Einführung in die Sprachwissenschaft Teil 2b: Sprachbeziehungen: typologisch Willkommen zu dieser Vorlesung! www.foeldes.eu www.germanistische-sprachwissenschaft.eu www.facebook.com/germanistische-sprachwissenschaft Typologische Klassifizierung Ausgangspunkt bei der Gliederung nach Sprachtypen = Sprachstruktur (Morphemstruktur der Wörter) → strukturelle/morphologische K. Mit Hilfe deskriptiver (beschreibender) Methoden: die Strukturen der einzelnen Sprachen beschrieben u. miteinander verglichen. Die Sprachtypen (1) Isolierender Sprachtyp: Grammatik soz. vom Wort isoliert, Form d. Wörter verändert sich nicht → amorphe S. (ohne Morphologie), nur syntakt. Mittel, dazu sog. Leerwörter (keine selbst. Bed., nur Beziehungen zw. bedeutungstragenden Elementen (Tempuszeichen des Verbs) – Dt. ich habe gegessen Vollwörter/Wurzelwörter → Wurzelsprache Wörter = unveränderlich → analytische Spr. Intonation: untersch. Intonation verändert Funktion u. Bedeutung → Tonhöhensprache Beispiel Vietnamesisch: Beispiel Chinesisch 1. Ton mā 2. Ton má 3. Ton mă 4. Ton mà Beispiel Chinesisch wŏ de mā (= meine Mutter) wŏ jiăo má (= mein Bein ist eingeschlafen) wŏ de mă (= mein Pferd) wŏ mà (= ich schimpfe) Wŏ wèn nĭ (= ich frage dich) ↕ Wŏ wĕn nĭ (= ich küsse dich) (2) Agglutinierender Sprachtyp: die gramm. Funktion (z.B. Person, Zeit, Kasus) = durch das Anfügen v. Affixen kenntlich gemacht → Agglutination. Einfach: zusammenklebende (anfügend) Verbindung von Wortstämmen + eindeutige, gleichbleibende Affixe (zur Angabe der Beziehungen zwischen Wörtern im Satz) Affix = Wortbildungsmorphem, fasst Präfix, Suffix u. Infix zusammen (3) Flektierender (fusionierender) Sprachtyp: Flexion anwenden • Sprachen, die die Tendenz haben, die syntakt. Beziehungen im Satz durch stammverändernde Elemente auszudrücken. Flexion: Änderung der Gestalt eines Wortes zum Ausdruck seiner gramm. Merkmale bzw. der gramm. Funktion im Satz • äußere + innere F. (= Änderung der Wortstämme) → einfach: Affixe verschmelzen miteinander und mit dem Wortstamm. Zusammenfassend: Die Wörter eines Satzes ordnen sich - durch Flexion (Beugung) und - durch vielfältige Affigierung (Hinzufügung von Partikeln) - in gramm. Kategorien, wodurch ein Beziehungsgefüge von Abhängigkeiten hergestellt wird. (2/AG = agglutinierende Sprachen) ↔ (3/FL = flektierende Sprachen) in einer Gegenüberstellung • (2/AG) ein Affix hat immer nur eine Funktion: ungarisch ember|ek|nek = -ek: Plural, -nek: Dativ ↕ (3/FL) ein Affix kann mehrere Funktionen gleichzeitig haben: dt. den Mensch|en = Pl. + Dativ • (2/AG) eine bestimmte gramm. Funktion = im Satz nur einmal: a szép házak (Pl. nur an -k erkennbar) ↕ (3/FL) eine bestimmte gramm. Funktion kann mehrmals bezeichnet werden („Übercharakterisierung“, Wortgruppenflexion): die schönen Häuser • (2/AG) Aneinanderreihung vieler Affixe im Bereich der Wortbildung + in Gramm. möglich u. häufig: hű|tlen|ség|em|ről ↕ (3/FL) Aneinanderreihung von Affixen im Bereich der Wortbildung möglich, in Gramm. selten: über meine Un|treu|e • (2/AG) Affixe unabhängiger vom Stamm, lassen s. immer vom Stamm u. von den Wortelementen lösen: kert – kert|et (Akk.) ↕ (3/FL) Affixe können mit dem Stamm zu einer unlösbaren Einheit verschmelzen (Fusion), sie können die Lautform des Stammes beeinflussen, sogar Morphemgrenzen aufheben: Garten < ahd. garto, mhd. garte – Akk. den garten • (2/AG) Form der Wurzel = stabil, Affixe werden der Wurzel angepasst („Vokalharmonie“): három|szor, négy|szer, öt|ször ↕ (3/FL) Form d. Wurzel kann d. Form des Affixes angepasst werden: Dorf + lich → dörflich Veränderlichkeit der Wurzel = phonologischer Wechsel. Wenn dieser Wechsel zum Ausdruck gramm. Beziehungen → innere Flexion (Ablaut, Umlaut, Brechung). Yagua: (gesprochen im peruanischen AmazonasGebiet, NW + Kulumbien), Agglutinierend; gramm. extrem kompliziert, z.B. • 5 Grade d. Vergangenheit, nach denen s. die Endungen d. Verben unterscheiden: Jeder Sprecher muss differenzieren, ob seit einem Ereignis Stunden, Tage, Monate oder noch längere Zeitspannen vergangen sind. (4) Inkorporierender Sprachtyp: polysynthetisch • wenig erforscht; keine Satzglieder in unserem Sinne → morphol. Struktur ihrer