Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 Japan, Gesellschaft und Gemeinschaft Einführung in die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Japan 1. Identifikation des Vorlesungsgegenstands: � Konzept Gesellschaft � Welche Fächer setzen sich mit Gesellschaft auseinander? � Was ist Japan: Ein Staat? Territorium? Kulturraum? Nation? was noch? � Was bedeutet „Gesellschaft“ im japanischen Kontext? 1.1. Gesellschaft – Kategorie der sozialwissenschaftlichen Forschung „die Summe der Beziehungen und der Verhältnisse unter den Individuen“ (Karl Marx) als wissenschaftliches Konzept eingeführt durch Ferdinand Tönnies (1855-1936): „eine besondere Form gegenseitiger gewollter Bejahung von Menschen, die sich dieser Form als eines Mittels zur Erreichung ihrer individuellen Ziele bedienen“ Kategorie Gesellschaft entfaltete ihre distinktive Bedeutung in Abgrenzung von (traditioneller) Gemeinschaft: Strukturfunktionalismus (Emile Durkheim, 1858-1917) Kollektivbewusstsein basiert auf � mechanische Solidarität; Homogenität; Face-to-face Interaktionen, in Tradition und Sitten verwurzelten Regeln � segmentäre Gesellschaften � organische Solidarität, Kohärenzverlust kontraktuelle heterogener und Strukturen anonymisierter kompensieren Beziehungssysteme den � organisierte Gesellschaften Gesellschaft ist nicht Ansammlung von Individuen, „sondern ein Sein, das seine Besonderheit, sein Leben, sein Bewusstsein, seine Interessen und seine Geschichte hat.“ Grundlage aller soziologischer Analyse: „soziale Tatbestand“ (fait social = Elemente einer Struktur, die unabhängig von der Summe der Vorstellungen der Individuen existiert; Allgemeinheit; Äußerlichkeit; Zwang) 1 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 Handlungssoziologie (Max Weber, 1864-1920) Soziales Handeln ist sinnhaft und orientiert sich am Handeln Anderer. 4 Typen von Handeln: � zweckrational: Mittel, Zweck, Nutzen � wertrational: („irrational“); Werte und Überzeugungen (ethisch, religiös, politisch, ideologisch) � affektuell: emotionales Handeln, das durch Affekte und Gefühlslagen bestimmt ist � traditional: Handeln, das sich an Gewohnheiten orientiert. Vergemeinschaftung: (nach Weber) soziale Beziehungen, bei denen es ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Akteure gibt. Vergesellschaftung: soziale Beziehung, in der das soziale Handeln zum rationalen Interessensausgleich führt (Tauschbeziehungen; Mitgliedschaften in Zweck- und Gesinnungsverbände). Fühlt sich der Einzelne als Teil eines größeren sozialen Ganzen, dann orientiert er sein Handeln an diesem übergeordneten Zweck. Denken und handeln alle so, ist er einem Kollektiv als einer „Gemeinschaft“ zugehörig. Oder aber der Einzelne bedient sich der Anderen auf instrumentelle Weise zu seinen eigenen individuellen Zwecken. In diesem Fall hat er am Kollektiv als an einer „Gesellschaft“ teil. Definition: Gesellschaft ist im weitesten Sinne die umfassendste Gruppe, in der Menschen in verschiedenen Formen der Beziehung zueinander stehen und über gemeinsame Institutionen verfügen. Forschungsauftrag: Auseinandersetzung mit der Gesellschaft als Ganzes sowie ihren Teilbeständen (soziale Schichten, Institutionen, Gruppen …) und ihren Interaktionen (Macht, Rituale, …) sowie den Veränderungen im Lauf der Zeit. 1.2. Arbeitsfeld Gesellschaft u.a. Erkenntnisgegenstand der Soziologie und Kultur- und Sozialanthropologie; Def. Soziologie: Wissenschaft von gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Handeln der Individuen innerhalb dieser Verhältnisse (Heinz Abels 2007) 2 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 Def. Sozialanthropologie: 'Wissenschaft vom Menschen in der Gesellschaft': analysiert die soziale Organisation des Menschen in seiner kulturellen und sozialen Vielfalt. nur für diese Disziplinen ist das Ziel, die Grundlagen des sozialen Handelns und der Sozialorganisation zu verstehen, von konstituierender Bedeutung; Überschneidungen mit