Ermittlung von Störfallbeurteilungswerten für kanzerogene

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Ermittlung von Störfallbeurteilungswerten für kanzerogene Stoffe –
Fortsetzung 3
GESAMTBERICHT
Gutachten erstellt im Auftrag des
Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen
Recklinghausen
Forschungs- und Beratungsinstitut
Gefahrstoffe GmbH
Werthmannstraße 16 • 79098 Freiburg
Bearbeitung:
Dr. Martin Hassauer,
Dr. Ulrike Schuhmacher-Wolz,
Dr. Fritz Kalberlah
Freiburg, März 2009
2
3
Inhalt
Zusammenfassung
1,2-Dibromethan
Benzotrichlorid
Acrylnitril
4
Zusammenfassung
Im vorliegenden Projekt wurden Störfallbeurteilungswerte für nichtkanzerogene
Effekte, wie sie z.B. als AEGL-Werte („acute exposure guideline levels“) etabliert
sind, bei drei Stoffen einem rechnerischen stoffspezifischen Krebsrisiko von 1:10000
nach Einmalexposition gegenübergestellt. Damit wird es möglich zu entscheiden, ob
zur Vermeidung ernster Gesundheitsgefahren möglicherweise bereits unterhalb des
AEGL-2- Niveaus (Vermeidung nichtkanzerogener irreversibler Schäden und
Vermeidung einer Fluchtbehinderung) wegen einer krebserzeugenden Wirkung
Handlungsbedarf im Störfall besteht. Es handelt sich bei diesen drei Substanzen um
1,2-Dibromethan, Benzotrichlorid und Acrylnitril. Die Substanzen wurden in einer
vorgeschalteten Machbarkeitsstudie aus einer Liste des Landesamts für Natur,
Umwelt und Verbraucherschutz, Nordrhein-Westfalen (LANUV) selektiert. Dabei
wurden Prioritäten des LANUV ebenso berücksichtigt wie die Datenlage, die die
Quantifizierung des Risikos ermöglichen sollte. Die Methodik wurde unverändert aus
Vorgängerprojekten übernommen. Dieses dritte Projekt wurde in der Zeit von
September 2008 bis Ende Februar 2009 durch das Forschungs- und
Beratungsinstitut Gefahrstoffe GmbH (FoBiG) durchgeführt und mit einer
Präsentation der Ergebnisse am 18. März 2009 abgeschlossen.
1,2-Dibromethan
Stoffcharakterisierung
1,2-Dibromethan (DBE; CAS: 106-93-4) ist eine leichtflüchtige Flüssigkeit mit einem
süßlichen, chloroformähnlichen Geruch. DBE reizt in dampfförmigem oder flüssigem
Zustand die Schleimhäute der Augen, oberen Atemwege und gegebenenfalls auch
der Haut. Die Substanz wurde von verschiedenen Organisationen als wahrscheinlich
für den Menschen krebserregend eingestuft (EU: Kanzerogen Kategorie 2). DBE
wurde nicht hinsichtlich Keimzell-Mutagenität und Reproduktionstoxizität eingestuft.
Daten zur Kanzerogenität
Die Ergebnisse einer Langzeitinhalationsstudie an Fischer 344 Ratten (NTP, 1982)
belegen die krebserzeugende Wirkung von DBE. Die Tiere wurden gegen 0, 10 oder
40 ppm DBE (0, 78 oder 313 mg/m3; 6 h/d, 5 d/w, bis zu 106 Wochen) exponiert. Bei
den männlichen und weiblichen Tieren der höchsten Dosisgruppe trat eine erhöhte
Mortalität auf, so dass die Exposition in diesen Gruppen vorzeitig beendet werden
musste. In der Kontroll- und niedrigen Dosisgruppe war die Überlebensdauer
vergleichbar. Bei beiden Geschlechtern war die Inzidenz der Karzinome,
Adenokarzinome und Adenome der Nasenhöhe und der Haemangiosarkome des
Kreislaufsystems zum Teil bereits in der niedrigen Dosisgruppe signifikant erhöht.
Bei männlichen Tieren traten weiterhin Mesotheliome der Tunica Vaginalis auf, bei
weiblichen Tieren wurden Fibroadenome der Mamma sowie alveoläre und
bronchioläre Lungenadenome und –karzinome beobachtet.
Vergleichbare Ergebnisse wurden in einer Kanzerogenitätsstudie mit B6C3F1Mäusen, die lebenslang gegen 0, 10 oder 40 ppm DBE exponiert wurden, erzielt. Es
traten alveoläre und bronchioläre Adenome und Karzinome (Männchen und
5
Weibchen), sowie bei den Weibchen Haemangiosarkome des Kreislaufsystems,
Fibrosarkome im subkutanen Gewebe, Nasenhöhlenkarzinome und Adenokarzinome
der Mamma auf.
Die krebserzeugende Wirkung des DBE wurde in weiteren Inhalationsstudien und in
Untersuchungen mit oraler und dermaler Applikation bestätigt.
Vorliegende Humanstudien lassen meist auf Grund von Mängeln bei den
Expositionsdaten keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu.
Daten zur Gentoxizität
DBE erwies sich in allen getesteten in vitro Systemen als gentoxisch: DBE ist ein
direkt wirksames Mutagen in Bakterien. In Säugerzellen induziert DBE Mutationen,
Chromosomenaberrationen, Schwesterchromatidaustausche, DNA-Strangbrüche,
Cross-links, außerplanmäßige DNA-Synthese und Zelltransformationen. In vivo
traten DNA-Strangbrüche und Cross-links auf, aber keine Induktion von
Chromosomenaberrationen und Mikrokernen. DBE bindet in vitro und in vivo an die
DNA, RNA und Proteine. Bei vergleichbarer Exposition weisen Ratten 4-5-fach
höhere DNA-Adduktlevel auf als Mäuse.
Krebserzeugende Potenz bei Einmalexposition
Die Berechnungen zur krebserzeugenden Wirkung bei Einmalexposition wurden mit
Hilfe der T25 Methode (Berechnung der Dosis, die zu einer Tumorinzidenz von 25%
führt) auf Basis der Kanzerogenitätsstudie an Ratten (NTP, 1982) durchgeführt. Bei
der Berechnung wurden humanäquivalente Konzentrationen und unter
Berücksichtigung der nicht lebenslangen Expositions-/Beobachtungszeit adjustierte
Inzidenzen zu Grunde gelegt. Bei der Berechnung der Kanzerogenität nach
Kurzzeitexposition
auf
Basis
der
chronischen
Studie
wurde
der
Standardunsicherheitsfaktor 6 verwendet. Die numerischen Ergebnisse sind in der
Tabelle unten dargestellt.
Betrachtungen zur krebserzeugenden Wirkung von DBE bei Kurzzeitexposition im
Rahmen der AEGL-Wert Ableitung wurden nach der Standardmethode des National
Research Councils und unter Berücksichtigung des von der amerikanischen
Umweltbehörde EPA auf Basis der Langzeitinhalationsstudie an Ratten (NTP, 1982)
abgeleiteten Unit Risks (6 x 10-4 pro µg/m3) durchgeführt. Die sich daraus
ergebenden Werte für ein zusätzliches Krebsrisiko von 1:10000 (siehe unten) sind
um ca. den Faktor 2 niedriger als die im Rahmen dieser Arbeit abgeleiteten Werte
mit Hilfe der T25 Methode.
AEGL-Werte
Im Rahmen der Aktivitäten des National Advisory Committee for Acute Exposure
Guideline Levels for Hazardous Substances (NAC/AEGL Committee) wurden auf
Basis der nicht-kanzerogenen Wirkungen AEGL-Werte für DBE abgeleitet. Die in der
nachfolgenden Tabelle berichteten Werte wurden anhand von Inhalationsstudien an
der Ratte abgeleitet („proposed“ Status; TECHNICAL SUPPORT DOCUMENT vom
13.07.2007). AEGL-1 Werte wurden auf Basis der Konzentration, die bei bis zu 7stündiger Exposition noch nicht zu adversen Effekten führte, abgeleitet.
6
Lebertoxische Effekte waren ausschlaggebend für die AEGL-2 Werte und die
höchste nicht letale Expositionskonzentration für die AEGL-3 Werte.
Zeitpunkt
10-min
30-min
1-h
4-h
8-h
AEGL-1 (ppm)
52
26
17
7,1
4,6
AEGL-2 (ppm)
73
37
24
10
6,5
AEGL-3 (ppm)
170
76
46
17
10
Vergleich kanzerogene Potenz nach Einmalexposition vs. AEGL-Werte
Der Vergleich der AEGL-2 Werte mit den Störfallbeurteilungswerten, die auf Basis
der kanzerogenen Wirkung des DBE auf Basis des von der EPA ermittelten Unit
Risk oder des T25-Verfahrens abgeleitet wurden, zeigt, dass die AEGL-2 Werte (und
auch die AEGL-1 Werte) ca. eine Größenordnung über den kalkulierten Werten für
ein Risiko von 1:10000 liegen.
Zeitpunkt
AEGL-2
Zusätzliches Krebsrisiko 1:10.000
8 Stunden
4 Stunden
1 Stunde
(nicht kanzeroKalkuliert nach NTP (1982)
gener Endpunkt) unter Verwendung des
Unit Risk*
6,5 ppm
0,27 ppm
10 ppm
0,55 ppm
24 ppm
2,2 ppm
Kalkuliert nach NTP
(1982) unter Verwendung der T25 Methode**
0,53 ppm
1,06 ppm
4,25 ppm
* Ableitung im Rahmen der AEGL-Ableitung
** Ableitung im Rahmen dieser Arbeit
Schlussfolgerungen
Eine Beurteilung der Störfallsituation auf Basis einer chronischen Studie ist mit
großen
Unsicherheiten
behaftet.
Der
in
beiden
Fällen
verwendete
Standardextrapolationsfaktor 6 ist möglicherweise zu hoch, da z.B. Effekte in einer
subchronischen Studie, die bei Konzentrationen auftraten, die in der Langzeitstudie
kanzerogen waren, bei ausreichender Nachbeobachtungsdauer reversibel waren.
Berücksichtigt man weiterhin,
•
dass der NOAEL in der 13-Wochen-Inhalationsstudie mit Ratten bei 3 ppm lag
und somit fast identisch ist mit dem 8-Stunden Störfallwert unter Berücksichtigung kanzerogener Effekte bei einem Risiko von 1:10000, und
•
dass die Effekte, die nach einwöchiger Exposition gegen 10 ppm DBE aufgetreten sind, vollständig reversibel waren,
so kann plausibel angenommen werden, dass die vorliegende Berechnung zu Störfallbeurteilungswerten sehr konservativ ist und vermutlich unter Einhaltung der
AEGL-2 Werte auch ein ausreichender Schutz vor kanzerogenen Effekten besteht.
7
Benzotrichlorid
Stoffcharakterisierung
Benzotrichlorid (CAS: 98-07-7) ist eine farblose bis gelbliche ölige Flüssigkeit mit
einem stechenden Geruch. Die Substanz ist für die Haut und Schleimhäute stark
reizend. Die Substanz wurde von verschiedenen Organisationen als wahrscheinlich
für den Menschen krebserregend eingestuft (EU: Kanzerogen Kategorie 2).
Benzotrichlorid wurde nicht hinsichtlich Keimzell-Mutagenität und Reproduktionstoxizität eingestuft.
Daten zur Kanzerogenität
Es liegen keine aussagekräftigen Studien am Menschen vor, bei denen eine alleinige
Exposition gegen Benzotrichlorid bestand.
In Tierversuchen mit epikutaner, intragastraler, intraperitonealer und inhalativer
Applikation erwies sich Benzotrichlorid als eindeutig krebserzeugend. Neben dem
Auftreten lokaler Tumore wurden auch Tumore nach systemischer Verteilung der
Substanz beobachtet.
In einer chronischen Inhalationsstudie an weiblichen Sprague-Dawley Ratten, die
gegen 0, 0,1, 0,4, 1 und 2 ppm Benzotrichlorid (0, 0,8, 3,2, 8,0 und 16,0 mg/m3)
exponiert wurden (6 h/d, 5 d/w, 104 Wochen), wurde bei Konzentrationen ≥ 0,4 ppm
eine gegenüber der Kontrollgruppe erhöhte Mortalität beobachtet. Todesursachen
waren Tumore sowie Begleiterkrankungen, Lungenentzündungen und spontane
Erkrankungen. Bei den Tieren der verschiedenen Dosisgruppen traten
Atemwegstumore (12-92%) und Nasentumore (28-64%) auf. Neben Tumoren des
Atemtrakts wurden vor allem Tumore der Haut und des äußeren Gehörgangs
beobachtet (Fukuda und Takemoto, 1980, 1984a, b).
Männliche ICR Mäuse wurden über 5 Monate gegen 6,7 ppm (30 Minuten an 2
Tagen pro Woche) exponiert, die Nachbeobachtungszeit betrug 1-5 Monate, in der
Kontrollgruppe 12 Monate. Bei den exponierten Tieren wurde eine erhöhte Mortalität
und ein insgesamt schlechter Gesundheitszustand beobachtet. Sie wiesen eine
gegenüber
den
Kontrolltieren
signifikant
erhöhte
Tumorinzidenz
auf
(Lungenadenome und –karzinome, Hautpapillome und –karzinome, maligne
Lymphome). Weiterhin wurden bei den Tieren schwere Lungenerkrankungen, Hautund Organschädigungen festgestellt (Yoshimura et al., 1979; 1986).
Daten zur Gentoxizität
Benzotrichlorid ist nach metabolischer Aktivierung mutagen im Ames Test.
Weiterhin traten in vitro DNA-Strangbrüche und die Induktion von Mikrokernen auf. In
vivo wurde die Induktion von Chromosomenaberrationen, Mikrokernen und
Schwesterchromatidaustauschen beobachtet.
8
Krebserzeugende Potenz bei Einmalexposition
Die Berechnungen zur krebserzeugenden Wirkung bei Einmalexposition wurden mit
Hilfe der T25 Methode vergleichend auf Basis der Langzeitinhalationsstudie an
Ratten (Fukuda und Takemoto, 1980, 1984a, b) und auf Basis der subchronischen
Inhalationsstudie an Mäusen (Yoshimura et al., 1979; 1986) durchgeführt. Die
Berechnung anhand der Langzeitinhalationsstudie an Ratten erfolgte nach der
Standardmethode des NRC (2001). Bei der Benzotrichlorid vermittelten
Krebsentstehung kommt der Expositionskonzentration wahrscheinlich eine stärkere
Bedeutung als der Expositionsdauer zu. Deshalb wurde bei der Kalkulation des
Krebsrisikos bei Kurzzeitexposition auf die Verwendung eines Unsicherheitsfaktors
verzichtet. Die sich aus beiden Verfahren ergebenden Werte sind numerisch fast
identisch und sind in der unten stehenden Tabelle dargestellt.
AEGL-Werte
Bislang wurden im Rahmen der Arbeiten des NAC/AEGL Committee keine AEGLWerte auf Basis der nicht-kanzerogenen Wirkungen von Benzotrichlorid abgeleitet,
weshalb im Rahmen dieser Arbeit vorläufige AEGL Werte berechnet wurden. Auf
Grund des Fehlens geeigneter Daten wurde auf die Ableitung von AEGL-1 Werten
verzichtet. Die Ableitung der AEGL-2 Werte erfolgte auf Basis der Daten für den
AEGL-3. AEGL-2 Werte wurden als AEGL-3/3 ermittelt. AEGL-3 Werte wurden
anhand der Daten einer Inhalationsstudie an Ratten ermittelt. Als Ausgangspunkt für
die Berechnungen diente die Expositionskonzentration bei Einmalexposition, die
nicht zu Letalität aber der Einschränkung der Fähigkeit zur Flucht führte.
Zeitpunkt
10-min
30-min
1-h
4-h
8-h
AEGL-1 (ppm)
nicht abgeleitet
nicht abgeleitet
nicht abgeleitet
nicht abgeleitet
nicht abgeleitet
AEGL-2 (ppm)
nicht abgeleitet
1,4 ppm
1,1 ppm
0,28 ppm
0,14 ppm
AEGL-3 (ppm)
nicht abgeleitet
4,25 ppm
3,3 ppm
0,84 ppm
0,43 ppm
Vergleich kanzerogene Potenz nach Einmalexposition vs. AEGL-Werte
Die abgeleiteten Störfallbeurteilungswerte auf Basis der krebserzeugenden Wirkung
sind numerisch praktisch identisch mit den AEGL-2 Werten.
Zeitpunkt
AEGL-2
Zusätzliches Krebsrisiko 1:10.000
8 Stunden
4 Stunden
1 Stunde
(nicht kanzeroge- T25 Methode, chronische T25 Methode,
ner Endpunkt)
Studie (Fukuda und
subchronische Studie
Takemoto, 1980, 1984a, b) (Yoshimura et al., 1979,
1986)
0,14 ppm
0,12 ppm
0,16
0,28 ppm
0,24ppm
0,32
1,1 ppm
0,96 ppm
1,3
9
Schlussfolgerungen
Die Störfallbeurteilungswerte auf Basis der krebserzeugenden Wirkung sind
praktisch identisch mit den AEGL-2 Werten. Die ausgewiesenen Störfallbeurteilungswerte auf Basis der krebserzeugenden Wirkung sind insgesamt als eher konservativ
einzustufen: Bei den Berechnungen wurden die tatsächlichen Expositionskonzentrationen auf (niedrigere) kontinuierliche Expositionskonzentrationen umgerechnet.
Der Einfluss der Konzentration auf die Tumorentstehung, vermittelt durch eine
Reizreaktion, wird dadurch möglicherweise überschätzt. Diese Interpretation wird
durch die Beobachtung gestützt, dass eine 1 und 3 monatige Exposition (6 h/d, 5
d/w) von Ratten gegen 1 ppm, also der Konzentration die rechnerisch zu einem
zusätzlichen Krebsrisiko von 1:10000 bei einstündiger Exposition führen würde,
während der Expositionszeit der Tiere nicht zu neoplastischen Veränderungen oder
Tumoren. Es kann deshalb plausibel angenommen werden, dass bei Einhaltung der
AEGL-2 Werte auch ein ausreichender Schutz vor der krebserzeugenden Wirkung
bei kurzzeitiger Exposition besteht.
