ERFAHRUNGSBERICHTE Was hat Magnus ? Magnus Am 16. Februar 1997 ist unser Familienglück vollkommen: Nach unserem Sohn Leon (1992) und unserer Tochter Britt (1994) kommt unser drittes Wunschkind Magnus zur Welt. Auch er ist wie seine Geschwister gesund und sehr lebendig. In unserem turbulenten Familienleben wirkt er durch sein friedliches und freundliches Wesen ausgleichend, seine unkomplizierte und humorvolle Art mit Dingen umzugehen hilft uns über so manche Alltagsschwierigkeiten. Am 4. November 1998 wird Magnus zur Routineuntersuchung U7 beim Kinderarzt vorgestellt, mit seinen mittlerweile 21 Monaten hat er sich prächtig entwickelt und so hat auch dieser Besuch wie alle bisherigen Kontrolluntersuchungen der Kinder für uns nichts Beunruhigendes. Doch entgegen unseren Vermutungen, dass mit Magnus alles in Ordnung sei, stellt der Kinderarzt eine Schwellung am rechten Schlüsselbein fest. Wir können sie uns höchstens durch einen Sturz aus seinem Kinderbett erklären. Durch eine Röntgenuntersuchung soll also geklärt werden, ob es sich bei der Schwellung um „Reparaturgewebe“ handelt, das sich nach einem Bruch gebildet haben könnte. Wir beruhigen uns damit, und ahnen nichts von den Auswirkungen, die das Ergebnis dieser Routineuntersuchung auf unser zukünftiges Leben haben würde. 12 Die Untersuchung beim Röntgenarzt bringt jedoch leider nicht die ersehnte Nachricht: Es kann kein Bruch festgestellt werden. Auch eine weitere Röntgenuntersuchung sowie Sonographie bringen keine Klärung, so dass bei Magnus schließlich am 9. März 1999, er ist jetzt 2 Jahre alt, eine kernspintomografische Untersuchung der Schwellung durchgeführt wird. Der Arzt kann das Gewebe nicht eindeutig zuordnen, hält einen bösartigen Tumor für nicht wahrscheinlich und schließt jedoch auch eine ältere Fraktur nicht gänzlich aus. Seine Empfehlung ist, bei eventueller Größenzunahme eine Biopsie durchzuführen. Auf Anraten unseres Kinderarztes stellen wir Magnus in einer Onkologische Behandlungseinheit vor. Doch auch die nochmals durchgeführten sonografischen und kernspintomografischen Untersuchungen ergeben keinen konkreten Hinweis, um welche Art von Gewebe es sich bei dieser mittlerweile 2x3 cm großen Raumforderung handelt. In der Beurteilung wird mitgeteilt, dass am ehesten ein Desmoid, ein Hämatom im Organisationsstadium oder ein hochdifferenziertes (Fibro-) Sarkom in Frage kommt. Klärung durch Gewebeprobe Im Krankenhaus empfiehlt man uns eine Klärung durch Gewebeentnahme, die am 12. April 1999 dort durchgeführt wird. Schlaflose Nächte und Angst scheinen die ohnehin lange Wartezeit noch zu verlängern. Dann, knapp 5 Monate nach Feststellung der Schwellung erfahren wir, woran Magnus erkrankt ist: ren und aggressiven Verläufe oder einen Hinweis darauf, dass man eventuell und insbesondere bei dieser schwierigen Lokalisation im Halsbereich den Kampf gegen diese Krankheit auch verlieren kann. Im Nachhinein denke ich, diese Wahrheit hätte uns angesichts der „Gutartigkeit“ des Tumors sicherlich überrascht und auch deprimiert. Aus heutiger Sicht ist jedoch genau diese Information wichtig. Auch diese Möglichkeit müssen Betroffene in Betracht ziehen können und so die Chance erhalten, sich damit auseinanderzusetzen. Uns wird empfohlen, erst einmal abzuwarten, wie sich die Fibromatose entwickelt und engmaschige Verlaufskontrollen durchzuführen. Eine Behandlung hält man nicht für notwendig. Zurück ins Leben Felsbrocken beginnen sich zu lösen. Das Leben in der Ungewißheit und Angst schnürt ein. Die Tatsache, dass es sich um einen gutartigen Tumor handelt und die Ärzte eine Behandlung nicht für notwendig halten, entlässt uns wieder ins Leben zurück. Vertrauensvoll schieben wir die Ängste in den Hintergrund, sind sicher, dass der Tumor wieder verschwindet. Magnus geht es gut, er hat keine Schmerzen. Wir planen einen schönen Urlaub auf Kreta und tanken drei Wochen