Mittelweg 36 - Berthold Vogel - Die Justierung des Sozialen

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Berthold Vogel
Die Justierung des Sozialen
Mittelweg 36 4/2005
Anmerkungen zur laufenden Diskussion
I
Im Dezember 2003 trat die Deutsche Bischofskonferenz mit einem
programmatischen Text an die Öffentlichkeit: »Das Soziale neu denken«
(DBK 2003). Dieser »Impulstext« des Sozialkatholizismus zielt auf die
grundlegende Neujustierung des Sozialen unter verengten fiskalischen
Handlungsspielräumen des Staates, unter disparaten Bedingungen des
Erwerbstätigseins und unter erschwerten Anforderungen an familiäres
Zusammenleben. Als Programmschrift findet der Text in den politischen Reformdebatten dieser Tage einen bemerkenswert klaren Weg jenseits wohlfeiler Staatsverachtung und zitadellenhafter Wohlfahrtsverteidigung. Dieser Weg sieht eine Reaktivierung institutionell gestützter
Subsidiarität (Blickle u.a. 2002) vor – nicht als Ersatz für Staatlichkeit,
sondern als sozial begründete Stärkung politischer Gestaltung und staatlicher Steuerung. Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft tritt uns hier
im Gewande des politischen Katholizismus entgegen. Der Zielpunkt der
programmatischen Mühen ist nicht nur die Organisation von Daseinsfürsorge oder Versorgungsleistung, sondern in erster Linie die verpflichtende Indienstnahme unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen für
die Begründung von Gemeinwohl und kollektiver Wohlfahrt.
Doch wovon ist überhaupt die Rede, wenn in Zeiten des reformorientierten Bedenkens der Wohlfahrtsstaatlichkeit das Soziale ins Spiel
kommt? Das Soziale repräsentiert den hybriden Raum zwischen Individuum und Staat. Dieser Raum umfaßt die Gemeinschaften und Korporationen des sozialen Lebens, aus denen heraus sich Gesellschaft
begründet und die ihre Strukturen ausmachen (Zacher 2002). Gemeinschaften sind Orte der Zugehörigkeit, Gesellschaft ist der Ort ihrer
Gestaltung (Supiot 2004). Diese Ordnungsvorstellung des Sozialen als
Zwischenraum hat verschiedene Wurzeln. Sie finden sich beispielsweise
in den leoninischen Sozialenzykliken des 19. Jahrhunderts, die das Soziale als normatives Interventionsfeld kirchlicher Selbstbehauptung in
einer säkularen Welt entdeckten (Maier 1983). Der zentrale Bezugs- und
Ausgangspunkt dieser Ordnungsidee ist gleichwohl das juristische Denken dieser Zeit – ein konstitutives Denken, das bis heute fortwirkt. Die
Rechtsauffassung der Gesellschaft unterscheidet in dieser Traditionslinie zwischen einem privaten und einem öffentlichen Recht. Während
das Privatrecht die Beziehungen von Individuen zueinander regelt, begründet das öffentliche Recht die Funktionsweise des Staates. Im Raum
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zwischen privatem und öffentlichem Recht finden sich die gemeinschaftlichen Strukturen des Sozialen: die Familie, die Nachbarschaft,
die Orte der Arbeit und des Alltagslebens. Diese Strukturen stehen für
materiellen Unterhalt und für gesellschaftliche Einbindung, also neusoziologisch für Integration oder Inklusion. Die Entwicklung moderner kapitalistischer Gesellschaften – mit ihren Imperativen der Mobilität und der Individualität – setzten diesen Zwischenraum freilich unter
permanenten Druck. Das Soziale wird zum Problem. Dessen Strukturen stehen daher immer auch für Prekarität und Fragilität. Integration
und materielle Sicherheit sind anhaltenden Gefahren ausgesetzt. Auf
diese Spannung zwischen Einbindung und Prekarität wird seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts in unterschiedlicher Weise, aber doch mit
gleicher Zielrichtung reagiert: durch die Formulierung und Inkraftsetzung des Sozialrechts, dessen Gedankenwelt insbesondere von Otto von
Giercke, aber auch von Lorenz von Stein geprägt ist (Kaufmann 2003 b,
von Giercke 1915); durch die praktische Organisation des korporativen
Verbandswesens sozialer Wohlfahrt (Bode 2002), das eng mit der Entwicklung des Sozialkatholizismus verbunden ist; und schließlich durch
die Forderung nach wohlfahrtsstaatlicher Teilhabe und Gestaltung in der
aufstiegsorientierten Arbeiterbewegung, die ihre Interessen in wachsendem Maße gewerkschaftlich organisiert. Diese Quellen der Gestaltung
des Sozialen sind nicht versiegt, im Gegenteil, sie haben sich, um im
Bild zu bleiben, zu breiten Flüssen geweitet, die die gesellschaftliche
und wohlfahrtsstaatliche Landschaft auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts prägen.
