996 49.1 47 Kapitel 49 · Anästhesie in der Thoraxchirurgie Der Patient in der Thoraxchirurgie 50 Der typische Patient in der Thoraxchirurgie ist in der 6. oder 7. Lebensdekade. Eine Zunahme des durchschnittlichen Alters ist zu beobachten und wird sich wahrscheinlich fortsetzen [7]. Meist bestand ein jahrzehntelanger Zigarettenkonsum. Ein Gewichtsverlust in den letzten Monaten vor der Operation wird häufig angegeben. Die häufigste Diagnose ist »Tumor der Lunge oder der Atemwege«, die häufigste Begleiterkrankung die chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD). 51 49.1.1 48 49 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 24 Tumoren Die Mehrheit der Thoraxoperationen sind Resektionen wegen Tumoren der Lunge und der Bronchien. Am häufigsten sind Karzinome mit ca. 90%, Adenome (ca. 8–10%) und gutartige Tumoren (<1%). Das Bronchialkarzinom wird durch Zigarettenrauchen verursacht, nur 10% der Betroffenen waren immer Nichtraucher. Unter deutschen Männern ist das Bronchialkarzinom die häufigste Tumortodesursache, bei Frauen ist es das dritthäufigste tödliche Malignom (nach Mamma- und Kolonkarzinom). In den USA ist dieser Geschlechterunterschied bereits aufgehoben, in Deutschland wird dies nach Prognosen der WHO in Zukunft ebenfalls der Fall sein. 75–80% der malignen Tumoren sind nichtkleinzellige Karzinome (Plattenepithelkarzinom, Adenokarzinom, großzelliges Karzinom), 20–25% sind kleinzellige Karzinome. Die Resektion ist die effektivste Therapie beim nichtkleinzelligen, nichtmetastasierten (M0) Karzinom in den frühen Stadien (bis T3/N1). 49.1.2 Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) ! Bei der COPD besteht eine nicht voll reversible, progressive Obstruktion der kleinen Atemwege. Sie wird klinisch manifest als chronisch obstruktive Bronchitis oder als Emphysem mit Parenchymdestruktion, Elastizitätsverlust und Verschluss kleiner Atemwege. Die COPD ist eine typische Begleiterkrankung des Patienten mit Bronchialkarzinom und ist bei Lungentransplantation oder Lungenvolumenreduktion oft die führende Diagnose. In industrialisierten Ländern ist die COPD meist auf das Zigarettenrauchen zurückzuführen. Das Aufgeben des Rauchens verlangsamt zwar die Progression der Erkrankung, eliminiert jedoch nicht die chronische Entzündung. Bronchodilatatoren sind die wichtigsten Medikamente gegen COPD. Sie verbessern die Atemwegsobstruktion zwar nur gering (<10%), erhöhen aber die Leistungsfähigkeit. Im Gegensatz zum Asthma bronchiale sind auch Anticholinergika bei COPD wirksame Bronchodilatatoren. Inhalierte Kortikosteroide sind zur Unterdrückung der chronischen Entzündung bei COPD weitgehend unwirksam. 49.2 Präoperative Beurteilung Viele Patienten berichten über jahrelangen Zigarettenkonsum. Nach Zeichen des Emphysems, der Obstruktion und der Bronchitis muss daher gezielt gesucht werden. Der Verzicht auf Zigarettenrauchen für 48 h vor der Operation normalisiert lediglich die Konzentration von CO-Hb im Blut, die Zilienfunktion und Mukusproduktion sind frühestens nach 6- bis 8-wöchiger Abstinenz normal oder erholen sich auch langfristig nicht mehr. 49.2.1 Anamnese und körperliche Untersuchung Während der körperlichen Untersuchung erlaubt das Atemmuster (Frequenz, Symmetrie, Tiefe) eine Abschätzung der respiratorischen Reserve. Die Inspektion des Patienten gibt orientierend Aufschluss über die Lungenfunktion: Bei Obstruktion ist die Atemarbeit bei langsamen, tiefen Atemzügen minimal; der Patient atmet entsprechend. Ein erhöhter elastischer Widerstand des Lungenparenchyms bei Restriktion lässt sich hingegen durch