lang wieder Kraft. Das Mittelmeer ist heilsam für die Seele: Voller Energie und Mut kehren wir zurück. Magnus hat auf Kreta seine Windeln endgültig verabschiedet und seine Begeisterung für Flugzeuge entdeckt. ■ Infantile Fibromatose colli. Der Tumor wird uns von den Ärzten als „gutartig, aber selten“ beschrieben. Langsam wachsend. Viel mehr erfahren wir nicht. Man hatte bis zu diesem Zeitpunkt erst ein Kind mit Fibromatose behandelt, und manchmal würde sich die Fibromatose auch spontan wieder zurückbilden, so die Aussage. Kein Wort über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten, die bekannten unberechenba- Leon (7), Papa, Britt (5), Mama, Magnus (2) WIR 2/2004 ERFAHRUNGSBERICHTE Chemo Im September ist zu unserem Entsetzen die Schwellung an Magnus’ Hals deutlich vergrößert, eine Kernspintomografie bestätigt unsere Beobachtung. Zu der vorhandenen Raumforderung, die sich mittlerweile vergrößert hat, kommt noch ein weiterer Anteil dazu. Die Randkonturen zum umliegenden Gewebe sind unscharf, und der Tumor hat durch seine Ausdehnung bereits die Luftröhre verlagert. Man schlägt uns vor, die Fibromatose mit einer „milden“ Chemotherapie mit Methotrexat und Vinblastin zu behandeln mit dem Ziel Wachstumsstillstand und Tumorverkleinerung. Auf mein Gefühl reagierend stelle ich mehrmals die Frage, ob man den Tumor nicht besser entfernen solle. Doch eine Operation sei unmöglich, so die Antwort der Ärzte, die Fibromatose aufgrund ihrer Lage inoperabel. Ab dem 29. September 1999 muss Magnus mit uns einmal in der Woche den schweren Weg in die 60 km entfernte Klinik antreten zur ambulan- WIR 2/2004 Auszeit ten Chemotherapie. Tapfer geht er zu den regelmäßigen Bluttests und zu den vielen anderen Untersuchungen, die Chemo selbst ist für ihn der Horror. Doch trotz allem kann er auch diesen schweren Tagen etwas Positives abgewinnen, und so macht es ihm großen Spaß, alleine im Krankenhaus-Kiosk eine Butterbrezel zu kaufen und auf der Arche-Noah im Eingangsbereich Kapitän zu sein. Zwischen den Behandlungen versuchen wir, unser Leben so normal es geht weiter laufen zu lassen. Die beiden großen Geschwister Leon und Britt müssen in Schule und Kindergarten. Magnus’ Therapie bleibt trotz der relativ guten Verträglichkeit nicht ohne Auswirkungen auf sein Befinden: Er ist oft müde, hat ab und zu Nasenbluten, die Haare werden dünner. Je länger die Therapie dauert, umso länger ist seine Erholungsphase. Ein Tumoranteil gibt ihm das Gefühl, er habe einen Frosch im Hals. Immer wieder räuspert er sich, hat Sprachbeschwerden. Im Frühjahr darf Magnus wieder fliegen, nach Absprache mit der Klinik gönnen wir der Familie zwei Wochen Auszeit in Griechenland. Mit den Ärzten ist es so geregelt, dass er nur eine Therapie dabei ausfallen lassen muss. Im Rückblick betrachtet – das Beste, was wir tun konnten. Die unbeschwerte Zeit mit seiner Familie, die Sonne und das Meer tun ihm gut. Auch wir sind etwas entspannter, weit weg von der Klinik, haben Zeit für- und miteinander. Wieder zuhause ist alles wieder präsent, nächtelang suche ich nach weiteren Informationen über diese seltene Krankheit, doch auch das Internet hält nicht viel zu diesem Thema bereit. Ich treffe auf eine Desmoid- Gruppe, Betroffene, die sich per E-mail austauschen. Nur wenige, deren Kinder erkrankt sind, die meisten sind betroffene Erwachsene. Dennoch erfahre ich dort, welche Behandlungsmöglichkeiten es außer Chemotherapie überhaupt gibt, welche Behandlungen durchgeführt wurden 13 ERFAHRUNGSBERICHTE und welche Erfahrungen sie damit gemacht haben. Alle drei Monate wird Magnus’ Verlauf mit einer Kernspinuntersuchung kontrolliert, das bedeutet jedes Mal nüchtern erscheinen, Vollnarkose. Für mich wie auch bei den Chemos jedes Mal ein kleiner Tod. Warum er und nicht ich? Allein die Fahrt in Richtung Autobahn macht Magnus Angst. Wir versuchen die Besuche der Klinik mit