Mit Blick auf die aktuelle Lage von Staat und Gesellschaft spricht
zwar alles dafür, daß die Prekarität und Fragilität des Sozialen unter
veränderten staatlichen, ökonomischen und generativen Konstellationen zunimmt, seine integrative Kraft an Stärke verliert, gleichwohl löst
sich das Soziale nicht auf, es verschwindet nicht. Vielmehr tritt nun
dessen rechtliche wie politische Gestaltungsnotwendigkeit prägnant
hervor (Vogel 2004). Die Geltungsgrenzen traditioneller Institutionen
des Sozialen erfordern dessen Neujustierung – im Rahmen einer
sich verändernden Wohlfahrtsstaatlichkeit. Denn wer das Soziale neu
denkt, muß auch die Staatlichkeit neu denken. Doch ist diese Perspektive an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Hierfür heißt es zunächst, Abschied zu nehmen von der nervösen Vorstellung eines Zerfalls der Staatlichkeit, es heißt weiterhin, historisch informiert über die
normativen Grundlagen der wohlfahrtsstaatlichen Formation des Sozialen nachzudenken, und es heißt schließlich, das Soziale in seiner
Staatsbedürftigkeit gerade gegen das von einem Gutteil der Gesellschaftswissenschaften genährte, resignative Selbstverständnis der Politik zu verteidigen.
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II
Zwei aktuelle Beiträge zur Zukunft des Sozialen und
der Wohlfahrtsstaatlichkeit werden den genannten Voraussetzungen exemplarisch gerecht: Die kompakte Studie von
Robert Castel Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen
Wohlfahrtsstaat (Castel 2005) und die Abhandlung von
Franz-Xaver Kaufmann Die Entstehung sozialer Grundrechte
und die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung (Kaufmann 2003 a).
Castel liefert in seiner aktuellen Studie eine knappe,
gleichermaßen auf die Entwicklung der Sozialstruktur wie
des Wohlfahrtsstaates bezogene Problemanalyse. Sein Ausgangspunkt ist die Rekollektivierung der sozialen Unsicherheit. Ein neues »Dispositiv der Unsicherheit«, dessen Triebfeder die Veränderungen der Erwerbsarbeit sind, durchzieht die gegenwärtige Entwicklung des Wohlfahrtskapitalismus. Castel verweist auf die wachsende Brüchigkeit von
Erwerbsarbeitskarrieren, auf die nachlassende Kraft familiärer und nachbarschaftlicher Netzwerke, auf die allmähliche Erosion »vorsorgender« und »ressourcensichernder«
staatlicher Institutionen und auf die Demontage arbeitsund sozialrechtlicher Regularien. Diese Demontage bleibt
nicht ohne Folgen für die zivilen und politischen Rechte
des Individuums, für die Bedingungen seiner Unabhängigkeit und seiner »öffentlichen Existenz«. Soziale und zivile
Unsicherheiten verbinden sich. Die »Dekollektivierung«
der Arbeitsbeziehungen, die »Re-Individualisierung« der rechtlichen
und sozialen Konstitution des Arbeitsverhältnisses und die Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen sorgen dafür, daß bestimmte soziale
Gruppen – insbesondere die bislang gesicherten und durch den Wohlfahrtsstaat privilegierten sozialen Mittelschichten – die unterstützenden
Strukturen kollektiver Institutionen und (Ver-)Sicherungssysteme zu
verlieren drohen. Doch diese Institutionen und Systeme repräsentieren
gerade für die Angehörigen der arbeitnehmerischen Mittelschicht die
Garantie ihres sozialen und öffentlichen Status. Sie bilden in diesen Soziallagen die grundlegende Voraussetzung einer positiven Existenz als
Individuum (vgl. auch Castel 2000). Diese Prozesse der »negativen Individualisierung« tragen Castel zufolge selbst wiederum kollektiven
Charakter. Doch beläßt es der französische Soziologe nicht bei der Feststellung und Analyse der Kollektivierung der Dekollektivierung. Vielmehr denkt Castel über Konzepte neuer politischer und rechtlicher
Regulationsformen des Sozialen nach. Es geht ihm um die politische
und rechtliche Stabilisierung des Wohlfahrtsstaates durch dessen Fortentwicklung. Veränderte »Risikolagen« und »Unsicherheiten« bedürfen
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einer Strategie der rechtlichen »Rekollektivierung«, die vor allen Dingen die Dynamik der »negativen Individualisierung« in der Arbeitswelt bremst. »Soziale Unsicherheit« wird von Castel als politisch begründetes und politisch zu lösendes Thema vorgestellt und diskutiert.
