SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Ein kreuzbraver Anarchist Anton Bruckners Leben und Werk 3 Von Werner Klüppelholz Sendung: Mittwoch, 15. Januar 2014 Redaktion: Bettina Winkler 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 Musikstunde mit Werner Klüppelholz Ein kreuzbraver Anarchist Anton Bruckners Leben und Werk SWR 2, 13. – 17. Januar 2014, 9h05 – 10h00 III Indikativ Anton Bruckner ist der geborene Lehrer. Auch in seinem Unterricht am Konservatorium pflegt er die Anschaulichkeit, die schon die Dorfschulkinder beeindrucken konnte. „Sie werden gewiss auf dem Land schon mal gesehen haben, wie a Bäurin a Hendl abfängt. Das Hendl rennt, die Bäurin rennt, das Hendl schreit, die Bäurin schreit, beide versuchen einander den Weg abzuschneiden. Sehn S’, das ist die Fuge: ein ewiges Haschen und Fliehen der beiden Stimmen, von denen jede ihre eigene Melodie führt.“ Oder eine unvorbereitete Dissonanz vergleicht Bruckner mit einer ungeliebten Tante, die zum Schrecken aller plötzlich in der Tür steht. Neben dem schlecht bezahlten Konservatorium gibt er noch Klavierunterricht an der Lehrerbildungsanstalt St. Anna. Dort sei ebenfalls sein Stil sachlich streng, doch persönlich liebenswürdig gewesen. Einmal vielleicht etwas zu sehr, als er einer Studentin zärtlich die 3 Hand streichelt und sie „lieber Schatz“, eine andere hingegen „Urschl im Zorne“ nennt. Anonyme Anzeige, Disziplinarverfahren, spöttische Berichte in der Presse, Bruckner wird in die „Knabenklasse“ versetzt, „all das hat meinen Nerven unendlich geschadet“. Aber der Unterricht selbst mit bis zu vierzig Stunden pro Woche wird ihm zum Problem, denn er hindert ihn am Komponieren. Daher setzt Bruckner sich in den Kopf, Lehrer an der Wiener Universität zu werden, wo das Fach Musiktheorie zwar nicht existiert, das Lehrdeputat jedoch wesentlich geringer ist. Er schreibt ein so ausführliches wie unterwürfiges Gesuch an den ihm gewogenen Unterrichtsminister, verweist recht geschickt - auf seinen internationalen Orgelruhm und auf einen Präzedenzfall an der Berliner Universität und bekennt - recht ungeschickt -, dass ihm eine solche Stelle endlich den nötigen Freiraum zum eigenen Schaffen geben könnte. Auf dem Dienstweg landet der Brief im philosophischen Professoren-Kollegium, dem unglückseliger Weise auch der Professor Hanslick angehört, und wird dort laut verlesen, „um zu beweisen, dass ein Mensch, der solche Briefe schreibt, unmöglich ein tüchtiger Musiker sein kann.“ Hanslick versetzt dem Gesuch den Gnadenstoß mit der Bemerkung: Der will ja nur komponieren. Hartnäckig fasst Bruckner noch einmal nach, wo es eine feste Stelle für Fechten gebe, könnte doch auch die Harmonielehre den Kreis der Fächer zieren, vergeblich. Am Ende erhält Bruckner, der überdies die akademische Altersgrenze von fünfzig gerade überschritten hat, ein 4 unbezahltes Lektorat in Musiktheorie. Deprimiert wendet er sich an den britischen Botschafter, der möge ihm einen begüterten Lord auf der Insel vermitteln. „Nur müsste es amtlich gesichert und lebenslänglich sein, wenn die Unterstützung auch noch so klein ausfallen soll.