etwas Schönem zu verbinden. Oft schauen wir auf dem Flughafen vorbei. Oder wir nehmen den Zug, das ist immer spannender als im Auto zu sitzen. Im Juli 2000 dann eine erfreuliche Nachricht: Die Fibromatose hat sich gegenüber dem Vorbefund nicht weiter größenverändert. Stillstand. Eventuell beginnende Befundabnahme. Wir können es kaum glauben, die Therapie scheint endlich anzusprechen! Wir bekommen wieder Auftrieb, wir sind doch auf dem richtigen Weg. Eine Einladung von unseren Freunden in Island, ein paar Tage bei ihnen den Islandsommer zu genießen, nehmen wir nach Rücksprache mit den Ärzten an. Wieder regeln wir es so, dass Magnus nur eine Therapie aussetzt. Eine Ärztin in Island bietet uns an, die Chemo dort durchzuführen. Aber nach reiflicher Überlegung beschließen wir diese eine Woche auszusetzen, damit er die Chance hat, sich zu erholen. Auch in Island ist Magnus wie ausgewechselt, frei von Angst vor der Klinik. Schöne Spaziergänge an unberührten Küsten, gute Luft. Wir müssen Magnus oft tragen, aber immer mehr kommt er wieder zu Kräften. Nach unserer Rückkehr beginnt für seine Schwester Britt die Schule, mit Mini-Schultüten dürfen Leon und Magnus dieses Ereignis mitfeiern. Magnus freut sich jetzt schon auf seine eigene Einschulung, ist entschlossen, den Kindergarten auszulassen und gleich in die Schule zu gehen. Da uns die Ärzte geraten hatten, Magnus noch nicht in den Kindergarten zu schicken, um Infektionen zu vermeiden, bleibt er also erst einmal zuhause. Am Vormittag genießt er die Zeit alleine mit Mama oder Papa, und am Nachmittag sorgen seine Geschwister für die notwendige Ab- 14 VAC wechslung. Schule wird zum Spielthema und er übt fleißig mit Mamas altem Schulranzen. Unberechenbar Am 31. August 2000 muss Magnus wieder zur Kernspinuntersuchung. Das Ergebnis ist in erster Linie niederschmetternd: der ursprüngliche Tumor hat sich zwar verkleinert, der zweite dazugekommene Anteil ist größenmäßig unverändert. Jedoch: ein neuer Tumor hat sich gebildet, etwa 1,5 x 2 cm groß. Ratlosigkeit. Warum spricht der tiefer gelegene Tumoranteil nicht auf die Behandlung an, während sich der andere unter der Behandlung zurückbildete? Die Ärzte schlagen vor, mittels Nadelbiopsie zu prüfen, ob es sich bei dem neuen Tumoranteil eventuell um eine andere Tumorart handelt. Mit dem Ergebnis könnte man dann die weitere Therapie für Magnus festlegen. Wir stimmen zu, schweren Herzens, da man uns versichert, dass eine Biopsie – anders als bei bösartigen und schnell wachsenden Tumoren – bei langsam wachsenden Tumoren keine Auswirkungen auf das Wachstum hat. An vier Stellen werden unter Vollnarkose während der Kernspintomografie Gewebeproben entnommen. Das Ergebnis: Auch bei dem neu dazugekommenen Tumoranteil handelt es sich um Fibromatose und nicht, wie befürchtet, um ein Fibrosarkom. Wir sind froh, dass sich kein bösartiger Tumor entwickelt hat, und dennoch – was hilft das, wenn auch der „gutartige“ Tumor nicht zu stoppen ist ? Angesichts der unterschiedlichen Reaktionen der Fibromatose auf die bislang durchgeführte Chemotherapie wird uns empfohlen, die Therapieform zu ändern und die nächste stärkere Chemotherapie mit Vincristin, Actinomycin und Cyclophosphamid (VAC) anzuwenden. Das bedeutet alle drei Wochen einen Tag VAC- Therapie auf der Tagesstation, dazwischen nach einer Woche nur Vincristin. Man informiert uns darüber, dass diese Therapie nicht so gut verträglich ist wie die erste. Übelkeit, Haarausfall. Ach, die wachsen wieder, meint Magnus, als wir ihm dies erklären. Also beginnt am 11. Oktober 2000 für Magnus der erste VAC-Block. Während der Therapie selbst geht es Magnus relativ gut, die Übelkeit kommt auf dem Nachhauseweg und ist erst am nächsten Tag wieder etwas besser. Magnus wird zusehends müder, er zieht sich immer mehr auf das Sofa zurück. Die Haare verliert er rasch. Wenn es ihm gut geht, nimmt er am