Die Studie zielt am Beispiel der Vervielfältigung sozialer Unsicherheitslagen und -erfahrungen auf eine Neukonzeption sozial- und arbeitsrechtlicher Status- und Ressourcensicherung. Diese Neukonzeption
nimmt dabei eine dezidiert sozialstrukturelle Perspektive ein. Castel
stellt ausdrücklich die Frage, wer an welchem Ort der Gesellschaft
welche Sicherheiten benötigt. Der französische Untertitel des Bandes
»qu’est-ce qu’être protegé?« deutet darauf hin. Das Bemerkenswerte an
Castels Studie ist, daß hier auf knappem Raum eine analytische Verbindungslinie zwischen arbeitsgesellschaftlich begründetem Wandel der
Sozialstruktur einerseits und Wandel der politischen Konzeption von
Staatlichkeit andererseits gezogen wird. Hierbei knüpft Castel im übrigen an die hierzulande noch kaum beachtete Debatte an, in der französische und andere europäische Juristen den Wandel der Erwerbsarbeit und die Zukunft des Arbeitsrechts sondieren (vgl. Supiot 1999 a;
1999 b). Insgesamt läßt Castel – weder in der historischen Rückschau
noch mit Blick auf die Zukunft – keinen Zweifel daran, daß moderne,
marktorientierte und erwerbsarbeitszentrierte Gesellschaften auf die
staatliche Bindung von Ungewißheit und Unsicherheit angelegt und
angewiesen sind.
Der Nestor der deutschen Sozialpolitikforschung Franz-Xaver Kaufmann moniert zu Recht, daß sich die nationale und internationale Wohlfahrtsstaatsforschung »weitgehend auf den Bereich der Geldleistungen
der sozialen Sicherung (social security, social protection)« (Kaufmann
2003 b: S. 171) beschränkt. Die Forschungen beziehen sich nahezu ausschließlich auf die »sozialen Ausgaben«, also »auf die staatlichen und parastaatlichen Systeme der Einkommenssicherung (. . . ). Die Regulierung
der Arbeitsverhältnisse und die sozialen Dienstleistungen geraten dagegen nur selten ins komparatistische Blickfeld. Das hat plausible Gründe,
denn nichts ist leichter zu vergleichen als in Geldeinheiten definierte
Statistiken.« (Kaufmann 2003 a: S. 8). Die jeweilige Höhe der Sozialleistungsquote, die alleine die fiskalischen Leistungen zur sozialen Sicherung ausdrückt, wird nach diesem Reduktionismus zum Maßstab der
Gegenwart und Zukunft des Wohlfahrtsstaates. Doch Wohlfahrtsstaat ist
mehr. Auch das Soziale ist keineswegs nur Ausdruck finanzieller Transferleistungen. Diese eingeschränkte Sichtweise auf den Wohlfahrtsstaat
führt dann auch immer wieder dazu, daß aus der Tatsache sinkender
oder reduzierter Sozialleistungen auf einen generellen Rückzug oder
umfassenden Bedeutungsverlust des Wohlfahrtsstaates geschlußfolgert
wird. Franz-Xaver Kaufmanns jüngst publizierte Schrift Die Entstehung
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sozialer Grundrechte und die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung
liefert eine dezidierte Kritik solcher Verkürzungen. Er rückt
den Wohlfahrtsstaat als normatives Ordnungsprinzip des Sozialen ins Zentrum. Kaufmann zeichnet die internationalen
Auseinandersetzungen um die Etablierung sozialer Menschenrechte nach, skizziert die historische Entwicklung der wohlfahrtsstaatlichen Programmatik, die weit über die Frage der
Finanzierbarkeit spezifischer sozialpolitischer (Ver-)Sicherungsfälle hinausgeht, und diskutiert die sozial- wie wohlfahrtspolitischen Konventionen, die auf die Gestaltung der Lebensbedingungen von allen Bevölkerungsgruppen zielen. Insbesondere in