Acrylnitril
Stoffcharakterisierung
Acrylnitril (AN) ist eine leichtflüchtige, farblose Flüssigkeit mit einem schwach
stechenden Geruch. AN wird hauptsächlich zur Produktion von Acrylfasern,
synthetischem Kautschuk und anderen Kunststoffen verwendet. AN reizt Haut und
Atemwege, kann ernste Augenschäden verursachen und wirkt sensibilisierend.
Daten zur Kanzerogenität
In tierexperimentelle Untersuchungen wirkte AN nach inhalativer und oraler
Exposition kanzerogen. Die Substanz wurde von verschiedenen Organisationen als
wahrscheinlich für den Menschen krebserregend eingestuft.
Die zentrale Studie zur Bewertung der Kanzerogenität stellt die Arbeit von Quast et
al. (1980) dar, bei der nach inhalativer Exposition über 2 Jahre gegen 0, 20 und 80
ppm (0, 44 und 176 mg/m3) vermehrt Gliazelltumore (Astrozytome) und
Zymbaldrüsentumore (beide Geschlechter); Brustdrüsenadenokarzinome (Weibchen)
sowie Dünndarmtumore und Plattenepithelzelltumore der Zunge (Männchen)
auftraten.
Die vorliegenden Humanstudien liefern Verdachtsmomente für einen Zusammenhang zwischen AN-Exposition und dem vermehrten Auftreten von Lungenkrebs,
jedoch ist die Evidenz aus epidemiologischen Studien unzureichend. Allerdings
stehen die beobachteten Inzidenzen in den Tierstudien quantitativ in Einklang mit
den beobachteten Tumorhäufigkeiten beim Menschen.
10
Daten zur Gentoxizität
AN wirkte in einer Vielzahl von in vitro-Testsystemen schwach gentoxisch,
insbesondere nach metabolischer Aktivierung, während die in vivo-Befunde in
Versuchstieren zumeist negativ waren. Humanbefunde ergeben Verdachtsmomente
auf gentoxische Wirkung.
Krebserzeugende Potenz bei Einmalexposition
Mangels geeigneter Kurzzeitdaten wurden auf Basis der Gehirntumore in der
chronischen Studie von Quast et al. mittels linearer Verfahren für Kurzzeitexposition
folgende Konzentrationen abgeschätzt, welche mit einem Risiko von 1:10000
assoziiert sind. Auf Basis des unit risk (Risiko pro µg/m3) bzw. der T25
(Konzentration, die mit 25% Tumorinzidenz korreliert) resultierten folgende
Abschätzungen:
8 h: 72-132 ppm
4 h: 144-264 ppm
1 h: 576-1056 ppm
AEGL-Werte
Im Rahmen der Aktivitäten des National Advisory Committee for Acute Exposure
Guideline Levels for Hazardous Substances (NAC/AEGL Committee) wurden auf
Basis der nicht-kanzerogenen Wirkungen AEGL-Werte für AN abgeleitet („proposed“
Status; TECHNICAL SUPPORT DOCUMENT vom Juli 2007).
Zeitpunkt
10 min
30 min
1h
4h
8h
AEGL-1 (ppm)
4,6
4,6
4,6
4,6
4,6
AEGL-2 (ppm)
290
110
57
16
8,6
AEGL-3 (ppm)
480
180
100
35
19
Der AEGL-1 Wert stellt eine Konzentration ohne Effekte in einer Freiwilligenstudie
dar, gestützt durch Befunde an Berufstätigen. Die AEGL-2-Werte basieren auf Daten
zur Reizwirkung in einer Tierstudie unter Berücksichtigung von Sicherheitsfaktoren.
Die AEGL-3 Werte wurden anhand von Letalitätsdaten bei Tieren abgeleitet. Alle
AEGL-Werte befinden sich im „proposed status“ und sind noch nicht finalisiert.
Vergleich kanzerogene Potenz nach Einmalexposition vs. AEGL-Werte
Vergleich der Störfallbeurteilungswerte
kanzerogener Endpunkte:
auf
Basis
kanzerogener
und
nicht-
11
Zeitpunkt
AEGL-2
Zusätzliches Krebsrisiko 1:10.000
Kalkuliert nach unter
Verwendung des unit risk
Kalkuliert unter Verwendung
der T25
8 Stunden
4 Stunden
1 Stunde
(nicht kanzerogener
Endpunkt)
8,6 ppm
16 ppm
57 ppm
72 ppm
144 ppm
576 ppm
132 ppm
264 ppm
1056 ppm
Schlussfolgerungen
Die Gentoxizitätsdaten sprechen für eine schwache gentoxische Aktivität in vitro. In
vivo wurden überwiegend negative Befunde erhalten, wenn auch bei beschränkter
Datenlage. Für die DNA-schädigende Wirkung wird der oxidativ gebildete Metabolit
Cyanoethylenoxid verantwortlich gemacht.
Es liegen keine Studien vor, in denen die krebserzeugende Wirkung nach kurzer Expositionszeit untersucht wurde. Gentoxische Effekte wurden bereits nach einmaliger
Exposition berichtet. Dies begründet die Ableitung von Störfallbeurteilungswerten auf
Basis der kanzerogenen Wirkung. Im Bezug auf die Kanzerogenese im Gehirn von
Ratten wird ein indirekter gentoxischer Mechanismus vermutet, welcher auf indirekter
DNA-Schädigung infolge von oxidativem Stress der Zellen beruht.
Rechnerisch liegen die Störfallbeurteilungswerte auf Basis von Kanzerogenitätsdaten
oberhalb der AEGL-2 (und der AEGL-1) Werte für nichtkanzerogene Effekte, was die
relativ niedrige kanzerogene Aktivität bei hohen Expositionskonzentrationen
widerspiegelt. Je nach verwendeter Methode (ausgehend vom unit risk oder mittels
T25) unterscheiden sich die Werte nur um etwa den Faktor 2.
Eine Beurteilung der Störfallsituation auf Basis einer chronischen Studie ist mit
großen Unsicherheiten behaftet. Es wurde der Standardfaktor 6 zur Berücksichtigung
der Unsicherheiten bei der Extrapolation von der chronischen auf die akute Situation
angewendet. Dieser Faktor ist möglicherweise zu hoch, wenn man berücksichtigt,
dass in Langzeitstudien erste Tumore erst nach 7-12 Monaten beobachtet wurden,
die Gentoxizität offensichtlich nur schwach ausgeprägt ist und weitere, indirekt
gentoxische Mechanismen der Kanzerogenese relevant sein dürften.
Unter diesen Aspekten kann plausibel angenommen werden, dass die vorliegenden
Störfallbeurteilungswerte ausreichend Schutz vor kanzerogenen Effekten bieten.
Ermittlung von Störfallbeurteilungswerten für kanzerogene Stoffe –
Fortsetzung 3
Teilbericht: Stoffbeispiel 1,2-Dibromethan
Gutachten erstellt im Auftrag des
Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen
Recklinghausen
Forschungs- und Beratungsinstitut
Gefahrstoffe GmbH
Werthmannstraße 16 • 79098 Freiburg
Bearbeitung:
Dr. Fritz Kalberlah
Dr. Ulrike Schuhmacher-Wolz
Jan Oltmanns, MSc
Freiburg, März 2009
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
2
1
Stoffbeispiel 1,2-Dibromethan
1.1
Stoffspezifische Daten
1,2-Dibromethan (synonym: Ethylendibromid, Ethylenbromid, DBE) ist eine leichtflüchtige Flüssigkeit mit einem süßlichen, chloroformähnlichen Geruch (BUA, 1991).
DBE reizt in dampfförmigem oder flüssigem Zustand die Schleimhäute der Augen,
oberen Atemwege und gegebenenfalls auch der Haut (Henschler, 1976/77). Die Substanz wurde von verschiedenen Organisationen als wahrscheinlich für den Menschen krebserregend eingestuft.
Organisation
Kanzerogenität
Kategorie
EU
2
DFG (MAK)
2
WHO/IARC
2A
EPA
„likely to be carcinogenic to humans“
DBE wurde nicht hinsichtlich Keimzell-Mutagenität und Reproduktionstoxizität eingestuft.
Für die Umrechnung von mg/m3 in ppm gilt: 1 mg/m3 = 0,128 ppm (BUA, 1991;
Henschler, 1976/77).
Die humantoxischen Wirkungen der Substanz sind nach Anhang VI der Verordnung
1272/2008/EC mit folgenden R-Sätzen zu kennzeichnen:
R45: Kann Krebs erzeugen.
R23/24/25: Giftig beim Einatmen, Verschlucken und Berühren der Haut
R36/37/38: Reizt die Augen, Atmungsorgane und die Haut
1.1.1
Kanzerogenität
Die wenigen vorliegenden Humanstudien lassen auf Grund der fehlenden statistischen Power oder unzureichender Daten zur Exposition keine eindeutige Aussage
zu (IARC, 1999: „inadequate evidence in humans“). In Tierversuchen konnte eine
krebserzeugende Wirkung eindeutig nachgewiesen werden (IARC, 1999: „sufficient
evidence in experimental animals“). Auf Grund der Beobachtungen zur Gentoxizität
(vgl. Abschnitt 1.1.2) handelt es sich bei DBE offensichtlich um ein gentoxisches
Kanzerogen.
1.1.1.1
Humandaten
Untersuchungen an Arbeitern der chemischen Industrie, die gegen verschiedene
Chemikalien, unter anderem DBE, exponiert waren, gaben keine Hinweise auf eine
signifikant erhöhte Krebsmortalität. Auch Untersuchungen an Arbeitern von Getreidemühlen in den USA, in denen unter anderem DBE als Begasungsmittel eingesetzt
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
3
wurde, lassen keine eindeutigen Schlüsse zu: Zwar wurden in einer Studie eine signifikant erhöhte Mortalität durch Non-Hodgkin Lymphome und Bauchspeicheldrüsenkrebs beobachtet, es liegen jedoch keine verlässlichen Expositionsdaten vor (IARC,
1999).
1.1.1.2
Tierdaten
Inhalation
In einer 2-Jahresinhalationsstudie wurden B6C3F1-Mäuse gegen 0, 10 oder 40 ppm
DBE (0, 78 oder 313 mg/m3) für 78-106 Wochen exponiert. Alle männlichen Tiere der
behandelten und Kontrollgruppen mussten wegen hoher Mortalität vorzeitig nach 78
Wochen getötet werden (Todesursache meist: aufsteigende eitrige Harnwegsinfekte,
nekrotische und ulzerative Läsionen der Harnöffnung, aufsteigende Pyelonephritis).
Bei den exponierten Tieren beiderlei Geschlechts war eine dosisabhängig erhöhte Inzidenz alveolärer und bronchiolärer Adenome und Karzinome. Bei den weiblichen
Tieren waren weiterhin Haemangiosarkome des Kreislaufsystems, Fibrosarkome im
subkutanen Gewebe, Nasenhöhlenkarzinome und Adenokarzinome der Mamma
(letztere nicht dosisabhängig) signifikant erhöht (NTP, 1982).
DBE induzierte Lungentumore (Adenome) in allen AJ-Mäusen, die gegen 20 oder 50
ppm DBE über 6 Monate (6 h/d, 5 d/w) exponiert wurden (Adkins et al., 1986).
Parallel zu der Studie an B6C3F1-Mäusen wurden auch Fischer 344 Ratten untersucht (NTP, 1982). Die Tiere wurden für 6 Stunden/Tag an 5 Tagen/Woche über 88106 Wochen gegen 0, 10 oder 40 ppm (0, 78 oder 313 mg/m3) exponiert (Ganzkörperexposition). Bei den männlichen und weiblichen Tieren der höchsten Dosisgruppe
trat eine erhöhte Mortalität auf (ca. 90% bzw. 84%, respektiv), so dass die Exposition
in diesen Gruppen vorzeitig beendet werden musste (nach 88 Wochen bei Männchen und nach 91 Wochen bei Weibchen). In der Kontroll- und niedrigen Dosisgruppe war die Überlebensdauer vergleichbar. Bei beiden Geschlechtern war die Inzidenz der Karzinome, Adenokarzinome und Adenome der Nasenhöhe und der Haemangiosarkome des Kreislaufsystems zum Teil bereits in der niedrigen Dosisgruppe
signifikant erhöht (siehe Tabelle 1-1). Bei männlichen Tieren der höchsten Dosisgruppe traten Nasentumore bereits nach 43 Wochen (adenomatöse Polypen) auf.
Nasenkarzinome waren erstmals nach 56 Wochen sichtbar. Bei männlichen Tieren
traten daneben Mesotheliome der Tunica Vaginalis auf. Bei den weiblichen Tieren
wurden weiterhin Fibroadenome der Mamma sowie alveoläre und bronchioläre Lungenadenome und –karzinome beobachtet.
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
Tabelle 1-1
4
Tumorinzidenz bei Ratten, die chronisch inhalativ gegen Dibromethan exponiert wurden (Daten aus NTP, 1982)
Tumortyp
Männliche Tiere
Weibliche Tiere
0 ppm
10 ppm
40 ppm
0 ppm
10 ppm
40 ppm
Adenome
0/50
11/50**
0/50
0/50
11/50
3/50
Karzinome
0/50
0/50
21/50**
0/50
0/50
25/50**
Adenokarzinome
0/50
20/50**
28/50**
0/50
20/50**
29/50**
0/50
39/50**
41/50**
1/50
34/50**
43/50**
0/50
1/50
15/50**
0/50
0/50
5/50*
0/50
7/50**
25/50**
4/50
29/50**
24/50**
0/50
0/48
5/47*
Nasenhöhle
Nasentumore
insgesamt a
Kreislaufsystem
Haemangiosarkome
Tunica Vaginalis
Mesotheliome
Brustdrüse
Fibroadenome
Lunge
(Alveolär/bronchioloär)
Adenome und
Karzinome
* p< 0,05; ** p ≤ 0,001
a: Adenome, Adenokarzinome, papilläre Adenome, Plattenepithelzelladenome / -karzinome
In einer weiteren Langzeitinhalationsstudie an Sprague-Dawley Ratten, die gegen 0
oder 20 ppm DBE für 18 Monate exponiert wurden (7 h/d, 5 d/w) wurde eine erhöhte
Mortalität bei den behandelten Tieren beobachtet. Signifikant erhöht war bei beiden
Geschlechtern die Inzidenz der Haemangiosarkome der Milz, der Nebennierentumore, bei den Weibchen die Inzidenz der Mammatumore und bei den Männchen die
Inzidenz der subkutanen mesenchymalen Tumore (Wong et al., 1982). Die Nasenhöhle wurde in dieser Studie nicht untersucht.
Andere Pfade
In einer Untersuchung des NCI (1978) wurde die kanzerogene Wirkung von DBE
nach oraler Gabe an B6C3F1-Mäusen getestet. Die Tiere wurden an 5 Tagen die
Woche über 53 Wochen exponiert (durchschnittlich 62 und 107 mg/kg · d) und für
weitere 24-37 Wochen beobachtet. Bei beiden Geschlechtern traten Vormagentumore (Plattenepithelzellkarzinome) und alveoläre/bronchioläre Adenome auf. Die Inzidenzen waren in den behandelten Tieren jeweils deutlich gegenüber den Kontrolltieren erhöht, jedoch ohne klare Dosis-Wirkungsbeziehung.
In einer Trinkwasserstudie an B6C3F1-Mäusen (Männchen: 116 mg/kg · d; Weibchen 103 mg/kg · d über 450 Tage) wurden bei den exponierten Tieren vor allem
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
5
Plattenepithelzellkarzinome des Vormagens und vereinzelt
papillome der Speiseröhre beobachtet (van Duuren et al., 1985).
Plattenepithelzell-
Auch in einer Fütterungsstudie an Ratten (Männchen: 38 oder 41 mg/kg · d; Weibchen: 37 oder 39 mg/kg · d; 36 bis 57 Wochen Exposition, 5 Tage/Woche, 2-13 Wochen Nachbeobachtungszeit) war bei den exponierten Tieren eine gegenüber den
Kontrollen signifikant erhöhte Inzidenz an Plattenepithelzellkarzinomen des Vormagens zu beobachten. Diese traten bereits nach 12 Wochen auf. Bei den Männchen
traten außerdem Hämangiosarkome der Milz auf (statistisch signifikant nur in der
niedrigen Dosisgruppe) (NCI, 1978).
Swiss-Mäuse, denen dreimal wöchentlich 25 oder 50 mg DBE/Tier auf die rasierte
Rückenhaut aufgetragen wurde, entwickelten Hauttumore (Papillome). Diese waren
in der höchsten Dosisgruppe statistisch signifikant erhöht (8/30). Weiterhin war bei
den exponierten Tieren die Inzidenz an papillären Lungenadenomen statistisch signifikant erhöht (24/30 und 26/30 bei 25 und 50 mg) (Van Duuren et al., 1979).
1.1.2
Gentoxizität
Humandaten
In zwei unterschiedlichen Studien an Arbeitern, die inhalative gegen DBE-Konzentrationen von durchschnittlich 0,46 mg/m3 oder 0,12-1,35 mg/mg3 (in der zweiten Studie
wurden Arbeiter aus sechs verschiedenen Fabriken untersucht) exponiert waren, war
gegenüber den Kontrollgruppen kein erhöhtes Auftreten von Schwesterchromatidaustauschen oder Chromosomenaberrationen zu beobachten. Peak-Expositionen
erreichten bis zu 17 mg/m3 (IARC, 1999).
In humanen lymphoblastoiden Zelllinien wurden ohne exogene metabolisierende
Systeme TK-6 und AHH-1 Mutationen induziert (IARC, 1999).
Andere Daten
DBE erwies sich in allen getesten in vitro Systemen als gentoxisch: DBE ist ein direkt
wirksames Mutagen in Bakterien. Die Mutagenität ist in Gegenwart einer hohen Glutathiontransferase-Aktivität besonders ausgeprägt. In Säugerzellen induziert DBE
Genmutationen, Chromosomenaberrationen, Schwesterchromatidaustausche, DNAStrangbrüche, Cross-links, außerplanmäßige DNA-Synthese und Zelltransformationen (IARC, 1999).
Auch in Drosophila melanogaster erwies sich DBE als mutagen. Geschlechtsgebundene rezessive Letalmutationen wurden in Drosophilamännchen der F2 und F3
beobachtet (IARC, 1999).