anderen sozial-, kultur- und naturwissenschaftlichen Fächern (z.B. Sozialpsychologie, Sozialgeschichte, Neurobiologie usw.) Klassische Fragestellungen der Soziologie und Sozialanthropologie beinhalten u.a. Macht: Wie operiert Macht in einer Gesellschaft, wie wird sie errungen, verteilt, legitimiert? Schicht und Struktur: Wie entstehen hierarchische Strukturen, wie werden diese reproduziert oder verändert? Identitäten: Wie bilden sich individuelle und kollektive Identitäten? Geschlechter: Wie werden geschlechtliche Unterteilungen vorgenommen und welche Rolle spielen diese in einer Gesellschaft? Verwandtschaft: Wie werden fundamentale Formen der Sozialorganisation wie „Verwandtschaft“ und „Familie“ konstruiert? Verwandtschaftliche Beziehungen sind allen bekannten menschlichen Gesellschaften gemein, wobei sich ihre Bedeutung für die soziale Organisation beträchtlich unterscheidet. Rituale: Welche Rituale, Riten, Zeremonien werden in einer Gesellschaft verwendet, und auf welche Überzeugungen und Strukturen verweisen sie? Welche Regeln (formale und informelle) existieren warum in einer Gesellschaft oder einer Gruppe, wie werden sie gestaltet, kontrolliert und manipuliert? Konzeptionalisierung von Gesellschaft hängt von der theoretischen Perspektive ab: � Was bestimmt was? Struktur? Handeln (Interaktion)? Diskurs? Kapitalverteilung? � Bestimmt die wirtschaftliche Lage die Struktur? Materialismus (Marx) � Bestimmt die soziale Struktur das Handeln? � Strukturfunktionalismus (z.B. Talcott Parsons) � Bestimmt Praxis die soziale Struktur? � Handlungstheorien (z.B. Erving Goffman) � Bestimmen Ideen, Vorstellungen, Diskurs die Realität? � Konstruktivismus (Habermas); Poststrukturalismus (Foucault) 3 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter � WiS 2012/13 Wechselspiel von Struktur und Handeln: Praxeologie (Bourdieu) Andere Begriffe für soziale Aggregate, die ähnlich umfassend wie Gesellschaft sind: Staat = politische Zuständigkeitsbereich über eine Gesellschaft Nation = Bevölkerung, die vom Staat repräsentiert wird Land/Territorium = Raum, der der Bevölkerung zur Verfügung steht und vom Staat kontrolliert wird Sprachgemeinschaft = Gruppe von Personen, die sich der gleichen Sprache bedienen können Kulturgemeinschaft = Gruppe von Personen mit gemeinsamen Traditionen, Werten und Normen Grenzen der Mitgliedschaft (Inklusion und Exklusion) zeigen sich z.B. an der Frage, wer gehört zur japanischen Gesellschaft? Japanische Definition von Japaner/in als Mitglied der japanischen Gesellschaft � Staatsbürgerschaft � Blutsverwandtschaft � Wohnort � Sprachkenntnisse � Kulturkompetenz Kongruenzerwartungen zwischen Definition und Realität führen notgedrungen zu Konflikten (übrigens ein weiteres Forschungsthema der Soziologie). 1.3. Was ist Gesellschaft, vor allem im japanischen Kontext: �� (shakai)? Begriff „Gesellschaft“ (shakai) wurde 1875 erstmals in Japan notiert und durch Übersetzungen der Werke von Herbert Spencer in den wissenschaftlichen Jargon eingeführt (Ishida Takeshi 1993, Nihon no shakai kagaku) Lexikoneintrag: Nihon kokugo daijiten (Großes Wörterbuch der japanischen Sprache) zu ��, u.a. � Überbegriff für das Zusammenleben der Menschen in Gruppen � die Welt rund um Haushalt und Schule (vglw. nachvollziehbar; diese Bedeutung kommt zum Ausdruck in älterem Begriff, seken ��) 4 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 seken (urspr. buddhistischer Ausdruck): Welt; Öffentlichkeit, Bekanntenkreis allgegenwärtig in Sprachgebrauch; gängige Phrasen wie ���� seken no me : die Augen der Öffentlichkeit ����� seken shirazu : keine Ahnung von der Welt ���� seken banare : ungewöhnlich ���� sekennami : durchschnittlich. ����������� seken ni kaomuke ga dekinai: sein Gesicht in der Gesellschaft nicht zeigen können ��������� �������� ��������� ���, gegenüber der Gesellschaft nicht vertretbar ������� seken ni warawareru, von der Gesellschaft ausgelacht werden � Angst vor Exklusion: als erzieherische Maßnahme häufig von japanischen Müttern ihren Kindern gegenüber. eingesetzt; Verbreitung und Wirksamkeit zeigen die hohe Bedeutung der Anpassung an die unmittelbare Umwelt und Angst vor dem sozialen Ausschluss; Scham: � � � � haji no bunka, oder Kultur des Schams; Erklärungsparadigma eines der bekanntesten Bücher über das moderne Japan: Ruth Benedict in The Chrysanthemum and the Sword (1946) Individuum� �� miuchi oder �� nakama (= Mitglieder der Kernfamilie und/oder gute Freunde, �� shiny�), Zurückhaltung (enryo ��, wichtiges Regulativ der Interaktion) wie auch Scham spielen keine Rolle; jenseits dieses Kreises werden Regeln komplizierter � semai seken (���� Leute, die man regelmäßig trifft) � �� / � � � � �� hiroi seken ( � � � � Leute, die man flüchtig kennt) � Fremde, Kategorie der "Anderen", ��tanin. Stehen jenseits von seken, daher ist Zurückhaltung nicht notwendig. Sprichwort: �������� Tabi no haji wa kakisute, Auf einer Reise lässt man die Scham zurück. Daher ganz unterschiedliche Formen des Verhaltens, je nach Setting. 5 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 seken entspricht eher dem soziologischen Verständnis von „Gemeinschaft“ als Gesellschaft; letztere traditionell als �� kokumin (Bevölkerung)? �� wajin („Leute von Yamato“ bezeichnet. Begriffe geprägt vom Blick nach außen: Unterscheidung der „Anderen“ (tajin) oder „Fremden“ (ijin) in Japaner und Nicht-Japaner. 2. Der Blick von innen: homogenes Japan Autostereotyp: „Außergewöhnliche Homogenität der Mitglieder der Gesellschaft macht diese einzigartig.“ Grundsätzlich gilt: Jede Gesellschaft ist „einzigartig“. Japan ist jedoch einzigartig im Ausmaß, in dem die „japanische Einzigartigkeit“ zum Gegenstand eines öffentlichen Diskurses wird. Buchgenre „Japandiskurs“ zur „japanischen Seele“ füllt Bücherregale in jeder Buchhandlung. Nihonjinron ����, Nihonbunkaron�����, Nihonron���: Genre und Genrebezeichnung für die „manische Sucht“ Japans nach der Suche nach der eigenen Identität; Tausende von Publikationen zu Fragen a la Wer sind wir Japaner? Was ist Japan? Was ist japanisch? Nicht nur populistisch oder populärwissenschaftlich, auch in Sozialwissenschaften wird nach dem „Japanischen“ (nihon-teki, nihonrashisa) in Politik, Wirtschaft, Management usw. gefragt. Gemeinsame Charakteristika: � Universalistisch: Alle JapanerInnen teilen das Merkmal (unabhängig von Klasse, Geschlecht, Alter, etc.) � Homogen: Alle J. besitzen das Merkmal in gleichem Ausmaß (keine Varianz) � Exklusiv: Das Merkmal existiert nicht, oder nur marginal, in anderen, vor allem westlichen, Gesellschaften. � Ahistorisch: Merkmal existiert seit unspezifisch langem Zeitraum, immer schon. Beispiele aus dem 20. Jahrhundert: Hamaguchi Eshun: Kanshinshugi no shakai ����� � Nihon. � � � � � � � � � � Konzept des Individuums ist irrelevant für japanische Gesellschaft; kleinste Einheit des sozialen Handelns sind interpersonale Beziehungen. Amanuma Kaoru: Die Struktur des Durchhaltens. Das Grundprinzip des Verhaltens von Japanern. �Original: ��� ��������� : ��������; ������� �� ����� ��������� ��� ����� ������Durchhaltevermögen (gambarimasu!) und der Drang danach als Kernelement der Interaktion der Japaner. ������� �������: Fudo: Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur 6 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 (Original: �� �� � ���������; ���� - �������������� �������). Klima und Geografie als Grundlage für japanische Kultur und Gesellschaft. Tsunoda Tadanobu: The Japanese brain. Uniqueness and universality (Original: ���� � �����; ��������������); Andere Beispiele inkludieren Länge der Darmtestikel; Kultur der Miniaturisierung. Soziologische Konsequenz des Homogenitätsanspruchs: Bild einer außergewöhnlich egalitären Gesellschaft, ohne Klassenunterschiede. Korrespondierende Beobachtungen aus Arbeitswelt und Alltag bestätigen das Selbstbild, z.B.: � Lohn: Einkommensschere zwischen Angestellten und Managern