der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden hier wesentliche
Akzente gesetzt. »Dieser Übergang von einer an der Arbeiterfrage orientierten internationalen Sozialpolitik [bis zu den 30er
und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts, B.V.] zu einer grundsätzlich die gesamte Bevölkerung betreffenden wohlfahrtsstaatlichen Verantwortung stellt eine tiefgreifende Zäsur dar«
(ebd.: S. 16). Das entscheidende Datum ist hier der Dezember
1948. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet die »Universal Declaration of Human Rights«. Erstmals
wird eine internationale Verantwortung für die Wohlfahrtsentwicklung in der Welt (welfare internationalism) postuliert,
die zu einem Konzept der Menschenrechte führte, »das neben
den Freiheits- und politischen Partizipationsrechten auch
kulturelle, wirtschaftliche und soziale Teilhaberechte umfaßt
(. . . ), die wir hier abkürzend als soziale Grundrechte bezeichnen. Obwohl die wohlfahrtsstaatliche Programmatik selbstverständlich auch auf
den Grundsätzen der individuellen Freiheitsrechte und der politischen
Mitwirkungsrechte aufbaut, sind doch diese sozialen Grundrechte spezifisch für die Legitimation wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung geworden« (ebd.: S. 24 f).
Im Mittelpunkt der Deklaration steht Artikel 22, der die normative
Leitlinie wohlfahrtsstaatlicher Gestaltung des Sozialen formuliert:
»Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit;
er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der
Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte zu gelangen.« Das Soziale hat sich, wie Kaufmanns Text
verdeutlicht, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – begründet aus
den historischen Erfahrungen zweier Weltkriege – zum Gegenstand menschenrechtlicher Normsetzungen entwickelt. Zwar ist deren nationalstaatliche Rechtsverbindlichkeit beschränkt, doch beeinflussen diese Normen
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die politische Auseinandersetzung über die wohlfahrtsstaatliche Gestaltung und Verantwortung des Sozialen erheblich. Und dieser Einfluß
beschränkt sich keineswegs alleine auf die Kernländer des ohnehin
wohlfahrtsstaatlich hochentwickelten »europäischen Sozialmodells«
(vgl. Kaelble /Schmid 2004). Bemerkenswert an der Entwicklung sozialer Menschenrechte zur »Staatspflicht« ist freilich, daß sie sich als Rechtsnormen nicht mehr nur auf die Sphäre der Erwerbsarbeit beziehen, der
sie ursprünglich entstammen. Vielmehr haben sie sich aus der Partikularität der Arbeitswelt gelöst. Sie sind zu universalen Normen der Lebenswelt aller Bürger geworden. Kurzum, so Kaufmann, »die Regulierung der
Arbeitsverhältnisse, die Institutionen der Einkommensumverteilung und
die Sozialen Dienste [haben sich] als Momente nationalgesellschaftlicher
Konfliktlösung und Integration entwickelt« (Kaufmann 2003 a: S. 32).
III
Die Studien von Castel und Kaufmann bekräftigen die Aufforderung der Deutschen Bischofskonferenz »Das Soziale neu denken« – im
Sinne einer »Suche nach neuen Formeln« (Castel 2005: S. 96) für die soziale und rechtliche Kollektivierung veränderter Risiken und im Sinne
einer Vergegenwärtigung sozialer Menschenrechte als des normativen
Grundgerüsts einer wohlfahrtsstaatlichen Neuausrichtung des Sozialen.