DBE induziert in vivo bei Ratten und Mäusen DNA-Strangbrüche und Cross-links (in
weiblichen Ratten bereits bei 1,8 mg/kg, peroral; üblicherweise wurden sonst einmalige Dosierungen von ≥ 50 mg/kg peroral oder intraperitoneal verabreicht) und außerplanmäßige DNA-Synthese in Hepatozyten männlicher Ratten, aber nicht in Spermatozyten. Negative Ergebnisse wurden weiterhin im Dominant-Letal-Assay in Mäusen
und Ratten beobachtet. Weiterhin waren bei CD-1 Mäusen, denen bis zu 168 mg
DBE/kg intraperitoneal appliziert wurde, keine Effekte hinsichtlich einer Induktion von
Chromosomenaberrationen und Mikrokernen zu erkennen. (Anonymous, 2007;
IARC, 1999). Einmalige inhalative Exposition über 2 h gegen 30 ppm DBE führte in
der Muta-Maus nicht zu mutagenen Effekten in der Lunge oder Nasenschleimhaut,
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
6
während eine über 10 Tage wiederholte Exposition eine erhöhte Mutationsfrequenz
in der Nasenschleimhaut bewirkte (Schmezer et al., 1998).
In Ratten und Mäusen und in vitro bindet DBE kovalent an DNA, RNA und Proteine.
DNA-Bindung in vivo war bereits nach einmaliger intraperitonealer Applikation von
1,2 mg/kg in Ratten und Mäusen nachweisbar (IARC, 1999).
Nach einmaliger intraperitonealer Gabe wurden DNA-Addukte (S-[2-(N7-guanyl)ethyl]glutathion) in der Leber verschiedener Ratten- und Mäusestämme nachgewiesen, wobei die Adduktlevel in Ratten 4-5-fach höher als in Mäusen waren (IARC,
1999).
1.1.3
Metabolismus
Der Metabolismus von DBE ist gut untersucht. Für eine umfassende Darstellung der
komplexen Stoffwechselwege muss an dieser Stelle auf die Literatur verwiesen
werden (z.B. EPA, 2004). Nachfolgend wird nur eine vereinfachte Übersicht (siehe
Abbildung 1-1) gegeben.
In Nagern wird DBE vor allem durch Cytochrom P450 Isoenzyme (insbesondere
CYP2E1) oxidiert und durch Glutathion (GSH) konjugiert. Der primäre Metabolit nach
CYP2E1-Oxidation ist 2-Bromacetaldehyd. 2-Bromacetaldehyd kann über verschiedene Stoffwechselwege weiter zu S-(2-Hydroxyethyl)glutathion oder S-Carboxymethylglutathion verstoffwechselt werden: durch direkte Wechselwirkung mit Glutathion
unter Beteiligung der Glutathiontransferase (GST, insbesondere GST theta), oder
durch Oxidation zu 2-Bromethanol und 2-Bromessigsäure und anschließender Glutathionkonjugation. DBE kann auch direkt in einer GST-katalysierten Reaktion mit GSH
zu S-(2-Bromethyl)GSH reagieren, das sich spontan zu einem Episulfoniumion
umlagert, das an die DNA binden kann (Anonymous, 2007; EPA, 2004; IARC, 1999).
Abbildung 1-1 Vereinfachtes Metabolismusschema für Dibromethan (in Anlehnung
an Watanabe et al., 2007).
DBE-Metabolite werden vor allem (ca. 80%) über den Urin und nur zu geringen
Teilen über die Faeces und die Atemluft ausgeschieden (Anonymous, 2007; EPA,
2004; IARC, 1999).
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
7
Die durch CYP2E1 gebildeten Metabolite sind überwiegend für die Bindung an Proteine und die daraus resultierende Gewebetoxizität verantwortlich. Während des oxidativen Stoffwechsels kommt es zur Debromierung, einer Erhöhung der internen Bromkonzentration, die zur Lipidperoxidation führen kann (IARC, 1999).
Vor allem die durch GSH-Konjugation gebildeten Metabolite sind für die Bildung der
DNA-Addukte und folglich für die Gentoxizität und Kanzerogenität verantwortlich. Als
Hauptaddukt wurde das S-[2-(N7-guanyl)ethyl]glutathion identifiziert, das mehr als
95% der gebildeten Addukte ausmacht. Daneben wurden drei weitere Guanyl- bzw.
Adenyl-Addukte identifiziert. Die DNA-Adduktbildung kann durch eine Induktion des
GSH-abhängigen Stoffwechsels oder durch eine Hemmung des oxidativen Stoffwechsels gefördert werden. In der Rattenleber und –niere werden bei gleicher Dosierung höhere Adduktlevel gefunden als in den entsprechenden Organen von Mäusen
(IARC, 1999; Watanabe et al., 2007).
In vitro Untersuchungen mit humanem und Rattenleberzytosol weisen darauf hin,
dass die Metabolismusrate bei der Ratte ca. 2-fach höher als beim Menschen ist. In
Nagern dominiert der oxidative Stoffwechsel über den Glutathiontransferase-abhängigen Stoffwechsel (Verhältnis ungefähr 4:1). Im Gegensatz dazu sagen andere
Modellberechnungen einen deutlich höheren Anteil der Glutathiontransferase am
DBE-Metabolismus gegenüber dem oxidativen Metabolismus bei der Ratte voraus,
während beim Menschen beide Stoffwechselwege etwa zu gleichen Teilen beteiligt
sind. Nach diesem Modell haben sensitive Menschen ein viel geringeres Risiko als
Ratten bezogen auf die durch GST-gebildeten Metabolite (Anonymous, 2007; IARC,
1999). Für den Menschen ist eine polymorphe Ausprägung der Cytochrom P450
Enzyme und der Glutathiontransferasen bekannt (Anonymous, 2007; EPA, 2004).
1.2
Berechnung der krebserzeugenden Potenz von 1,2-Dibromethan nach
Einmalexposition
1.2.1
Mechanistische Überlegungen
Eine gentoxische Wirkung konnte für DBE in Bakterien und verschiedenen Säugerzellen in vitro nachgewiesen werden. Aus in vivo Untersuchungen liegen Verdachtsmomente (Induktion von DNA-Strangbrüchen, Cross-links , außerplanmäßiger DNASynthese) vor. Weiterhin konnte in vitro und in vivo die Bindung von DBE an die
DNA, RNA und Proteine nachgewiesen werden. DBE erwies sich in verschiedenen
Langzeituntersuchungen nach oraler, inhalativer und dermaler Applikation als kannzerogen im Tierversuch, so dass plausibel angenommen werden kann, dass es sich
bei DBE um ein gentoxisches Kanzerogen handelt.
Es liegen keine Studien vor, in denen das Auftreten von Tumoren nach Kurzzeitexposition mit entsprechender Nachbeobachtungszeit untersucht wurde.
Nitschke und Mitarbeiter (1981) exponierten männliche und weibliche Ratten bis zu
13 Wochen lang (6 h/d, 5 d/w) gegen 0, 3, 10 oder 40 ppm DBE. Die Nachbeobachtungszeit betrug 88 Tage. Zwischenuntersuchungen wurden nach 1 und 6 Wochen
durchgeführt (d.h. 5, 29 bzw. 68 Expositionstage). Neben der Untersuchung klinisch
chemischer Parameter, wurden zu den angegebenen Zeitpunkten das Körpergewicht, Organgewichte und histopathologische Untersuchungen des Atemtrakts (Untersuchung der Lunge, Bronchien, Trachea und der Nasenmuschel auf 4 Ebenen)
sowie von Leber, Niere, Testes, Ovarien, Uterus und Eileiter durchgeführt. Der Atem-
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
8
trakt erwies sich als am empfindlichsten gegenüber einer DBE-Exposition. Bei 10
ppm waren zu allen Untersuchungszeitpunkten eine leichte epitheliale Hyperplasie
der Nasenmuschel sichtbar, die am Ende der Nachbeobachtungszeit vollständig reversibel war. In der höchsten Dosisgruppe (40 ppm) war das Körpergewicht vermindert, das Leber- und Nierengewicht erhöht, weiterhin wurden eine Hyperplasie, eine
nicht keratinisierende schuppenartige Metaplasie des Respirationsepithels der Nasenmuschel beobachtet, die bei 19/20 Tieren am Ende der Nachbeobachtungszeit
reversibel war. Bei einem Tier verblieb ein isolierter hyperplastischer Focus, der nach
Meinung der Autoren bei etwas verlängerter Nachbeobachtungszeit reversible gewesen wäre. Der NOAEL lag in dieser Studie bei 3 ppm.
Diese Daten werden unterstützt durch die Untersuchungen von Reznik et al. (1980),
die Fischer Ratten und B6C3F1 Mäuse über 13 Wochen (6 h/d, 5 d/w, whole body)
gegen 0, 3, 15 oder 75 ppm exponierten. Vier männliche Mäuse der niedrigsten
Dosisgruppe verstarben vor dem Ende der Expositionszeit (genauer Zeitpunkt und
Todesursache nicht angegeben). Histomorphologische Veränderungen waren nur im
Atemtrakt (Nasenhöhle, Luftröhre, Lunge) der Tiere zu beobachten, bei Ratten bereits bei 15 ppm und bei 75 ppm sowohl bei Ratten als auch bei Mäusen (Zytomegalie, fokale Hyperplasie, squamöse Metaplasie, Zilienverlust).
Diese beiden subchronischen Studien, insbesondere die Zwischenuntersuchung von
Nitschke et al. (1981) nach einer Woche, zeigen, dass in dem Konzentrationsbereich,
in dem in der chronischen Studie Tumore beobachtet wurden, auch in der Kurzzeitstudie bereits Schädigungen in der Nase, dem Hauptzielorgan bei der Kannzerogenese nach Inhalation, auftreten können. Nitschke et al. (1981) beschreiben zwar,
dass diese Veränderungen nach einer ausreichenden Erholungsphase reversibel
waren, auf Grund der Beobachtungen zur Gentoxizität und Bindung von DBE an
DNA, RNA und Proteine bereits nach einmaliger intraperitonealer oder peroraler Exposition kann aber nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass auch bereits
eine Kurzzeitexposition zu bleibenden Schäden führt. Für eine endgültige Bewertung
wären Daten zur DNA-Bindung nach inhalativer Exposition notwendig.
Auf Grund dieser Beobachtungen wird eine Betrachtung von DBE in Hinblick auf eine
Störfallsituation als relevant erachtet.
Wegen des Fehlens von Kurzzeitstudien wird die Berechnung von Störfallbeurteilungswerten für DBE auf Basis der NTP-Kanzerogenitätsstudie an Ratten (NTP,
1982) durchgeführt. Diese Studie diente auch als Basis für die Unit Risk Berechnung
der EPA und war Grundlage für die Abschätzung des National Advisory Committee
for Acute Exposure Guideline Levels for Hazardous Substances (NAC/AEGL Committee) für die kanzerogene Kurzzeitwirkung von DBE.
1.2.2
Verwendung stoffspezifischer Daten
1.2.2.1
Verwendung von Kanzerogenitätsdaten
Unit Risk Ableitung der EPA
Die EPA (2004) leitete auf Basis der chronischen Inhalationsstudie an Ratten (NTP,
1982) ein inhalatives Unit Risk in Höhe von 6 x 10-4 pro µg/m3 ab. Das Unit Risk ist
nach Angaben der EPA (2004) nicht bei Expositionskonzentrationen > 0,003 ppm
(0,023 mg/m3) ppm anzuwenden, da bei höheren Konzentrationen kein linearer
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
9
Dosis-Wirkungszusammenhang besteht.
Basis für die Kalkulation war die Inzidenz der Nasentumore in männlichen Ratten.
Die Expositionskonzentrationen wurden in Werte für kontinuierliche Exposition
umgerechnet (x 6/24, x 5/7).
Wegen der beobachteten lokalen Effekte wurde unter Berücksichtigung der physikalisch/chemischen Eigenschaften des DBE, des Inhalationsvolumens von Ratte und
Mensch und der Oberfläche des Atemtrakts von Ratte und Mensch die Expositionskonzentration in eine humanäquivalente Konzentration umgerechnet (EPA, 2004):
RGDR(ET) = (MVa/Sa)/(MVh/Sh)
RGDR(ET) : “regional gas dose ratio for the nasal cavity” (Atemtrakt außerhalb des
Thorax)”
MVa
: Atemminutenvolumen Tier (männliche Ratte : 0,21 L/min)
MVh
: Atemminutenvolumen Mensch (13,8 L/min)
Sa
: Oberfläche des tierischen Atemtrakts außerhalb des Thorax (Ratte : 15 cm2)
Sh
: Oberfläche des menschlichen Atemtrakts außerhalb des Thorax (200 cm2)
RGDR(ET)Ratte/Mensch = (0,21/15)/(13,8/200) = 0,20
Mit Hilfe des „Poly-3 Verfahren“ wurde berücksichtigt, dass die Tiere nicht alle bis
zum Studienende überlebten: Adjustierung der Tierzahlen im Nenner mittels (t/104)3,
mit t = Zeitpunkt der Tötung der jeweiligen Dosisgruppe.
Somit ergeben sich die in Tabelle 1-2 angegebenen Expositionskonzentrationen und
angepassten Inzidenzen.
Tabelle 1-2
Nasentumore (Adenome, Adenokarzinome, papilläre Adenome,
Plattenepithelzelladenome / -karzinome) bei männlichen Ratten in
der Langzeitinhalationstudie von NTP (1982)
Expositionkonzentration
(ppm)
Äquivalente
kontinuierliche
Konzentration (ppm) a
Humanäquivalente
kontinuierliche
Konzentration (ppm) b
Adjustierte
Nasentumorinzidenz c
0
0
0
1/46 (2%)
10
1,8
0,36
39/45 (86,7%)
40
7,1
1,42
41/43 (95%)
a
Expositionskonzentration x 6/24 x 5/7
äquivalente kontinuierliche Konzentration x 0,20
c
adjustiert mittels Poyl-3-Verfahren (siehe Text)
b
Die Dosis-Wirkungsbeziehung wurde mit Hilfe des „multistage models“ oder des „loglogistic models“ modelliert. Für die Extrapolation in den Niedrigdosisbereich wurde
als „point of departure“ ein Wert in der Nähe des beobachteten Bereichs gewählt (im
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
10
Falle der Nasentumoren: benchmark response 87%) gewählt und der Wert des unteren 95%-Vertrauensinterval bei der Benchmark Response (BMCL87 = 0,18 ppm für
die Nasentumore) aus der Dosis-Wirkungsbeziehung ermittelt. Zur Berechnung des
Unit Risk wurde dann linear in den Niedrigdosisbereich extrapoliert (0,87 / 0,18 = 4,8
ppm-1). Dies entspricht einem Unit Risk von 0,6 (mg/m3)-1 = 6 x 10-4 pro µg/m3.
NAC/AEGL-Kanzerogenitätsbewertung für DBE
Auf Basis des von der EPA (2004) berechnete Unit-Risk in Höhe von 6 x 10-4 pro
µg/m3 führte das NAC/AEGL seine Kalkulationen zur kanzerogenen Wirkung von
DBE bei Kurzzeitexposition durch. Diese wurde nach der Standardmethode des
National Research Council (2001) durchgeführt.
Ausgehend von dem Unit Risk von 6 x 10-4 pro µg/m3 wurde die „virtually safe dose“
(VSD) bei einem Risiko von 1:10000 berechnet:
d = 10-4 / (6 x 10-1 (mg/m3))-1 = 1,67 x 10-4 mg/m3
Diese Berechnungen gehen von einer lebenslangen Exposition (70 Jahre = 25600
Tage) aus. Für eine Kurzzeitexposition von einem Tag ergibt sich somit:
Gesamt-d = d x 25600 = 1,67 x 10-4 mg/m3 x 25600 = 4,27 mg/m3
Das NAC/AEGL verwendete einen Standardunsicherheitsfaktor von 6, um die Unsicherheiten bei der Berechnung der Kanzerogenität nach Kurzzeitexposition auf Basis
einer chronischen Studie zu berücksichtigen:
4,27 mg/m3 / 6 = 0,71 mg/m3 = 0,091 ppm
(Anmerkung: An dieser Stelle liegt im TSD ein Rechenfehler/Schreibfehler vor, statt
0,71 mg/m3 wurde mit 71 mg/m3 weitergerechnet. Die nachfolgend ausgewiesenen
Werte unterscheiden sich deshalb von den „falschen“ Werten, wie sie in dem TSDDokument stehen um den Faktor 100.)
Eine Konzentration von 0,091 ppm über 24 Stunden würde also einem Risiko von
1:10000 entsprechen.
Linear umgerechnet auf die kürzeren Zeiträume unter Berücksichtigung der
Beziehung cn x t = k mit n = 1 ergibt sich somit unter Berücksichtigung eines
Krebsrisikos von 1:10000:
8 h: 0,27 ppm
4 h: 0,55 ppm
1 h: 2,2 ppm
T25-Konzept
Für die Berechnungen nach dem T25-Konzept (zur Methodik vergleiche AGS, 2008)
wurden die Daten für Nasentumore bei männlichen Ratten zu Grunde gelegt, da bei
diesen Tumoren bereits in der niedrigsten Expositionskonzentration eine hohe Tumorinzidenz beobachtet wurde. Der sich daraus ergebende Wert für T25 ist niedriger
als der entsprechende Wert auf Basis der Ergebnisse in weiblichen Tieren. Zur Berechnung wurden wie bei der Unit Risk Ableitung die humanäquivalenten Konzentrationen und die mittels Poly-3-Prozedur adjustierten Inzidenzen zu Grunde gelegt (vgl.
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
11
Tabelle 1-2).
T25 = 0,36 ppm x (0,25/(0,867 – 0,02) x (1 – 0,02)/1) = 0,104 ppm
Linear umgerechnet auf ein 1:10000 Risiko ergibt sich auf Basis der T25:
Tumorrisiko 1:10000 bei 0,0000416 ppm
Diese Berechnungen gehen von einer lebenslangen Exposition (70 Jahre = 25600
Tage) aus. Für eine Kurzzeitexposition von einem Tag ergibt sich somit:
Gesamt-d = 0,0000416 ppm x 25600 = 1,06 ppm
Unter Verwendung eines Standardunsicherheitsfaktor von 6, um die Unsicherheiten
bei der Berechnung der Kanzerogenität nach Kurzzeitexposition auf Basis einer
chronischen Studie zu berücksichtigen, ergibt sich:
1,06 ppm / 6 = 0,177ppm
Eine Konzentration von 0,177 ppm über 24 Stunden würde also einem Risiko von
1:10000 entsprechen.