Familiengeschehen teil. Er möchte sich nützlich machen, hilft im Haushalt mit, beim Wäsche aufhängen, Staubsaugen oder Geschirr aufräumen. Mama, ich mach das. Parallel zu dieser stärkeren Chemotherapie behandeln wir Magnus nach Absprache mit den Ärzten auch homöopathisch. Wir sind im Internet auf eine Heilpraktikerin gestoßen, die Fibromatosen nach Operationen behandelt hat, und wenden uns an sie. Mit ihrer Hilfe versuchen wir, Magnus WIR 2/2004 ERFAHRUNGSBERICHTE während der Therapie bei Kräften zu halten und seinen Körper im Abbau des Tumors zu unterstützen. Wieder sind wir optimistisch, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Und auch bei dieser Therapie dauert es einige Wochen, bis man sehen kann, ob das Medikament anspricht. Im Januar leidet Magnus unter Nesselsucht, Herpesbläschen entstehen an den Lippen, kurz darauf muss er wegen hohen Fiebers drei Tage zur Überwachung in die Klink mit Verdacht auf Hirnhautentzündung. Eine Untersuchung bestätigt dies glücklicherweise nicht, es stellt sich heraus, dass er am Rota-Virus erkrankt ist. Magnus ist völlig geschwächt. Wir bemerken, dass sich seine Sprachbeschwerden verbessern, jedoch hält er jetzt häufig seinen rechten Arm fest, seine Armbewegungen sind eingeschränkt. Er nimmt als eindeutiger Rechtshänder öfter die linke Hand, um seine Seifenblasen zu machen. Auch äußert er Schmerzen in der Schulter. Die Chemo- und Gesprächstermine in der OBE sind eher unbefriedigend, während der 6 VAC-Blöcke wird Magnus von 5 verschiedenen Ärzten betreut. Wie soll da Verlaufskontrolle funktionieren? Das führt dazu, dass die Ärzte die merkliche klinische Vergrößerung des Tumors gar nicht feststellen. Bei der nächsten, vorgezogenen Kernspinkontrolle am 12. Februar 2001, kurz vor seinem 4. Geburtstag, zerbrechen unsere Hoffnungen: Wiederum haben sich die alten Tumoranteile zurückgebildet, was sich auch durch die Abnahme der Sprachbeschwerden zeigte. Der neue Tumoranteil ist jedoch auch unter der VAC-Therapie weiter gewachsen, seine Ausdehnung hat die Armmuskeln erreicht, weshalb er Schmerzen hat und seinen Arm schont. In der OBE würde man Magnus gerne gleich dabehalten und mit einer intensiveren Chemotherapie beginnen. Doch wir beschließen, dass er seinen 4. Geburtstag nicht im Krankenhaus feiern soll. WIR 2/2004 Vielleicht ahnen wir schon, dass es seine letzte Geburtstagsfeier bei uns sein würde. Magnus indessen scheint es schon zu wissen. Im Beisein einer Freundin sagt er, dass er nicht mehr gesund wird. Seinen Schnuller, den geliebten Mumu, den er eigentlich an seinem 4. Geburtstag wegwerfen wollte, behält er lieber noch bei sich. Ifosfamid / VP 16 Nachdem Magnus seit bereits anderthalb Jahren Dauerchemo erhält, sagt mir sein Körper, dass es nun eigentlich Zeit wäre damit aufzuhören. Aber würde das nicht auch bedeuten aufzugeben? Wir treffen die schwere Entscheidung, es dennoch zu versuchen. Ab dem 19. Februar 2001 erhält Magnus eine intensivierte Chemotherapie: Mit Ifosfamid und VP 16, ein Schema, mit dem man in Italien bereits Fibromatosen behandelt hat, versuchen wir den noch wachsenden Tumoranteil zum Stillstand zu bringen. Eine aggressive Chemotherapie für bösartige Erkrankungen – mehrtägiger Krankenhausaufenthalt. Magnus ist es nur noch schlecht, das Gegenmittel schafft etwas Abhilfe. Ich versuche ihn zum Essen zu bewegen, indem ich gemeinsam mit ihm esse. Letztendlich nimmt uns der stationäre Aufenthalt die letzte noch verbliebene Kraft, als wir endlich nach Hause kommen, sind wir total erschöpft. Wir beschließen, den nächsten Block nicht zu machen und erst abzuwarten, wie die Chemo auf den Tumor wirkt. In der Zwischenzeit muss er die üblichen chemo-begleitenden Medikamente einnehmen, außerdem empfehlen uns die Ärzte, Magnus zusätzlich Diclofenac zu geben, was eventuell auch hemmende Wirkung auf das Tumorwachstum haben könnte. Warum erfahren wir erst