Es geht in beiden Beiträgen um eine soziologisch informierte Neubestimmung des Verhältnisses von universalen und partikularen Rechten,
von zumutbaren Risiken und notwendigen Privilegien, von auferlegten
Verpflichtungen und gesicherten Anrechten. Die damit verknüpfte politische Aufgabe besteht nicht in einer neuartigen Verstaatlichung des Sozialen, sondern in einer mehr als nur resignierenden Akzeptanz seiner
Staatsbedürftigkeit. Die Justierung des Sozialen findet auch künftig
nicht gegen den Wohlfahrtsstaat statt, sondern nur mit dem und durch
den Wohlfahrtsstaat. In diesem Kontext von »Justierung« zu sprechen
heißt, die Rechtsförmigkeit des Sozialen, seine Formung und Gestaltbarkeit durch das Recht zu betonen. Die in der Gesellschaft »allgegenwärtige Hintergründigkeit« (Luhmann 1972: S. 2) des Rechts kommt im
Begriff der Justierung zum Tragen. Und das aus gutem Grund, denn
»der Rückgriff auf das Recht ist bis heute die einzige Lösung, um philanthropische oder paternalistische Praktiken von Behörden oder Sozialarbeitern zu überwinden, die sich mehr oder weniger wohlwollend,
mehr oder weniger argwöhnisch mit dem Schicksal Hilfsbedürftiger befassen« (Castel 2005: S. 114). Das Recht hingegen schafft Ansprüche auf
wesentliche Bestandteile der Bürgerschaft: »in Anstand leben, medizinisch betreut zu werden, ein Dach über dem Kopf zu haben, in seiner
Menschenwürde respektiert zu werden« (ebd.: S. 114). Das Buch von Kaufmann unterstreicht mit Nachdruck, daß dieses Recht mehr zu leisten
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hat, als nur dafür zu sorgen, Menschen nicht vor die Hunde gehen zu
lassen. Vielmehr müssen, in den Worten Castels, neue rechtliche Voraussetzungen für eine Gesellschaft der »Ähnlichen« geschaffen werden.
IV
Doch bei allem Lob des Rechts und bei allem Vertrauen auf dessen
strukturprägende gesellschaftliche Macht: Wer über die Justierung des
Sozialen spricht, muß sich abschließend zwei Dinge vergegenwärtigen:
Er betritt einen Schauplatz des Ressentiments und ist mit einer Welt sozialer Spannungen sowie divergierender Interessen konfrontiert. Die
Politik der Justierung des Sozialen bewegt sich im Spannungsfeld frivoler Wohlfahrtsstaatsverachtung und nervöser Wohlfahrtsstaatsverteidigung. Die Frivolität und Nervosität der Rede über den Wohlfahrtsstaat
zeigt, daß weiten Kreisen der Öffentlichkeit nach Jahren demonstrativer
Staatsvergessenheit eine inhaltliche Bestimmung des Wohlfahrtsstaates
abhanden gekommen ist. Der Wohlfahrtsstaat leidet keineswegs nur
an finanzieller Auszehrung, demographischer Überforderung, moralischem Legitimationsverlust oder elitärer Verachtung, nein, er entbehrt
auch intellektueller Trägerschaft. Was ist damit gemeint? Welche Spielarten des Wohlfahrtsstaatsressentiments prägen die aktuelle Debatte?
Verschiedene, mehr oder weniger aktuelle Varianten können ohne den
Anspruch auf Vollständigkeit unterschieden werden.
Zum guten Ton der abfälligen Rede über den Wohlfahrtsstaat gehört ohne Frage der notorische Hinweis auf dessen traurige nationalstaatliche Inkompetenz und dessen fatale Unbeweglichkeit im Angesicht neuer, vor allem ökonomischer Globalität. Die Organe und Institutionen, die Angestellten und Beamten des Wohlfahrtsstaates finden sich
zudem einem ökonomistischen Common sense gegenüber, der das Öffentliche mißachtet und das Private preist. Der energische Kampf gegen
die »Sozialbürokratie« des Wohlfahrtsstaates wird in weiten Teilen der
Publizistik und von einem Gutteil der politischen und ökonomischen
Eliten als höchste Pflicht marktfähiger und freiheitswilliger Bürger deklariert. Das bedeutungsschwere Räsonieren über eine staatlicherseits
»deformierte Gesellschaft« (Meinhard Miegel), die den Herausforderungen der neuen Zeit entweder nicht mehr gewachsen sei oder sich ihnen
verweigere, gilt diesen Kreisen als ernsthafte sozialwissenschaftliche
Analyse. Eine weitere Variante des Ressentiments findet sich in der
jüngsten Historikerdebatte um Götz Alys Buch Hitlers Volksstaat oder
in Wolfgang Schivelbuschs Essay Entfernte Verwandtschaft (Aly 2005;
Schivelbusch 2005). Der Wohlfahrtsstaat wird hier nicht als politischer
und juristischer Versuch der Etablierung sozialer Menschenrechte, sondern als ein totalitäres Arrangement des Sozialen vorgestellt, das auf
dem bestechlichen Materialismus der menschlichen Natur gründet (vgl.