Linear umgerechnet auf die kürzeren Zeiträume unter Berücksichtigung der Beziehung cn x t = k mit n = 1 ergibt sich somit unter Berücksichtigung eines Krebsrisikos
von 1:10000:
8 h: 0,53 ppm
4 h: 1,06 ppm
1 h: 4,25 ppm
1.2.2.2
Verwendung von Gentoxizitätsdaten
Es liegen, bis auf die Untersuchungen an der Muta-Maus, keine Daten zur Gentoxizität/Bindung an biologische Makromoleküle nach inhalativer Exposition vor. Die Verwendung der Daten nach peroraler oder intraperitonealer Applikation erscheint nicht
sinnvoll, da bei DBE auf Grund des schnellen Metabolismus in der Leber von einem
effizienten first-pass-Effekt ausgegangen werden kann. Auf eine Kalkulation anhand
dieser Gentoxizitätsdaten muss daher verzichtet werden.
Wie bereits im Abschnitt 1.1.2 (Gentoxizität) erwähnt, führte einmalige inhalative Exposition über 2 h gegen 30 ppm DBE in der Muta-Maus nicht zu mutagenen Effekten
in der Lunge oder Nasenschleimhaut, während eine über 10 Tage wiederholte Exposition eine erhöhte Mutationsfrequenz in der Nasenschleimhaut bewirkte (Schmezer
et al., 1998). Diese Daten stützen grundsätzlich die Annahme, dass bereits eine Exposition über kurze Zeiträume zu Schädigungen des Erbmaterials führen kann, die in
der Folge möglicherweise zur Tumorentstehung führen können. Eine Quantifizierung
auf Basis der Befunde in der Muta-Maus ist jedoch derzeit nicht möglich wegen der
zu großen Unterschiede zwischen Mensch und transgenen Tieren.
1.3
AEGL-Werte für 1,2-Dibromethan
Im Rahmen der Aktivitäten des National Advisory Committee for Acute Exposure
Guideline Levels for Hazardous Substances (NAC/AEGL Committee) wurden AEGLWerte für DBE abgeleitet. Das „Technical Support Document“ (vom 13.07.2007) ist
noch nicht finalisiert und befindet sich im „proposed“ Status. In der Endfassung des
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
12
TSD können sich also noch Änderungen gegenüber den hier dargestellten Werten
ergeben.
AEGL-1 Werte wurden auf Basis der Daten zur akuten Inhalation bei Ratten
abgeleitet (Rowe et al., 1952). Eine Exposition der Tiere gegen 50, 100, 200 oder
800 ppm für 420, 150, 42 oder 6 Minuten führte nicht zu adversen Effekten. Ausgangspunkt (point of departure) für die AEGL-1 Ableitung war die Exposition der
Tiere über 420 Minuten gegen 50 ppm, der niedrigsten Konzentration und der längsten Expositionsdauer ohne Effekt. Es wurde ein Gesamtunsicherheitsfaktor von 10
gewählt (Faktor 1 für die Interspezies- und Faktor 10 für die Intraspeziesvariabilität).
Der Faktor 1 für die Interspeziesvariabilität wurde für ausreichend erachtet, da Ratten
ca. 3-fach höhere DBE-Mengen als der Mensch aufnehmen (Kalkulation mittels
PBPK-Modell) und deutlich mehr toxische Metabolite als der Mensch bilden. Mögliche geringe pharmakodynamische Unterschiede sind demgegenüber zu vernachlässigen. Auf Grund der beobachteten genetischen Variabilität beim Menschen bezüglich der Cytochrom P450 und Glutathiontransferase-abhängigen Bildung der
DBE-Metabolite wurde ein Intraspeziesfaktor 10 gewählt. Für die Zeitextrapolation
wurde ein Wert von n = 1,6 ermittelt.
AEGL-2 Werte basieren auf akuten Inhalationsdaten bei der Ratte (Rowe et al.,
1952). Bei Ratten, die für 9, 60 oder 240 Minuten gegen 800, 200 oder 100 ppm exponiert wurden, wurden erhöhte Lebergewichte und leichte histopathologische Veränderungen (ohne weitere Spezifizierung) der Leber beobachtet. Diese Effekte
liegen unterhalb des AEGL-2 Niveaus. Ausgangspunkt (point of departure) für die
AEGL-2 Ableitung war die Exposition der Tiere über 240 Minuten gegen 100 ppm. Es
wurde ein Gesamtunsicherheitsfaktor von 10 angewendet (Faktor 1 für die Interspezies- und Faktor 10 für die Intraspeziesvariabilität, Begründung siehe oben). Für
die Zeitextrapolation wurde ein Wert von n=1,6 ermittelt.
AEGL-3 Werte wurden anhand der Daten zur Letalität bei Ratten nach inhalativer
Exposition ermittelt (Rowe et al., 1952). Keins der Tiere, die gegen 100 ppm DBE für
8,5 Stunden exponiert wurden, starb während der dreiwöchigen Nachbeobachtungszeit. Von diesem Ausgangspunkt (point of departure) aus und mit einem Gesamtunsicherheitsfaktor von 10 (Faktor 1 für die Interspezies- und Faktor 10 für die Intraspeziesvariabilität, Begründung siehe oben) und einem kalkulierten n von 1,4 wurden
die AEGL-3 Werte für die einzelnen Zeitpunkte ermittelt.
Die nachfolgende Tabelle bietet eine Übersicht über die einzelnen AEGL-Werte. Es
fällt auf, dass die AEGL-1, AEGL-2 und AEGL3 Werte zum Teil sehr dicht
beeinander liegen. Insbesondere für die längeren Zeitpunkte liegen AEGL-1 und
AEGL-3 nur um ca. Faktor 2 auseinander.
Tabelle 1-3
AEGL-1, AEGL-2- und AEGL-3-Werte für DBE (Anonymous, 2007)
Zeitpunkt
AEGL-1 (ppm)
AEGL-2 (ppm)
AEGL-3 (ppm)
10-min
52
73
170
30-min
26
37
76
1-h
17
24
46
4-h
7,1
10
17
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
8-h
1.4
13
4,6
6,5
10
Vergleich kanzerogene Potenz nach Einmalexposition vs. AEGL-Werte
Der Vergleich der AEGL-2 Werte mit den Störfallbeurteilungswerten, die auf Basis
der kanzerogenen Wirkung des DBE nach der Methode des NRC (2001) auf Basis
des von der EPA (2004) ermittelten Unit Risk oder des T25-Verfahrens abgeleitet
wurden, zeigt, das die AEGL-2 Werte (und auch die AEGL-1 Werte) ca. eine
Größenordnung über den kalkulierten Werten für ein Risiko von 1:10000 liegen.
Tabelle 1-4
Zeitpunkt
Vergleich der Störfallbeurteilungswerte, auf Basis kanzerogener und
nicht-kanzerogener Endpunkte
AEGL-2
Zusätzliches Krebsrisiko 1:10.000
(nicht kanzero- Kalkuliert nach NTP (1982)
gener Endpunkt)
unter Verwendung des
Unit Risk
Kalkuliert nach NTP
(1982) unter Verwendung der T25 Methode
8 Stunden
6,5 ppm
0,27 ppm
0,53 ppm
4 Stunden
10 ppm
0,55 ppm
1,06 ppm
1 Stunde
24 ppm
2,2 ppm
4,25 ppm
1.5
Diskussion
DBE wurde als wahrscheinlich krebserzeugend für den Menschen eingestuft. Auf
Grund der Daten zur Gentoxizität kann plausibel angenommen werden, dass es sich
um ein gentoxisches Kanzerogen handelt.
Es liegen keine Studien vor, in denen die krebserzeugende Wirkung nach kurzer Expositionszeit untersucht wurde. Auf Grund der Beobachtungen, dass bereits nach
Einmalexposition Bindung an DNA, RNA und Proteine erfolgt und in vivo DNA-Schädigungen zu beobachten sind, kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es
bereits nach einer Kurzzeitexposition zu bleibenden Schäden kommt. Dies begründet
die Ableitung von Störfallbeurteilungswerten unter Berücksichtigung der kanzerogenen Wirkung.
Eine Beurteilung der Störfallsituation auf Basis einer chronischen Studie ist jedoch
mit großen Unsicherheiten behaftet. Rechnerisch liegen die Störfallbeurteilungswerte
auf Basis der Daten zur Kanzerogenität, unabhängig ob ausgehend vom Unit Risk
oder mittels T25 berechnet (die Ergebnisse nach beiden Methoden unterscheiden
sich nur um etwa den Faktor 2) unterhalb der AEGL-2 (und der AEGL-1) Werte.
In beiden Fällen wurde der Standardfaktor 6 zur Berücksichtigung der Unsicherheiten
bei der Extrapolation von der chronischen auf die akute Situation angewendet.
Dieser Faktor ist möglicherweise zu hoch, wenn man berücksichtigt, dass
•
nach subchronischer Exposition und einer fast 90-tägigen Nachbeobachtungszeit keine Tumore aufgetreten sind.
1,2-Dibromethan (CAS 106-93-4)
14
•
in der chronischen Studie erst nach 43 Wochen die ersten Tumore aufgetreten
sind.
•
die Effekte in der subchronischen Studie, die bei Konzentrationen auftraten, die
in der Langzeitstudie kanzerogen waren, bei ausreichender Nachbeobachtungsdauer reversibel waren.
Berücksichtigt man weiterhin,
•
dass der NOAEL in der 13-Wochen-Inhalationsstudie mit Ratten bei 3 ppm lag
und somit fast identisch ist mit dem 8-Stunden Störfallwert unter Berücksichtigung kanzerogener Effekte bei einem Risiko von 1:10000, und
•
dass die Effekte, die nach einwöchiger Exposition gegen 10 ppm DBE aufgetreten sind, vollständig reversibel waren,
so kann plausibel angenommen werden, dass die vorliegende Berechnung zu Störfallbeurteilungswerten sehr konservativ ist und vermutlich unter Einhaltung der
AEGL-2 Werte auch ein ausreichender Schutz vor kanzerogenen Effekten besteht.
1.6
Literatur
BUA, Beratergremium für umweltrelevante Altstoffe der Gesellschaft Deutscher Chemiker, 1991
1,2-Dibromoethan
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15
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Toxicology and Applied Pharmacology, 63, 1982, 155-165
Ermittlung von Störfallbeurteilungswerten für kanzerogene Stoffe –
Fortsetzung 3
Teilbericht: Benzotrichlorid
Gutachten erstellt im Auftrag des
Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen
Recklinghausen
Forschungs- und Beratungsinstitut
Gefahrstoffe GmbH
Werthmannstraße 16 • 79098 Freiburg
Bearbeitung:
Dr. Ulrike Schuhmacher-Wolz,
Dr. Fritz Kalberlah
Freiburg, März 2009
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
2
1
Benzotrichlorid: Ableitung von Störfallbeurteilungswerten
unter Berücksichtigung der krebserzeugenden Wirkung
1.1
Stoffspezifische Daten
Benzotrichlorid (synonym: α, α, α-Trichlortoluol, Phenyltrichlormethan, Trichlormethylbenzol) dient vor allem zur Herstellung von Benzoylchlorid, und als Zwischenprodukt für Farbstoffe und Pflanzenschutzmittel (BG-Chemie, 1990). Benzotrichlorid
ist eine farblose bis gelbliche ölige Flüssigkeit mit einem stechenden Geruch (IARC,
1999). Die Substanz ist in organischen Lösungsmitteln (Benzol, Diethylether, Ethanol) löslich und hydrolysiert in Wasser (BG-Chemie, 1990). Benzotrichlorid ist für die
Haut und Schleimhäute stark reizend (Greim, 1996). Die Substanz wurde von verschiedenen Organisationen als wahrscheinlich für den Menschen krebserregend eingestuft.
Organisation
Kanzerogenität
Kategorie
EU
2
DFG (MAK)
2
WHO/IARC
2A*
EPA
B2
* Gemeinsame Bewertung der α-Chlortoluole (α-chlorierten Toluene und Benzoylchlorid). Die experimentellen
Daten zu Benzotrichlorid wurden als ausreichende Hinweise für die kanzerogene Wirkung der Substanz im Tierversuch gewertet („There is sufficient evidence in experimental animals for the carcinogenicity of benzotrichloride.“).
Benzotrichlorid wurde nicht hinsichtlich Keimzell-Mutagenität und Reproduktionstoxizität eingestuft.
Für die Umrechnung von mg/m3 in ppm gilt (Greim, 1996; BUA, 1992):
8,11 mg/m3 = 1 ppm bzw. 1 mg/m3 = 0,12 ppm
Die humantoxischen Wirkungen der Substanz sind nach Anhang VI der Verordnung
1272/2008/EC mit folgenden R-Sätzen zu kennzeichnen:
R22: Gesundheitsschädlich beim Verschlucken.
R23: Giftig beim Einatmen.
R37/38: Reizt die Atmungsorgane und die Haut.
R41: Gefahr ernster Augenschäden.
R45: Kann Krebs erzeugen.
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
1.1.1
3
Kanzerogenität
Für den Menschen liegen keine aussagekräftigen Studien vor. Im Tierversuch führte
Benzotrichlorid jedoch nach oraler, dermaler, inhalativer und intraperitonealer Applikation zu einer erhöhten Tumorinzidenz. Die meisten Studien wurden in japanischen
Fachzeitschriften publiziert und werden deshalb hier meist nach der sehr ausführlichen Darstellung im SIDS-Dokument (OECD, 2004) beschrieben.
1.1.1.1
Humandaten
Es liegen keine aussagekräftigen Studien am Menschen vor, bei denen eine alleinige
Exposition gegen Benzotrichlorid bestand. Im Zusammenhang mit der Herstellung
und nach dem Umgang mit Benzoylchlorid wurden 6 Fälle von Krebs der Atmungsorgane beobachtet. Es bestand zugleich auch eine Exposition gegen Benzotrichlorid
(Sakabe et al., 1976, 1977). Die Lungenkrebsfälle traten in mehreren kleineren Betrieben mit insgesamt < 100 Personen auf. Auffallend war das niedrige Lebensalter
(35-44 Jahre, einmal 57 Jahre) und dass zwei der Betroffenen Nichtraucher waren
(Greim, 1996).
Bei Arbeitern, die in der Produktion von chlorierten Toluolen beschäftigt waren, ergaben sich Hinweise auf eine erhöhte Krebsmortalität, während andere Todesursachen
in der Gruppe der Exponierten nicht erhöht waren. Es traten Tumore des Atem- und
des Magen-Darm-Trakts auf. Ein ursächlicher Zusammenhang mit einer Benzotrichloridexposition wird diskutiert, auch wenn dieser in der Studie nicht nachgewiesen
werden konnte (Sorahan et al., 1983).
Eine prospektive Mortalitätsstudie an Arbeitern einer Chlorierungsfirma in den USA
weist auf einen Zusammenhang zwischen dem Chlorierungsprozess von Toluol und
einem erhöhten Risiko für Krebs der Atmungsorgane hin. Auf Grund geringer Fallzahlen, fehlender Raucheranamnese und der Mischexposition sind jedoch keine
endgültigen Aussagen auf Basis dieser Studie möglich (Wong und Morgan, 1988).
1.1.1.2
Tierdaten
In Tierversuchen mit epikutaner, intragastraler, intraperitonealer und inhalativer Applikation erwies sich Benzotrichlorid als eindeutig krebserzeugend. Neben dem Auftreten lokaler Tumore wurden auch Tumore nach systemischer Verteilung der Substanz beobachtet.
Inhalation
In einer chronischen Inhalationsstudie wurden weibliche Sprague-Dawley Ratten über 104 Wochen (6 Stunden/Tag, 5 Tage/Woche) gegen 0; 0,1; 0,4; 1 und 2 ppm
Benzotrichlorid (0; 0,8; 3,2; 8,0 und 16,0 mg/m3) exponiert und für 3 weitere Wochen
beobachtet. Wegen erhöhter Mortalität musste die Expositionskonzentration in der
höchsten Dosisgruppe schrittweise reduziert werden (nach 10 Wochen auf 1,6 ppm,
nach 20 Wochen auf 1 ppm) und wurde nach 25 Wochen ganz ausgesetzt. Dennoch
verstarben alle verbliebenen Tiere dieser Gruppe bis zur 39ten Woche. Todesursachen waren Tumore sowie Begleiterkrankungen, Lungenentzündungen und spontane
Erkrankungen. Außer in der niedrigsten Expositionsgruppe wurden in allen Dosisgruppen erhöhte Mortalitätsraten beobachtet (100% Mortalität bereits nach 40, 80
und 107 Wochen bei 2, 1 und 0,4 ppm; vgl. Tabelle 1-1). Atemwegstumore traten bei
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
4
12-92% und Nasentumore bei 28-64% der Tiere der verschiedenen Dosisgruppen
auf (sieheTabelle 1-2). Die meisten Tumore des Kehlkopfs und der Luftröhre waren
Plattenepithelzellkarzinome. Neben Tumoren des Atemtrakts wurden vor allem Tumore der Haut und des äußeren Gehörgangs beobachtet (Fukuda und Takemoto,
1980, 1984a, b).
Tabelle 1-1:
Kumulative Mortalität (%) in der chronischen Inhalationsstudie mit
Benzotrichlorid an Sprague-Dawley-Ratten (Fukuda und Takemoto,
1980, 1984a, b)
Expositionsdauer
(Wochen)
Expositionskonzentration (ppm)
0
0,1
0,4
1,0
2,0
20
0
0
0
0
2
40
0
0
2
2
100
60
2
4
16
22
80
4
14
46
100
100
38
46
86
107
54
54
100
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
Tabelle 1-2:
5
Tumorinduktion in Sprague-Dawley-Ratten durch chronische Inhalation von Benzotrichlorid (Fukuda und Takemoto, 1980, 1984a, b)
Expositionskonzentration (ppm)
0
0,1
0,4
1
2
Tiere pro Gruppe
50
50
50
50
43
Tiere mit Tumoren
42
41
45
49
28
Tumore des Atemtrakts
0
6
38
46
28
Nasenkarzinome
0
0
17
32
12
Nasenadenome/papillome
0
2
18
12
9
Larynxkarzinome
0
0
9
12
0
Larynxpapillome
0
0
3
4
0
Lungenkarzinome
0
0
5
7
15
Lungenadenome/papillome
0
0
0
5
0
Gehörgangkarzinome 0
Gehörgangpapillome 0
2
12
14
0
0
2
3
0
Hautkarzinome
2
2
17
17
0
Hautpapillome
1
2
3
1
0
In einer chronischen Inhalationsstudie mit weiblichen ICR Mäusen, die über 104 Wochen (6 h/d, 5 d/w) gegen 0; 0,1; 0,4; 1,0 und 2 ppm Benzotrichlorid exponiert und für
drei weitere Wochen beobachtet wurden, traten Tumore des Atemtrakts, der Haut
und des äußeren Gehörgangs auf. In der höchsten Dosisgruppe, in der sukzessive
die Expositionskonzentration bis auf 1 ppm gesenkt wurde, verstarben alle Tiere innerhalb von 45 Wochen an der Folge der aufgetretenen Lungentumore und der Atemtraktsentzündungen (Fukuda und Takemoto, 1980, 1984a, b). Die Studie liegt nur
in Form von Kurzveröffentlichungen vor.