flache, schnelle Atmung überwinden. ! Prädiktoren einer schwierigen Laryngoskopie müssen sorgfältig erhoben werden (z. B. Mallampati-Klassifikation, thyromentaler Abstand), da Intubationsverfahren zur Etablierung einer seitengetrennten Beatmung meist technisch schwierig sind. Auf der Röntgenaufnahme des Thorax kann eine Verlagerung der Trachea oder der Hauptbronchien erkannt werden. Ist eine schwierige Intubation zu erwarten, müssen alternative Verfahren zur Sicherung des Atemweges bzw. der endobronchialen Intubation vorbereitet werden (fiberoptische Bronchoskopie, Bronchusblocker, Larynxmaske, 7 Kap. 31). Trommelschlägelfinger können ein Hinweis auf chronische Hypoxie oder auf ein Bronchialkarzinom sein. Paraneoplastische Syndrome bei Bronchialkarzinom sind mit einer Häufigkeit von etwa 10% selten und treten meist beim kleinzelligen Bronchialkarzinom auf. Folgende Syndrome sind auffällig: Cushing-Syndrom (Habitus), inadäquate ADH-Ausschüttung (Neurologie, Elektrolyte), Karzinoidsyndrom (Flush). 49.2.2 Apparative Verfahren Spirometrie Die Spirometrie dient der Beurteilung der respiratorischen Reserven des Patienten. Sie ist vor fast jedem thoraxchirurgischen Eingriff zu fordern. Die Ausnahme sind Patienten vor kleinen atypischen Resektionen, die nach Anamnese und Untersuchungsbefund lungengesund sind. Verbessern Bronchodilatatoren die FEV1 um 15% oder mehr, so muss der Eingriff verschoben, eine Dauertherapie mit inhalierten Anticholinergika oder b2-Agonisten begonnen und nach einigen Tagen die Lungenfunktion erneut beurteilt werden. ! Bei minimalen Atemreserven kann schon ein diagnostischer Eingriff ohne Gewebeverlust zur postoperativen Ateminsuffizienz führen. Dagegen wird die Entfernung einer Lunge, welche durch einen stenosierenden Tumor nicht belüftet war, ohne Auswirkung bleiben. 997 49.2 · Präoperative Beurteilung . Tabelle 49.1. »Grenzwerte« für die (Bi-)Lobektomie Lungenfunktionsparameter Grenzwert paCO2 (paO2 weniger konsistent) 45 mmHg Ein-Sekunden-Kapazität (FEV1) 50% des Sollwertes CO-Diffusionskapazität der Lunge DLCO 60% des Sollwertes »Grenzwerte« zur Lobektomie und Bilobektomie, deren Über- bzw. Unterschreitung die Inoperabilität anzeigt. Die Zahlen sind Anhaltswerte und gelten nicht für die Lungenvolumenreduktion. Im Einzelfall sind individuelle Leistungsfähigkeit und der klinische Eindruck wichtiger als Grenzwerte. Die Einschätzung der Operabilität erfolgt nach einem 2-Stufen-Schema. Die erste Stufe sind globale Lungenfunktionsprüfungen. Zeigen diese keine erhebliche Beeinträchtigung, so ist eine (Bi-)Lobektomie oder Pneumonektomie möglich. Zur Definition »erheblicher« Beeinträchtigungen werden Grenzwerte verwendet, welche jedoch für Lobektomien und Pneumonektomien beim Bronchialkarzinom und bei Tuberkulose entwickelt wurden und heute nicht mehr universell gültig sind (. Tabelle 49.1). So gelten diese insbesondere nicht für Lungenvolumenreduktionen, da hierbei trotz Gewebereduktion die Organfunktion verbessert werden kann. Ergibt sich aus den globalen Lungenfunktionsuntersuchungen ein erhöhtes Risiko, so muss mit differenzierteren Verfahren der postoperative Zustand des Patienten eingeschätzt werden. Mit Hilfe von Ventilations-(133Xe)- und Perfusions-(99Tc-) Szintigrammen wird der Beitrag des zu resezierenden Lungengewebes zu Perfusion und Ventilation bestimmt. Die erwartete postoperative FEV1 kann abgeschätzt werden: ! Bei einer prognostizierten FEV1 von unter 800 ml bzw. unter 30% des altersbezogenen Normalwertes ist kein resezierender Eingriff durchführbar. Für die Lungenvolumenreduktion haben szintigraphische