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zur Kritik insbesondere Wildt 2005). In scharfem Kontrast zur präzisen Analytik des Sozialwissenschaftlers
Franz-Xaver Kaufmann, der in seinen Untersuchungen
die normativen Grundlagen der rechtsstaatlich fundierten Wohlfahrtspolitik und die internationalen Anstrengungen zu ihrer Durchsetzung herausarbeitet, rückt
Aly die nationalsozialistische »Gefälligkeitsdiktatur« als
Bezugspunkt moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit in den
Mittelpunkt. Auf dieser Linie bewegt sich auch Schivelbusch, der in seinem Essay den deutschen Nationalsozialismus, den italienischen Faschismus und die amerikanische Politik des »New Deal« als Brüder im Geiste
erkennen will. So werden in der tiefen Nacht des »welfare-bashing« eben alle Katzen grau.Die analytische Kraft
der Unterscheidung verblaßt, und das Ressentiment
potenziert sich zur Denunziation. In einer weiteren
Variante der Politik des Wohlfahrtsstaatsressentiments
tritt die hartzverbitterte Mittelstandsgesellschaft selbst
auf den Plan, die nicht zu Unrecht um ihre Privilegien
bangt. Zwar finden sich ihre Fürsprecher im gesamten
politischen Spektrum, doch hat sie seit kurzem tatsächlich damit begonnen, sich parteipolitisch neu zu
formieren, namentlich in einer bemerkenswerten OstWest-Mischung. Angesichts von Statusängsten und Abstiegssorgen gewinnt der vergehende Wohlfahrtsstaat
der Nachkriegsjahrzehnte unversehens neue Attraktivitäten. Nervöse
Rhetorik verwandelt das wohlfahrtsstaatliche Arrangement von einer
ebenso integrativen wie selektiven Aufstiegsleiter für disziplinierte und
leistungsbereite Arbeitnehmer in Großindustrie oder öffentlicher Verwaltung zu einer wehrhaften Zitadelle des erreichten kollektiven Wohlstands.
Und diese Festung soll nun Sicherheit und Schutz vor den Drohungen
des globalen Investorenkapitalismus, der europäischen Erweiterung, der
Migration von Arbeitskräften und noch vielem anderen mehr bieten.
Der Wohlfahrtsstaat wird für eine überspannte Angstpolitik instrumentalisiert, die komplizierte Herausforderungen des Sozialen abzuwehren versucht.
Kurzum, in einer gesellschaftlichen Situation, wo die Aussicht auf
Mehr der Sorge um Weniger weicht, wo der soziale und berufliche Status verwundbar, der Wohlstand prekär und seine vormalige Selbstverständlichkeit fragwürdig wird, fällt die Mobilisierung von Ressentiments nicht schwer. Anders hingegen steht es um die politische und
rechtliche Neugestaltung des Sozialen im Geiste sozialer Rechtsstaatlichkeit, also um die Aufgabe, das Verhältnis von Freiheits-, Schutz- und
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Teilhaberechten neu zu justieren. Es gibt sehr
unterschiedliche und divergierende klassen- wie
schichtgebundene Interessen an einer Neuordnung des Sozialen. Die diesen Interessen zugrundeliegende unterschiedliche Stärke gesellschaftlicher Klassen ist bei der Frage nach der
Neuverteilung von Anrechten und Verpflichtungen in Rechnung zu stellen. Das »Soziale
neu denken« kann daher nicht nur Appell an
zu verändernde Gesetzgebung bleiben, sondern
muß auch Aufbruch zu einer verfeinerten Sozialstrukturanalyse werden.