Männliche Sprague Dawley Ratten (Anzahl nicht angegeben) wurden über 1, 3 oder
6 Monate (6 h/d, 5 d/w) gegen 1 ppm Benzotrichlorid exponiert. Nach 6-monatiger
Exposition waren im oberen Respirationstrakt squamöse Metaplasien und Hyperplasien, sowie Papillome der Nasenhöhle zu beobachten. Bei kürzeren Expositionszeiträumen traten keine neoplastischen Veränderungen auf. In der Gruppe mit 6monatiger Exposition und einer 5-monatigen Nachbeobachtungszeit wurden maligne
und benigne Tumore im Atemtrakt, in der Haut und im äußeren Gehörgang beobachtet (Koshi und Fukuda, 1986). Neben diesen qualitativen Angaben wurden in der
Kurzveröffentlichung keine quantitativen Angaben gemacht.
Männliche ICR Mäuse wurden über 5 Monate (je 30 Minuten an 2 Tagen pro Woche)
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
6
gegenüber bei 50°C verdampftem Benzotrichlorid exponiert (6,7 ± 1,66 ppm). In der
Expositionsgruppe waren 33 Tiere (32 ausgewertet) und in der Kontrollgruppe 30
Tiere. Die Nachbeobachtungszeit betrug 1-5 Monate, in der Kontrollgruppe 12 Monate. Wegen erhöhter Mortalität und eines insgesamt schlechten Gesundheitszustandes der Tiere in den Expositionsgruppen wurde die Studie nach 10 Monaten beendet. Von den zwölf Tieren, die während der Behandlungszeit verstarben, wiesen 2
Lungenadenome und 6 maligne Lymphome auf. Am Ende der Expositionszeit waren
bei 6/11 Tieren Lungenadenome und bei 1/11 maligne Hauttumore zu beobachten.
Nach 10 Monaten wurden folgende Tumorinzidenzen beschrieben: Lungenadenome
bei 8/9 Tieren, Lungenadenokarzinom bei 1/9 Tieren, Hautkarzinome bei 3/9 Tieren
und Hautpapillome bei 4/9 Tieren. Die Gesamttumorinzidenzen waren wie folgt
(Tabelle 1-3): Lungenadenome (16 Tiere), Lungenkarzinom (1 Tier), Hautpapillome
und –karzinome (jeweils 4 Tiere), maligne Lymphome (8 Tiere). Die Tumorraten waren signifikant gegenüber der Kontrolle erhöht. Fast alle Tiere wiesen eine schwere
Bronchitis und eine bronchioläre Pneumonie auf. Ab dem dritten Monat waren Hautläsionen bis hin zu ulzerösen Läsionen sichtbar. Bei vielen Tieren waren entzündliche Läsionen und Organhypertrophien (z.B. Lymphknoten, Thymus, Milz) sichtbar.
Es liegen keine Angaben zur Körpergewichtsentwicklung vor (Yoshimura et al., 1979;
1986).
In einer weiteren Untersuchung wurden 38 (davon 37 ausgewertet) männliche ICR
Mäuse über 10 Monate (je 30 Minuten an 2 Tagen pro Woche) gegen 1,62 ± 0,43
ppm Benzotrichlorid exponiert (erzeugt durch Verdampfung bei Raumtemperatur).
Die Kontrollgruppe bestand aus 30 Tieren. Die Nachbeobachtungszeit betrug bei den
exponierten Tieren 2-5 Monate und bei den Kontrollen 12 Monate. Die Behandlung
führte bei 17 von 37 Mäusen zu Lungenadenomen, bei 13 zu Lungenkarzinomen, bei
6 zu Hautpapillomen, bei 4 zu Hautkarzinomen und bei 4 zu malignen Lymphomen
(Tabelle 1-3) (Yoshimura et al., 1979; 1986). Es liegen keine Angaben zum Körpergewicht vor. In anderen Sekundärquellen wird zum Teil eine Expositionszeit von 12
Monaten genannt (IARC, 1999).
Tabelle 1-3:
Tumorinzidenz bei männlichen Mäusen nach Inhalationsexposition
gegen Benzotrichlorid (Yoshimura et al., 1979; 1986)
Tumorlokalisation
Expositionskonzentration (Expositionsdauer)
0 ppm a
6,7 ppm
(5 Monate)
1,6 ppm
(10 Monate)
Lungentumore
3 b /30 (10%)
17/32 (53%)
30/37 (31%)
Hauttumore
0/30(0%)
8/32 (25%)
10/37 (27%)
Maligne Lymphome
0/30(0%)
8/32 (25%)
4/37 (11%)
a: Ergebnisse für die Kontrollgruppe liegen nur für die Studie mit 5-monatiger Expositionzeit vor.
b: Lungenadenome
Ein weiterer Inhalationsversuch an Mäusen, die zweimal pro Woche für 30 Minuten
gegen 6,8 ppm Benzotrichlorid exponiert wurden ist wegen des Fehlens einer Kontrollgruppen nicht eindeutig interpretierbar. Bei den Tieren wurden Tumore der Haut
und des Atemtrakts beobachtet (Takemoto et al., 1978).
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
7
Orale Exposition
Weibliche ICR-Mäuse erhielten über 25 Wochen zweimal wöchentlich Benzotrichlorid
mittels Schlundsonde (0, 0,043, 0,17, 0,7 und 2,7 mg/Maus; 40 Tiere pro Gruppe).
Achtzehn Monate nach Beginn der Behandlung wurden die Tiere getötet und untersucht: Es traten dosisabhängig Plattenepithelzellkarzinome des Vormagens, Lungenadenome und Lundenadenokarzinome sowie gutartige Thymustumore auf. Die Inzidenzen sind in Tabelle 1-4 dargestellt. In den beiden höchsten Dosisgruppen trat
erhöhte Mortalität auf. Nach 6,5 und 16,5 Monaten waren bereits die Hälfte der Tiere
in der höchsten und zweithöchsten Dosisgruppe gestorben (Fukuda et al., 1978,
1993).
Tabelle 1-4:
Tumorhäufigkeiten bei ICR-Mäusen nach intragastraler Verabreichung von Benzotrichlorid (zweimal wöchentlich über 25 Wochen)
Dosis
(mg/Maus)
Tumorhäufigkeit
Vormagen
Lunge
Plattenepithelkarzinom Adenokarzinom
Thymus
Adenom
Thymom
0
0/35
0/35
1/35
0/35
0,04
0/37
1/37
0/37
0/37
0,17
2/38
9/38*
6/38
1/38
0,7
22/40*
16/40*
17/40*
2/40
2,7
24/35*
10/35*
10/35*
7/35*
* statistisch signifikant erhöht (p < 0,001)
Dermale Exposition
In drei verschiedenen Versuchen, in denen Mäuse unverdünntes oder mit Benzol
verdünntes Benzotrichlorid über ca. 7, 10 oder 13 Monate auf die Haut aufgetragen
bekamen, entwickelten die Benzotrichlorid-exponierten Tiere vor allem Haut und
Lungentumore. In einem dieser Versuche wird zusätzlich das Auftreten von Tumoren
der Lippen, Zunge, Speiseröhre, des Vor- und Drüsenmagens berichtet. In einem
anderen Versuch wurden zusätzlich Lymphome beobachtet. In den Kontrollgruppen
(Benzol) wurden keine Tumore bzw. in einem Versuch 2 Lungenadenome beobachtet (Fukuda et al., 1981).
Andere Pfade
Männliche und weibliche A/J-Mäuse erhielten dreimal wöchentlich über 8 Wochen
12, 30 und 60 mg/kg Benzotrichlorid intraperitoneal appliziert (Gesamtdosis: 287,
719 und 1440 mg/kg). Vierundzwanzig Wochen nach Versuchsbeginn wurde die Beobachtung abgebrochen. Die durchschnittliche Anzahl an Lungenadenomen pro
Maus lag in der Kontrollgruppe bei 0,46, und bei ca. 18, 43 und 128 in der niedrigsten, mittleren und höchsten Dosisgruppe. In der höchsten Dosisgruppe wurde eine
erhöhte Mortalität beobachtet. Andere Tumorarten neben Lungenadenomen wurden
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
8
nur in der höchsten Dosisgruppe beobachtet: 3 Lymphome und 2 Nierensarkome,
deren Auftreten von den Autoren ebenfalls als substanzbedingt gewertet wurde (Stoner et al., 1986).
1.1.2
Gentoxizität
Humandaten
Es liegen keine epidemiologischen Befunde vor.
In vitro Untersuchungen
Benzotrichlorid ist mutagen in Salmonella typhimurium TA 100, TA 1535, TA 98 und
Escherichia coli WP2 nach metabolischer Aktivierung aber nicht ohne metabolische
Aktivierung. Positiv wirksam war es auch im rec-Assay in Bacillus subtilis ohne Zugabe eines Aktivierungssystems (IARC, 1999; Greim, 1996). An menschlichen Bronchialepithelzellen, die gegen 0,1 und 1 µg Benzotrichlorid/ml exponiert wurden, wurden mittels alkalischer Elution DNA-Strangbrüche nachgewiesen (BG-Chemie,
1990). Benzotrichlorid induzierte Mikrokerne in kultivierten Knochenmarkszellen von
Balb/c-Mäusen (OECD, 2004).
In vivo Untersuchungen
Männliche Sprague Dawley Ratten (Anzahl nicht angegeben) wurden über 1, 3 oder
6 Monate (6 h/d, 5 d/w) gegen 1 ppm Benzotrichlorid exponiert. In allen Expositionsgruppen war ein leichter, aber signifikanter Anstieg an Chromosomenaberrationen in
Knochenmarkszellen erkennbar. In peripheren Lymphozyten trat eine signifikant erhöhte Frequenz an Schwesterchromatidaustauschen auf. In diesen Lymphozyten
war die Anzahl der Chromosomenaberrationen nach 6 monatiger Exposition signifikant erhöht, aber nicht bei kürzeren Expositionszeiten (Koshi und Fukuda, 1986).
Numerische Angaben wurden in der Kurzveröffentlichung nicht gemacht.
Benzotrichlorid induziert in vivo Mikrokerne: Positive Befunde wurden in Balb/cMäusen erhoben, die vor der einmaligen intraperitonealen Behandlung mit 100 oder
200 mg/kg Benzotrichlorid einmal mit polychlorierten Biphenylen (PCB) vorbehandelt
wurden. Ohne PCB-Vorbehandlung war die Mikrokernrate nicht erhöht. Ein noch
stärkerer Anstieg der Mikrokernrate als durch die PCB-Vorbehandlung der Tiere
wurde erreicht, wenn unbehandelte Mäuse Benzotrichlorid verabreicht bekamen, das
zuvor mit S9-Mix von PCB-behandelten Mäusen inkubiert wurde (Suzuki, 1985).
1.1.3
Metabolismus
Benzotrichlorid wird bei Kontakt mit Wasser rasch unter Abspaltung von Salzsäure
zu Benzoesäure hydrolytisch gespalten. Die Halbwertszeit in Wasser (pH 7; 25°C)
beträgt 19 Sekunden (Greim, 1996; OECD 2004).
Benzotrichlorid wird rasch und umfassend nach oraler Gabe in den Körper aufgenommen und fast vollständig mit dem Urin als Hippursäure ausgeschieden: Untersuchungen mit radioaktiv markiertem Benzotrichlorid an jungen Ratten, denen einmalig
40 mg/kg oral verabreicht wurden, ergaben eine Halbwertszeit von 3 Stunden für die
gastrointestinale Absorption. Im Blut wurde eine Eliminationshalbwertszeit von 22
Stunden und im Gewebe von 14 Stunden ermittelt. Die höchsten Konzentrationen
wurden im Fett, gefolgt von Leber und Niere nachgewiesen. Nach 48 Stunden war
ein geringer Anteil der Radioaktivität in der Faeces und über 90% der Radioaktivität
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
9
im Harn nachweisbar, 91% hiervon als Hippursäure, 5,5% als nicht identifizierte Metabolite. Benzotrichlorid selbst war nicht im Harn nachweisbar (Greim, 1996; OECD,
2004).
Untersuchungen zur inhalativen Exposition von Ratten weisen darauf hin, dass Benzotrichlorid auch über die Lungen aufgenommen und als Hippursäure mit dem Harn
ausgeschieden wird. Quantitative Aussagen sind auf Basis der vorliegenden Daten
nicht möglich (BG-Chemie, 1990).
1.2
Berechnung der krebserzeugenden Potenz von Benzotrichlorid nach
Einmalexposition
1.2.1
Mechanistische Überlegungen
Die Befunde in den Kanzerogenitätsstudien (eindeutig krebserzeugend im Tierversuch) und den Untersuchungen zur Mutagenität (mutagen in vitro und in vivo) kennzeichnen Benzotrichlorid als ein gentoxisches Kanzerogen. Es liegen keine Untersuchungen zu einer möglichen krebserzeugenden Wirkung nach Einmalexposition vor.
In zwei Rattenstudien mit einer Expositionszeit von 5 Monaten (ca. 7 ppm) oder 6
Monaten (1 ppm) und einer mehrmonatigen Nachbeobachtungszeit traten vor allem
lokale Tumore im Atemtrakt und auf der Haut auf. In einer Studie mit ein- oder dreimonatiger Exposition von Ratten gegen 1 ppm traten am Ende der Behandlungszeit
keine Tumore auf, die Tiere wurden nicht nachbeobachtet. Auf Grund der derzeitigen
Datenlage kann eine mögliche krebserzeugende Wirkung auch nach kurzfristiger,
einmaliger Exposition nicht ausgeschlossen werden. Deshalb wird eine Betrachtung
von Benzotrichlorid im Hinblick auf eine Störfallsituation als relevant erachtet.
Die nachfolgenden Berechnungen zu den Störfallbeurteilungswerten basieren auf der
chronischen Inhalationsstudie an Ratten (Fukuda und Takemoto, 1980, 1984a, b).
Zum Vergleich wurde auch die subchronische Inhalationsstudie an Mäusen von Yoshimura et al. (1979, 1986) herangezogen.
1.2.2
Verwendung stoffspezifischer Daten
1.2.2.1
Verwendung von Kanzerogenitätsdaten
1.2.2.1.1 Unit Risk Ableitung der EPA
Die EPA (EPA, 2008) berechnete mit Hilfe des linearisierten Mehrstufenverfahren auf
Basis der Studie von Fukuda et al. (1978) unter Berücksichtigung der Inzidenz an
Lungenadenokarzinomen einen oralen Slope Faktor von 13 pro mg/kg/Tag. Das
Trinkwasser Unit Risk beträgt 3,6 x 10-4 pro µg/L.
Slope Faktor, oral: 13 pro mg/kg/Tag; Trinkwasser Unit Risk: 3,6 x 10-4 pro µg/L
Eine Berechnung von Störfallbeurteilungswerten auf Basis des Unit Risks bei oraler
Exposition halten wir nicht für sinnvoll, da Benzotrichlorid nach inhalativer Exposition
vor allem zum Auftreten lokaler Tumore im Atemtrakt führt. Die systemische Verfügbarkeit von Benzotrichloride in der Lunge nach oraler Applikation ist auf Grund der
schnellen hydrolytischen Spaltung der Substanz deshalb nicht mit der lokalen Wirkung nach Inhalation zu vergleichen.
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
10
1.2.2.1.2 Ableitung auf Basis des T25-Wertes JRC
Von der Europäischen Kommission wurde ein T25-Wert für Benzotrichlorid in Höhe
von 0,02 mg/kg · d publiziert mit dem Hinweise, dass dieser Wert sich auf Lungentumore in weiblichen Mäusen nach inhalativer Exposition bezieht (JRC, 2000). Es werden keine weiteren Angaben zur Datengrundlage und Berechnung gemacht. Es ist
deshalb unklar, ob sich diese Daten auf die Veröffentlichungen von Fukuda und Takemoto (1980, 1984a, b) oder auf Takemoto et al. (1978) beziehen. Eine diesbezügliche Anfrage beim Herausgeber von JRC (2000) blieb bislang unbeantwortet.
Die T25 von 0,02 mg/kg · d ergibt unter den in Dybing et al. (1997) genannten Standardwerten für die weibliche Maus (Gewicht: 25 g; Inhalationsvolumen: 1,8 l/h; Standardlebensspanne: 2 Jahre) eine Konzentration von 0,0014 ppm (0,02 mg/kg · d x
0,025 kg / 0,0432 m3 = 0,012 mg/m3 = 0,0014 ppm).
Wegen der mit diesem Wert verbundenen Unsicherheit wird auf eine weitere Verwendung im Rahmen der Ableitung der Störfallbeurteilungswerte verzichtet.
1.2.2.1.3 Ableitung des T25-Wertes auf Basis der subchronischen Inhalationsstudie
an Ratten
Die Berechnung des T25-Wertes basiert auf den Ergebnissen der subchronischen
Inhalationsstudie an Ratten (Yoshimura et al., 1979, 1986).