Untersuchungen nur beschränkte Aussagekraft bezüglich des operativen Risikos, können jedoch helfen, das Zielgebiet zu identifizieren. Elektrokardiogramm Eine rechtsventrikuläre Belastung wird bei einem R/S-Verhältnis >1 in der Brustwandableitung V1 vermutet. Eine erhöhte P-Welle in Ableitung II deutet auf einen vergrößerten rechten Vorhof hin. Ist die Leistungsfähigkeit des Patienten dabei normal, kann trotz Verdacht auf Rechtsherzbelastung die Operation – ggf. mit erweitertem Monitoring – erfolgen. Ist die Leistungsfähigkeit des Patienten reduziert und besteht Verdacht auf eine Rechtsherzbelastung, sollte vor der Operation eine Rechtsherzkatheterisierung erfolgen. Zwar existieren für die Bewertung der rechtsventrikulären Funktionsparameter (z. B. PVR, PAP, Füllungsvolumen, Auswurffraktion) keine festen Grenzwerte, sie bilden jedoch die Grundla- 49 ge für eine interdisziplinäre Einschätzung der Operabilität des Patienten und des erforderlichen Monitorings. ! Cave Eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung kann über die Überblähung zu einer Niedervoltage und mangelnder R-Progression in den Brustwandableitungen führen (Differenzialdiagnose zum Infarkt-EKG mit R-Verlust). Blutgasanalyse Die arterielle oder arterialisierte, kapilläre Blutgasanalyse gehört zur Standardvorbereitung des Patienten in der Thoraxchirurgie (Grenzwerte . Tabelle 49.1). Patienten mit chronischer Bronchitis bieten das klinische Bild des »blue bloaters«. Dieser Begriff beschreibt die Erscheinung der (adipösen) Patienten. Es besteht Hyperkapnie und Hypoxämie. Durch die chronische CO2-Retention ist der Bikarbonatgehalt im Liquor erhöht. Die Chemorezeptoren der Medulla oblongata sind relativ unempfindlich, und der Atemantrieb wird durch die Hypoxie aufrechterhalten. Bei zu hoch dosierter O2-Gabe besteht die Gefahr der Hypoventilation [11]. Dennoch darf die Sauerstoffgabe als lebensverlängernde Therapie bei COPD und entsprechender Indikation [29] nicht vorenthalten werden. Patienten mit Emphysem präsentieren sich als »pink puffer«. Der paO2 ist normal oder gering erniedrigt. Der paCO2 wird bei verringerter Gasaustauschfläche durch ein erhöhtes Atemminutenvolumen aufrechterhalten. Die Atemarbeit ist erhöht und Dyspnoe die Regel. Röntgenbild des Thorax Trachealverlagerung und mediastinale Raumforderungen erschweren häufig die Platzierung eines Doppellumentubus. Bei entsprechendem Röntgenbefund sind zur Narkoseeinleitung Maßnahmen zur alternativen Sicherung der Atemwege sowie ein Bronchoskop vorzubereiten. COPD führt zur Überblähung der Lungen. Radiologische Zeichen sind eine Vergrößerung des anterior-posterioren Thoraxdurchmessers im seitlichen Strahlengang, eine Vergrößerung des Sternum-Herz-Abstandes über 2 cm sowie eine – im Gegensatz zur chronischen Bronchitis – schlechte Visualisierung der Bronchial- und Gefäßstrukturen. Rechtsherzfunktion Die Rechtsherzdysfunktion wird präoperativ oft verkannt [41]. Daher sollte bei allen Patienten vor lungenresezierenden Eingriffen (Cave: Reduktion des Gefäßquerschnitts) aktiv nach entsprechenden klinischen Symptomen und Zeichen gesucht werden. Bei Verdacht erfolgt eine Rechtsherzkatheterisierung zur Bestimmung des pulmonalvaskulären Widerstands sowie der ventrikulären und pulmonalarteriellen Drücke. Bei Patienten mit pulmonaler Hypertonie ist die perioperative Inzidenz der Rechtsherzdysfunktion erhöht. In Abwägung des Nutzens und des Risikos muss daher die Indikation des Eingriffs und dessen Ausdehnung erneut festgelegt werden und die Möglichkeit der postoperativen Intensivtherapie sichergestellt werden.