ist in Japan traditionell deutlich niedriger als in Amerika oder anderen Industriestaaten. � Kleidung: Manager tragen oft den gleichen Kittel oder Uniform wie Arbeiter � Privilegien: Manager nutzen oft die gleichen Einrichtungen (Kantine, WC, etc.) wie Arbeiter � Hierarchie: Großraumbüros: keine hierarchische Arbeitsteilung � Makrodaten spiegeln egalitäres Selbstbild, Meinungsumfragen des Büros des Premierministers: Hohe Selbstzuordnung zur Mittelklasse. Höhepunkt in den 1970ern: bis zu neun von zehn Befragten. � Bild der „klassenlosen Gesellschaft“: Japaner sehen sich eher als Mitglied einer Organisation, Firma, Institution, Schule statt als Teil einer sozialen Klasse. Vertikal statt horizontal geschichtete Gesellschaft. 2.2. Das Gruppenmodell der japanischen Gesellschaft im wissenschaftlichen Diskurs: Elaborierteste Variante eines Erklärungsmodells zur japanischen Einzigartigkeit a) Ebene des Individuums: JapanerInnen fehlt es an einem voll entwickelten Ego oder autonomen Ich. � keine Individualität (zumindest kein Ausdruck von Individualität) � Gruppenorientierung, Loyalität als Primärwert � Einsatz für die Gruppenziele gibt als besondere Form der Erfüllung In der Literatur: Doi Takeo, ������������ (���� ��������, dt. Amae. Freiheit in Geborgenheit. Struktur japanischer Psyche): Neigung der Japaner, 7 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 emotionale Befriedigung durch Abhängigkeit von Übergeordneten oder Vorgesetzten zu finden. b) Interpersonale Ebene, Ingroup: Menschliche Interaktion wird unter dem Gesichtspunkt der Gruppenorientierung beschrieben. � Oberstes Ziel: Harmonie innerhalb der Gruppe; vertikale Beziehungen zwischen Über- und Untergeordneten werden für dieses Ziel gepflegt. � Status in der Gruppe abhängig von Dauer der Mitgliedschaft � Starke interpersonale Beziehungen zu anderen Mitgliedern in der vertikalen Struktur der Gruppe (vs. horizontale Beziehungsgeflechte in westlichen Gesellschaften) Nakane Chie: Tateshakai no ningen kankei (���� � ���������, dt. Die Struktur der japanischen Gesellschaft; Suhrkamp) c) Ebene zwischen den Gruppen: starke Integration der Gruppen und Harmonie zwischen einzelnen Gruppen � Konsensgesellschaft. Stabilität, Kohäsion unterstützen politische Elite, Unterstützung zu mobilisieren. Kollektive Orientierung als Schlüssel des Wirtschafterfolgs: Ishida Takeshi, �������������� ������ ����� �� ����� (���, �������������, Politische Kultur Japans: Konformität und Konkurrenz). Wettbewerb zwischen Gruppen um Loyalität erleichtert Konformität mit nationalen Zielen und die Bildung eines nationalen Konsens. 3. Multikulturalität und soziale Stratifizierung: Aber: Japan ist in vielerlei Hinsicht diversifiziert, heterogen, pluralistisch, stratifiziert und multikulturell; in der Hinsicht keine großen Unterschiede zu anderen Ländern, wenn auch in Inhalt und Form durchaus Kontraste zu sehen sind. Multikulturell: Begriff stößt sich mit der relativ homogenen ethischen Zusammensetzung der Gesellschaft, aber Japan ist multikulturell auf der Basis noch anderer Merkmale als nur der Ethnie: multi-subkulturell Subkultur: Set an Werteeinstellungen, normativen Erwartungen und Lebensstilen, der Mitgliedern einer gesellschaftlichen Teilgruppe gemeinsam ist. Subkulturen unterscheiden sich im Zugang zu Ressourcen, inkl. politische Macht, ökonomische Privilegien, Sozialprestige, Informationen, Wissen � daher auch stratifizierte Gesellschaft. 