Tumorinzidenz (Lungentumore) in der
Kontrollgruppe: 3/30 = 10%
6,7 ppm: 17/32 = 53%
Umrechnung auf kontinuierliche Exposition:
6,7 ppm x 0,5/24 x 2/7 = 0,04 ppm kontinuierlich
Berechnung T25:
T25= 0,04 ppm x (0,25/0,53-0,1) x ((1-0,1)/1)
T25= 0,021 ppm
Die nachfolgende Abbildung zeigt die Tumorinzidenzen für Lungen- bzw. Atemtrakttumore in der subchronischen (Yoshimura et al., 1979, 1986) und chronischen (Fukuda et al., 1980, 1984a, b) Inhalationsstudie an Ratten in Abhängigkeit von der Expositionsdauer und -konzentration. Für die Darstellung wurden die Expositionskonzentrationen unter Berücksichtigung der täglichen und wöchentlichen Expositionsdauer auf eine kontinuierliche Expositionskonzentration umgerechnet und mit der
Expositionsdauer in Monaten multipliziert (ppm Monate, vgl. Abbildung 1-1).
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
11
Subchronische Studie (Yoshimura et al., 1979, 1986):
Expositionskonzentration x 0,5/24 x 2/7 x 5 bzw. 10 Monate
Chronische Studie (Fukuda et al., 1980, 1984a, b):
Expositionskonzentration x 6/24 x 5/7 x 24 Monate
In der subchronischen Inhalationsstudie waren bei niedrigeren ppm-Monaten etwas
höhere Tumorinzidenzen zu beobachten, als man auf Basis der Langzeitstudie erwarten würde. Dies weist auf einen stärkeren Einfluss der Expositionskonzentration
gegenüber der Expositionsdauer bei der Tumorentstehung durch Benzotrichlorid hin.
100
90
80
Tumorinzidenz (%)
70
60
50
40
30
20
10
0
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
ppm Monate
Fukuda/chronisch
Yoshimura/subchronisch
Abbildung 1-1: Vergleich der Tumorinzidenz für Atemtrakt- bzw. Lungentumore in
der chronischen (Fukuda et al., 1980, 1984a, b) bzw. subchronischen
Inhalationsstudie (Yoshimura et al., 1979, 1986) an Ratten in Bezug
auf die kumulative Expositionskonzentration.
Rechnet man den T25-Wert aus der subchronischen Studie linear um auf ein
1:10000 Risiko, so ergibt sich:
Tumorrisiko 1:10000 bei 0,0000084 ppm
Diese Berechnungen gehen von einer Exposition während ca. eines Viertels der Lebenszeit aus. Für eine Kurzzeitexposition (70 Jahre/4 = 25600/4 = 6400 Tage) von
einem Tag ergibt sich somit:
Gesamt-d = 0,0000084 ppm x 6400 = 0,054 ppm
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
12
Da nach den obigen Ausführungen die Expositionskonzentration eine stärkere Bedeutung als die Expositionsdauer hat, wird auf die Verwendung eines Unsicherheitsfaktors zur Kalkulation des Krebsrisikos bei Kurzzeitexposition verzichtet.
Eine Konzentration von 0,054 ppm über 24 Stunden würde also einem Risiko von
1:10000 entsprechen.
Linear umgerechnet auf die kürzeren Zeiträume unter Berücksichtigung der Beziehung cn x t = k mit n = 1 ergibt sich somit unter Berücksichtigung eines Krebsrisikos
von 1:10000:
8 h: 0,16 ppm
4 h: 0,32 ppm
1 h: 1,3 ppm
1.2.2.1.4 Ableitung des T25-Wertes auf Basis der Langzeitinhalationsstudie an Ratten
Die Berechnung des T25-Wertes basiert auf den Ergebnissen der Langzeitinhalationsstudie an Ratten (Fukuda et al., 1980, 1984a, b).
Tumorinzidenz (Atemtraktstumore) in der
Kontrollgruppe: 0/50 = 0%
0,1 ppm: 6/50 = 12%
0,4 ppm;´: 38/50 = 76%
Umrechnung auf kontinuierliche Exposition:
0,4 ppm x 6/24 x 5/7= 0,07 ppm kontinuierlich
0,1 ppm x 6/24 x 5/7= 0,018 ppm kontinuierlich
Berechnung T25:
Dargestellt ist die Berechnung der T25 mit der 0,4 ppm Gruppe, da diese zu einer
niedrigeren T25 führt als bei Verwendung der 0,1 ppm Gruppe.
T25= 0,07 ppm x (0,25/0,76) x ((1-0)/1)
T25= 0,023 ppm
Linear umgerechnet auf ein 1:10000 Risiko ergibt sich auf Basis der T25:
Tumorrisiko 1:10000 bei 0,0000092 ppm
Diese Berechnungen gehen von einer lebenslangen Exposition (70 Jahre = 25600
Tage) aus. Für eine Kurzzeitexposition von einem Tag ergibt sich somit:
Gesamt-d = 0,0000092 ppm x 25600 = 0,24 ppm
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
13
Der Wert für die T25 auf Basis der chronischen Studie ist praktisch identisch mit dem
Wert, der auf Basis der subchronischen Studie ermittelt wurde (0,023 ppm vs. 0,021
ppm). Nach der Konzentrations-Zeitbeziehung von ten Berge (Cn x t = k) würde man
zunächst erwarten, das bei nur ca. einem Viertel der Expositionszeit eine ca. vierfach
höhere Expositionskonzentration notwendig wäre, um den gleichen Effekt zu erzielen. Dies trifft in diesem Fall jedoch nicht zu. Darum wird bei der Berechnung der
Kanzerogenität nach Kurzzeitexposition der Standardunsicherheitsfaktor von 6 voll
ausgeschöpft. Es ergibt sich somit:
0,24 ppm / 6 = 0,04 ppm
Eine Konzentration von 0,04 ppm über 24 Stunden würde nach diesem Rechenansatz also einem Risiko von 1:10000 entsprechen.
Linear umgerechnet auf die kürzeren Zeiträume unter Berücksichtigung der Beziehung cn x t = k mit n = 1 ergibt sich somit unter Berücksichtigung eines Krebsrisikos
von 1:10000:
8 h: 0,12 ppm
4 h: 0,24 ppm
1 h: 0,96 ppm
Berechnung mit Hilfe der Benchmarkdosis
Eine Berechnung der Störfallbeurteilungswerte auf Basis der anhand der Langzeitinhalationsstudie an Ratten kalkulierten BMD10/BMDL10 würde zu vergleichbaren Ergebnissen führen wie die Berechnung mit Hilfe der T25 (Daten nicht gezeigt), weshalb auf eine weitere Darstellung an dieser Stelle verzichtet wurde.
1.2.2.2
Verwendung von Gentoxizitätsdaten
Es liegen Untersuchungen zur gentoxischen Wirkung von Benzotrichlorid bei inhalativer Exposition von Ratten vor. In der Kurzveröffentlichung von Koshi und Fukuda
(1986) werden jedoch nur qualitative und keine quantitativen Angaben gemacht, so
dass eine Berechnung von Störfallbeurteilungswerten auf Basis dieser Daten nicht
möglich ist.
1.3
AEGL-Werte für Benzotrichlorid
Benzotrichlorid wurde bislang nicht im Rahmen der Aktivitäten des National Advisory
Committee for Acute Exposure Guideline Levels for Hazardous Substances
(NAC/AEGL Committee) bearbeitet.
Im Rahmen dieses Projekts (siehe Anhang) wurden folgende AEGL-Werte für Benzotrichlorid abgeleitet:
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
Tabelle 1-5:
1.4
14
AEGL-1, AEGL-2- und AEGL-3-Werte für Benzotrichlorid (dieses Dokument)
Zeitpunkt
AEGL-1 (ppm)
AEGL-2 (ppm)
AEGL-3 (ppm)
10-min
nicht abgeleitet
nicht abgeleitet
nicht abgeleitet
30-min
nicht abgeleitet
1,4 ppm
4,25 ppm
1-h
nicht abgeleitet
1,1 ppm
3,3 ppm
4-h
nicht abgeleitet
0,28 ppm
0,84 ppm
8-h
nicht abgeleitet
0,14 ppm
0,43 ppm
Vergleich kanzerogene Potenz nach Einmalexposition vs. AEGL-Werte
Die abgeleiteten Störfallbeurteilungswerte auf Basis der krebserzeugenden Wirkung
sind numerisch praktisch identisch mit den AEGL-2 Werten.
Tabelle 1-6
Zeitpunkt
Vergleich der Störfallbeurteilungswerte, auf Basis kanzerogener und
nicht-kanzerogener Endpunkte
AEGL-2
Zusätzliches Krebsrisiko 1:10.000
(nicht kanzeroge- T25 Methode, chronische
ner Endpunkt)
Studie (Fukuda und Takemoto, 1980, 1984a, b)
T25 Methode, subchronische Studie (Yoshimura
et al., 1979, 1986)
8 Stunden
0,14 ppm
0,12 ppm
0,16
4 Stunden
0,28 ppm
0,24ppm
0,32
1 Stunde
1,1 ppm
0,96 ppm
1,3
1.5
Diskussion
Die hier abgeleiteten Störfallbeurteilungswerte auf Basis der krebserzeugenden Wirkung sind mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Die Werte wurden auf Basis einer chronischen bzw. subchronischen Inhalationsstudie abgeleitet. Die resultierenden Werte sind praktisch identisch. In beiden Fällen wurden die experimentell verwendeten Expositionskonzentrationen auf (niedrigere) kontinuierliche Werte umgerechnet. Dies ist mit einer gewissen Unsicherheit behaftet: Benzotrichlorid ist auf
Grund der schnellen Freisetzung von Salzsäure in wässriger Umgebung stark
schleimhautreizend. Welchen Anteil die Reizwirkung an der Tumorentstehung hat, ist
bislang unklar. Es kann jedoch plausibel angenommen werden, dass durch die
Reizwirkung ein Proliferationsreiz besteht, der die Tumorentstehung beschleunigt.
Bei den niedrigeren kontinuierlichen Expositionskonzentrationen ist möglicherweise
auch die Reizwirkung geringer, so dass die hier vorgenommenen Abschätzungen der
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
15
Störfallbeurteilungswerte eher als konservativ bewertet werden können. Dies wird
durch die oben ausgeführten Betrachtungen zum Einfluss der Expositionskonzentration gestützt.
Die Störfallbeurteilungswerte auf Basis der krebserzeugenden Wirkung sind praktisch identisch bzw. etwas höher als die AEGL-2 Werte. Wie oben diskutiert, sind die
ausgewiesenen Störfallbeurteilungswerte auf Basis der krebserzeugenden Wirkung
insgesamt als eher konservativ einzustufen. In der Kurzzeitstudie an Ratten führte
eine 1 und 3 monatige Exposition gegen 1 ppm (6 h/d, 5 d/w) während der Expositionszeit nicht zu neoplastischen Veränderungen oder Tumoren. Es kann deshalb
plausibel angenommen werden, dass bei Einhaltung der AEGL-2 Werte auch ein
ausreichender Schutz vor der krebserzeugenden Wirkung bei kurzzeitiger Exposition
besteht.
1.6
Literatur
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16
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Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
17
Anhang
Ableitung der AEGL-Werte für Benzotrichlorid
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
18
2
Anhang: Ableitung der AEGL-Werte für Benzotrichlorid
2.1
Humandaten zur Toxizität
Nach zusammenfassenden Darstellungen sollen Benzotrichlorid bzw. seine Dämpfe
beim Menschen akut stark reizend wirken an Haut, Augen und den Atemwegsschleimhäuten. Weitere Humandaten zur akuten Toxizität liegen nicht vor (BGChemie, 1990).
2.2
Tierdaten zur Toxizität
2.2.1
Akute Letalität
Die akute Letalität von Benzotrichlorid nach Inhalationsexposition wurde in verschiedenen Studien untersucht. Es handelt sich hierbei zumeist um nicht publizierte, firmeninterne Studien oder Publikationen in japanischer Sprache. Diese Studien werden nachfolgend deshalb entsprechend der Angaben im SIDS-Dokument (OECD,
2004) berichtet.
2.2.1.1
Ratte
Eine siebenstündige Exposition von Wistar Ratten gegen ca. 1000 mg/m3 Benzotrichlorid führte innerhalb von 24 Stunden zum Tod aller männlichen und weiblichen
Tiere. Eine dreistündige Exposition gegen ca. 1000 mg/m3 führte bei 1/6 Männchen
und bei 4/6 Weibchen innerhalb 3-13 Tage zum Tode. Eine einstündige Exposition
gegen ca. 800 mg/m3 war nicht letal (Bayer AG, 1978). Sowohl die beobachteten Todesfälle als auch die Gewichtszunahme/-verlust während der 14-tägigen Nachbeobachtungszeit (siehe Tabelle 2-1) weisen darauf hin, dass die weiblichen Tiere
empfindlicher als die männlichen Tiere reagieren. Eine halbstündige Exposition gegen ca. 750/790 mg/m3 beeinträchtigte die Gesundheit der Tiere nicht. Dagegen waren nach einstündiger und längerer Exposition Irritationen der Augenschleimhaut und
des Atemtrakts erkennbar. Weiterhin waren bei den Tieren Atemstörungen (bis zu 13
Tagen lang) und Verhaltensauffälligkeiten (Lethargie, schmutziges Fell) zu beobachten. Angaben zu histopathologischen Untersuchungen liegen nicht vor.
Tabelle 2-1:
Akute Inhalationstoxizität von Benzotrichlorid in der Ratte (Bayer AG,
1978)
Konzentration Expositions(mg/m3)
dauer (h)
Todesfälle
Anzahl
Todeszeitpunkt
Tiere mit
Symptomen**
Durchschnittlicher
Gewichtsverlust in
der Nachbeobachtungszeit *
Männchen
1067
7
6
< 24 h
6/6
Nicht bestimmt
1147
3
1
3d
6/6
-21
797
1
0
6/6
+9
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
790
0,5
19
0
0/6
+55
Weibchen
1193
7
6
< 24 h
6/6
Nicht bestimmt
995
3
4
3-13 d
6/6
-40
795
1
0
6/6
-4
747
0,5
0
0/6
+8
* 14 Tage
** keine detaillierte Angaben
Die beschriebenen Geschlechtsunterschiede wurden auch in einer weiteren Untersuchung an Wistar Ratten beobachtet (Bayer AG, 1978): Die Männchen/Weibchen
wurden für 4 Stunden gegen 258/300, 550/530 und 600/654 mg/m3 exponiert (Exposistionskonzentration analytisch mittels Gaschromatographie bestimmt) und für 21
Tage beobachtet. Der LC50-Wert für Weibchen lag in dieser Studie bei 530 mg/m3
und bei >600 mg/m3 bei Männchen (vgl. Tabelle 2-2). In der mittleren und hohen Dosisgruppe waren Irritationen der sichtbaren Schleimhäute erkennbar. Bei der pathologischen Untersuchung wurden Lungenemphyseme, Leberatrophien und dunkle
Verfärbungen der Milz sichtbar (keine Angaben zur Dosisgruppe). Die weiblichen
Tiere und die männlichen Tiere der mittleren und höchsten Dosisgruppe verloren über die gesamte Studiendauer von 21 Tagen an Gewicht. Der Gewichtsverlust bei
den Weibchen war deutlicher ausgeprägt als bei den Männchen. Die sechs Männchen der niedrigsten Dosisgruppe zeigten im Mittel einen minimalen Gewichtsanstieg
(< 10 g in 3 Wochen), der aber insgesamt viel zu niedrig ausfiel.
Tabelle 2-2:
Konzentration
(mg/m3)
Akute Inhalationstoxizität von Benzotrichlorid in der Ratte nach 4stündiger Exposition (Bayer AG, 1978)
Todesfälle
Anzahl
Todeszeitpunkt
Tiere mit
Symptomen
Durchschnittliches Gewicht (g)
Vor der Studie
Nach 21 Tagen
Männchen
600
2
2-21 d
6/6
187
143
550
2
1-2 d
6/6
195
171
258
1
16 d
6/6
188
195
Weibchen
654
4
1-21 d
6/6
175
108
530
3
17-21 d
6/6
169
110
300
2
13-18 d
6/6
167
149
Cavender (1979) berichtet für Charles River CD Ratten eine LC50 von 8390 mg/m3
bei einer Expositionszeit von 1 Stunde. Jeweils 5 männliche und weibliche Ratten
wurden für 1 Stunde gegen 2000, 4010, 4820, 6010, 10860, 20300 mg/m3 Benzo-
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
20
trichlorid exponiert, was in 0, 0, 5, 5, 4, 9 Todesfällen in den einzelnen Gruppen resultierte. In allen Gruppen wurde eine dosisabhängige Gewichtsreduktion beobachtet. Während der Exposition wurde bei den Tieren reichlich Nasensekret, Speichelfluss und Augenzwinkern beobachtet. Diese Effekte waren nur transient. Bei den
meisten Tieren trat Atemnot auf, die über den gesamten 14-tägigen Beobachtungszeitraum anhielt. Die Tiere der höheren Dosisgruppen (keine weiteren Angaben) zeigten eine verminderte Aktivität, Ataxie und Schnappatmung. Die pathologische Untersuchung der Tiere ergab zum Teil dunkel lila verfärbte Lungen mit roten
Flecken oder Foci in allen Expositionsgruppen. In der höchsten Dosisgruppe waren
dunkle Foci auf der Magenschleimhaut und schwarz-orange-gestreifte Eingeweide
sichtbar.
Smyth et al. (1951) berichten, dass 5/6 Ratten starben, die für 4 Stunden gegen
1014 mg/m3 (125 ppm) exponiert waren. Eine halbe Stunde war die maximale Expositionszeit gegen gesättigten Dampf, die keine Todesfälle zur Folge hatte.
Mikhailova (1964) berichtet nachfolgende Werte zur Toxizität von Benzotrichlorid in
der Ratte (2 Stunden Exposition, 4 Wochen Nachbeobachtung): LC16 = 90 mg/m3;
LC50 = 150 mg/m3; LC84 = 240 mg/m3. Wenn die Expositionskonzentrationen über
100 mg/m3 lagen, wurden die Tiere unruhig und zeigten Irritationen an den Schleimhäuten der Augen und des Atemtrakts. Die Atmung war verlangsamt. Während des
Versuchs war eine starke Hyperämie der Ohren, der Schwänze und Pfoten sichtbar.