Elemente außerhalb eines „Satzes“ nicht erkennbar • keine festen Wortformen, sie erhalten ihre endgültige Form erst im „Satz“ → ≠ Wörter, sond. „polysynthetische/inkorporierende Komplexe“ (Satzwörter) • Inkorporierung (Aufnahme versch. Elemente in einen „Körper“) geht meist vom Verb aus: vom Prädikat alles einverleibt z.B. Tschinuk-Spr. (Oregon, Washington) i-n-i-á-l-u-d-am i: Vergangenheit, n: 1. Pers. Sing., i: direktes Obj., á: sie, l: indir. Obj. (ihr), u: vom Sprechenden fortbewegend, d: = Kernstück (Themamarker: Markierung, dass das Wort zu diesem Zeitpunkt Fokus der Unterhaltung ist): geben, am: Ziel/ Zielorientiertheit ich bin gekommen, um ihr dies zu geben (5) Klassifizierender Sprachtyp: agglutinierend? Bantusprachen, 500 Eingeborenensprachen südl. des Äquators bis nach Kapland • Wörter, die Personen, Dinge od. Tätigkeiten bezeichnen: in best. logische Kategorien eingeordnet • Klassen z.B.: Person, Lebende, Ding, Stück, Organismus, Individuelles, Beschaffenheit, Richtung, Oberfläche, Inneres • Zugehörigkeit zu einer Klasse: an den Wörtern durch ein „Klassenpräfix“ kenntlich gemacht Klassenpräfix = auch grammat. Beziehungsmittel: alle Wörter des Satzes, die syntaktisch zu einem präfigierten Substantiv gehören, durch dasselbe Präfix gekennzeichnet; auch Verben, Adjektive → so: wichtiges Mittel zur Organisation der Rede. Beispiel: Kisuaheli kile kisu kikukuu kimevikhata vile vidole wya mtoto mdogo das Messer, alt, {hat geschnitten}, die, Finger, das, Kind, klein kisu = Messer, Klassenpräfix für Geräte, Pl. = vi; kimevikhata: Prädikat: beide Präfixe, m = Klassenpräfix für Personen. austral. Dalabon Hierarchie- und Verwandtschaftsverhältnisse d. Personen, über die geredet wird: → ein kompliziertes System v. Silben, die den Wörtern vorgeschaltet werden „Weltatlas der Sprachstrukturen“ Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig → Sprachkarten: ttp://wals.info Deutsch: fast alle typologischen Merkmale • flektierend (Änderung der Wortstämme): Mutter → Mütter, nehmen → nahm → genommen • agglutinierend (Suffixe verändern Inhalte u. Funktionen): Halt|bar|keit, Hilf|los|ig|keit • klassifizierend (Kennz. f. Pers., Sachgruppen): Berufe: Lehrer, Bauer; best. Tierbezeichnungen: Fuchs, Dachs, Lachs, Luchs • inkorporierend („Klammereffekt“): der in seiner Ohnmacht verzweifelt aussehende Mann • isolierend (unveränderte Wörter ohne Funktionszeichen): Frauen lieben Mode. – od. untersch. Intonation verändert Funktion u. Bedeutung (Tonhöhensprachen): Inge ist glücklich verheiratet. Inge ist glücklich verheiratet. Ach so! ↔ Ach so? Heute: • Typologische Fragen → bei d. Suche nach sprachl. Universalien. • Kritik: genet. + typol. Klassif.: lassen die Bedeutung kultureller Verbindungen zw. Sprachen außer Acht (Wort-, Struktur- u. Modellentlehnung). • Neu: Kategorisierung nach einzelnen strukt. Kriterien, z.B. Anzahl d. Morpheme pro Wort → „Synthese-Index“. Die Schulkinder sahen den Hund. 5 Wörter, aber 9 Morpheme → Synthese-Index = 1,8. • für d. Englische: 1,68 • für d. Deutsche: 1,57 • für d. Annamitische: 1,06 • für d. Eskimo: 3,72 Joseph H. Greenberg (1915-2001) Literaturempfehlungen zum Thema • AUER, Peter (Hrsg.): Sprachwissenschaft. Grammatik − Interaktion − Kognition. Stuttgart/Weimar: Metzler 2013. • CRYSTAL, David: Cambridge-Enzyklopädie der Sprache. Frankfurt a.M. [etc.]: Campus 1995. • HAARMANN, Harald: Kleines Lexikon der Sprachen. Von Albanisch bis Zulu. München: Beck 2001 (Beck'sche Reihe; 1432). • HUTTERER, Claus Jürgen: Die germanischen Sprachen. Ihre Geschichte in Grundzügen. 4., ergänzte Aufl. Nachdr. Wiesbaden: Albus 2002. • ROELCKE, Thorsten: Sprachtypologie des Deutschen. Historische, regionale und funktionale Variation. Berlin/New York: De Gruyter 1997 (Sammlung Göschen; 2812). • STÖRIG, Hans-Joachim: Abenteuer Sprache. Ein Streifzug durch die Sprachen der Erde. 5. Aufl. Berlin [etc.]: Langenscheidt 1997. • ULRICH, Winfried: Wörterbuch. Linguistische Grundbegriffe. 5., völlig neu bearb. Aufl. Berlin/Stuttgart: Borntraeger 2002 (Hirts Stichwortbücher). • WUNDERLICH, Dieter: Sprachen der Welt. Warum sie so verschieden sind und sich doch alle gleichen. Darmstadt: Wiss. Buchges. 2015.