Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum 157 Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum Konzertformate, Publikum und sinfonische Aufführungspraxis der Beethovenzeit Stefan Weinzierl 1 2 3 Paul Bekker, Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler, Berlin 1918, S. 13. Ebenda, S. 17. Carl Dahlhaus, Ludwig van Beethoven und seine Zeit, Laaber 1987, S. 109ff. »Die sinfonische Gattung ist für den schaffenden Musiker das Mittel, sich durch die Instrumentalmusik einem größeren Hörerkreise mitzuteilen. Aus der Vorstellung dieses Hörerkreises heraus konzipiert er das Werk und gestaltet es im einzelnen. Er komponiert also nicht nur das, was in der Partitur deutlich zu lesen steht, er komponiert auch gleichzeitig ein ideales Bild des Raumes und der Hörerschaft. Dieses Bild des Raumes und der Hörerschaft ist nicht etwa erst eine indirekte Folge des Kompositionsaktes, sondern es ist ein zeugendes Element dabei.«1 Im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen Tradition, welche die Sinfonie vor allem als eine Sonate in Orchesterbesetzung verstand und nach klassischen, musikanalytischen Kriterien, wie formalem Aufbau und thematischer Entwicklung, untersuchte, wollte der Musikwissenschaftler und Beethoven-Forscher Paul Bekker (1882–1937), von dem das vorangestellte Zitat stammt, die sinfonische Gattung zuallererst als ein gesellschaftliches Phänomen verstanden wissen. Diese gesellschaftliche Perspektive schließt nach seinem Verständnis das Publikum ebenso ein wie den Orchesterapparat, mit dem sich der Komponist seinem Hörerkreis mitteilt, sowie den Aufführungsraum, in dem sich der musikalische Kommunikationsprozess zwischen Komponist, Ausführenden und Publikum abspielt. Mit der Entstehung eines breiten bürgerlichen Hörerkreises als kulturtragender Schicht, mit der Errichtung der ersten großen Konzertsäle und der Ausbildung eines festen, sinfonischen Aufführungsrituals im Verlauf des 19. Jahrhunderts schien erst diese moderne Form des Konzertwesens wesentliche Elemente von sinfonischer Aufführung und Rezeption, wie Intensität, Konzentration und Dynamik sowie die »gesellschaftsbildende Kraft«2 der großen Versammlung im Konzertsaal, zu gewährleisten. In der Tradition Bekkers verstand man die sinfonische Aufführung als an ein »Massenpublikum« gerichtet und Beethovens Sinfonien selbst, insbesondere natürlich die Neunte, als Verkörperung des Monumentalen.3 Bereits wenige Jahre nach Bekkers Veröffentlichung war der strukturelle Zusammenhang dieser Elemente durch das aufziehende Medienzeitalter bedroht. Der Kommunikationsrahmen des großen Konzertsaals wurde in der Rundfunkübertragung, die Anfang der 1920er Jahre ihren regelmäßigen Betrieb aufnahm, aufgelöst. Während seiner Zeit im amerikanischen Exil argumentierte Theodor W. Adorno im Jahr 1934 mit Verweis auf Bekkers Aufsatz, dass durch die Übertragung Beethoven’scher Sinfonien im Radio, durch die Versetzung von sinfonischem Ereignis und sinfonischem Klang in den privaten Raum des Rundfunkhörers die Proportion zwischen Kunstwerk und Betrachter so gravierend gestört sei, dass Wesen und Einheit des Werks und der Gattung verloren sei. Im Rundfunk erschlaffe 158 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum »die intensive Totalität der Sinfonie zur chronologischen Folge von Episoden«.4 Dass Elemente wie die Dimension von Klangkörper und Aufführungsraum sowie die akustische und soziale Rezeptionssituation konstitutiv für das Wesen musikalischer Gattungen sind – man denke an die Kirchenmusik oder die Kammermusik, wo sich der Gattungsbegriff selbst durch den Aufführungsraum definiert –, dürfte heute zum Konsens eines musikalischen Diskurses gehören, der sich zunehmend von der Fixierung auf den Notentext des einzelnen Werks gelöst und eine kulturwissenschaftliche Perspektive zueigen gemacht hat. Für Disziplinen wie die Musiksoziologie oder die musikalische Aufführungspraxis sind solche Aspekte in das Zentrum der Betrachtung gerückt. So klar wie Bekker und Adorno das Wesen der Sinfonie durch den Konzertbetrieb ihrer eigenen Zeit repräsentiert sahen, so unklar und widersprüchlich gerät das Bild allerdings, wenn wir uns am historischen Format von Hörerschaft und Orchester oder an den Aufführungsräumen der Beethovenzeit orientieren wollen. Hier stehen bereits bei einem oberflächlichen Blick zeitgenössische Dokumente wie Anton Schindlers Bericht über eine Aufführung der 7. Sinfonie vor einer »nahezu aus 6000 Zuhörern bestehenden Versammlung« und einem entsprechend groß besetzten Orchester5 anderen Quellen gegenüber, wie Beethovens Notiz, in der er für eine Aufführung der gleichen Sinfonie »wenigstens 4 Violinen, 4 Sekund, 4 Prim, 2 Kontrabässe 2 Violonschel«6, also eher ein kammermusikalisches Format, anfordert. Bei einer näheren Betrachtung der historischen Quellen wird deutlich, dass sich für die Epoche um 1800, die mit dem Übergang von einer aristokratisch-höfischen Musikkultur zu einem bürgerlichen Konzertbetrieb moderner Prägung einen tiefgreifenden Wandel markiert, isolierte Zeugnisse nur schwer zu einem konsistenten Bild der historischen Aufführungspraxis von Beethovens Orchesterwerken zusammensetzen lassen. Erst eine Zusammenschau aller verfügbaren Quellen über Publikum, Orchesterstärke und Aufführungsräume während seiner Wiener Zeit, also für die Jahre 1792–1827, vermag Spezifika und Kontinuitäten, vor allem aber auch den Wandel der Aufführungspraxis sichtbar zu machen, den der Komponist, der meist auch Veranstalter, Dirigent oder Solist seiner Aufführungen war, selbst miterlebte. Aufgrund der außerordentlich hohen Wertschätzung, die Beethovens Werke bereits zu seinen Lebzeiten genossen – für den oben genannten Zeitraum lassen sich mehr als 250 Aufführungen seiner Orchesterwerke in Wien nachweisen (Tab. 1) –, verfügen wir über umfangreiches Material für eine solche Zusammenschau. 4 5 6 Theodor W. Adorno, »Über die musikalische Verwendung des Radios«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 15, Frankfurt a.M. 1976, S. 369–401, hier S. 379. Anton Schindler, Biographie von Ludwig van Beethoven. Erster Theil, Münster 1871 (Reprint Hildesheim 1970), S. 198. Briefwechsel Gesamtausgabe, hg. von Sieghard Brandenburg, Bd. 2, Nr. 640, S. 342. 159 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum Saison Raum 7 Für eine detaillierte Dokumentation aller Aufführungen vgl. Stefan Weinzierl, Beethovens Konzerträume. Raumakustik und symphonische Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen Konzertwesen, Frankfurt a.M. 2002, Anhang I. 1794/95– 1806/07 1807/08– 1814/15 1815/16– Summe 1826/27 Theater Burgtheater 6 Kärntnertortheater Theater an der Wien 4 7 5 11 2 26 5 15 31 20 Gr0ße Repräsentationssäle Gr. Redoutensaal Kl. Redoutensaal Universität Landhaus 7 8 15 1 36 13 6 38 43 23 21 39 Aristokratische Festsäle Palais Lobkowitz von Würth 4 4 2 Restaurants und Tanzsäle Augarten Mehlgrube Zum röm. Kaiser Zum roten Igel Gundelhof 12 6 1 3 3 9 3 4 2 21 10 6 4 2 andere Summe 4 36 2 68 4 151 10 255 22 6 4 Tabelle 1: Aufführungen und Aufführungsräume Beethoven’scher Orchesterwerke in Wien in der Zeit von 1795 bis 1827. In den Spalten sind die Aufführungen der jeweiligen Konzertsaisons (September bis August) zusammengefasst. Bei den Aufführungsräumen lassen sich vier Kategorien unterscheiden, die mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären, einer unterschiedlichen Architektur und Akustik und unterschiedlichen Rezeptionssituationen korrespondieren.7 Sinfonische Aufführungen um 1800 Eine Entwicklung, in deren Verlauf sich sinfonische Aufführungen allmählich aus einer höfisch-aristokratischen Sphäre lösten, war im Zentrum des Habsburger-Reiches noch kaum abzusehen, als Beethoven im Jahr 1792 endgültig nach Wien übersiedelte. Für einen bürgerlichen und kommerziell organisierten Konzertbetrieb