Bei Konzentrationen über 1000 mg/m3 waren die Tiere deutlich gehemmt, Zuckungen
der peripheren Muskulatur traten auf. Bei der histopathologischen Untersuchung
wurden Entzündungen im Atemtrakt, die mit bakteriellen Superinfektionen einhergingen, sowie Effekte auf Leber (z.B. fettige Degenerationen der Hepatozyten), Niere
(Tubulieffekte bis hin zu Nekrosen), Herz und Gehirn (z.B. Schwellungen der Zellen
im Cortex) sowie Störungen des Blutflusses in allen Organen beobachtet. Es ist unklar, bei welchen Expositionskonzentrationen welche histopathologischen Effekte
auftreten. Die Studie wurde von der OECD (2004) als ungenügend dokumentiert bewertet.
In einer weiteren Versuchsanordnung wurden 10 männliche Ratten für 2 Stunden
gegen 100 mg/m3 Benzotrichlorid exponiert und für weitere 4 Wochen beobachtet
(Mikhailova, 1964). Drei der 10 Tiere verstarben (keine weiteren Angaben). Die überlebenden Tiere wiesen Gewichtsverluste auf und erreichten nach 4 Wochen wieder
das Ausgangsgewicht (-36; - 39; -18 und -0 g nach 5, 14, 21 und 30 Tagen). Die Tiere wiesen 4 Wochen nach der Exposition eine Leukopenie auf. Weiterhin waren die
renale Exkretion und die Proteinausscheidung mit dem Urin vermindert.
2.2.1.2
Maus
Für die Maus wurden folgende Werte für die Toxizität von Benzotrichlorid angegeben
(2 Stunden Exposition, 2 Wochen Nachbeobachtung; Mikhailova, 1964): LC16 = 30
mg/m3; LC50 = 60 mg/m3; LC84 = 120 mg/m3. Die klinischen und histopathologischen
Symptome waren die gleichen wie in der Ratte: Bei Expositionskonzentrationen über
100 mg/m3 wurden die Tiere nervös und zeigten Irritationen an den Schleimhäuten
der Augen und des Atemtrakts. Die Atmung war verlangsamt. Während des Versuchs war eine starke Hyperämie der Ohren, der Schwänze und Pfoten sichtbar. Bei
Konzentrationen über 1000 mg/m3 waren die Tiere deutlich gehemmt, unkontrollierte
Bewegungen traten auf. Entzündungen im Atemtrakt mit bakteriellen Superinfektionen, sowie Effekte auf Leber, Niere, Herz und Gehirn traten auf.
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
2.2.2
21
Toxizität bei wiederholter Applikation
Ratten wurden bis zu 8 Wochen lang täglich (2 h/d) gegen 0, 30 und 100 mg/m3
Benzotrichlorid exponiert (Arkhipova et al., 1963). Nach einer Woche traten Gewichtsreduktion, erhöhte Aggressivität der Tiere, Blutdruckabfall und Leukopenie auf.
Die weitere Exposition führte zu folgenden histopathologischen Befunden: eitrige
Bronchitis, Pneumonie, fettige Degeneration von Leber Zellen, Karyolyse der kortikalen Gehirnzellen, sowie zu Leber-, Nieren- und Nebennierendystrophie. Die OECD
(2004) bewertete diese Studie als ungenügend berichtet.
Jeweils 10 männliche und weibliche Ratten wurden über 4 Wochen (6 h/d, 5 d/w)
gegen 0; 5,1; 48,2 und 460 mg/m3 exponiert. Die Exposition in der höchsten Dosisgruppe wurde nach einer Woche wegen erheblicher Dyspnoe und Mortalität abgebrochen. In der mittleren Dosisgruppe wurde eine verminderte Gewichtszunahme
und deutliche Dyspnoe in der 4. Woche beobachtet. Histopathologisch waren entzündliche degenerative und ulzerative Veränderungen der Lungen sichtbar. In der
niedrigsten Dosisgruppe traten keine Effekte auf (Levin, 1981).
2.2.3
Geruchs-/Wahrnehmungsschwelle
Es liegen keine Angaben zur Geruchs-/Wahrnehmungsschwelle vor.
2.2.4
Reproduktionstoxizität
Spezifische Untersuchungen zu Effekten auf die Fertilität wurden nicht durchgeführt.
In einer dreiwöchigen Studie mit dermaler Applikation wurde bei Tieren mit Dosierungen ≥ 100 mg/kg bw/d pathologische Veränderungen der Hodenkanälchen (Degenerationen, mehrkernige Riesenzellen) beobachtet. In den Krebsstudien werden
keine pathologischen Veränderungen der Reproduktionsorgane beschrieben (OECD,
2004). Auf Grund dieser Daten können Effekte auf die Fertilität nicht ausgeschlossen
werden.
Bei Ratten, die an den Tagen 6-15 der Trächtigkeit mittels Gavage exponiert wurden,
traten in allen Dosisgruppen (12,5, 25 und 50 mg/kg bw/d) entwicklungstoxische Effekte auf (z.B. vermindertes fetales Gewicht, Skelettanomalien; sowie eine erhöhte
Anzahl an Resorptionen in der höchsten Dosisgruppe). Maternale Toxizität trat in der
mittleren und höchsten Dosisgruppe auf. Die OECD (2004) wertete diese Studie als
unzureichend dokumentiert.
2.2.5
Gentoxizität
Männliche Sprague Dawley Ratten (Anzahl nicht angegeben) wurden über 1, 3 oder
6 Monate (6 h/d, 5 d/w) gegen 1 ppm (8 mg/m3) Benzotrichlorid exponiert. In allen
Expositionsgruppen war ein leichter, aber signifikanter Anstieg an Chromosomenaberrationen in Knochenmarkszellen erkennbar. In peripheren Lymphozyten trat eine
signifikant erhöhte Frequenz an Schwesterchromatidaustauschen auf. In diesen
Lymphozyten war die Anzahl der Chromosomenaberrationen nach 6 monatiger Exposition signifikant erhöht, aber nicht bei kürzeren Expositionszeiten (Koshi et al.,
1986). Numerische Angaben wurden in der Kurzveröffentlichung nicht gemacht.
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
2.2.6
22
Mechanistische Überlegungen
Benzotrichlorid wird nach oraler Gabe schnell und umfassend resorbiert und im ganzen Körper verteilt. Die Substanz wird fast vollständig über den Urin in Form von
Hippursäure ausgeschieden. Untersuchungen zur inhalativen Exposition von Ratten
weisen darauf hin, dass Benzotrichlorid auch über die Lungen aufgenommen und als
Hippursäure mit dem Harn ausgeschieden wird (OECD, 2004; BG-Chemie, 1990).
Die Daten zur Krebsentstehung und Gentoxizität weisen darauf hin, dass es sich bei
Benzotrichlorid um ein gentoxisches Kanzerogen handelt. Der Mechanismus, über
den Benzotrichlorid seine nicht-kanzerogenen Effekte ausübt, ist nicht genau geklärt.
Die lokalen Reizwirkungen sind vermutlich auf die durch hydrolytische Spaltung entstehende Salzsäure zurückzuführen.
Es liegen keine Hinweise auf ausgeprägte Interspeziesunterschiede vor, weshalb ein
verminderter Interspeziesextrapolationsfaktor von 3 angewendet werden kann. Die
häufig verzögert auftretenden letalen Effekte bei Benzotrichloridexposition weisen
darauf hin, dass möglicherweise Metabolite für die letale Wirkung mit verantwortlich
sind. Zur Berücksichtigung individueller Unterschiede im Metabolismus und in der
Pharmakodynamik wird der Standardfaktor 10 verwendet.
2.3
Ableitung der AEGL-Werte
2.3.1
AEGL-1
Es liegen keine geeigneten Studien vor, in denen AEGL-1 relevante Effekte beobachtet wurden. Quantitative Beschreibungen der Reizwirkungen beim Menschen sind
nicht vorhanden. Geeignete Studien beim Tier fehlen. In der Studie von Bayer (Bayer
AG, 1978) wird beschrieben, dass bei einer halbstündigen Exposition gegen ca. 750
mg/m3 keine Symptome wie z.B. Irritationen, Beeinträchtigung der Atemfunktion, auftreten. Aber bei dieser Konzentration tritt bereits eine eingeschränkte Körpergewichtszunahme auf, was über dem Effektniveau für AEGL-1 liegt. Deshalb wird an
dieser Stelle auf die Ableitung von AEGL-1 Werten wird verzichtet.
2.3.2
AEGL-2
Symptome, wie sie von Mikhailova (1964) bei Expositionskonzentrationen >
100 mg/m3 beschrieben wurden (Irritationen, verlangsamte Atmung, Tiere beginnen
unruhig zu werden) wären prinzipiell geeignet als AEGL-2 relevante Endpunkte herangezogen zu werden. Die Konzentrationsangaben sind jedoch zu ungenau. Die
nächste Konzentration, die genannt wird liegt, bei über 1000 mg/m3 und führt bereits
zu Effekten auf AEGL-3 Niveau (u.a. Tiere gehemmt, Muskelzuckungen). Weiterhin
liegen keine Angaben vor, ob die Effekte bei > 100 mg/m3 reversibel sind, so dass
eine Ableitung auf Basis dieser Studie nicht möglich erscheint. In der Bayer-Studie
sind die Symptome, wenn sie auftreten, bereits so schwerwiegend (bis hin zur Lethargie und Letalität), dass sie über das AEGL-2 Niveau hinausgehen.
Die Ableitung des AEGL-2 erfolgt deshalb auf Basis der Daten für den AEGL-3.
AEGL-2 Werte werden als AEGL-3/3 ermittelt.
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
23
Basisstudie
Bayer AG, 1978
Endpunkt
Männliche/weibliche Ratte, ca. 800 mg/m3, 1 h: Atemstörungen, die bis zu 13 Tagen nach der Exposition
anhalten; Verhaltensstörungen (u.a. Lethargie)
Kalkulation
AEGL-2 als AEGL-3/3
30 Min 11,3 mg/m3 (1,4 ppm)
2.3.3
1h
9,0 mg/m3 (1,1 ppm)
4h
2,2 mg/m3 (0,28 ppm)
8h
1,13 mg/m3 (0,14 ppm)
AEGL-3
Die nachfolgende Tabelle fasst die Daten zur Letalität nach inhalativer Exposition
zusammen:
Tabelle 2-3:
Expositionskonzentration
(mg/m3)
Daten zur akuten inhalativen Toxizität von Benzotrichlorid
Expositionsdauer (h)
Tote Tiere/exponierte Tiere
(Geschlecht)
Referenz
Ratte
100
2
3/10 (m)
Mikhailova, 1964
150
2
LC50
Mikhailova, 1964
258
4
2/6 (m)
Bayer AG, 1978
300
4
2/6 (w)
Bayer AG, 1978
530
4
3/6 (w); LC50
Bayer AG, 1978
550
4
2/6 (m)
Bayer AG, 1978
600
4
2/6 (m)
Bayer AG, 1978
654
4
4/6 (w)
Bayer AG, 1978
747
0,5
0/6 (w)
Bayer AG, 1978
790
0,5
0/6 (m)
Bayer AG, 1978
795
1
0/6 (w)
Bayer AG, 1978
797
1
0/6 (m)
Bayer AG, 1978
995
3
4/6 (w)
Bayer AG, 1978
1014
4
5/6
Smyth et al., 1951
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
24
1147
3
1/6 (m)
Bayer AG, 1978
1167
7
6/6 (m)
Bayer AG, 1978
8390
1
LC50
Cavender (1979)
Maus
60
2
LC50
Mikhailova, 1964
Die niedrigsten LC50-Werte für Benzotrichlorid werden von Mikhailova (1964) berichtet: LC50 (2 h) Maus: 60 mg/m3, LC50 (2 h) Ratte: 150 mg/m3. Diese relativ hohe Toxizität steht im Widerspruch zu den von Cavender (1979) erhobenen Daten, die für die
Ratte eine LC50 (1 h) von 8390 mg/m3 berichten. Mittlere Werte für die Letalität werden in der Bayer Studie (Bayer AG, 1978) berichtet. Diese Studie wurde von der
OECD (2004) als qualitativ hochwertig, fast den Anforderungen der OECD TG 403
entsprechend, bewertet. Dagegen ist nach Meinung der OECD die Dokumentation in
der Publikation von Mikailova (1964) ungenügend. Diese Einschätzung wird für die
nachfolgende Bewertung übernommen. Eine eigene Bewertung ist nicht möglich, da
die Studie von Bayer nicht publiziert und nicht öffentlich zugänglich ist.
Neben den Daten zur Letalität wird in der Bayer-Studie beschrieben, dass Tiere, die
für 1 Stunde gegen ca. 800 mg/m3 exponiert waren, außer Irritationen Atemstörungen und Verhaltensauffälligkeiten (u.a. Lethargie) zeigten, die auch noch mehrere Tage nach der Exposition anhielten. Diese Effekte sind als derart schwerwiegend einzustufen, dass dadurch die Fähigkeit zur Flucht eingeschränkt ist. Sie
werden deshalb als Basis für die Ableitung des AEGL-3 herangezogen. Der Wert in
Höhe von 800 mg/m3 stellt zugleich den NOAEL für Letalität dar.
Da keine Anhaltspunkte für das Vorliegen relevanter Interspeziesunterschiede vorliegen, wird ein Interspeziesfaktor 3 verwendet. Die Beobachtung, dass Letalität häufig erst mehrere Tage nach der Exposition auftrat, weist darauf hin, dass nicht nur die
Muttersubstanz sondern auch die Stoffwechselprodukte für das Auftreten der adversen Wirkung verantwortlich sind. Zur Berücksichtigung möglicher interindividueller
Unterschiede im Metabolismus und pharmakodynamischer Unterschiede wird ein
Faktor 10 für die Intraspeziesextrapolation verwendet. Die Zeitextrapolation erfolgt
nach ten Berge: Cn × t = k. Wegen der großen Unterschiede zwischen den einzelnen
Studien bezüglich der Angaben zu LC50-Werten ist eine stoffspezifische Ableitung
der n-Werte nicht möglich. Die Daten aus der Bayer-Studie weisen auf einen linearen
Zusammenhang, also n=1, bei der Konzentrationszeitextrapolation hin. Zur Verbreiterung der Datenbasis wurden in der nachfolgenden Abbildung auch Werte nahe der
LC50 verwendet (vgl. Abbildung 2-1).
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
25
9000
8000
7000
Konzentration (mg/m3)
6000
5000
4000
3000
2000
1000
0
0
0,5
1
1,5
2
2,5
3
3,5
4
4,5
Zeit (h)
Abbildung 2-1: Konzentrations-Zeitbeziehung der Benzotrichlorid bedingten Letalität
unter Berücksichtigung der publizierten LC50-Werte.
Im Sinne einer konservativen Vorgehensweise wurden bei der vorliegenden AEGL-3
Ableitung bei der Zeitextrapolation der Standardwert n=3 für die Extrapolation auf
kürzere Expositionszeiten und n=1 für die Extrapolation auf längere Expositionszeiten verwendet. Für die AEGL-3 Ableitung ergibt sich somit:
Basisstudie
Bayer AG, 1978
Endpunkt
Männliche/weibliche Ratte, ca. 800 mg/m3, 1 h: Atemstörungen, die bis zu 13 Tagen nach der Exposition
anhalten; Verhaltensstörungen (u.a. Lethargie), keine
Letalität
Zeitextrapolation
Nach ten Berge: Cn × t = k mit dem Standardwert n=1
für die Extrapolation auf längere Expositionszeiten
und n=3 für die Extrapolation auf kürzere Zeitpunkte
Unsicherheitsfaktoren
Gesamt 30
Interspeziesvariabilität 3
Intraspeziesvariabilität 10
Modifying factor 1
Kalkulation
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
26
30 Min 34 mg/m3 (4,25 ppm)
1 h 27 mg/m3 (3,4 ppm)
4 h 6,75 mg/m3 (0,85 ppm)
8 h 3,4 mg/m3 (0,43 ppm)
2.4
Plausibilitätsprüfung
Die nachfolgende Tabelle fasst die hier abgeleiteten AEGL-Werte zusammen.
Tabelle 2-4:
Vorläufige AEGL-Werte für Benzotrichlorid (dieses Dokument)
3
3
Zeitpunkt
AEGL-1 mg/m
3
AEGL-2 * mg/m
10-min
nicht abgeleitet
nicht abgeleitet
nicht abgeleitet
30-min
nicht abgeleitet
11,3 (1,4 ppm)
34 (4,25 ppm)
1-h
nicht abgeleitet
9,0 (1,1 ppm)
27 (3,4 ppm)
4-h
nicht abgeleitet
2,3 (0,28 ppm)
6,8 (0,84 ppm)
8-h
nicht abgeleitet
1,13 (0,14 ppm)
3,4 (0,43 ppm)
AEGL-3 mg/m
*: als AEGL-3/3
Zum Vergleich mit den hier abgeleiteten AEGL-Werten werden die derzeitigen Protection Action Criteria (PAC, bei denen es sich in diesem speziellen Fall nur um einen anderen Namen für die ursprünglichen TEEL-Werte handelt) sowie der Temporary
Emergency
Exposure
Limit
TEEL-0
herangezogen
(siehe
http://www.atlintl.com/DOE/teels/teel/result.asp, Druckdatum 19. Januar 2009). Weitere Vergleichswerte wie z.B. ERPG liegen für Benzotrichlorid nicht vor.
TEEL-0 = 0,35 mg/m3 (0,04 ppm)
PAC1 = 1 mg/m3 (0,1 ppm)
PAC2 = 7 mg/m3 (0,9 ppm)
PAC3 = 25 mg/m3 (3 ppm)
TEEL-Werte gelten für eine 15-minütige Spitzenexposition. Eine Begründung für die
TEEL bzw. PAC Werte liegt uns nicht vor. AEGL-2 und AEGL-3 Werte für die 30minütige Exposition stimmen gut mit den PAC-Werten überein und werden durch
diese gestützt.
Von der „American Conference on Governmental Industrial Hygienists” (ACGIH,
1998) wurde eine Arbeitsplatzgrenzwert (TLV) in Höhe von 0,1 ppm (0,8 mg/m3)
festgelegt. In der Begründung für diesen Wert heißt es, dass dies unter Berücksichti-
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
27
gung seiner irritierenden Wirkung und in Analogie zu den anderen alphaChlortoluolen erfolgte, ohne Nennung weiterer Details. Es kann also angenommen
werden, dass die akute Reizwirkung maßgeblich für die Ableitung des TLV-war. Dieser Wert stützt somit den hier abgeleiteten AEGL-2 für 8 Stunden.