8 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 Formen der subkulturellen Vielfalt a) Ethnische und kulturelle Minderheiten Ainu: über 20.000, indigene Minorität seit den ersten Versuchen der Landeseinigung �� �� ���� ������ �������������������������������������� Burakumin: ca. 3 Millionen Nachkommen von Ausgestoßenen, Unreinen der EdoZeit. „Unsichtbare Rasse“: Vorurteil der rassischen Andersartigkeit diskriminiert die sozial Unterprivilegierten; viele wohnen in eigenen Dörfern. Zainichi kankokujin: ca. 600.000 KoreanerInnen, meist seit mehreren Generationen in Japan; Erbe der Kolonialpolitik ArbeitsmigrantInnen: Legal und illegal; Zahl nicht genau bekannt, geschätzte 1 - 2 Millionen Okinawa: ca. 1,3 Millionen Menschen; lange Zeit kulturell autonom, erst seit MeijiZeit Teil des japanischen Territoriums In Summe: 5 Millionen oder 4% der Bevölkerung; größerer Anteil an Minoritäten in urbanen und industriellen Zentren wie Osaka, Nagoya, Tokyo � Japan ist nicht homogen oder einzigartig in dem Fehlen von Minoritäten, sondern in dem Versuch der Behörden, diese zu ignorieren oder zu assimilieren. b) Regionale Variationen - Ost-West-Differenzierung (������Kansai: Sprache, Essen, Traditionen) - Inland-Japan vs Pazifikküste (ura Nippon/omote Nippon: Urbanität ; Industrialisierung) - Land/Stadt-Differenzen Regionale Vielfalt: Zahlreiche Dialekte, lokale Traditionen, Feste, Bräuche, Rituale; zum Teil Erbe der Feudalherrschaft, geringer Mobilität und Diffusion zwischen einzelnen Regionen c) Statusvariationen Statusbewusste Sprache (Geschlecht, Alter, Rang, Klasse) reflektiert soziale Unterschiede; männliche ist harsch, direkt, weibliche sanft und unterordnen. Ich: ore, boku vs. watashi watakushi: Männer nehmen in statusniedrigeren Positionen feminine Eigenschaft an. 9 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 d) Soziale Stratifizierung St. Ende des 20. Jh. neues Bewusstsein über soziale Spaltung (�� bunretsu), Kluft (�� kakusa) und Ungleichheit (��� f������) in Medien und öffentlichem Diskurs � Arbeit: Rasante Zunahme der Vertrags- und ZeitarbeiterInnen � Immobilienbesitz: hohe Grundstückspreise bewirken radikale Differenzierung zwischen Eigenheimbesitz und Mietern � Konsum: exzessives Ausgabeverhalten vs. Sparsamkeit (erzwungen, kulturell) � Bildung: Kinder aus Familien mit hohem Bildungs- und Beschäftigungsstatus ������ ������� �������� ��� ��������������������� ���� ��� �����-Studierenden kommen aus solchen Familien); nur 30% erwerben Uni-Abschluss � Vererbung von Besitz, Status: nanahikari-zoku ����; Einfluss des sozialen Hintergrunds auf Wahl des Ehepartners � Räumliche Segregation der Statusgruppen (MigrantInnenviertel; Ghettoisierung) e) Gruppenvariationen Bewusstsein der Existenz unterschiedlichen Gruppen gegenüber drückt sich auch in der Begriffsverwendung von zoku (� = Stämme; s. auch oben): � ��������� ���: Angestellte, die das Privileg genießen, auf Firmenkosten zu dinieren oder Repräsentativausgaben tätigen zu dürfen. � madogiwazoku ���: Angestellte am Ende ihrer Laufbahn, am Fenster in den Großraumbüros sitzend auf ihre Pensionierung warten � ������������: Rockerbanden f) Variationen zwischen den Generationen „Cohort talk“: Verallgemeinerungen auf der Ebene der Zuordnung zu bestimmten Generationen (etwa �������itoketa ������� ��� ��������������������� �����Ära = 1926-1935) dankai jidai, ���� „Klumpengeneration“ oder auch Baby Boomer = 1947-1949; shin dankai jidai, �����zweite Babyboomergeneration Mitte der 1960er; ��� shinjinrui „neue menschliche Species“; Ende der 1960er geboren); gemeinsame Erfahrungen verbinden die Mitglieder der Generation untereinander und vertiefen die Abgrenzung zu anderen. 10 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 Trend: Zunahme an Differenz und Variationen: Bemerkbar im Konsumverhalten: Ende der Massenkonsumgesellschaft, Geburt der „Minimassen“ (1980er) und Zunahme der sozialen Ungleichheit oder Chancenlosigkeit (ab 2000); Umfragen und Erhebungen 4. Kontrolle des ideologischen Kapitals: Vielzahl an Subkulturen, manche dominieren, kontrollieren und formen Kernsubkulturen in bestimmten Dimensionen. Andere sind schwächer, subordiniert, marginal, periphere Subkulturen: � Beschäftigung: Management-Subkultur vs. Teilzeitarbeiter-Subkultur � Geschlecht: Männer-Subkultur vs. Frauen-Subkultur � Firmengröße: Großunternehmen vs. Kleinbetriebe � Region: Tokyo vs. Landregionen a) Kernsubkulturen � verfügen über Kapital zur Definition