sich Bol­zano allerdings selbst gar nicht ein, da er sich ja im Besitze eines stringenten Beweises für die Annahmen dieser Entitäten wähnte. Husserl hin­gegen lehnt eine solche bloß pragmatische Recht­fertigung für die Einführung seiner objektiven und idealen Wahr­heits­träger, nämlich der Bedeutungen, ab und füllt die so zu Tage tretende Recht­­fertigungslücke durch Evidenz: “Es handelt sich dabei auch nicht um eine bloße Hypothese, die sich erst durch ihre Er­klärungs­ergiebigkeit rechtfertigen soll; sondern wir nehmen es als eine unmittelbar faßliche Wahrheit in An­spruch und folgen hierin der letzten Autorität in allen Erkenntnis­fragen, der Evidenz. Ich sehe ein, daß ich in wiederholten Akten des Vor­ stellen und Ur­teilens identisch dasselbe, denselben Be­griff, bzw. den­selben Satz meine, bzw. meinen kann […]” (Husserl 1922, Vol. II/1, p. 100). Damit aber ergibt sich bereits die auf den ersten Blick über­ raschende Zusammenführung der scheinbar so divergierenden Grund­­ideen von Bolzano und Brentano, von objektiven und ide­ alen Wahrheitsträgern sowie der die Objektivität und Ab­so­lut­heit der Wahrheit garantierenden Evidenz: Für Husserl garantiert die Evi­denz das Vor­handensein jener objektiven und idealen Wahr­­ heits­träger, die ihrer­seits die Objektivität und Absolutheit der Wahr­heit selbst und der anderen semantischen Attribute ga­ran­ tieren sollen. Daß Husserl diese Grundideen von Bolzano und Brentano zu einer Synthese verbunden hat, darf allerdings nicht da­­rüber hinwegtäuschen, daß er auch beträchtlich von Bol­zano und Brentano abgewichen und über sie hinausgegangen ist: Der on­to­­lo­gische Status von Husserls Bedeutungen unterscheidet sich nicht un­wesentlich vom ontologischen Status der Bolzanoschen Sätze und Vorstellungen an sich13, und seine Auffassung 25 von Evi­denz hat eine beträchtliche Entwicklung – immer mehr weg von Brentano – mitgemacht.14 Dennoch ist die grundlegende Über­ein­stimmung mit Bolzano und Brentano nicht zu über­sehen, de­ren Auffassungen Husserl auf interessante Weise mit­ein­ander ver­bunden hat. 2.2. Objektive Wahrmacher und Evidenz bei Adolf Reinach Die Einführung objektiver und idealer Wahrheitsträger war bei Bol­zano und Husserl offensichtlich dadurch motiviert, daß sie die Objektivität und Absolutheit der Wahrheitswerte dadurch ab­sichern wollten, und zwar nicht nur in jenen Bereichen, wo es – wie in der Mathematik – ohnedies um objektive und ideale Entitäten geht, sondern auch dort, wo es sich – wie etwa im Be­ reich der empirischen Wissenschaften – um raum-zeitliche und wandel­­­bare Dinge handelt. Dabei dürfte folgende Über­legung Pate gestanden haben: Wenn jene Entitäten, aufgrund deren ein be­­stim­­mter Wahrheitsträger (eine Aussage etwa oder ein Ur­teil) wahr oder falsch ist, selbst raumzeitlich und somit wandelbar so­ wie eventuell auch bewußtseinsabhängig sind, dann müssen doch auch die Wahrheitswerte selbst raum- und zeitabhängig so­wie sub­jektiv sein. Bei dieser Überlegung wird als selbst­ver­ständ­lich vor­aus­­gesetzt, daß das, wodurch ein Wahrheitsträger wahr bzw. falsch “gemacht” wird, nichts anderes sein kann als jenes Ding, auf das sich der jeweilige Wahrheitsträger bezieht, also das, wovon in einer Aussage die Rede ist bzw. worüber in einem Urteil geur­teilt wird. Aber kommen als “Wahrmacher” (man entschuldige dieses häßliche Wort, aber es gibt wohl kein anderes, das gleich kurz und gleich anschaulich ist!) wirklich nur jene Dinge in Frage, auf die sich die Wahrheitsträger in der angedeuteten Weise beziehen? Die zuvor angestellte Überlegung wäre hinfällig 26 und Ob­jek­tivi­tät sowie Absolutheit der Wahrheitswerte könnten auch ohne Ein­führung objektiver und idealer Wahrheitsträger ge­rettet werden, wenn die Wahrmacher bewußtseinsunabhängig sowie raum- und zeitlos und dadurch unwandelbar wären. Als der­artige ob­jek­tive und ideale Wahrmacher werden von vielen Philosophen seit Husserl die Sachverhalte aufgefaßt. Die Einführung der Sachverhalte als objektive und ide­ale Wahr­macher erfolgte allerdings nicht als aus­drückliche Alter­ native zur Einführung objektiver und idealer Wahr­heits­träger, um die Ob­jek­tivi­tät und Ab­so­lut­heit der Wahr­heits­werte ab­zu­sichern, son­dern sie ging mit dieser – ohne klare Ab­grenzung – mehr oder we­ni­ger Hand in Hand. Dies ist nicht so ver­wunderlich, wenn man be­denkt, daß die in der historischen Re­tr­ o­­spektive so klar von­ ein­an­der abgegrenzten Fragen nach Wahr­heitsträgern und Wahr­ machern nicht von