jetzt von den behandelnden Ärzten über die anderen Möglichkeiten der Behandlung von Fibromatosen und nicht zu Beginn, als wir die Fragen stellten? Wir verlieren das Vertrauen in die Informationen der Ärzte, machen uns selbst wieder auf die Suche. Im Internet stoßen wir auf einen Bericht über eine operierte Fibro- matose gleicher Lokalisation, der uns schier verzweifeln läßt: Dieser Tumor wurde völlig entfernt und war auch einige Zeit danach bei einer Kontrolluntersuchung nicht mehr nachzuweisen. Hatte man uns diese Möglichkeit vorenthalten? Warum hatte man uns erzählt, der Tumor könne nicht operiert werden, wenn es an anderen Kliniken gemacht wird? Wir sind voller Wut über die ignorante Haltung der Ärzte gegenüber unseren mehrfachen Fragen zur Operabilität, damals, als man die Fibromatose bei Magnus diagnostizierte. Nein, man hatte uns damals nicht darüber aufgeklärt, dass eine Operation möglicherweise Bewegungseinschränkungen zur Folge haben könnte. Oder dass die Fibromatosen auch bei völliger Resektion wieder auftauchen können. Wir haben immer nur gehört, dass man sie nicht operieren könne. Diese Entscheidung wurde von den Ärzten allein getroffen, nicht mit uns Eltern. Es gab damals auch keine Anfragen bei anderen spezialisierten Chirurgen. Wir fühlten uns in dieser Frage übergangen. Und für eine vollständige Resektion war es durch die mittlerweile große Ausdehnung und Infiltration in das umliegende Gewebe zu spät ... Wir versuchen verzweifelt, andere Möglichkeiten zu finden. Aber auch die Behandlungsmöglichkeiten, die noch in Frage gekommen wären, sind aufgrund der aktuellen Ausdehnung nicht mehr möglich. 15 ERFAHRUNGSBERICHTE ben. Als er nach Hause darf, überlegt er sich, ob er nicht lieber hier bleibt, um den Schwestern zu helfen ... Doch zuhause wartet die Wasserbahn auf ihn, die er sich eigentlich zum nächsten Weihnachtsfest gewünscht hatte ... Im August 2001 folgen zwei weitere Blocks Ifosfamid/ VP 16, mehr als drei machen wir nicht. Was jetzt? Magnus erholt sich langsam. Sein Arm ist jedoch immer stärker eingeschränkt. Im März besuchen wir die Heilpraktikerin in Hamburg. Natürlich mit dem Flieger! Er genießt die Zeit mit uns allein, die beiden Großen sind bei Oma geblieben. Hafenrundfahrt, riesige Containerschiffe. Einen Sandstrand finden wir leider nicht, aber zum Baden wäre es auch noch zu kalt. Wir erstehen eine Holzmöwe in einem Geschäft, für den Patenonkel zum Geburtstag. Die haben wir am Hafen gefangen, berichtet Magnus. Er ist trotz allem zu Späßen bereit. Zuhause versuchen wir, durch Spaßwettkämpfe mit seinen Geschwistern die Bewegungsfähigkeit seines rechten Armes zu erhalten, ihn zu stärken. Schubkarrenrennen und Ballwerfen, eine Olympiade findet bei uns zuhause statt. Mit Urkunden. Wie geht es weiter ? Eine Kernspinkontrolle am 9. April 2001 zeigt, dass der Haupttumor in seiner Größe deutlich abgenommen hat. Doch wiederum verhalten sich andere Tumoranteile nicht synchron. Ein Teil des Tumors ist gewachsen: im Bereich der Luftröhre und an den Halsgefäßen. Während wir einerseits über den sich abbauenden Haupttumor erleichtert sind, wissen wir nicht, wie sich der wachsende Tumoranteil entwickelt. Aufgrund von Magnus’ Allgemeinzustand entscheiden wir uns, ihn mit einer „milden“ Dosis Methotrexat/Vinorelbin weiterzubehandeln. Unsere Möglichkeiten schwinden. Wir finden heraus, dass ein Arzt in Österreich gute Erfahrung bei Kindern mit Tamoxifen gemacht hat. Vielleicht ist dies die letzte Chance, die wir noch haben, und beginnen in Absprache mit den Ärzten parallel zur Chemotherapie Tamoxifen in der von dem österreichischen Arzt empfohlenen Dosis zu geben. Um Magnus eine Freude zu machen, fliegen wir im Juni 2001 zwischen zwei Chemos für eine Woche nach Mallorca. Baden und die Sonne genießen, Spaß haben am Strand. Magnus beginnt das Essen wieder zu schmecken: im Hotel gibt es leckere Crêpes, von denen er noch lange schwärmt. Die mit Zimt und Zucker. 