“ Um diese Zeit vollendet Bruckner seine IV. Sinfonie, von ihm selbst die „romantische“ genannt. An eine mittelalterliche Stadt in der Morgendämmerung hat er im ersten Satz gedacht, zu Beginn ertönen Weckrufe von den Türmen. Die Münchner Philharmoniker unter Sergiu Celibidache. Bruckner: IV. Sinfonie, 1. Satz, Anf. Münchner Philharmoniker, Ltg. S. Celibidache EMI 74074-2 LC 0171 An christlicher Zuversicht besaß Bruckner wenig. Er litt zeitlebens unter Existenzängsten, weshalb er ständig auf der Suche nach verlässlichen Geldquellen war. Unnötiger Weise eigentlich, denn er hatte immer mehr Geld als er für seine bescheidene Lebensführung brauchte. Bei seinem Tod hinterlässt er gar ein stattliches Barvermögen von 16.891 Gulden und 55 Kreuzern – um mal einen präzisen Befund der Musikwissenschaft zu zitieren. Bruckners Existenzangst ist freilich nur Teil seiner prinzipiellen Unsicherheit, auch in musikalischen Dingen. Die allererste Sinfonie wird von einem 5 Dirigenten abgelehnt, Bruckner zieht sie zurück und schreibt eine neue Erste, postum wird sie ausgegraben und trägt seither die Ziffer Null. Auf den Rat anderer Leute hin verändert er regelmäßig die ursprüngliche Gestalt seiner Partituren, weshalb es von jeder Sinfonie mehrere Fassungen gibt, die in der Regel glatter sind als der erste Entwurf, weniger gewagt und dissonant. In der Achten steht bei einem Teil der Ersten Violinen ein f, bei einem anderen Teil ein fis. Was denn nun richtig sei, fragt der Dirigent Hans Richter bei einer Probe den Komponisten und Bruckner antwortet „Ganz wie der Herr Hofkapellmeister belieben.“ Von der Ersten berichtet ein Augenzeuge: „Während der Probe stand Bruckner neben dem Pult Richters und dankte, wenn ihm die Ausführung einer Stelle besonders gefiel, durch einen verzückten Aufblick zur Saaldecke und Kusshändchen, die er nach allen Seiten hin spendete. Wenn Richter an ihn hier und da die Frage stellte ‚Ist Ihnen das so recht?’ antwortete er, vor Devotion fast zusammensinkend ‚Aber Herr Hofkapellmeister! Gerad a so – da gibt’s nix!’ Kaum aber hatte Richter den Blick von ihm ab- und wieder zur Partitur gelenkt, so schüttelte Bruckner, das Gesicht zu einer Grimasse verziehend, die Hand negierend gegen das Orchester, wurde jedoch von Richter dabei ertappt und energisch gefragt ‚Also, wie wollen Sie es? Sagen Sie es nur heraus!’, worauf Bruckner in tiefster Demut antwortete ‚Aber, Herr Hofkapellmeister, gerad a so – da gibt’s nix!’“ Bruckner ist unsicher, einerseits, besonders im zwischenmenschlichen Verkehr. Bei der Arbeit im stillen 6 Kämmerlein, andererseits, ist er unerschütterlich überzeugt von dem, was er erfindet. Davon können ihn weder schlechte Kritiken noch wohlmeinende Freunde abbringen. „Die wollen, dass ich anders schreibe. Ich könnt’s ja auch, aber ich darf nicht. Unter Tausenden hat mich Gott begnadigt und dies Talent mir, gerade mir gegeben. Ihm muss ich einmal Rechenschaft ablegen. Wie stünde ich dann vor unserem Herrgott da, wenn ich den anderen folgte und nicht ihm?“ Das Sinfonie-Orchester des Bayrischen Rundfunks mit dem ersten Satz der V. Sinfonie, geleitet von Eugen Jochum. Bruckner: V. Sinfonie, 1. Satz, Schluss SO des BR , Ltg. E. Jochum M 0239681 Bruckners Wiener Wohnungen – drei nacheinander - waren bescheiden möbliert und im Ordnungs- beziehungsweise Chaosgrad ist Bruckner ebenfalls der legitime Nachfolger Beethovens. Am alten Bösendorfer-Flügel konnte man die weißen nicht mehr von den schwarzen Tasten unterscheiden, das lag am Schnupftabak, den Bruckner „Göttermischung“ nannte. Mehrere Dosen davon standen auf seinem winzigen Arbeitstisch, so dass ihm zum Aufschreiben der Riesen-Werke nur eine Fläche kaum größer als ein Teller verblieb. Nach dem Tod der Schwester führt Kathi den Haushalt, eine gestrenge Frau, die Besucher 7 mit dem Hinweis wegzuschicken pflegt, der Professor sei gerade am Kombinieren. Kathis Kochkünste scheinen nicht die besten gewesen zu sein, doch wenn Bruckner leise protestierte, befahl Kathi: Die Suppe wird gegessen! Und er folgte brav. Abends nahm Bruckner sein Essen im Wirtshaus ein, Geselchtes mit Knödeln und Kraut waren seine Lieblingsspeise, gewöhnlich