bestanden zu dieser Zeit weder die gesellschaftlichen noch die institutionellen Voraussetzungen. Auch einen öffentlich zugänglichen und ausschließlich zu diesem Zweck errichteten Konzertsaal gab es nicht – er wurde erst im Jahr 1831, vier Jahre nach Beethovens Tod, eröffnet. Ebenso wenig gab es ein festes Format für sinfonische Aufführungen – etwas, das man als typisches »Sinfoniekonzert« beschreiben könnte. Bezeichnend für die vielfältigen Traditionen musikalischer Aufführungen ist bereits die Terminologie, unter der sie in Zeitschriften oder auf Programmzetteln angekündigt und seit dem Erscheinen der ersten musikalischen Zeitschriften um 1800 auch rezensiert wurden. Während die heutige Bezeichnung »Konzert« zu dieser Zeit nur selten verwendet wurde, lassen sich in Wien um 1800 drei Traditionslinien für sinfonische Aufführungen ausmachen: Der wichtigste Ort öffentlich zugänglicher Konzerte waren die »musikalischen Akademien« in den Theatern der Stadt. In den beiden Hoftheatern, dem Burgtheater und dem Kärntnertortheater, ebenso wie in den privat betriebenen Theatern sowie dem zeitweise privat, zeitweise als Hoftheater geführten Theater an der Wien wurden an Tagen, an denen 160 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum keine Oper und kein Schauspiel auf dem Spielplan stand, solche Akademien veranstaltet. Der Terminus verweist auf die Tradition der geschlossenen, wissenschaftlich-künstlerischen Gesellschaften nach italienischem Vorbild, auch wenn sich der Ablauf musikalischer Akademien um 1800 bereits durch nichts mehr von einem öffentlichen Konzert unterschied. An bestimmen höfischen oder kirchlichen Feiertagen, insbesondere während der Fastenzeit und der Adventszeit, war die Aufführung dramatischer Werke, d.h. von Schauspiel und Oper, nicht gestattet. Somit wurde das Theater Mitgliedern des Theaterorchesters, reisenden und ansässigen Virtuosen oder sozialen Institutionen und Wohltätigkeitsanstalten gegen ein Entgelt für Konzerte überlassen. Beethoven trat selbst mehrmals als Veranstalter solcher Akademien auf, zum ersten Mal am 2. April 1800, als er im Burgtheater die 1. Sinfonie und eines der beiden frühen Klavierkonzerte (op. 15 oder op. 19) zur Uraufführung brachte. Auch die Sinfonien 2–6 ebenso wie das Violinkonzert wurden – zum Teil nach privaten Vorpremieren – im Theater an der Wien zum ersten Mal öffentlich aufgeführt. Das Fassungsvermögen der Wiener Theater reichte von etwa 1500 Plätzen im Burgtheater bis zu über 2000 Plätzen in dem 1801 neueröffneten Theater an der Wien. Die Konzerte waren, ebenso wie Oper und Schauspiel, für ein bürgerliches Publikum frei zugänglich. Für die Konzerte einer Fastenzeit oder einer Adventszeit wurden in der Regel eigene Abonnements aufgelegt, die Subskriptionen auf eine Loge galten ohnehin für eine ganze Saison. Es spielte grundsätzlich das reguläre Orchester des Hauses auf seinem angestammten Platz vor der Bühne, der allerdings nicht wie heute abgesenkt, sondern auf einer Höhe mit dem Publikum im Parkett lag und nur durch ein Holzgeländer von diesem getrennt war (Abb. 1 und 2). Lediglich bei Oratorien war es üblich, das zu diesem Anlass dann auch meist erheblich stärker besetzte Orchester auf die Bühne zu stellen. Eine zweite Traditionslinie bildet die aristokratische Musikpflege in den Festsälen und Musikzimmern der zahlreichen Palais, in denen Orchesterwerke von einer Privatkapelle des Fürsten aufgeführt wurden. Mehr als andere europäische Metropolen war Wien als Zentrum der Habsburgermonarchie geprägt durch eine Hocharistokratie, deren repräsentative Stadtpaläste das Erscheinungsbild der barocken Residenzstadt mitbestimmten. In diesen Kreisen war die Pflege der Musik und die Unterhaltung einer eigenen Kapelle eine elitäre Konvention. Während Joseph Haydns Arbeitgeber Fürst Esterházy noch ein komplettes Orchester beschäftigte, verfügte Beethovens Mäzen Franz Joseph Maximilian Lobkowitz nur über einen Kern von fest angestellten Instrumentalisten, der für Opern- oder Orchesteraufführungen um zusätzlich verpflichtete Musiker erweitert wurde.8 So stellte der Fürst im Frühsommer 1804 Beethoven eine erweiterte Hauskapelle für Probeaufführungen der 3. Sinfonie und des Tripelkonzerts zur Verfügung. Im Januar 1805 fand für die Eroica – ebenso wie im Jahr 1807 für die 4. Sinfonie – eine private Aufführung im Palais Lobkowitz vor geladenen Gästen statt, noch bevor beide Sinfonien im Theater an der Wien bzw. im Burgtheater öffentlich uraufgeführt wurden. Bis in das Jahr 1810 waren Konzerte im Festsaal des Palais des Fürsten Lobkowitz eine feste Institution des Konzertlebens in Wien. 8 Jaroslav Macek, »Franz Joseph Maximilian Lobkowitz. Musikfreund und Kunstmäzen«, in: Sieghard Brandenburg / Martella Gutiérrez-Denhoff (Hg.), Beethoven und Böhmen. Beiträge zu Biographie und Wirkungsgeschichte Beethovens, Bonn 1988, S. 147–201. Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum 161 Abbildung 1: Innenansicht des Wiener Kärntnertortheaters zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Man beachte den vor der Bühne gelegenen Orchesterraum, der ohne Absenkung, nur durch ein Geländer vom Parkett getrennt war und auch für Orchesterkonzerte, sogenannte Akademien, benutzt wurde. Das Fassungsvermögen des Theaters wird im Jahr 1828 mit 2400 Personen angegeben (Stefan Weinzierl, Beethovens Konzerträume, Frankfurt a.M. 2002, S. 65). 9 Johann Friedrich Reichardt, Vertraute Briefe, geschrieben auf einer Reise nach Wien und den Österreichischen Staaten zu Ende des Jahres 1808 und zu Anfang 1809, eingeleitet und erläutert von Gustav Gugitz, München 1915. 10 Carl Rosenbaums Tagebücher, Österreichische Nationalbibliothek, Handschriftensammlung. Ausschnitte daraus in: Else Radant (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Carl Rosenbaum 1770–1829 (The Haydn Yearbook 5), Wien 1968. 11 Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 2001, S. 261. Die Hauskonzerte in den Residenzen der Wiener Aristokratie hatten eine – aus heutiger Sicht – eigenartige Form der Halböffentlichkeit. Einerseits war der Zugang zu diesen Konzerten sicher nur auf Einladung möglich und insbesondere auf Seiten des Hochadels bestand weiterhin die Tendenz, sich bevorzugt mit Angehörigen des gleichen Standes zu umgeben. Andererseits war es auch für musikinteressierte Mitglieder eines gehobenen Bürgertums möglich, durch Bekanntschaften oder Empfehlungen Zugang zu erhalten, wie dies etwa den Reiseberichten von Johann Friedrich Reichardt9 oder den Tagebüchern des im Dienste Fürst Esterházys stehenden Carl Rosenbaum10, beide bürgerlicher Herkunft, zu entnehmen ist. Auch die in diesen Jahren als Sprachrohr einer musikinteressierten Öffentlichkeit von Kennern und Liebhabern entstandenen Musikzeitschriften, wie das 1806 aufgelegte Wiener Journal für Theater, Musik und Mode oder die Wiener Redaktion der seit 1798 in Leipzig erscheinenden Allgemeinen musikalischen Zeitung, berichteten darüber. Am Vorbild aristokratischer Hauskonzerte, wie sie auch in den Residenzen anderer Beethoven-Verehrer, wie des Fürsten Moritz von Lichnowsky (1771–1837) oder bei Beethovens Klavier- und Kompositionsschüler Erzherzog Rudolf von Österreich (1788–1831), stattgefunden haben, orientierte sich auch eine bürgerliche Elite von nobilitierten Beamten, Unternehmern und Bankiers. Nach 1800 nahm diese »zweite Gesellschaft« wachsenden Anteil am kulturellen Leben und übernahm auch eine mäzenatische Funktion, welche die Monarchie und die Hocharistokratie aufgrund der aus den Kriegen gegen Frankreich resultierenden Finanzschwäche immer weniger ausüben konnten.11 Das Spektrum privater Musikaufführungen reichte von arrangierten musikalischen Unterhaltungen nach Tisch über regelmäßige musikalische Salons bis zu Orchesterkonzerten, wie sie etwa in der Saison 1804/05 an jedem Sonntagvormittag im Hause des Ban- 162 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum kiers von Würth stattfanden und etwa in der von August von Kotzebue herausgegebenen Berliner Zeitung Der Freimüthige besprochen wurden. »Die Musiken bei Herrn von Würth nähern sich ihrem Ende. Diese schöne Anstalt, in welcher die Liberalität des Unternehmers die Musikkenner und Freunde aller gebildeten Stände versammelt, hat auch diesesmal beinahe durchaus nur die grössten musikalischen Meisterwerke eines Mozart, Haydn, Eberl, Beethoven, u.A. im vollen Glanze einer schönen und gelungenen Aufführung gezeigt.