des normativen Rahmens der Gesellschaft; � Rollenmodell für andere Gruppierungen (lebenslange Beschäftigung, Tokyo Dialekt) � kontrollieren und determinieren Ausbildungsstandards � beeinflussen und nutzen Massenmedien � dominieren den öffentlichen Diskurs (Eliten schreiben über Japan, definieren Japan, nehmen Eliten als Beispiel für „Japan“) Japan-Stereotyp wird vom männlichen Elite-Segment der Gesellschaft dominiert. Höhere Sichtbarkeit durch besseren Zugang zu Massenmedien, Publizität Zugänglicher für Akademiker als andere Segmente b) Doppelcodes Dominante Subkulturen Japans untermauern ihre Macht mit Hilfe einer Ideologie, die transparente, ehrliche, freimütige Interaktion zwischen den Individuen unterbindet. � Indirekte, vage, doppeldeutige Äußerungen schaffen Welt hinter dem Vorhang Dichotomien (emische Konzepte der japanischen Gesellschaft; vs. etische der universalistischen Sozialwissenschaften): 11 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 Emisch: spezifische Konzepte einer Gesellschaft und primär für ihre Mitglieder von Bedeutung Etisch: Konzepte, die auf alle Gesellschaften anzuwenden sind. Die Unterscheidung von emisch und etisch geht auf den linguistischen Anthropologen Kenneth Pike zurück und wurde vom Kulturmaterialisten Marvin Harris im anthropologischen Diskus popularisiert. Im Kern handelt es sich dabei um die Unterscheidung von Kategorien, die entweder von außen an einen Untersuchungsgegenstand herangetragen werden (etisch) oder aber um kultur- und sprachspezifische Kategorien und Unterscheidungen, die von den Untersuchten selbst zur Benennung und dem Verständnis von Phänomenen herangezogen werden (emisch). unterschiedliche Wissenschaftsauffassungen: etische Herangehensweise ist an der Formulierung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten auf Basis einer wissenschaftlichen Terminologie interessiert; ein emisches Verständnis versucht die kulturspezifischen Logiken und Unterscheidungen zu erforschen. � tatemae (��) – honne (��): formale Prinzipien, die Verhalten kanalisieren, was man die Öffentlichkeit glauben lassen will (public face) �� (private face) authentische Gefühle, die angesichts der Kraft normierter Prinzipien nicht offen ausgedrückt werden können (Bsp.: Firmenloyalität vs. Aufstiegsambitionen; Familienwerte vs. Verpflichtung � soto (�) – uchi (�) Außenwelt �� In-Group: Outsider vs. Insider; Maßstab für zwischenmenschliche Beziehungen und entsprechendes Verhalten, Wortwahl, Offenheit � omote (�) – ura (�) Vorderseite �� Rückseite: Dualität von Fassade und Hinteransicht, front stage und back stage; omote ist offen zugänglich, sichtbar; ura dagegen das Dunkle, Verborgene, Illegale, das übersehen werden muss. (Bsp: Preiskartelle; konzertierte Bieterprozesse ( � � �����); Scheu vor Rechtsklagen aus Harmoniebedürfnis und schwerfälliges Justizsystem) � giri (��) – ����� (��) Verpflichtung �� menschliche Gefühle: Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber zwingt Einzelnen, seine Schuld (� on) zu gegebener Zeit zurückzuzahlen (��� ongaeshi); Das Handeln aus Verpflichtung steht über 12 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 Handlungsmotiven aus menschlichen Gefühlen. Sugimoto Yoshio: Multikulturelles Analysemodell bietet realistischeren Blick auf die Realität in Japan heute; Generalisierungen von emischen Konzepten auf Makrolevel können für die Beschreibung einer Gesellschaft hilfreich und für den Vergleich nützlich sein. Auf subkulturellem Level eröffnen sich Vergleichsmöglichkeiten für die multikulturelle Gesellschaft oder den Vergleich mit den Subkulturen in anderen Ländern. Modell schärft Bewusstsein für Problematik des Kulturtransfers. 