16 Carboplatin Trotz Schmerzen gefällt es Magnus, dem mittlerweile doch unerträglich gewordenen Leben für eine Weile zu entfliehen. Wir tanken wieder Sonne und Energie, die wir in den nächsten Wochen so dringend benötigen. Als Magnus Anfang Juli deutliche Atembeschwerden hat, müssen wir wieder durch eine Kernspinkontrolle feststellen, dass der aggressive Tumoranteil trotz aller Versuche nicht zu stoppen ist. Die Luftröhre ist, laut Befund, mindestens auf die Hälfte ihres normalen Durchmessers eingeengt. In unserer Verzweiflung wagen wir noch einen Versuch mit drei Blöcken Ifosfamid/VP 16. Nach dem ersten Block muss Magnus aufgrund seiner schlechten Sauerstoffstättigung unter weiterer Überwachung bleiben. Sie schwankt um 95 %. Magnus wird wegen Platzmangels auf der Onkologie auf eine andere Station verlegt. Wir wechseln uns ab, einer von uns ist immer bei ihm, der andere arbeitet und kümmert sich um die beiden Großen. Die Omas springen ein, um die Grundversorgung und auch mal die Großen zu übernehmen. So oft es geht, sind wir alle zusammen bei Magnus im Krankenhaus. Schauen uns zusammen Formel-1 Rennen an. Magnus’ Favorit ist Schumis Flitzer mit seiner Lieblingsfarbe. In der Nachbarschaft gibt es einen prima Pizzabäcker, dazu rote Fanta. Ein Lichtblick im Krankenhaus. Magnus liegt viel im Bett, ist müde. Er lernt Lars Eisbär kennen, ein schönes Video, das sie hier auf der Station ha- Der Kernspinbefund nach den drei Blöcken ist für uns alle niederschmetternd. Wieder ist der Haupttumor nicht weiter progredient, zeigt Verkalkungen. Jedoch ein Tumoranteil nimmt deutlich an Größe zu, der im Bereich der Luftröhre – der lebensnotwendige Teil! Er infiltriert nicht, verdrängt nur und drückt die Luftröhre zusammen, sagen uns die Kernspin-Spezialisten. Welche Möglichkeiten haben wir jetzt noch? Auch die Ärzte sind ratlos. Nach einigen Überlegungen machen sie uns den Vorschlag, die Chemotherapie mit Carboplatin und Vincristin fortzusetzen. Vielleicht spricht dieser aggressive Tumoranteil darauf an. Wir klammern uns an jeden Strohhalm, stimmen zu. Die Chemo ist hart, die Blutwerte sind ganz unten. Wir trauen uns kaum mehr unter die Leute, und dennoch – im Kino ist Lars Eisbär zu sehen. Natürlich dürfen wir den nicht verpassen, für Magnus geht ein Traum in Erfüllung. Er geht sogar zweimal. Erst mit Mama, dann mit Papa. Atemnot Im Oktober verschlechtert sich Magnus’ Atmung deutlich. Wir sind völlig ratlos, wie können wir ihm noch helfen? Am 15. Oktober 2001 fahren wir in unserer Verzweiflung mit ihm in die Klinik. Wir können doch nicht einfach warten? Wir machen wieder eine Kernspinuntersuchung, ohne Narkose. Ich lege mich zu Magnus in die Röhre um ihm die Angst zu nehmen. Zunehmende Engstellung der Luftröhre. Wird er an dem Tumor ersticken? Kann man an der kritischen Stelle eventuell einen Stent einsetzen? Wir werden nach München geschickt zur Bronchoskopie. Wir dürfen nicht selbst fahren, zu gefährlich. WIR 2/2004 ERFAHRUNGSBERICHTE Für den nächsten Tag wird ein Krankenflug für Magnus geordert. Mama, flieg mit. Aber ich bleibe lieber auf dem Boden, Papa steigt mit Magnus in den Helikopter. Ich nehme den Zug, fast gleichzeitig sind wir in München. Die Fahrt ist ein Horror, was wird uns in München erwarten? Am 18. Oktober wird eine Bronchoskopie durchgeführt. Das Ergebnis ist wie ein Schlag mitten ins Herz: Die Fibromatose ist bereits in die Luftröhre eingewachsen, an einer Stelle sind noch 5 % des Querschnitts frei. Einen Stent einzusetzen wäre mit einem hohen Risiko verbunden, 20 % Überlebenschance. Und würde auch nur das Leben etwas verlängern, wenn der Tumor nicht zum Stillstand kommt. Nur ein Wunder kann Magnus noch retten. Die Frage, die sich anschließt: „Warum sind sie nicht schon früher gekommen?