drei Portionen hintereinander, begleitet von zwölf Seideln Bier, nach ärztlicher Empfehlung auf zehn reduziert, ein Seidel misst 0, 3 Liter. Im Wirtshaus umgab sich Bruckner gern mit jungen Leuten, die ihm Witze erzählen mussten, allerdings „zimmerrein“. Oder er las höchst ausführlich Zeitungen, vorzugsweise Berichte über Frauenmörder. Doch auch über die österreichische Nordpolexpedition oder über das traurige Schicksal des Kaisers Maximilian von Mexiko, der intelligentere Bruder von Franz Joseph, wusste Bruckner noch das kleinste Detail. Im Wirtshaus fühlte er sich wohl, nicht jedoch auf dem Parkett der Wiener Salons. Eine Einladung von Johann Strauß nahm Bruckner erst an, als er hörte, dass nur noch ein weiterer Gast anwesend sei. Solche Scheu dürfte ein Grund sein für das Fehlen von Kammermusik bei Bruckner, denn das war die Gattung des Salons. Nur ein einziges Werk ist in seiner Reifezeit entstanden, das Streichquintett, durch den Geiger und Konservatoriumsdirektor Joseph Hellmesberger beiläufig angeregt, woraus Bruckner gleich ein „dringliches Verlangen“ machte. 8 Bruckner: Streichquintett, Finale 9’41“ Melos Quartett, E. Santiago, Va. M 0312395 004 Das Melos Quartett, erweitert um den Bratscher Enrique Santiago, spielte das Finale aus Bruckners Streichquintett. Gustav Mahler war ein großer PR-Stratege in eigener Sache, doch Bruckner, der angebliche Trottel, wusste ebenfalls, welche Wege jenseits von Handküssen zum Erfolg führen: die Resonanz in den Medien nämlich und exquisite Gefälligkeiten für wichtige Entscheidungsträger. Ausnahmsweise ist ein Konzert in Wien sehr erfolgreich, denn es findet vor dem wohl gesonnenen Publikum des Wagner-Vereins statt, Sätze der Ersten und Vierten an zwei Klavieren. Inständig bittet Bruckner einen Schüler, er möge dafür sorgen, dass überall in Deutschland über diesen Erfolg in den Zeitungen berichtet wird. Wie Mahler hält es auch Bruckner mit der Wahrheit nicht so genau, wenn Vorteile winken. Für die Universitätsbewerbung macht er aus dem simplen Kauf einer Eintrittskarte zur Uraufführung des Tristan eine „ehrende Einladung“, die Wagner freilich nie ausgesprochen hatte. Und Bruckner kennt selbstredend den Wert von Titeln. Brahms war bereits Ehrendoktor, gar doppelt, in Cambridge und in Breslau. Das möchte Bruckner auch sein, wenigstens einfach. Da er aus Cambridge keine Antwort erhält, versucht er es mit der Universität im fernen 9 Philadelphia, anschließend in Cincinnati. Bruckner trägt alles zusammen, vom Taufschein über sämtliche Zeugnisse bis zu Konzert-Kritiken und WerkGutachten, insgesamt 25 Dokumente. Zur Übersetzung ins Englische übergibt er sie einem Wirtshaus-Bekannten, einem Dr. Vincent, von dem nicht klar ist, ob er überhaupt Engländer war und ob er die Papiere jemals nach Amerika abgeschickt hat. Als einzige Gewissheit blieben üppiges Übersetzungs-Honorar und hohe Portokosten. Zum Dank für den Ehrendoktor hatte Bruckner die Widmung der IV. Sinfonie in Aussicht gestellt, denn ihm war der Wert von Zueignungen durchaus bewusst. Die Vierte und Fünfte widmet er jeweils Unterrichtsministern, die er bei der immer noch geplanten Universitätslaufbahn vielleicht gut gebrauchen konnte, und bei den drei letzten Sinfonien gelingt Bruckner eine von niemandem sonst erreichte ZueignungsSteigerung: Die Siebte an König Ludwig II. von Bayern, die Achte an Kaiser Franz Joseph I. von Österreich und die Neunte an Gott im Himmel. Werbewirksam hatte Bruckner verlauten lassen, die Siebte sei auf den Tod Richard Wagners geschrieben und durch die zusätzliche Widmung an Ludwig erhoffte er sich Aufführungen des Stücks in München. Der Kaiser hatte Bruckner einen Allerwelts-Orden verliehen und bei der Audienz gefragt, ob er etwas für ihn tun könne. „Wenn halt Majestät dem Hanslick sagen möchte, er soll nicht gar so über mich schimpfen.