5. Der Blick von außen: Zwischen Partikularismus und Universalismus Temporäre Fluktuationen im Japanbild: schwanken zwischen positiven und negativen Polen, zwischen Universalismus und Partikularismus. Perioden: a) 1945 bis 1960: Monolithische Auffassung: Japan ist rückständig, hierarchisch, exotisch, einzigartig. Besonders einflussreich: Ruth Benedict: The chrysanthemum and the sword. Anthropologische Studie (ohne Feldforschung), die von Einzelbeobachtungen, Dokumenten, Interviews etc. ausgehend beobachtete Eigenschaften für ganz Japan generalisierte. auch heute noch einflussreich. b) 1955-1970: Modernisierungstheoretische Annahmen; positivere Darstellung von Japan als Beispiel einer evolutionären Transformation ohne revolutionären Bruch; Paradebeispiel für nicht-kommunistische Entwicklung in Asien Universalistische Theorie; Daten zeugen aber von distinktiver Erfahrung der Entwicklung Robert Bellah (1957): Tokugawa religion: the values of preindustrial Japan. c) 1965-1980: Renaissance des Partikularismus; Reaktion auf Zusammenspiel von Modernisierungstheorie und wirtschaftlichen Erfolg. Schwerpunkt auf Einzigartigkeiten der Psyche, interpersonalen Beziehungsgeflechte, Neben Doi, Chie auch Edwin O. Reischauer, The Japanese society (1977) ist distinktiv anders als westliche Gesellschaften, gruppenorientiert, kollektivistisch. d) 1970-1990: Lernen von Japan: Niedergang der US-amerikanischen Hegemonie und der Anstieg Japan zur Wirtschaftssupermacht: 13 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 Ezra Vogel: Japan as number one. Lernen von Japan: Managementpraktiken, industrielle Beziehungen und Erziehungssystem wurden als vorbildhaft gepriesen, die Übernahme empfohlen; transferierbare und transplantierbare Elemente zeugen von transkulturellen Elementen in der japanischen Kultur e) 1985 - 2000: Revisionismus: negative Bewertung Japans; weisen hin auf Besonderheiten der japanischen Institutionen und fordern Politik auf zur Reformulierung der Strategien im Umgang mit Japan; Angleichung der sozialen Verhältnisse an Westen. Chalmers Johnson: Japan: who governs?; Karel van Wolferen, The enigma of Japanese power. f) 2000 bis heute: Forget Japan? Aufmerksamkeit wendet sich zunehmend Richtung China, Japan wird als konservativ, reformresistent etc. bewertet: Aber: Starke Sympathiewelle nach Nordostjapanischer Katastrophe vom März 2011 6. Konvergenzdebatten: Japan quo vadis? Konvergenztheorie: Alle Gesellschaften gleichen sich einander an, erwerben gleiche institutionelle Arrangements und Wertestruktur und Normenkataloge: Logik der Industrialisierung bewirkt Entstehung eines gemeinsamen Sets funktionaler Imperative. (Anti-Konvergenztheoretiker: Pfadabhängigkeit von Entwicklung, jede Gesellschaft ist in ihrer eigenen Geschichte, Tradition und Kultur verwurzelt, so dass gemeinsame universelle Strukturen unmöglich sind). Japan als Testlabor, da lange einzige außerwestliche industrialisierte Gesellschaft. In Konvergenzperspektive ist Einzigartigkeit Japans Ausdruck des Spätentwicklers; Tominaga Kenichi ( � � � � , Soziologe): Vier Aspekte, die Japans kommende Konvergenz nahe legen: a) Demografie: Veränderung der Altersstruktur der Gesellschaft: Anteil der 65jährigen und älter überschritt in Japan die 15%-Grenze in den achtziger Jahren, in Frankreich bereits 1930er, in SE und GB 1940er, D und SUI 1950er, USA und I 1970er. Ehemaliger komparativer Vorteil der jungen Gesellschaft schwindet. b) Disintegration der Familien- und Verwandtschaftssysteme: verändern sich von der Großfamilie zur Kernfamilie und weitere Variationen. c) Arbeitswelt: Veränderungen im Management; Flexibilisierung der Beschäftigung, Ende der lebenslangen Beschäftigungsgarantie 14 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 d) Wertewandel von Kollektivismus zu Individualismus; Niedergang der Familie und lokaler Gemeinschaften befreit Einzelnen von Sozialkontrolle; materieller Wohlstand unterminiert Arbeitsethik und Firmenloyalität � Hedonismus. Ronald Dore; Soziologe und Japanologe: Reverse Konvergenz-Theorie: Japan ist weiter entwickelt, und der Westen übernimmt japanische Charakteristika. Beispiele: � Japanische Managementpraktiken (multi-skilling; Just-in-Time-Produktionsketten; unternehmenszentrierte Arbeitnehmervertretungen) � Große Rolle des Staats in der Wirtschaft � Hochqualitatives Erziehungssystem Multiple Konvergenztheorie: unterschiedliche Formen von Entwicklung, abhängig von dem Zeitpunkt der Industrialisierung und dem kulturellen Hintergrund: z.B. Spätentwickler-Hypothese: Japan, Italien, Deutschland und andere hatten nicht die politische Integration für den Industrialisierungsprozess wie angloamerikanische Vorgänger; daher waren starke Bürokratie und Übernahme kultureller Traditionen notwendig für die Aufholjagd. Konfuzianischer Kapitalismus: mit Blick auf die asiatischen NIE, Tiger-Staaten: Ethik der Gehorsamkeit Autoritäten gegenüber und Betonung auf selbstlose Hingabe für die Arbeit bewirken unterschiedlichen Entwicklungsweg. Zivilisationstheorien: betrachten gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in Zusammenhang mit Kultur, Organisationen, Institutionen, Strukturen Umesao Tadao (����); versuchte schon in 1950ern nachzuweisen, dass Japan im Vergleich zu Asien und anderen Kontinentalvölkern zu dem gleichen Entwicklungsstratum wie der Westen zu zählen ist. Murakami Yasusuke (����), ie-Zivilisation: Japanische Gesellschaft basiert auf dem Genotyp des ie von quasi-familialen Beziehungen und funktionaler Hierarchie Samuel Huntington: Clash of civilizations: Japan wird als einzige moderne Zivilisation in der ostasiatischen Region vom konfuzianischen Block ausgeklammert und als eigenständige Kultur aufgegriffen. Kultureller Relativismus Japan fordert zentrale Annahmen der Sozialwissenschaften heraus; viele der 15 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 Kernideen und Begriffe in der Soziologie wurden mit Bezug auf die westliche Erfahrung geprägt, aber als universal dargestellt. Kaum ein Theoretiker hat Japan für komparative Zwecke studiert. Konzepte sind kulturgebunden; Was ist eine Firma, wie funktioniert eine Company? Rational-ökonomisch oder aber mit paternalistischen Arrangements wie in japanischen Firmen: Vorgesetzte widmen sich sehr intensiv Untergebenen, bis ins Privatleben (Freizeit; Hochzeit, Ratgeber). Formal nicht verlangt, aber praktisch unerlässlich; Untergebene revanchieren sich mit Loyalität. Praxis der Verwaltung in Japan widerspricht europäischen Bürokratietheorien: = Bürokraten als Inbegriff des rational-legalen Handelns; Max Weber, Robert Merton und andere Soziologen definierten bürokratische Organisationen als geführt nach universellem Gesetz, formalen Kriterien, funktionaler Spezialisierung; muss partikularistische Interaktionen oder affektive Einschätzungen transzendieren. Offenbar gibt es aber auch andere Wege für eine Bürokratie, Effizienz zu schaffen Frage: Können emische Konzepte Japans für die Analyse anderer spätkapitalistischer Gesellschaften verwendet werden? (U.U. wird im komparativen Vergleich deutlich, dass ein „typisches Merkmal“ in Japan schwächer als in anderen Gesellschaften ausgeprägt ist!) Gemeinsame Merkmale mit Singapur, Malaysien, Korea und Taiwan: � Zentralismus: Machtkonzentration � Klientelismus: Einparteiendominanz � Starker Staat: Bürokratie, die in privaten Sektor interveniert � Distanz zu „UNO-Universalismus“: Begrenzung individueller Menschenrechte � Kontrolle der Arbeiterschaft: Firmengewerkschaften als Instrument � Erziehungswerte: disziplinorientierte Ausbildung � ist das Modell Japans vielleicht aussagekräftiger für andere asiatische Staaten? � ist Japans Weg näher dem asiatischen als westlichen Entwicklungsmodell? Weitere Literaturempfehlungen: Coulmas, Florian. 2003. Die Kultur Japans. Tradition und Moderne. München: Beck 16 Assoz.Prof. Dr. Wolfram Manzenreiter WiS 2012/13 Hendry, Joy. 2012. Understanding Japanese society. London: Routledge Singer, Kurt. 1988. Spiegel, Schwert und Edelstein - Dimensionen des Japanischen Lebens. Frankfurt: Suhrkamp Sugimoto, Yoshio. 2002. An introduction to Japanese society. Cambridge: Cambridge University Press 17