“ reißt die Wunden wieder auf. Hätten wir mit einer frühzeitigen OP diese Entwicklung verhindern können? Endlose Verzweiflung: Warum kann ich ihm nicht helfen? Ich möchte zu Magnus. Ich glaube nicht, dass ich meinen Sohn verlieren werde. Es darf nicht sein. München Magnus wird nach der Bronchoskopie auf die Intensivstation verlegt. Er wird noch intubiert, vielleicht kann man die Beatmungsschläuche nach dem Abschwellen wieder entfernen. Ich halte es fast nicht aus. Möchte bei ihm bleiben, aber in der Nacht müssen die Eltern die Intensivstation verlassen. Wir kommen im Haus gegenüber in einer eigens eingerichteten Wohnung für Eltern kranker Kinder unter. Projekt Omnibus. Pater Korbinian kümmert sich um uns, unbürokratisch und herzlich werden wir aufgenommen. Auch die Geschwister können hier wohnen, sobald ein größeres Zimmer frei wird, reserviert er es für uns. Am 22. Oktober wird Magnus von der Intensivstation auf die Onkologie verlegt. Die Beatmungsschläuche konnten entfernt werden, er atmet wieder selbständig. Magnus’ Kinderarzt hat über eine Klinik eine Behandlungsmöglichkeit der Fibromatose herausgefunden. Zwei Kinder wurden damit bisher erfolgreich behandelt, eines in Boston und 18 eines in Freiburg. Bei beiden hatten alle vorherigen Chemotherapien wie bei Magnus nicht angeschlagen. Auch ein Erwachsener war damit erfolgreich behandelt worden. Wir sind voller Hoffnung! DaunoXome DaunoXome heißt das Medikament – ein Antibiotikum. Milde Knochenmarktoxizität. Radiologisch jedoch auch erst nach drei Monaten sichtbar. Wir besprechen es mit den Ärzten in München und beginnen sofort mit der Therapie. Wir werden es schaffen! Voller Zuversicht arrangieren wir uns mit unserem Übergangswohnort. Die Geschwister kommen, es sind Herbstferien. Papa kann bei Magnus auf der Station schlafen, die beiden Großen übernachten mit mir im „Omnibus“. Die Großeltern besuchen Magnus, er läuft mittlerweile mit uns wieder den Flur entlang. Computerspiele alleine oder mit den Geschwistern, es tut ihm gut, dass alle da sind. Wie gut, dass es in München auch Schokocroissants und sonstige Leckereien gibt. Magnus hat wieder Freude am Essen. Ich koche ihm in der Elternküche seine Lieblingsspeisen: Kinderpommes, Semmelknödel, Kaiserschmarrn oder Fisch à la Bordelaise. Am 15. November wird Magnus nach Hause entlassen. Obwohl bei einer eventuellen Intubation und Beatmung das Risiko zu Hause größer ist als in der Klinik, bewerten die Ärzte den Gewinn an Lebensqualität höher, wenn er in seinem gewohnten Umfeld ist. Wir machen Pläne, was wir zusammen unternehmen können. Magnus steht auf, beteiligt sich am Familienleben. Er entwickelt sich zum Computerspezialisten. Auf seinen Wunsch suchen wir gemeinsam Anfang Dezember den Tannenbaum aus, stellen ihn auf und zünden die Kerzen an. Seinen Wunschzettel für Weihnachten steckt er schon ein paar Tage vor dem Nikolaustag in die Stiefel vor seiner Zimmertür. Die Zeit läuft ihm davon. Verwandte besuchen ihn, bringen ihm kleine Geschenke, doch die interessieren ihn kaum. Die Gespräche sind ihm wichtig. Der Kinderarzt führt die Therapie in seiner Praxis fort, doch die Hoffnung schwindet. Die Atmung verschlechtert sich weiterhin, Sauerstoff steht zuhause bereit und kommt bei niedriger Sauerstoffsättigung zum Einsatz. In der Nacht vom 5. Dezember hat Magnus den ersten Atemstillstand. Einige Minuten bekommt er keine Luft mehr, wird bewusstlos. Dann ist er wieder da. Der Kinderarzt kommt, wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Magnus hat Angst, flach zu liegen. Wir polstern sein Bett hoch. Wir halten es kaum aus, überlegen am nächsten Morgen, ob wir nicht doch den Stent einsetzen lassen. Mit dieser Option hatten wir das Münchner Krankenhaus verlassen. Der Kinderarzt möchte nochmals mit uns sprechen, bevor wir diesen Schritt gehen. Als wir beim Kinderarzt eintreffen, ist uns fast schon klar, dass wir Magnus das nicht antun möchten. Wir