“ Eine Widmung war also fällig und sie führt außerdem dazu, dass Franz Joseph den Druck der Achten bezahlt, wenn er auch am Tag 10 der Uraufführung auf die Jagd gehen muss. Näheres zum lieben Gott in der „Musikstunde“ am Freitag. Die Sechste Sinfonie widmet Bruckner einem Hauswirt, der nie von ihm Miete verlangt hat. Hier ihr zweiter Satz, mit dem Leipziger Gewandhaus-Orchester unter Herbert Blomstedt. Bruckner: VI. Sinfonie, 2. Satz, Anf. Gewandhaus Orchester Leipzig Ltg. H. Blomstedt VKJK 0810 LC 03722 Heute wie damals: Mit genügend Probenfleiß und gutem Willen aller Beteiligten wird jede Komposition, selbst eine schwächere, zum Erlebnis. Beim Leipziger Gewandhaus-Orchester und dem jungen Kapellmeister Arthur Nikisch war davon genügend vorhanden, als am 30. Dezember 1884 die VII. Sinfonie zur Uraufführung kam. Mit überwältigendem Erfolg, eine Viertelstunde Beifall und drei Lorbeerkränze für den Komponisten, es war der Durchbruch zum Ruhm für den nunmehr sechzigjährigen Bruckner und zugleich der Beginn von Leipzig als Bruckner-Stadt bis heute. Hermann Levi, der Dirigent des „Parsifal“, setzt kurz danach die Siebte in München aufs Programm, die Aufführung im Hoftheater wird zu einem Triumph. Nach dem Konzert, es war fast Mitternacht, spricht Levi zu seinem Orchester: „Meine Herren! In diesem Hause haben wir schon oft vor dem König allein Meisterwerke gespielt. Wir haben einen Fürsten 11 im Reich der Töne unter uns. Ich bitte Sie, für ihn noch einen Teil des Adagios aus seiner Sinfonie zu spielen.“ Tags drauf ändert Levi den Spielplan und gibt zu Bruckners Ehren die „Walküre“, der Maler Kaulbach fertigt ein Porträt Bruckners an, dessen Nase diesem freilich zu lang ist, und der Maler Fritz von Uhde möchte mit dem Charakterkopf Bruckners einen Apostel auf seinem Abendmahl-Bild ausstatten, doch dazu hält sich Bruckner nicht für würdig. Rasch kommt die Siebte in der Welt herum, selbst New York will sie hören, doch was ist mit Wien? Dort wurden natürlich Bruckners Erfolge im deutschen Reich zur Kenntnis genommen und die Philharmoniker wollen das Werk ebenfalls aufführen. Bruckner, der seinen Hanslick kennt, möchte das zumindest so lange verhindern, bis ein Verleger gefunden ist, doch nachdem Levi eintausend Gulden für den Druck zusammengetragen hat, kommt es zur Aufführung der Siebten in der Anti-Bruckner-Stadt Wien. Nach dem Konzert telegrafiert Johann Strauß: „Bin ganz erschüttert – es war einer der größten Eindrücke meines Lebens“, wobei Bruckner sich vor allem über die telegrafische Eile des weltberühmten Kollegen freut. Hanslick jedoch, ein musikkritisches Rumpelstilzchen, wie es bei Georg Kreisler im Buche steht, schreibt in gewohnter Art: „Ich bekenne unumwunden, dass ich über Bruckners Sinfonie kaum gerecht urteilen könnte, so unnatürlich, aufgeblasen, krankhaft und verderblich erscheint sie mir. Einer der geachtetsten Musiker Deutschlands (das war Freund Brahms) bezeichnet – in einem Brief an mich – Bruckners 12 Sinfonie als den wüsten Traum eines durch zwanzig Tristan-Proben überreizten Orchestermusikers. Das scheint mir bündig und treffend.“ Hören wir das Scherzo der Siebten in einer Fassung für Kammerensemble, die Arnold Schönberg durch drei seiner Schüler anfertigen ließ, darunter Hanns Eisler. Das Thema – hier im Klavier - hat Bruckner einem Hahn abgelauscht. Bruckner: VII. Sinfonie, Bearbeitung für Kammerensemble, Scherzo Thomas Christian Ensemble M 0331231 004 9’48“