«12 Dort wurde neben der 1. Sinfonie und dem Klavierkonzert in c-Moll auch die 3. Sinfonie am 20. Januar 1805 zum ersten Mal in Wien gespielt, drei Tage vor einer ebenfalls halböffentlichen Aufführung im Palais Lobkowitz und zweieinhalb Monate vor der ersten öffentlichen Aufführung im Theater an der Wien.13 Das in Schönfelds Jahrbuch der Tonkunst bereits im Jahre 1796 konstatierte Verschwinden aristokratischer Privatkapellen in Wien signalisiert somit zunächst noch keinen generellen Rückgang aristokratisch-privater Musikpflege in Wien, sondern eher eine Änderung des Erscheinungsbildes: Die feudale Institution der Hauskapelle, die nur zum Privatvergnügen des Fürsten musiziert, ging in eine weltoffenere Form des Mäzenatentums über, bei dem Musiker nach Bedarf engagiert wurden und vor einem erweiterten Hörerkreis musizierten. Zu diesem Umfeld sind auch die Aktivitäten der »Gesellschaft der Associierten Cavaliere« zu rechnen, einer Gruppe von Aristokraten um die Person des Baron Gottfried van Swieten, Präfekt der k.k. Hofbibliothek, die ab 1786 Oratorienaufführungen im Saal der Hofbibliothek ausrichtete und in den Jahren 1798 und 1801 Haydns Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten im Palais Schwarzenberg zur Uraufführung brachte. Bei einer näheren Betrachtung des Repertoires, das in den privaten bzw. halböffentlichen Konzerten der Aristokratie und eines wohlhabenden Bürgertums gepflegt wurde, fällt auf, wie schnell und umfassend Beethovens Orchesterwerke in Wien nach 1800 rezipiert wurden. Eine Erklärung dürfte zum einen im außergewöhnlich geschulten künstlerischen Urteil der Wiener Adels liegen, den der weitgereiste Berliner Komponist Johann Friedrich Reichardt bei einer ersten Reise nach Wien im Jahr 1783 als »de[n] allermusikalischste[n], den es vielleicht je gegeben«14 erlebte. Daneben mag die Pflege einer als besonders anspruchsvoll geltenden Musik dazu beigetragen haben, sich im kulturellen Leben der Stadt eine gewisse elitäre Distinktion zu sichern, die man mit dem Aufkommen einer bürgerlichen Musikkultur zu verlieren drohte.15 Für Beethoven erscheint es andererseits nicht unwahrscheinlich, dass er Werke wie die 3. Sinfonie zunächst bewusst »einem Kreis von fürstlichen und kennerischen Meinungsträgern vor[führte], deren Zustimmung und Ausdauer [...] ihm sicherer erschienen sein dürfte als diejenige eines breiteren Publikums, welchem er erst nach einer Pause von zweieinhalb Monaten die neue Sinfonie darbietet«.16 Eine dritte Traditionslinie neben den überwiegend unter höfischer Kontrolle stehenden Theaterakademien und fürstlichen Privataufführungen waren gegen Ende des 18. Jahrhunderts erste Initiativen von Privatunternehmern zur Auflage von Subskriptionskonzerten. Als Austragungsort 12 Der Freymüthige, oder Berlinische Zeitung für gebildete unbefangene Leser, 19.4.1805, S. 212. 13 Walter Brauneis, »›...Composta per festeggiare il sovvenire di un grand uomo‹. Beethovens Eroica als Hommage des Fürsten Franz Joseph Maximilian Lobkowitz für Louis Ferdinand von Preußen«, in: Österreichische Musikzeitschrift 12 (1998), S. 4–24. 14 »Bruchstücke aus Reichardts Autobiographie«, in: Allgemeine musikalische Zeitung 15 (1813), Sp. 665–674, hier Sp. 673. 15 Tia DeNora, »Musical Patronage and Social Change in Beethoven’s Vienna«, in: The American Journal of Sociology 97/2 (1991), S. 310–346, hier S. 344f. 16 Peter Schleuning, »Das Uraufführungsdatum von Beethovens ›Sinfonia eroica‹«, in: Die Musikforschung 44 (1991), S. 358. Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum 17 Clemens Hellsberg, Ignaz Schuppanzigh (Wien 1776– 1830). Leben und Wirken, Diss. Wien 1979, S. 21f. 18 Allgemeine musikalische Zeitung 1 (1798/1799), Sp. 543. 19 Mary Sue Morrow, Concert Life in Haydn’s Vienna. Aspects of a Developing Musical and Social Institution, New York 1989, S. 114ff. 163 kamen hierfür in Ermangelung eines öffentlichen Konzertsaals nur größere Restaurants und Tanzsäle in Betracht, ähnlich wie es in der Frühzeit des öffentlichen Konzertwesens in anderen musikalischen Zentren wie Leipzig, Hamburg oder London zu beobachten ist. Zu diesen Veranstaltungen gehörten die Konzerte im Gartenpalais des Augartens, die erstmals 1782 von dem Musikunternehmer Philipp Jakob Martin ausgerichtet wurden und deren Organisation spätestens 1799 von dem Geiger und späteren Beethoven-Intimus Ignaz Schuppanzigh übernommen wurde.17 Über den Charakter dieser Konzerte berichtet die Allgemeine musikalische Zeitung: »Herr Schuppanzigh giebt im großen Augartensaale die schöne Jahreszeit über 12 bis 16 Konzerte, die (was wohl ganz eigen ist) um 7 Uhr früh ihren Anfang nehmen, und gegen 2 Stunden dauern. Ausser den blasenden Instrumenten und Kontrabässen, sind alle Partien von Dilettanten sehr zahlreich besetzt, und die Genauigkeit, mit welchem alles ausgeführt wird [...] dient gewiss jedem Liebhaberkonzerte, und vielen Musikdirektoren, zum Muster.«18 Das als Restaurant bewirtschaftete Gartenpalais bestand aus zwei größeren Sälen, die Platz für etwa 300 bis 400 Zuschauer boten. Die Anwesenheit von Mitgliedern der Hocharistokratie wurde auch bei diesen Konzerten stets aufmerksam registriert und war zweifellos ein wichtiger Indikator für den Erfolg der Veranstaltung. Gleichzeitig war der Zugang zu diesen Konzerten aber frei von sozialen Schranken. Auch der niedrige Eintrittspreis von 4 Gulden und 30 Kreuzer für ein Abonnement über insgesamt 24 Eintrittskarten war bemerkenswert, da der übliche Eintrittspreis für Theaterakademien oder Konzerte, etwa in den Redoutensälen der Hofburg, zu dieser Zeit 1–2 Gulden betrug. In Relation zur monatlichen Miete eines Zimmers in Wien von 12–16 Gulden oder zum Jahreseinkommen eines Orchestermusikers am Hoftheater von 300–400 Gulden zu Beginn des 18. Jahrhunderts19 war dies zumindest für ein weniger wohlhabendes Publikum außergewöhnlich attraktiv. Rekonstruiert man aus den verfügbaren historischen Quellen die Orchesterstärken, die für Aufführungen von Beethovens Sinfonien verwendet wurden, so ergibt sich für die Zeit bis 1807 ein relativ einheitliches Bild. Die wichtigsten professionellen Klangkörper im Musikleben Wiens waren die Orchester der öffentlichen Bühnen. Sie begleiteten nicht nur die Aufführung von Singspiel, Oper und Ballett; bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren Ouvertüre und Intermedien auch im Sprechtheater selbstverständlicher Bestandteil jeder Aufführung. Wurde das Theater an spielfreien Tagen für Konzerte genutzt, kam auch hier das Orchester des Hauses zum Einsatz. Darüber hinaus wurden die Theaterorchester auch für Konzerte außerhalb der Theater verpflichtet, zum Teil als komplettes Ensemble, zum Teil nur für diejenigen Partien, für die keine adäquate Besetzung durch Dilettanten zur Verfügung stand. Zwischen 1778 und 1806 gab es an den beiden Hoftheatern eine deutsche und eine italienische Operntruppe, denen jeweils ein eigenes Orchester zugeordnet war. Auch nach der Entlassung der italienischen Gesellschaft im Jahr 1806 wurden weiterhin zwei Orchester gehalten, die bis 1810 abwechselnd an beiden Hoftheatern tätig und gleich groß besetzt waren. Bei Beethovens Akademie im Burgtheater am 2. April 1800, in der die 1. Sinfonie uraufgeführt wurde, spielte das Orchester der italienischen 164 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum Oper. Die Tatsache, dass Beethoven anstelle des regulären Orchesterdirektors Giacomo Conti den Orchesterdirektor der deutschen Oper, Paul Wranitzky, zum Konzertmeister bestimmte, hatte bereits im Voraus für Verstimmung gesorgt.20 Auch das Orchester des privat geführten Theaters an der Wien hatte nach dem Umzug vom alten Freihaustheater in das neue, größere Haus im Jahr 1801 eine mit den Hoftheatern vergleichbare Besetzungsstärke, die sich, ebenso wie bei den Hoftheatern, aus den zu jedem Bühnenjahr neu aufgelegten Theater-Jahrbüchern rekonstruieren lässt, in denen neben dem gesamten Theaterpersonal auch die Mitglieder des Orchesters namentlich verzeichnet sind. 1781 1796 Burgtheater Italienische Oper 20 Allgemeine musikalische Zeitung 3 (1800/1801), Sp. 49. 