überlassen ihm die Entscheidung, ob wir nach München gehen sollen. Er entscheidet sich hierzubleiben. Unser Kinderarzt versucht uns beizubringen, dass Magnus es offensichtlich nicht schaffen wird. Die Therapie mit DaunoXome scheint bei ihm nicht anzusprechen, und in seinem Verhalten kann er sehen, dass Magnus sich bereits von uns verabschiedet. Ganz daheim Wir entscheiden uns, die Stentimplantation nicht durchzuführen und fahren wieder nach Hause. Wir wissen jetzt auch, dass wir im Falle eines weiteren Atemstillstands keine künstliche Beatmung wollen. Mit den Klassenlehrern der Geschwister besprechen wir unsere Situation, sie lassen uns freie Hand, ob wir die Kinder zur Schule schicken oder nicht. Die beiden entscheiden selbst, manchmal WIR 2/2004 ERFAHRUNGSBERICHTE haben sie das Bedürfnis in die Schule zu gehen, meist sind sie zuhause bei Magnus. Er ist unendlich tapfer, hält durch für uns. Wir bereiten ihn darauf vor, dass er möglicherweise nicht wieder gesund wird. Nach unserem jahrelangen Kampf um sein Leben fällt es unendlich schwer, ihn loszulassen. Und dennoch müssen wir ihm sagen, dass er gehen kann, wenn der liebe Gott ihn ruft. Damit er nicht weiter wegen uns kämpfen muss. Auch Leon und Britt müssen wir vorbereiten, nichts verheimlichen. Auch sie sollen Gelegenheit haben, sich von ihrem Bruder zu verabschieden. Die Nächte sind anstrengend, er schläft kaum, atmet schwer. In der Woche darauf hat Magnus nochmals zwei Atemstillstände, ist bewusstlos. Vielleicht darf er schon sehen, dass es dort, wo er hinkommt, viel schöner für ihn ist als hier. Danach ist er wieder voll da, ohne Einschränkungen. Er mag kaum mehr essen und trinken, bleibt auch mal lieber im Bett. Zur Erleichterung der Atmung inhalieren wir immer wieder. Einmal sagt er: Der 21. ist ein blöder Tag. Ich kann nicht mehr warten. Das Christkind schaut bei uns schon am 20. Dezember vorbei, es ist dieses Jahr schon ein bisschen früher dran. Alle materiellen Wünsche gehen in Erfüllung. Nur die materiellen. Bescherung am Nachmittag, das Christkind bringt ihm den gewünschten Wecker, damit er immer pünktlich zur Schule kommt. Papa packt für ihn die Geschenke aus. Er schaut zu, danach möchte er sich wieder hinlegen. Am Abend schluckt er tapfer eine Magensonde, durch die er wenigstens noch etwas an Nahrung bekommt. Am nächsten Morgen wünscht sich Magnus zum Frühstück Crêpes mit Zimt und Zucker, die von Mallorca. Magnus braucht jetzt ständig Sauerstoff. Mein Büromitarbeiter verabschiedet sich in den Weihnachtsurlaub, besucht Magnus und besorgt ihm die Mohrenköpfe, die er gerne essen würde. Magnus’ Patentante kommt vorbei, um ihm sein Weihnachtsgeschenk zu bringen. Aber eigentlich hätte er auch gerne Schokocroissants. Die kleinen. Wir fragen in allen Läden nach, mein Mitarbeiter macht sie ausfindig und bringt sie ihm. Er freut sich, aber er möchte sie lieber erst morgen essen. Am Abend verabschiedet sich Magnus. Er hat entschieden, dass es jetzt Zeit ist zu gehen. Es ist genug. Seinen geliebten Mumu wirft er weit von sich, nimmt die Sauerstoffbrille vom Gesicht und zieht sich die Magensonde heraus. Wir sind bei ihm, beten zusammen. Er wartet auf meinem Arm, bis seine Geschwister auch da sind. Und hört einfach auf zu atmen, ohne Angst oder Atemnot. Ganz friedlich. Magnus fehlt uns so sehr mit seiner Liebe, seinem Lachen und seiner Lebensfreude. Doch trotz unseres unendlichen Schmerzes sind wir stolz auf unseren Sohn, mit wieviel Kraft er dieses schwere Leben gemeistert und mit welcher Würde er es beendet hat. Und er hat uns wissen lassen, dass es ihm jetzt gut geht, und wir uns keine Sorgen um ihn machen müssen. Bitte, lieber Gott, pass gut auf ihn auf! Birgit Abrecht Magnus’ Mama Eine Kurz-Information zum Thema „Desmoid-Tumor“ kann beim DLFH-Büro bestellt oder als PDF-Datei von der Homepage www.kinderkrebsstiftung.de geladen werden. WIR 2/2004