Das »Soziale neu denken« heißt zudem,
sich von der den neoliberalen Zeitgeistern und
ihren Kritikern gemeinsamen Illusion zu befreien, das Drehen an den richtigen Stellschrauben werde die Deutschland-Maschine, wieder in
Gang bringen. Denn die Justierung des Sozialen und die Konturierung von Staatlichkeit
haben in Tat und Wahrheit mit angestrengter
Sozialtechnokratie nur wenig gemein. Das Bemühen um eine an den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Wohlfahrtspolitik orientierte Justierung des Sozialen erinnert viel eher
an die Praxis des Musizierens – es bedarf großer
Ausdauer und Übung, es erfordert die Bereitschaft, Vielstimmigkeit
nicht nur zu akzeptieren, sondern zu schätzen, und es braucht die
Fähigkeit gelassener Unverkrampftheit, um schließlich zum Erfolg zu
kommen.
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Literatur
Aly, Götz (2005): Hitlers Volksstaat. Frankfurt am Main.
Blickle, Peter; Hüglin, Thomas O.; Wyduckel, Dieter (Hrsg.) (2002): Subsidiarität als rechtliches
und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft. Rechtstheorie, Beiheft 20.
Berlin.
Bode, Ingo (2002): Transformationspfade intermediärer Wohlfahrtsproduktion. Duisburger Beiträge zur soziologischen Forschung. Nr.3 / 2002. Duisburg.
Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit.
Konstanz.
Castel, Robert (2005): Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburg.
DBK (Deutsche Bischofskonferenz) (2003): Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik. Die deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen. Bonn.
von Giercke, Otto (1915): Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien.
Tübingen.
Kaelble, Hartmut; Schmid, Günther (Hrsg.) (2004): Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg
zum transnationalen Sozialstaat. WZB-Jahrbuch. Berlin.
13 Die Justierung des Sozialen
Kaufmann, Franz-Xaver (2003 b): Sozialpolitisches Denken. Frankfurt am Main.
Kaufmann, Franz-Xaver (2003 a): Die Entstehung sozialer Grundrechte und die wohlfahrtsstaatliche
Entwicklung. Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Paderborn.
Luhmann, Niklas (1972): Rechtssoziologie 1. Reinbek.
Maier, Hans (1983): »Die staatspolitischen Rundschreiben Leos XIII.«, in: Ders.: Katholizismus
und Demokratie. Schriften zu Kirche und Gesellschaft. Bd. I,. S. 67–73. Freiburg, Basel,
Wien.
Schivelbusch, Wolfgang (2005): Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus,
New Deal 1933–1939. München.
Supiot, Alain (1999 a): Au-delà de l’emploi. Transformations du travail et devenir du droit du
travail en Europe. Paris.
Supiot, Alain (1999 b): »The transformation of work and the future of labour law in Europe. A
multidisciplinary perspective«, in: International Labour Review, Vol. 138, No.1, S.31–46.
Supiot, Alain (2004): »Was ist ein Arbeitnehmer? Untersuchung über die Vielfalt der Sozialmodelle in Europa«, in: Kaelble, Hartmut. Schmid, Günter (Hrsg.): Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, Berlin. S. 423-452.
Vogel, Berthold (2004): »Der Nachmittag des Wohlfahrtsstaates. Die politische Ordnung sozialer Ungleichheit«, in: Mittelweg 36, 4 /2004, S. 36-55
Wildt, Michael (2005): »Alys Volksstaat. Hybris und Simplizität einer Wissenschaft«, in: Mittelweg 36, 3/2005, S. 69–80.
Zacher, Hans F. (2002): »Die Bundesrepublik Deutschland als Sozialstaat: eine Geschichte des
sozialen Einschlusses im Zeichen von Nationalisierung und Internationalisierung«, in:
Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht (ZIAS), 16. Jg.,
S.193–284.
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Summary
The aim of this article is to sketch the starting points and points of reference
for a new order of social policy. Current contributions to relevant discussions
that reflect on the normative and structural foundations of the welfare state
from both historical and sociological perspectives are considered. On this
basis, the author calls for a new design of the realm of the social that goes
beyond both frivolous disdain and nervous vindications of the welfare state.
The academic world can contribute to this task by providing a new definition
of universal and particular rights, of acceptable risks and necessary privileges,
and of imposed duties and secure claims founded on a positive conception of
the welfare state.
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