1796 Deutsche Oper 1803–05 Italienische Oper 1803–05 Deutsche Oper 1807–08 Hoftheater 1807–08 Deutsche Oper 1808 Theater an der Wien 1. Violine 2. Violine Viola Cello Baß Flöte Oboe Klarinette Fagott Horn Trompete Pauke 6 6 4 3 3 2 2 2 2 2 2 1 6 6 4 3 4 2 2 2 2 2 2 1 6 6 3 3 3 2 2 2 2 2 2 1 6 6 4 3 3 2 2 2 2 2 2 1 6 6(5) 4 3 3 2 2 2 2 2 2 1 6 6 4 3 3 2 2 2 2 2 2 1 6 6 4 3 3 2 2 2 2 2 2 1 6 6 4 3 3 2 2 2 2 2 2 1 Summe 35 36 34 35 35(34) 35 35 35 Tabelle 2: Besetzungsstärke der Wiener Theaterorchester um 1800. Die Zahlen sind rekonstruiert aus in den Theater-Jahrbüchern dokumentierten Besetzungslisten.21 Die Besetzungsstärke im Wiener Kärntnertortheater wurde erst um das Jahr 1820 geringfügig erweitert. Ein zeitgenössischer Bericht über diese Neuerung gibt gleichzeitig Auskunft über die Aufstellung des Orchesters und korrespondiert mit einer Skizze des Orchesterraums, die im gleichen Jahr angefertigt wurde (Abb. 2). 21 Für Quellennachweise der einzelnen Jahrgänge und eine Diskussion der Zuverlässigkeit dieser Zahlen vgl. Weinzierl, Beethovens Konzerträume (wie Anm. 7), S. 117. Abbildung 2: Orchesterraum im Wiener Kärntnertortheater nach einer Skizze des Kostümbildners Franz Ströber, angefertigt im Jahr 1821. Es zeigt in vorderster Reihe je drei Pulte für die Violinen, die auf die Bühne hin ausgerichtet sind, wobei der Orchesterdirektor leicht eingerückt ist. Rechts und links vom Dirigentenpult befinden sich die Celli (vorne) und Kontrabässe (hinten); Blechbläser und Schlagwerk befinden sich auf der linken, Holzbläser auf der rechten Seite 165 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum 22 Allgemeine Musikalische Zeitung, mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat 5 (1821), Sp. 596ff. 23 Howard C. Robbins Landon, The Symphonies of Joseph Haydn, London 1955, S. 112. 24 Otto Biba, »Concert Life in Beethoven’s Vienna«, in: Robert Winter / Bruce Carr (Hg.), Beethoven Performers and Critics: The International Beethoven Congress, Detroit 1977, Detroit 1980, S. 88. 25 Tomislav Volek / Jaroslav Macek, »Beethoven und Fürst Lobkowitz«, in: S. Brandenburg / M. Gutiérrez-Denhoff, Beethoven und Böhmen (wie Anm. 9), S. 203–217. »Die Bässe sind von drey auf vier vermehrt und mehr in seine (des Dirigenten) Nähe gezogen, um ihres Totaleffects und Eingreifens sicherer zu seyn. Das im Orchesterton oft so störende Fortepiano ist abgeschafft und die Leitung ganz auf das Tactiren beschränkt worden. [...] Die Violinen sind nun durch die ganze Fronte vertheilt, und die Harmonie auf dem rechten Flügel so concentrirt, dass ihre Gesamtwirkung möglich, und der Total-Effect in den verschiedenen Nüancirungen der Instrumental-Musik verschönert wird. Die bisher auf dem rechten Flügel befindlichen Trompeten, Pauken und Posaunen sind auf die linke Seite gekommen, die Harfe aber vorwärts und mehr in die Nähe des Capellmeisters gerückt.[...] Dass die Contrabässe von dem Subjecte nicht wie bisher sitzend, sondern stehend gehandhabt werden, verbürgt die grössere Freyheit und Kraft des Spielers. Es sey uns vergönnt, in Beziehung auf kleinere Theater, des Umstandes noch zu erwähnen, dass die Harmonie auf einem Flügel vereinigt und nicht durch das Orchester vertheilt ist.«22 Der Besetzung der Wiener Theaterorchester um 1800 entsprach auch die Stärke einer gut besetzten fürstlichen Kapelle. So bestand das Orchester des Fürsten Esterházy, das Haydn kurz vor der Auflösung der Kapelle im Jahr 1790 zur Verfügung hatte, aus insgesamt etwa 30 Musikern23, das Orchester des Fürsten Schwarzenberg im Jahr 1792 aus 34 Musikern.24 Die im Jahr 1797 formierte Hauskapelle des Fürsten Lobkowitz hatte zwar nur einen festen Personalbestand von 5–9 Musikern. Für Orchesterkonzerte und Opernproduktionen wurden allerdings zusätzliche Instrumentalisten verpflichtet, wofür der Geiger Anton Wranitzky als Kapellmeister des Fürsten verantwortlich war. Aus den Rechnungsunterlagen, die Wranitzky an die fürstliche Privatkasse stellte, lässt sich für einige Anlässe die genaue Größe des Orchesters rekonstruieren. So wurden im Frühjahr 1804 für Proben zur 3. Sinfonie und zum Tripelkonzert 22 Musiker zusätzlich zum Stammpersonal verpflichtet. Für die Aufführung der Eroica am 23. Januar 1805 ergab sich ein Ensemble vom Umfang eines gut besetzten Theaterorchesters.25 1./2. Violine Viola Cello Baß Flöte Oboe Klarinette Fagott Horn Trompete Pauke Summe Mai/Juni 1804 Proben 23.1.1805 Konzert 6–7 3–4 2 2 2 2 2 2 3 2 1 10–12 3–4 2–4 2 2 2 2 2 4 2 1 27–29 32–37 Tabelle 3: Kapelle des Fürsten Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz für Proben und eine Aufführung der Eroica im Jahr 1805. Da in den Rechnungen der fürstlichen Kasse nur die für den speziellen Anlass verpflichteten Musiker erscheinen, ist unklar, inwieweit die ständigen Mitglieder der Lobkowitz-Kapelle hinzugerechnet werden müssen, von denen zudem einige in mehrfacher Funktion (z.B. als Oboist und Bratschist) engagiert waren. Dies erklärt, warum für einige Instrumente nur Zahlenbereiche angegeben werden können. 166 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum Neuordnung des Wiener Konzertlebens 1807–1814 Auch wenn der Wiener Kongress im Jahr 1814 in politischer Hinsicht vorübergehend eine Restauration der Ordnung Europas vor dem Ausbruch der französischen Revolution bewirkte, war die in den Jahren vor 1814 erfolgte Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens in Wien, insbesondere im Bereich des öffentlichen Musiklebens, ebenso dauerhaft wie unübersehbar. In bürgerlich geprägten Handelsstädten wie Hamburg und Leipzig – oder noch früher in Metropolen wie London oder Paris – hatte sich bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts das Sinfoniekonzert zu einem zentralen Ort öffentlicher Musikkultur entwickelt. Katalysatoren dieser Entwicklung waren Liebhabervereine, die aus ihren Reihen zunächst sowohl die Mitglieder des Orchesters als auch das Publikum stellen konnten. Im Laufe der Zeit war dann häufig eine Professionalisierung und eine Öffnung der Konzerte nach außen zu beobachten. In Wien fallen markante Eckpunkte einer solchen Entwicklung in die Jahre zwischen 1807 und 1814. Zum einen zog sich in dieser Zeit die Aristokratie, die in den Napoleonischen Kriegen, während der französischen Besatzung Wiens in den Jahren 1805 und 1809, durch die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Inflation des Papiergelds und schließlich durch den Staatsbankrott im Jahr 1811 schwere finanzielle Einbußen hinzunehmen hatte, weitgehend aus dem öffentlichen Musikleben zurück. Der Bankrott des Fürsten Lobkowitz, dessen Vermögen im Jahr 1813 unter die Kontrolle einer staatlichen Administration gestellt wurde26, markiert den Endpunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf die Wiener Aristokratie und die fürstliche Privatkapelle ihre Rolle als tragende Institutionen des Musiklebens in Wien einbüßte. Gleichzeitig ist in diesen Jahren ein Aufschwung des öffentlichen Konzertwesens zu beobachten, zu dem mehrere Faktoren