vornherein so scharf se­pariert waren, son­dern sich erst im Laufe der Entwicklung so deutlich diffe­ren­zierten. An der vielzitierten Stelle in Carl Stumpfs Ar­beit Er­schei­nungen und psy­chische Funktionen (Stumpf 1907, pp. 29 f.), an der der Ter­mi­nus ‘Sachverhalt’ in die neuere deutsch­sprachige Phi­lo­so­ phie eingeführt wird, scheint da­mit noch ziemlich klar ein Wahr­ heits­träger gemeint zu sein, insofern er synonym gesetzt wird mit ‘Urteilsinhalt’ und mit Bolzanos ‘Satz an sich’. Die Sach­ver­halte über­nehmen aber dann mehr und mehr auch die Rolle der Wahr­ macher.15 Man kann wohl nicht exakt einen Punkt angeben, ab dem die Sach­ver­halte eindeutig und auch im großen und gan­zen aus­ schließ­lich als Wahrmacher fungierten, und man könnte sicher­ lich mehrere Philosophen als Gewährsleute an­­führen. Wenn wir uns hier auf einen – noch dazu verhältnismäßig un­be­kannten – beschränken, nämlich auf Adolf Reinach, so hat das mehrere Gründe: Einerseits hat er wie kaum ein anderer die Grund­ge­ 27 danken von Husserls Logischen Unter­suchungen kon­sequent wei­ ter­ge­dacht und gehört somit genau jener phi­lo­so­phischen Linie an, die wir hier näher beleuchten wollen; ander­­seits ver­dient gerade er, der so sehr in Vergessenheit ge­­raten ist, wieder in Erinnerung gerufen zu werden; und schließlich – und dies ist der letztlich ausschlaggebende sach­liche Grund! – hat er den Sach­ ver­halten eindeutig und ausdrücklich die Rolle der Wahr­macher zugeschrieben und die verschwommene Doppel­funk­ti­on von Wahrheitsträger und Wahrmacher abgelehnt: “Ein Ur­teil ist richtig, wenn der zugehörige Sach­verhalt be­steht […] Wir er­kennen den Unterschied von Ur­teil und ‘Satz an sich’ durch­aus an; aber wie den Satz vom Urteil, so muß man ihn auch vom Sach­ver­halte scheiden. Ein Satz ist wahr, wenn der zu­ge­hörige Sach­ver­halt besteht. Und zwei kontradiktorische Sätze können nicht beide wahr sein, weil zwei kontradiktorische Sach­ver­halte nicht beide bestehen können. So führt auch hier das Satz­gesetz auf ein Sach­ver­ halts­ge­setz zurück.”16 Reinach kritisiert Meinong und Husserl, daß bei ihnen die Funktion der Wahr­heits­träger und der Wahrmacher nicht immer klar getrennt wurde: “Daß Meinong unter bestimmten Voraussetzungen auch von Wahrheit und Falsch­heit von Objektiven reden will, erklärt sich aus seiner schon berührten Kon­fundierung von Sach­verhalt und Satz. Sach­ver­halte bestehen oder bestehen nicht. Sätze sind wahr oder falsch. Husserl hat die Bezeichnungen wahr und falsch, die er im ersten Bande seines Werkes noch mitunter auf Sach­ver­halte an­ge­wandt hat, im zweiten Fallen lassen, nach­dem sich die Schei­dung zwischen Satz und Sach­verhalt bei ihm durch­gesetzt hat.”17 Reinach weist den Sachverhalten zwar eindeutig die Funk­ti­on der Wahr­macher zu und trennt diese Funktion klar von jener der Wahr­­heits­träger, dennoch stimmen seine Sachverhalte ihrem on­ to­­lo­gischen Status nach mit den Wahrheits­trägern Bolzanos und 28 Husserls überein: Auch sie sind personunab­hängig sowie außer Raum und Zeit, also objektive und ideale Entitäten. Aus diesem Grund sieht er sich bei seinen Wahrmachern mit dem­selben Pro­ blem konfrontiert wie Husserl bei seinen Wahrheitsträgern: Wie können wir uns ihrer “versichern”? Und Reinach bietet auch die­ selbe Lösung an wie Husserl: In der Evidenz!18 So hat Reinach einen neuen Akzent in der Entwicklung der re­a­lis­tischen Phänomenologie gesetzt: Für ihn sind die Sach­ver­ halte objektive und ideale Entitäten, welchen er ausdrücklich die Rolle der Wahrmacher zuschreibt und die uns in der Evidenz ge­ geben sind. 3. Zusammenfassung und Ausblick 3.1. Zusammenfassung 3.1.1. Bolzano wollte durch objektive und ideale Wahrheits­ träger die Objektivität und Absolutheit der Wahrheits­werte ga­ran­ tie­ren; er ließ allerdings das Problem ungelöst, wie wir uns dieser ob­jek­tiven und idealen Wahrheitsträger versichern können. Von spe­zi­fischen Wahr­machern war bei ihm keine Rede. 3.1.2. Brentano glaubte, ohne ideale Wahr­heitsträger und auch ohne ideale Wahrmacher auskommen zu können und den­noch nicht auf die Objektivität und Absolutheit der Wahr­heits­werte ver­zichten zu müssen, die er durch eine spezielle Evi­denz­lehre zu garantieren versuchte. 3.1.3. Husserl ver­trat ebenso wie Bolzano objektive und ideale Wahr­heits­träger, durch die er (wie Bolzano) die Ob­jek­tivi­tät und Ab­so­lut­heit der Wahr­heitswerte sichern wollte; die Lücke, die Bolzano bezüglich der Erkennbarkeit dieser idealen Wahr­ 29