beigetragen haben. Zum einen wirkte die Kriegssituation, die während der Besatzungszeit zunächst zu einer Stagnation der Konzertaktivität in Wien geführt hatte, in den Folgejahren bis zum Wiener Kongress als Katalysator für die Ausbildung einer öffentlichen Konzertkultur, in der die Musik und die Versammlung im Konzertsaal zum Ausdrucksmittel eines vor dem Hintergrund der französischen Bedrohung aufflammenden Nationalgefühls wurde. Von staatlicher Seite wurden vor allem während der Amtszeit des Grafen Johann Philipp Stadion, Außenminister in den Jahren 1805–1809, Konzerte als Manifestation des Vaterländischen inszeniert. Höhepunkt dieser Konzerte war häufig die Aufführung der zum Ausmarsch der Wiener Landwehr im Januar 1809 komponierten patriotischen Lieder von Joseph Weigl (1766–1846) nach Texten von Heinrich Joseph Collin (1771–1811), bei denen das Publikum regelmäßig mit einstimmte. Während der Befreiungskriege in den Jahren 1812–1814 erreichte die Zahl der von politischen Akklamationen begleiteten Theater- und Konzertaufführungen einen Höhepunkt. Beethoven, der bereits 1797 zu Ehren des sogenannten Wiener Aufgebots ein Kriegslied der Österreicher (WoO 122) vertont hatte, steuerte auch zu den »Patriotischen Konzerten«27 dieser Jahre programmatische Werke bei, so das Schlachtengemälde Wellingtons Sieg op. 91, komponiert auf den 26 J. Macek, »Franz Joseph Maximilian Lobkowitz« (wie Anm. 9). 27 Eduard Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, Wien 1869 (Reprint Hildesheim 1979), S. 170ff. Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum 28 Ebenda, S. 149f. 29 Stefan Weinzierl, »Die Liebhaber Concerte der Saison 1807/08 als Prototyp des modernen Symphoniekonzerts«, in: Ute Jung-Kaiser / Matthias Kruse (Hg.), 1808 – ein Jahr mit Beethoven, Hildesheim 2008, S. 249–266. 167 Sieg der alliierten Truppen bei Vitoria am 21. Juni 1813, Germania als Schlusschor zu Georg Friedrich Treitschkes Singspiel Gute Nachricht (WoO 94) auf den Einzug der alliierten Truppen in Paris am 31. März 1814 und schließlich die Kantate Der glorreiche Augenblick op. 136, uraufgeführt während des Wiener Kongresses im November 1814. Allein die Schlacht-Sinfonie wurde in den Jahren 1813 und 1814 sieben Mal gespielt, zum ersten Mal gemeinsam mit der Uraufführung der 7. Sinfonie am 8. Dezember 1813 in einer Akademie zugunsten der in der Schlacht bei Hanau invalid gewordenen Soldaten. Neben der politischen Instrumentalisierung war auch das karitative Element ein Charakteristikum und ein Erfolgsgarant zahlreicher Konzertveranstaltungen dieser Jahre. Vorbild und Modell für karitative Konzerte in Wien waren die Veranstaltungen der 1771 gegründeten Tonkünstlersozietät, deren Einnahmen aus vier jährlichen Konzerten in einen Pensionsverein für Witwen und Waisen österreichischer Tonkünstler flossen. Um 1800 verbreiterte sich das Spektrum der karitativen Funktionen ebenso wie die Anzahl der Institutionen und die Öffentlichkeitswirkung der Konzerte. Sinfoniekonzerte veranstaltete unter anderem ein HoftheatralArmenfonds (seit 1796), ein Theater-Armenfonds für das Theater an der Wien (seit 1805), ein Bürgerspitalfonds zugunsten des Versorgungshauses St. Marx (seit 1800) und die öffentlichen Wohltätigkeits-Anstalten (seit 1800). Als lebendiger Ausdruck bürgerlichen Gemeinsinns zogen diese Veranstaltungen nicht nur ein großes Publikum an; aufgrund höfischer Protektion konnten auch erstmals große Festsäle mit ausreichender Platzkapazität für Konzerte eingerichtet werden. Dazu gehörten der Festsaal der Landstände, der Festsaal der Universität und die Redoutensäle der Wiener Hofburg, die für etwa 500, 800 bzw. 2000 Zuhörer Platz boten. Für große Oratorienkonzerte wurde erstmals im Jahr 1812 auch die kaiserliche Winterreitschule eingerichtet, auch wenn der Aufwand für Bestuhlung, Heizung und Beleuchtung hier außerordentlich groß war. Der Erfolg dieser »Musikfeste«, an denen bis zu 1000 Ausführende beteiligt waren, war ein maßgeblicher Auslöser für die Gründung der »Gesellschaft der Musikfreunde« im Jahr 181428, die in der Folgezeit zur wichtigsten Konzertinstitution in Wien werden sollte. In die Jahre vor dem Wiener Kongress fällt nicht nur ein quantitativer Aufschwung öffentlicher Musikveranstaltungen; es kristallisierte sich auch erstmals ein für die weitere Entwicklung richtungweisendes Format für Orchesterkonzerte heraus.29 Bis zu diesem Zeitpunkt bestanden Theaterakademien, Wohltätigkeits- und Virtuosenkonzerte typischerweise aus einer bunten Mischung von 12–15 Nummern, zu denen einzelne Sinfoniesätze, Solokonzerte, Ouvertüren, Arien ebenso wie pantomimische oder deklamatorische Darbietungen gehörten. Ein Modell für die Ausbildung eines neuen Programmformats waren die »Liebhaber Concerte« der Saison 1807/08. Sie wurden organisiert von einer Gruppe von Musikliebhabern, teilweise aristokratischer, teilweise bürgerlicher Herkunft, die einen Kern von 70 Abonnenten bildeten, der für die 20 Konzerte einer Saison insgesamt 1100 Karten bezog und an Bekannte und Interessierte unentgeltlich weitergeben konnte. Für diese Konzerte wurde eine Reihe programmatischer Richtlinien formuliert: 168 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum »Die Produktion der Meisterwerke des In- und Auslandes wird den Geschmack reinigen und ihm eine feste, bleibende Richtung geben; – sie wird die vaterländischen Künstler unter sich zur Nacheiferung aufmuntern; – das Genie vor der Unterdrückung der Kabale sichern; – junge Talente zur Vollkommenheit bringen, und aus sich selbst durch fortwährende gemeinschaftliche Uibung im Orchester vollendete Meister auf den verschiedenen Instrumenten bilden, welche eine gute Methode durch ihre Zöglinge überall verbreiten werden. [...] Jedes Concert muß sich durch Aufführung bedeutender und entschieden vortrefflicher Musikstücke auszeichnen, weil das Institut nur auf solche Art seine Würde zu behaupten und eine stets höhere Vollkommenheit zu erreichen im Stande ist.«30 Hier klingen in Wien erstmals einige für die weitere Entwicklung des Konzertwesens im 19. Jahrhundert maßgebliche Elemente an: Die Fokussierung auf einen Programmkanon von »Meisterwerken« und ein hoher Anspruch an die Professionalität des Orchesters, die nur durch eine ebenso professionell organisierte Ausbildung, regelmäßige Proben und einen festen Klangkörper gesichert werden konnte. Letzterer bestand aus einem Orchester von 55 Musikern, dessen Stimmführer jeweils durch Berufsmusiker besetzt waren, während die anderen Stimmen auch durch ausreichend qualifizierte Laien besetzt werden konnten. Die daraus resultierende Orchesterbesetzung (Tab. 4) durfte nach den Statuten weder unternoch überschritten werden, wofür der Orchesterdirektor Sorge zu tragen hatte. Da bei diesen Konzerten keinerlei Rücksichten auf einen vorgegebenen Personalstand zu nehmen war, müssen wir annehmen, dass es sich in den Augen der Veranstalter um eine Idealbesetzung gehandelt hat, im Hinblick auf die Anforderungen der Werke ebenso wie auf die Größe und die Akustik des Aufführungsraums. Hierbei handelte es sich um den Festsaal der Universität, einen der wenigen historischen Aufführungsstätten, die heute noch weitgehend im Originalzustand erhalten sind. Auf dem bekannten Aquarell von Balthasar Wigand, welches das letzte Konzert dieser Reihe mit einer Aufführung von Haydns Schöpfung am 27. März 1808 zeigt, ist zu erkennen, dass die große Zuhörerzahl auch angesichts einer Grundfläche des Saals von nur 400 m2 nur äußerst gedrängt und, abgesehen von einigen wenigen Sitzplätzen für herausgehobene Persönlichkeiten, stehend um die Bühne versammelt war. Im Programm der »Liebhaber Concerte« dominierten Werke von Mozart und Beethoven, von dem die Sinfonien 1–4, das Klavierkonzert op. 15, die Ouvertüren zu Coriolan op. 62 und zu Prometheus op. 43 zum Teil mehrfach gespielt wurden.31 1. Violine 2. Violine Viola Violoncello Kontrabass 13 12 7 6 4 Flöte Oboe Klarinette Fagott Horn Trompete Pauke 2 2 2 2 2 2 1 Tabelle 4: Die Orchesterbesetzung der »Liebhaber Concerte« der Saison 1807/08 Die »Liebhaber Concerte« der Saison 1807/08 markieren somit in Wien die erste Initiative zur Gründung eines Konzertinstituts nach dem Vorbild anderer Liebhabervereine in Deutschland, die in bürgerlichen Han- 30 Zit. nach Otto Biba, »Beethoven und die ›Liebhaber Concerte‹ in Wien im Winter 1807/08«, in: Beethoven-Kolloquium 1977. Dokumentation und Aufführungspraxis (Beiträge der Österreichischen Gesellschaft für Musik 1976/78), Kassel 1978, S. 82– 93. 31 Theophil Antonicek, Musik im Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1972. Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum 169 delsstädten wie Leipzig, Frankfurt oder Hamburg bereits erheblich früher aktiv waren. Da eine Fortsetzung im folgenden Jahr aufgrund des im Oktober 1808 erneut aufflammenden Kriegs gegen Frankreich nicht mehr zustande kam, war eine dauerhafte Organisation erst mit der Konstituierung der »Gesellschaft der österreichischen Musikfreunde« erreicht, deren Statuten im Jahr 1814 von Kaiser Franz I. sanktioniert wurden. Konzertwesen und Orchesterstärken nach 1814 Die im Jahr 1814 gegründete »Gesellschaft der Musikfreunde« richtete seit 1815 in jeder Konzertsaison vier Sinfoniekonzerte (»Gesellschafts-Konzerte«) aus, die von 1816 an im großen Redoutensaal der Wiener Hofburg abgehalten wurden. Obwohl die Organisatoren der Gesellschaft weitgehend identisch mit den Initiatoren der »Liebhaber Concerte« im Jahr 1808 waren, kehrte man in den Gesellschafts-Konzerten wieder zur alten Praxis eines gemischten Programms aus Sinfonien, Chormusik, Arien und instrumentalen Virtuosenstücken zurück. Die Sätze einer Sinfonie wurden selten im Zusammenhang gespielt, sondern rahmten den Programmablauf ein. Im musikalischen Diskurs, wie er sich in Journalen wie der 1798 aufgelegten (Leipziger) Allgemeinen musikalischen Zeitung und deren Wiener Ableger, der 1813 und dann wieder von 1817–1824 erschienenen Allgemeinen Musikalischen Zeitung, mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat, widerspiegelte, zeichnete sich allerdings zunehmend eine Kritik am Potpourri-Charakter jener Konzerte ab. Insbesondere im Umgang mit den Sinfonien Beethovens, die bereits zu dieser Zeit zunehmend als Monumente eines klassischen Werkkanons angesehen wurden, empfand man die Trennung der einzelnen Sätze und die häufig auch unvollständige Aufführung als unangemessen. Das Unbehagen an Form und Inhalt öffentlicher Konzertveranstaltungen war ein wichtiges Motiv für die Gründung eines zweiten Konzertinstituts im Jahr 1819. In den »Concerts spirituels« wurden, nach dem Vorbild der gleichnamigen Pariser Institution, ausschließlich vollständige Sinfonien, Oratorien und Chöre zur Aufführung gebracht. Die insgesamt 18 »Concerts spirituels« einer Konzertsaison in Wien wurden, ähnlich wie die Konzerte des Musikvereins, von einem überwiegend aus Dilettanten bestehenden Orchester bestritten. Einem Aufstellungsplan aus dem Jahr 1825 (Abb. 3) lässt sich die typische Besetzungsstärke des Ensembles entnehmen, das offensichtlich mit einer Streicherbesetzung von 10–10–10–6–4 und jeweils zwei Holzbläsern musizierte, woraus sich eine den »Liebhaber Concerten« von 1808 vergleichbare Besetzung von 55 bis 60 Musikern ergibt. Der Aufstellungsplan der »Concerts Spirituels« ist auch ein Beleg für die Wiener Praxis, den Chor bei Oratorienaufführungen vor das Orchester zu stellen. Dieser Regel folgte man auch bei der Uraufführung der 9. Sinfonie, die am 7. Mai im Kärntnertortheater stattfand und 14 Tage später im großen Redoutensaal der Hofburg wiederholt wurde. Bei der Aufführung im Theater stand der Chor in dem – sonst für das Orchester bestimmten 170 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum – Raum vor der Bühne, während für das Orchester auf der Bühne ein nach hinten ansteigendes Gerüst aufgestellt wurde. Überlegungen zum Aufführungsraum und zur Orchesterbesetzung finden sich in zahlreichen, in Zusammenhang mit der Vorbereitung des Konzerts gemachten Eintragungen in Beethovens Konversationsheften. Unmittelbar vor der Aufführung wies Anton Schindler in einem Brief an die Administration des Hoftheaters noch einmal darauf hin, »daß also im Ganzen 24 Violinen, 10 Violen, 12 Bassi & Viol[once]lli nebst doppelter Harmonie zusammen kommen, daher es auch nothwendig ist, das ganze Orchest.[er] auf die Bühne zu stellen, so wie es bey großen Oratorien überhaupt der Fall ist.«32 Für die zweite Aufführung wurde das gleiche Orchester eingesetzt. Lediglich die Violinen wurden, vermutlich mit Rücksicht auf die Größe des Saals, von 12 auf 14 verstärkt (Tab. 5). Auch wenn mit der Gründung der »Gesellschaft der Musikfreunde« und den »Concerts Spirituels« das Konzertwesen in Wien in den 1820er Jahren eine institutionelle Basis, feste Klangkörper und eine große Öffentlichkeit von in der Regel zwischen 500 und 1500 Zuhörern erreicht hatte, haftete den Veranstaltungen im Vergleich zu den Sinfoniekonzerten des späten 19. und 20. Jahrhunderts immer noch ein improvisiertes Element an. Dies betrifft nicht nur die Programmfolgen der Konzerte und die Tatsache, dass die Orchester beider Institute nach wie vor überwiegend aus Laienmusikern gebildet wurden. Insbesondere fehlte, bis zum Bau des Abbildung 3: Aufstellungsplan für die »Concerts Spirituels« in Wien um 1825. 32 Briefwechsel (wie Anm. 6), Bd. 5, Nr. 1818, S. 308. 171 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum 33 Shin Augustinus Kojima, »Die Uraufführung der Neunten Symphonie Beethovens – einige neue Tatsachen«, in: Christoph-Hellmut Mahling (Hg.), Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Bayreuth 1981, Kassel 1984, S. 390–397, hier S. 394f. 34 Clive Brown, »The Orchestra in Beethoven’s Vienna«, in: Early Music 16/1 (1988), S. 4– 20. Violine I Violine II Viola Violoncello/Kontrabass Holzbläser Blechbläser Pauke/Perkussion Chor 12 / 14 12 / 14 10 12 verdoppelt (vermutlich 2 Picc, 4 Fl, 4 Ob, 4 Kl, 4 Fg, 2 KFg) vermutlich 4 Hr, 2 Tp, 3 Pos 4 ca. 90 Summe ca. 79 (Orchester) + 90 (Chor) Tabelle 5: Erstaufführungen der 9. Sinfonie am 7. und 23. Mai 1824. Die Besetzungsstärken lassen sich aus historischen Quellen (Briefwechsel, Eintragungen in die Konversationshefte) rekonstruieren.33 Entgegen der heutigen Praxis wurden die Holzbläser verdoppelt, der Kontrabass durch Kontrafagotte verstärkt. Der Chor war, wie stets auch bei der Aufführung von Oratorien praktiziert, vor dem Orchester platziert. Musikvereinssaals im Jahr 1870, ein regulärer sinfonischer »Konzertsaal«, der ausschließlich für diesen Zweck zur Verfügung gestanden hätte. Bis zu diesem Zeitpunkt blieb es in Wien bei der Praxis, Festsäle mit ganz unterschiedlichen räumlichen und akustischen Voraussetzungen jeweils für diesen Zweck einzurichten, und somit war es weiterhin auch selbstverständlich, dass sich die Ausführenden im Hinblick auf Besetzungsstärke, Aufstellung und Spielweise an die individuelle Aufführungssituation und insbesondere auf die unterschiedliche Akustik dieser Säle einzustellen hatten. Raumakustik und Orchesterklang Überlegungen zu Aufführungspraxis und historischem Orchesterklang von Beethovens Orchesterwerken setzen in der Regel bei Fragen der Besetzungsstärke und der Orchesteraufstellung an.34 Nimmt man aber den Hörer und den Höreindruck als Maßstab aller Überlegungen zur klanglichen Realisierung, so ist auch die durch Architektur und Einrichtung des Aufführungsraums geschaffene Rezeptionssituation, vor allem aber die Akustik des Raums selbst ein wesentliches Element des musikalischen Kommunikationsprozesses. Nur noch zwei der originalen Aufführungsräume von Beethovens Orchesterwerken (vgl. Tab. 1) sind heute in annähernd originalem Zustand erhalten: Der barocke Festsaal der in den Jahren 1753–56 errichteten alten Universität am heutigen Dr.-Ignaz-Seipel-Platz, der nach einem Brand im Jahr 1961 weitgehend original rekonstruiert wurde, und der sogenannte »Eroicasaal« im Palais Lobkowitz am heutigen Lobkowitzplatz. Alle anderen Räume wurden abgerissen oder umgestaltet. Mit modernen Verfahren der akustischen Raumsimulation lassen sich jedoch auch die akustischen Eigenschaften dieser nicht mehr existierenden Aufführungsräume zuverlässig ermitteln, falls die Geometrie und die Ausstattung dieser Säle ausreichend genau bekannt sind. Diese Simulationsverfahren, die seit den 1980er Jahren auch beim Entwurf neuer Konzertsäle mit Erfolg zum Einsatz kommen, können somit einen Eindruck vom Spektrum raum- 172 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum akustischer Verhältnisse der Beethovenzeit vermitteln. Vergleicht man die Ergebnisse einer akustischen Modellierung der wichtigsten historischen Aufführungsräume Beethovens (vgl. z.B. Abb. 4) mit der Akustik von prominenten Konzertsälen des späten 19. und 20. Jahrhunderts, lassen sich die Unterschiede anhand von zwei raumakustischen Kriterien exemplarisch verdeutlichen. Ein für die Raumwirkung des Klangs wesentlicher Parameter ist die Nachhallzeit, d.h. die durch vielfache Schallrückwürfe entstehende Dauer des Nachklangs im Raum. Abb. 5 gibt eine Übersicht über Dimensionen (Raumvolumina) und Nachhallzeiten der historischen Beethovensäle sowie zum Vergleich die Werte von sechs repräsentativen, modernen Konzertsälen, von denen drei aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (Wien, Amsterdam, Boston) und drei aus der Zeit nach 1945 (Berlin, München, London) stammen. Abbildung 4: Akustisches Computermodell für das im Jahr 1870 abgerissene Wiener Kärntnertortheater (vgl. mit Abb. 1), in dem u.a. 1824 die 9. Sinfonie uraufgeführt wurde. Bei genauer Kenntnis der Raumgeometrie und der akustischen Eigenschaften der Inneneinrichtung lassen sich aus dem Modell alle akustischen Parameter berechnen, die auch einer Messung im erhaltenen Raum zugänglich wären. Zunächst verdeutlicht die Grafik die unterschiedlichen Dimensionen von Konzerträumen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts gegenüber modernen Sälen. Während die letzteren, bedingt durch die heute üblichen Kapazitäten von 1500–2500 Plätzen und eine hierfür als günstig angesehene Akustik, Raumvolumina von 15.000–30.000 m3 und Nachhallzeiten um 2 s aufweisen, sind die historischen Säle mit Dimensionen von 750– 10.000 m3 erheblich kleiner. Gleichzeitig erkennt man, dass – im Gegensatz zu einer häufig kolportierten Ansicht – die Konzertsäle der Beethovenzeit keineswegs durchweg kürzere Nachhallzeiten aufweisen als moderne Säle. Auch wenn das geringere Raumvolumen diese Erwartung nahelegt, wird dieser Einfluss in einigen Räumen durch die im Verhältnis zur Grundfläche große Deckenhöhe und eine stark reflektierende Ausstattung mit Holzparkett und Stuckmarmor kompensiert. Berücksichtigt man außerdem, dass kleinere Räume bei gleicher Nachhallzeit als halliger empfunden werden, muss man davon ausgehen, dass die Halligkeit in der Mehrzahl der historischen Räume höher gewesen ist als in modernen Sälen. 173 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum Abb. 5 verdeutlicht auch, wie unterschiedlich die Aufführungsbedingungen für Orchesterwerke in den verschiedenen Konzerträumen der Beethovenzeit waren. Während moderne Konzertsäle zwar keine identischen, aber im Hinblick auf Raumvolumen und Nachhallzeit doch weitgehend vergleichbare Verhältnisse aufweisen, ist die Streuung in den historischen Räumen erheblich. Einer naturgemäß trockenen Akustik bei Theaterakademien stehen auch für heutige Verhältnisse lange Nachhallzeiten in den seit 1814 überwiegend benutzten großen Festsälen gegenüber. Abbildung 5: Raumvolumen und Nachhallzeit für die zehn wichtigsten Aufführungsräume von Beethovens Orchesterwerken in Wien (1–10), für drei Konzertsäle des späten 19. Jahrhunderts (11– 13) und drei Konzertsäle aus der Zeit nach 1945 (14–16; Leo Beranek, Concert and Opera Halls. How They Sound, Woodbury 1996). Die Werte gelten jeweils für den mit Publikum besetzten Raum, für die modernen Säle sind sie messtechnisch bestimmt. Eingetragen ist die aktuelle Empfehlung zur Nachhallzeit von Räumen für Musik nach DIN 18041:2004-05, welche die Hörerwartung einer mit dem Raumvolumen ansteigenden Nachhallzeit ausdrückt (gestrichelte Linie). 1 2 3 4 5 6 7 8 35 Johann Joachim Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, Berlin 1752 (Reprint Kassel 1997), S. 83f., S. 170, S. 173. Theater an der Wien Burgtheater Kärntnertortheater Universitäts-Saal Großer Redoutensaal Kleiner Redoutensaal Landhaus-Saal Palais Lobkowitz 9 10 11 12 13 14 15 16 Augarten-Saal Saal zur Mehlgrube Wiener Musikvereinssaal Concertgebouw Amsterdam Boston Symphony Hall Royal Festival Hall Philharmonie Berlin Philharmonie am Gasteig Die enormen Unterschiede in den akustischen Bedingungen erforderten somit zweifellos eine Anpassung des Vortrags an die räumlichen Verhältnisse, eine Praxis, wie sie noch im 18. Jahrhundert selbstverständlich war und etwa in der Vortragslehre von Quantz ausführlich thematisiert wurde.35 Ein zweites, für die Interpreten ebenso wie für die Zuhörer bedeutendes Kriterium für die akustische Qualität von Aufführungsräumen ist die Erhöhung des Klangvolumens, das eine Schallquelle (ein Orchester, ein Solist) durch die Schallrückwürfe im Raum erfährt. Eine ausreichende Schallintensität am Zuhörerplatz ist einerseits mit der Empfindung von Intimität und Nähe, andererseits mit der Empfindung von Stärke und Kraft der Schallquelle korreliert. Diese in der Raumakustik durch das sogenannte Stärkemaß angezeigte Verstärkung der Schallquelle durch den Raum verhält sich proportional zur Nachhallzeit und umgekehrt proportional zum Raumvolumen. Es war somit in den historischen Räumen um ein 174 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum Vielfaches höher als in modernen Konzertsälen. Bei einer Abschätzung des im jeweiligen Raum erzielten Klangvolumens muss zwar auch die geringere Besetzungsstärke in der historischen Aufführungssituation berücksichtigt werden; die für Abb. 6 errechneten Werte zeigen jedoch, dass der Verlust an Klangvolumen in modernen, großen Konzertsälen durch eine höhere Besetzungsstärke bei weitem nicht kompensiert wird. Abbildung 6: Orchesterbesetzung, Raumakustik und resultierende Lautstärke. Die Übersicht zeigt einige historische Besetzungsstärken, die für den jeweiligen Raum und die Zeit als typisch angesehen werden können, sowie die daraus resultierende Schallleistung im Forte Lwges in dB. Lp ist der aus Besetzungsstärke, Raumvolumen und Nachhallzeit resultierende Schallpegel im diffusen Schallfeld des jeweiligen Raums als Maß für die Lautstärke am Hörerplatz. Raum Palais Lobkowitz Landhaus Burgtheater Universität Gr. Redoutensaal Musikverein Wien Philharmonie Berlin Philh. am Gasteig Orchester Fürstl. Privatkapelle 1804/05 Concerts spirituels 1825 Theaterorchester 1781–1808 Liebhaberkonzerte 1807/08 UA 8. Sinfonie 1814 Wiener Philharmoniker Berliner Philharmoniker Münchener Philharmoniker Besetzung (6,5,4,3,2 – 2,2,2,2 – 2,2) (10,10,10,6,4 – 2,2,2,2 – 2,2) (6,6,4,3,3 – 2,2,2,2 – 2,2) (13,12,7,6,4 – 2,2,2,2 – 2,2) (18,18,14,12,7 – 4,4,4,6 – 2,2) (16,14,12,10,8 – 2,2,2,2 – 2,2) s.o. s.o. Berücksichtigt man, dass die in Dezibel (dB) angegebenen Werte für den Schallpegel in Abb. 6 logarithmisch skaliert sind und eine Verdopplung der Anzahl an Instrumenten nur eine Erhöhung um 3 dB zur Folge hat, so zeigt sich, dass der Verlust an Klangvolumen in modernen Sälen mit ihrem im Mittel fünf- bis zehnfach höheren Raumvolumen durch die meist ja nur in den Streichern erhöhte Besetzungsstärke nicht annähernd ausgeglichen wird. Um den Schallpegel der »Liebhaber Concerte« der Saison 1807/08 zu erreichen, müsste ein Orchester in der Berliner Philharmonie in der fünffachen Besetzungsstärke spielen, und um die Differenz an raumakustisch bedingter Verstärkung gegenüber einer Aufführung der 32-köpfigen fürstlichen Privatkapelle im Palais Lobkowitz auszugleichen, müsste ein Orchester in der Münchener Philharmonie mit annähernd 1000 Musikern besetzt sein. Auch die veränderte Bauweise moderner Orches- Lw ges 109.5 110.3 109.6 110.4 111.3 111.0 111.0 111.0 Lp 96.0 94.7 86.4 91.2 89.0 86.2 84.6 83.3 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum 36 Johannes Krämer / Frank Schultz / Martin Pollow / Stefan Weinzierl, »Zur Schallleistung von modernen und historischen Orchesterinstrumenten I: Streichinstrumente«; Erik Detzner / Frank Schultz / Martin Pollow / Stefan Weinzierl, »Zur Schallleistung von modernen und historischen Orchesterinstrumenten II: Holz- und Blechblasinstrumente«, in: Fortschritte der Akustik – DAGA 2010. 36. Deutsche Jahrestagung für Akustik, Berlin 2010, S. 889–892. 37 Louis Spohr, Lebenserinnerungen, hg. von Folker Göthel, Tutzing 1968, S. 178. Vgl. hierzu auch den Text von Friederike Wißmann in diesem Heft. 175 terinstrumente ist nicht geeignet, diese Differenz zu kompensieren, denn auf für die Beethovenzeit typischen Instrumenten können annähernd gleiche Schallleistungen wie auf modernen Orchesterinstrumenten erreicht werden; unterschiedlich ist lediglich das Obertonspektrum moderner und historischer Instrumente sowie die Klangbalance zwischen den Instrumentengruppen.36 Die sinfonischen Aufführungsräume der Beethovenzeit stellten nach heutigen Maßstäben durchweg eine intime Rezeptionssituation her, mit einer geringen räumlichen Distanz zwischen Ausführenden und Publikum. Sie ermöglichten somit auch eine erheblich größere dynamische Bandbreite des Orchesterklangs, welche im forte überwiegend durch die Proportion von Orchesterstärke und Raumvolumen begrenzt wird, während sie im piano nur durch Interpretation und Spieltechnik des Orchesters limitiert ist. Dass die Bandbreite dynamischer Wirkungen auch durch den Dirigenten Beethoven voll ausgeschöpft wurde, davon geben die Erinnerungen von Louis Spohr, der 1813 bei der Uraufführung der 7. Sinfonie im Orchester mitwirkte, ein anschauliches Zeugnis: »So oft ein Sforzando vorkam, riß er beide Arme, die er vorher auf der Brust kreuzte, mit Vehemenz auseinander. Bei dem Piano bückte er sich nieder, umso tiefer, je schwächer er es wollte. Trat dann ein Crescendo ein, so richtete er sich nach und nach wieder auf und sprang beim Eintritte des Forte hoch in die Höhe. Auch schrie er manchmal, um die Forte noch zu verstärken, mit hinein, ohne es zu wissen!«37 Sinfonie, »Größe« und Massenpublikum Betrachtet man die anhand historischer Dokumente rekonstruierten Dimensionen von Hörerkreis, Aufführungsraum und Orchesterbesetzung im Lichte der zu Beginn zitierten Überzeugung Paul Bekkers, die Sinfonien Ludwig van Beethovens seien im Kern eine durch große, orchestrale Wirkungen entfaltete Ansprache an ein bürgerlich emanzipiertes Massenpublikum, so ergibt sich ein zweischneidiger Befund. Zunächst existierte in Wien parallel zu einem bereits um 1800 durch große Theaterakademien und erste Ansätze eines privaten Musikunternehmertums getragenen, öffentlichen Konzertwesen noch bis etwa 1810 ein starkes aristokratisches Mäzenatentum, in dessen Umfeld sich die Wirkungsgeschichte der Sinfonien 1–6 entfaltet. Die im Gefolge der napoleonischen Kriege erfolgte soziale und ökonomische Neuordnung des Wiener Musiklebens in den Jahren 1807–1814 ging mit einem Rückzug der Hocharistokratie und einer Öffnung der großen, staatlichen Festsäle für eine stark angewachsene musikalische Öffentlichkeit einher, in deren Folge Konzerte vor 500– 1000 Zuhörern zur Regel wurden. Auch diese nach 1810 verwendeten Räume zeichnen sich allerdings aufgrund eines erheblich geringeren Volumens bei vergleichbarer Nachhallzeit durch eine erheblich höhere Verstärkung des orchestralen Klangvolumens aus als typische Konzertsäle des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Dadurch begünstigen sie eine hohe dynamische Bandbreite und den Eindruck einer klanglichen wie räumlichen »Vergrößerung« der Schallquelle. 176 Stefan Weinzierl | Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum Der einzige musikalische Aufführungsraum, der mit späteren, großen Konzertsälen vergleichbare Dimensionen aufwies, war der große Redoutensaal der Wiener Hofburg. Auch wenn dieser Saal im Herzen der kaiserlichen Hofburg für musikalische Veranstaltungen einen besonders repräsentativen Rahmen bieten konnte, so wurde er zur Beethovenzeit in akustischer Hinsicht als besonders ungünstig erachtet. Dies belegen nicht nur zahlreiche Konzertrezensionen der Zeit, sondern auch eine Notiz des Pianisten Carl Czerny. Beethoven hatte seinen ehemaligen Klavierschüler im Mai 1824 gebeten, bei der Wiederholung der Uraufführung der 9. Sinfonie im großen Redoutensaal das 5. Klavierkonzert zu spielen. Czerny lehnte ab und verwies auf die spezifischen Probleme des Aufführungsraums: »nun soll ich [...] Eine der größten, durchdachtesten Compositionen von Ihnen produzieren! und noch dazu in dem gefährlichsten Lokale das für den Claviristen existirt! der große Redutensaal ist für dieß Instrument der undankbarste Ort, und alle Klavierspieler die bis jetzt in demselben spielten haben es bereut.«38 Czernys Kommentar korrespondiert mit den Zahlen zum Klangvolumen in den zeitgenössischen Aufführungsräumen der Beethovenzeit (Abb. 6) und macht deutlich, dass mit der Vergrößerung von Raumvolumen und Zuhörerzahl, die sich nach 1814 abzeichnete, nicht etwa ein Zuwachs an Raumwirkung, Klangvolumen und dynamischer Bandbreite verbunden war. Der Aufschwung des öffentlichen Konzertwesens und die überwiegend ökonomisch motivierte Benutzung immer größerer Konzertsäle musste im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts allein aus Gründen der physikalischen Energieerhaltung zu einer zunehmenden Verdünnung des Schallvolumens im größeren Raum führen. Diese war auch durch eine Erhöhung der Orchesterstärke nicht ansatzweise auszugleichen und musste zwangsläufig zu einem Verlust an Dynamik, Eindrücklichkeit und emotionaler Involvierung führen. Insofern wäre ein historisches Szenario, das in der Akustik und in der Zuhörerschaft des bürgerlichen Konzertsaals die Entsprechung zu einer in den Sinfonien Beethovens greifbaren, neuen Autonomie-Ästhetik findet, kritisch zu hinterfragen. Angemessener erscheint es dem Autor, gerade in den kleinen und akustisch aktiven Konzerträumen der Beethovenzeit, in denen sich ein großes Publikum aus heutiger Sicht unvorstellbar dicht um das Orchester drängte, einzigartige Rahmenbedingungen für die Entfaltung von großen orchestralen Wirkungen zu sehen. Summary This text confronts Paul Bekker’s theory – that Beethoven’s symphonies are primarily a sociological phenomenon addressing the larger audiences of an emerging civil society – with the performance conventions of Beethoven’s orchestral works in Vienna during his lifetime. Included is an analysis of the historical concert venues and their acoustical properties, orchestra sizes, audience sizes and samples of the contemporary discourse on performance practice and acoustics. By comparing the historical situation with modern standards established in the late 19th century, the author finds that the small, acoustically friendly historical concert venues offer unique conditions for the realization of dynamic orchestral effects as a manifestation of »size« and public impact. 38 Briefwechsel (wie Anm. 6), Bd. 5, Nr. 1839, S. 325. Bei diesem Text handelt es sich um einen Vorabdruck aus dem Beethoven-Handbuch, das ab 2011 im Laaber-Verlag erscheinen wird.