Benzotrichlorid (CAS 98-07-7)
2.5
28
Literatur-Anhang
ACGIH, American Conference of Governmental Industrial Hygienists, 1998
Documentation of the Threshold Limit Values and Biological Exposure Indices, 1998
Cincinnati, OH, 1998
Arkhipova, O.G.; Kochetova, T.A.; Shinkarenko, B. N., 1963
Toxic properties and biotransformation of benzotrichloride
Gigiena i Sanitarija, 28, 1963, 30-34, zitiert nach OECD, 2004
Bayer AG, 1978
Benzotrichlorid akute toxikologische Untersuchungen. Study report No. 7839 dated September 29,
1978, zitiert nach OECD, 2004
BG-Chemie, Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie, 1990
Toxikologische Bewertung Benzotrichlorid (Nr. 5)
BG Chemie, Heidelberg, 1990
Cavender. F. L., 1979
Acute inhalation toxicity study in rats. Report No 163-662 dated April 27, 1979 with cover letter
dated 7/27/82. Velsicol Chem Corp. FYI Submission FYI-OTS-1180-0107, Washington, DC: Office
of Toxic Substances, U.S. Environmental Protection Agency, zitiert nach OECD, 2004
Craig, D.K.; Davis, J.S.; DeVore, R.; Hansen, D.J.; Petrocchi, A.J.; Powell, T.J., 1995
Alternative guideline limits for chemicals without environmental response planning guidelines
American Industrial Hygiene Association Journal, 56, 1995, 919-925
Koshi, K.; Fukuda, K., 1986
Cytogenetic and morphological findings in rats exposed to benzotrichloride. Abstr. No. 25
Mutation Research, 164, 1986, 272
Levin, A.A., 1981
FYI Submission FYI-OTS-0981-0122,
Office of Toxic Substances, U.S. EPA, Washington, D.C.; zitiert nach Greim, 1996
Mikhailova, T.V., 1965
Comparative toxicity of chlorine derivatives of toluene: benzyl chloride, benzal chloride and benzotrichloride
Federation Proceedings. Translation Supplement, 24, 1965, T877-T880
OECD, Organisation for Economic Co-Operation and Development, 2004
SIDS Initial Assessment Report for SIAM 18. α,α,α-Trichlorotoluene (Trichloromethylbenzene)
UNEP Publications, 2004
Smyth, H.F.; Carpenter, C.P.; Weil, C.S., 1951
Range-finding toxicity data: list IV
Archives of Industrial Hygiene and Occupational Medicine, 4, 1951, 119-122
Ermittlung von Störfallbeurteilungswerten für kanzerogene Stoffe –
Fortsetzung 3
Teilbericht: Stoffbeispiel Acrylnitril
Gutachten erstellt im Auftrag des
Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen
Recklinghausen
Forschungs- und Beratungsinstitut
Gefahrstoffe GmbH
Werthmannstraße 16 • 79098 Freiburg
Bearbeitung:
Dr. Martin Hassauer
Dr. Fritz Kalberlah
Freiburg, Februar 2009
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
2
1 Stoffbeispiel Acrylnitril
1.1
Stoffspezifische Daten
Acrylnitril (synonym: Acrylsäurenitril, Vinylcyanid, Cyanethylen, 2-Propennitril, AN) ist
eine leichtflüchtige, farblose Flüssigkeit mit einem schwach stechenden Geruch. AN
wird hauptsächlich zur Produktion von Acrylfasern, synthetischem Kautschuk und
anderen Kunststoffen verwendet. AN reizt Haut und Atemwege, kann ernste
Augenschäden verursachen und wirkt sensibilisierend (Greim, 1999; UBA, 1997;
WHO, 2002). Die Substanz wurde von verschiedenen Organisationen als
wahrscheinlich für den Menschen krebserregend eingestuft.
Organisation
Kanzerogenität
Kategorie
EU
2
DFG (MAK)
2
WHO/IARC
2B
EPA
B1
Für die Umrechnung von mg/m3 in ppm gilt: 1 mg/m3 = 0,45 ppm, 1 ppm = 2,2 mg/m3
(WHO, 2002).
Die humantoxischen Wirkungen der Substanz sind nach Anhang I der Richtlinie
67/548/EEC mit folgenden R-Sätzen zu kennzeichnen:
R45: Kann Krebs erzeugen.
R23/24/25: Giftig beim Einatmen, Verschlucken und Berühren der Haut
R37/38: Reizt die Atmungsorgane und die Haut
R41: Gefahr ernster Augenschäden
R43: Sensibilisierung durch Hautkontakt möglich
1.1.1 Kanzerogenität
Die vorliegenden Humanstudien liefern Verdachtsmomente für einen Zusammenhang zwischen AN-Exposition und dem vermehrten Auftreten von Lungenkrebs,
jedoch ist die Evidenz aus epidemiologischen Studien unzureichend (IARC, 1999:
„inadequate evidence in humans“). In Tierversuchen konnte eine krebserzeugende
Wirkung eindeutig nachgewiesen werden (IARC, 1999: „sufficient evidence in
experimental animals“). Bei dieser Datenlage wird AN als Substanz eingestuft, die für
den Menschen als krebserzeugend angesehen werden sollte. Die Untersuchungen
zur Gentoxizität (vgl. Abschnitt 1.1.2) ergaben positive Befunde in vitro, in vivo
wurden überwiegend negative Ergebnisse erhalten.
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
3
1.1.1.1 Humandaten
Frühe epidemiologischen Daten der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts
ergeben Hinweise auf eine lungenkanzerogene Wirkung von AN bei beruflicher
Exposition. In den entsprechenden Follow-Up-Studien und auch aktuelleren Studien
konnte jedoch kein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Auftreten von
Lungen- oder anderen Tumoren und beruflicher AN-Exposition nachgewiesen
werden. Zusammenfassende und wertende Darstellungen liefern z.B. Cole et al.
(2008), IARC (1999), Sapphire (2004) und WHO (2002). Aktuellere Untersuchungen
werden im Folgenden kurz dargestellt (ggf. unter Bezug auf die älteren Arbeiten).
O‘Berg (1980) beschrieb das signifikant erhöhte Auftreten von Lungentumoren bei
beruflicher inhalativer AN-Exposition in US-amerikanischen Betrieben zur Acrylfaserherstelllung („DuPont-Kohorte“). Es wurden 25 Krebsfälle beobachtet (20,5 erwartet),
davon 8 Lungentumore (4,4 erwartet). Weiterhin wurden bei den Exponierten erhöhte
Inzidenzen für Prostatatumore beobachtet (3 Fälle vs. 0,9 erwartete). In einer Followup-Studie war das Auftreten von Lungentumoren immer noch leicht, jedoch nicht
mehr signifikant erhöht. (O‘Berg et al., 1985). Es liegt eine weitere Follow-up-Studie
für diese Kohorte vor, in der weitere Arbeiter (insgesamt 2559) mit in die Auswertung
einbezogen wurden (Wood et al., 1998). Die Standardmortalitätsrate für Lungenkrebs
betrug 0,8 (bezogen auf die Mortalitätsrate der Allgemeinbevölkerung). Die
Gesamtmortalitätsrate der exponierten Arbeiter war niedriger als in der Allgemeinbevölkerung (SMR 0,69, healthy worker effect). In einem aktuellen Follow-up dieses
Kollektives mit 2548 Arbeitern zeigte sich keine erhöhte Sterblichkeitsrate oder
tumorbedingte Mortalität mehr (Symons et al., 2008). Ein genereller Mangel der
Studien ist, dass der Raucherstatus nicht berücksichtigt wurde (Cole et al., 2008).
Czeizel et al. (2004) untersuchten die Krebsrisiken von 623 Berufstätigen mit
Exposition gegenüber AN in Ungarn, wobei 452 Personen kontinuierlich und 171
Personen nur gelegentlich exponiert waren (Kontrollgruppe n = 160). Die Exposition
betrug durchschnittlich 0,784 mg/m3. Die Autoren fanden keine erhöhten Krebsrisiken
im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, basierend allerdings auf nur einem
aufgetretenen Gehirntumor. Das kleine Kollektiv beschränkt zudem die Sensitivität
der Studie.
In einer Studie, die 25460 Arbeiter der AN-produzierenden oder verarbeitenden
Industrie der USA einschloss („NCI-NIOSH-Studie“), wurde insgesamt kein erhöhtes
Risiko für Tumore des Magens, Gehirns, der Brust, der Prostata oder des
lymphatischen und hämatopoetischen Systems beobachtet (Blair et al., 1998). Die
kumulative Exposition wurde dabei in folgende Kategorien eingeteilt: 0; 0,01 - 0,13;
0,14 - 0,57; 0,58 - 1,5; 1,5 - 8,0 und > 8,0 ppm @ Jahre. In der höchsten
Expositionsgruppe (> 8 ppm) wurde eine nicht signifikant erhöhte Mortalität infolge
von
Lungentumoren beobachtet
(1,5; 0,9-2,4),
bei den
niedrigeren
Expositionskategorien war keine klare Dosis-Wirkungsbeziehung ersichtlich. Bei
einer Einteilung der Expositionskategorien in Dezile zeigte sich, dass das relative
Risiko für Lungentumore mit steigender Exposition nicht weiter anstieg, vielmehr
sank das relative Risiko von der zweithöchsten (RR 1,7; neuntes Dezil) zur höchsten
(RR 1,3; zehnte Dezil) Expositionskategorie ab, was wiederum auf eine unklare
Dosis-Wirkungsbeziehung hinweist.
Eine Reanalyse dieses Kollektives durch Marsh et al. (2001) ergab auf Basis von
SMR-Daten der Allgemeinbevölkerung der USA bzw. der Regionalbevölkerung
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
4
geringere Risiken im Vergleich zur relativen Risikobetrachtung auf Basis interner
Studiengruppenvergleiche, wie sie von Blair et al. (1998) durchgeführt wurde (SMR
1,13 bzw. 0,9 beim Quintil der höchstexponierten Arbeiter).
Sponsiello-Wang et al. (2006) führten eine Metaanalyse von insgesamt 11 der
vorliegenden Studien durch. Sie ermittelten eine SMR für Lungentumore von 0,95
(0,86-1,06), unter Berücksichtigung eines healthy-worker Effekts (Basis: Vergleich
der beobachteten Tumorraten mit denen der internen Kontrollkollektive) eine SMR
von 1,25 (1,1-1,43, signifikant). Die Validität der Aussage wird jedoch dadurch
beschränkt, dass anhand der entsprechenden Originaldaten der Raucherstatus meist
nicht berücksichtigt werden konnte.
Collins und Acquavella (1998) führten eine Metaanalyse von 25 epidemiologischen
Studien durch, welche die AN-bedingten Tumorinzidenz bzw. Krebsmortalität
untersucht hatten. Diese Meta-Analyse konnte keine signifikant erhöhten
Krebsrisiken für AN-exponierte Arbeiter nachweisen. Zwar war das Risiko für
Blasenkrebs erhöht, jedoch nicht dosisabhängig und nur in Fabriken, in denen auch
gleichzeitig eine Exposition gegenüber aromatischen Aminen bestand
(Mortalitätsstudien, Relatives Risiko: Tumore allgemein: RR = 0,8; Lunge: RR = 0,9;
Prostata: RR = 1,0; Gehirn: RR = 1,1; Harnblase: RR = 1,4). In 7 der vorliegenden
Studien wurde die Inzidenz relativ zur Expositionshöhe betrachtet. Über diese 7
Studien gemittelt errechneten Collins und Acquavella (1998) ein relatives Risiko von
1,2 für Lungenkrebs. In keiner dieser Studien wurde allerdings ein expositionshöhenabhängiger Trend beobachtet. Zu übereinstimmenden Befunden kommen auch
Collins und Strother (1999) bei einer ähnlich gelagerten Auswertung im Hinblick auf
Gehirntumore im Zusammenhang mit AN-Exposition (Metaanalyse von 12 Studien,
RR = 1,1; 0,8-1,5)
Eine weitere Metaanalyse von 15 Kohortenstudien mit Exposition gegenüber AN
(Bofetta et al., 2008) kommt zu dem Schluss, dass die frühen Befunde zu einem
vermehrten Auftreten von Lungentumoren in den später durchgeführten Studien nicht
bestätigt werden und in den Follow-up-Studien über die Jahre (bis 1998) eine
Abnahme des Lungenkrebsrisikos in den Kollektiven ersichtlich ist. Das
zusammengefasste relative Risiko aus diesen Studien war 1,1 (0,9-1,4), wobei
allerdings die individuellen Dosis-Wirkungsbeziehungsdaten der einzelnen Studien
nicht berücksichtigt werden konnte.
In der aggregierten Auswertung der 4 umfangreichsten Kohorten durch Cole et al.
(2008) war für keine der ausgewerteten Endpunkte (Lunge, Gehirn, Blase, Prostata)
eine erhöhte Sterblichkeit durch Tumore ersichtlich.
In Ergänzung zu den o.g. Kohortenstudien wurde von Scelo et al (2004) eine FallKontrollstudie durchgeführt (2861 europäische Patienten mit Lungentumoren, 3118
Kontrollen), welche die Zusammenhänge zwischen einer Exposition gegenüber
Vinylchlorid, AN und Styrol untersuchte. Eine mögliche berufliche Exposition wurde
mit Hilfe von Experten abgeschätzt. 39 Patienten und 20 Kontrollen wurden als
gegenüber AN exponiert kategorisiert, es ergab sich ein signifikantes OR (odds ratio)
von 2,2 (1,11-4,36). Zu kritisieren ist diese Studie wegen der kleinen Fallzahlen und
der nur geschätzten Exposition. Zudem waren 22% der Exponierten in der
Schuhfabrikation beschäftigt. Dies beinhaltet einen Umgang mit Nitrilkautschuk,
deshalb vermutliche Mischexposition mit Butadien und eine vermutlich nur geringe
Exposition gegenüber AN (Cole et al., 2008).
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
5
Zusammenfassend scheint also AN-Exposition vor allem in älteren Studien mit einem
erhöhten
Lungenkrebsrisiko
korreliert,
wobei
nur
in
den
höchsten
Expositionsgruppen ein signifikant erhöhtes relatives Risiko zu beobachten war. Bei
den neueren Untersuchungen und den aktuellen follow-up-Studien wurde nahezu
durchgängig kein dosisabhängig signifikant erhöhtes Risiko beobachtet.
Zu einer ähnlich gelagerten Einschätzung kommen Sapphire (2004) und Haber und
Patterson (2005), welche die Diskussion des Peer Review Panels zu Sapphire
(2004) zusammenfassten. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass trotz einer
umfangreichen Datenbasis (> 50000 exponierte Berufstätige), z.T. guter
Expositionskategorisierung und langen Follow-up-Zeiträumen die epidemiologischen
Daten bei den entsprechenden Expositionskonzentrationen keinen eindeutigen
Zusammenhang zwischen AN-Exposition und erhöhtem Krebsrisiko aufzeigen, dass
aber eine Assoziation dennoch nicht vollständig ausgeschlossen werden könne.
Allerdings könne speziell bei höheren Expositionskonzentrationen eine kanzerogene
Wirkung von AN auch beim Menschen relevant werden.
1.1.1.2 Tierdaten
In den tierexperimentelle Untersuchungen zur kanzerogenen Wirkung (ältere Studien
nur an Ratten, zusammengefasst z.B. in Greim, 1999, IARC, 1999 oder WHO, 2002)
wirkte AN nach inhalativer und oraler Exposition kanzerogen. Mittlerweile wurden
weitere Studien mit oraler Exposition von Ratten (Johannsen und Levinskas, 2002a,
2002b; Quast, 2002), und eine Langzeituntersuchung an Mäusen (Ghanayem et al.,
2002) veröffentlicht, jedoch keine aktuelleren Studien mit inhalativer Exposition
(aktuelle Übersicht z.B. Sapphire, 2004).
Inhalation
Bei Sprague-Dawley-Ratten (30 Tiere je Geschlecht und Dosis), die für ein Jahr
gegenüber AN in Konzentrationen von 0, 5, 10, 20 und 40 ppm (0, 11, 22, 43 oder 86
mg/m3, 4 h/d, 5 d/w, 52 Wochen) inhalativ exponiert und über die gesamte
Lebensspanne beobachtet wurden, war die Gesamtinzidenz an benignen und
malignen Tumoren erhöht, ohne dass Tumoren einer spezifischen Lokalisation
signifikant gegenüber der Kontrolle vermehrt waren. Zudem war keine DosisWirkungsbeziehung ersichtlich. Bei 43 und 86 mg/m3 traten bei einzelnen Tieren
Gliazelltumore des Gehirns (enzephalische Gliome) auf, die bei Kontrolltieren nicht
beobachtet wurden (Maltoni et al., 1977; Maltoni und Mehlman, 1987; Maltoni et al.,
1988).
Auch in einer weiteren Inhalationsstudie, bei der trächtige Ratten sowie deren
Nachkommen (in utero und postnatal) inhalativ exponiert wurden (132 mg/m3, 4 h/d,
5 d/w bis 7 Wochen postnatal, danach 7 h/d, 5 d/w, Nachkommen für 8 oder 97
Wochen, Muttertiere 97 Wochen), wurde eine erhöhte Inzidenz an malignen
Tumoren in allen Behandlungsgruppen beobachtet (Maltoni und Mehlman, 1987;
Maltoni et al., 1988). U.a. traten Tumore der Brustdrüse, extrahepatische Angiosarkome, Tumore der Zymbaldrüse auf, welche aber für die jeweilige Lokalisation
nicht signifikant erhöht waren.
Ein ähnliches Tumorspektrum wurde auch in der Langzeitstudie von Quast et al.
(1980) beschrieben: Sprague-Dawley-Ratten wurden über 2 Jahre gegen 0, 20 und
80 ppm (0, 44 und 176 mg/m3) AN exponiert (100 Tiere/Gruppe/Geschlecht, 6
Stunden/Tag, 5 Tage/Woche außer an Feiertagen). Folgende Tumore wiesen
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
6
erhöhte Inzidenzen auf: Gliazelltumore (Astrozytome) und Zymbaldrüsentumore
(beide Geschlechter); Brustdrüsenadenokarzinome (Weibchen); bei Männchen:
Dünndarmtumore und Plattenepithelzelltumore der Zunge, sowie Vormagentumore
(nicht statistisch signifikant). Bei beiden Geschlechtern wurden auch Entzündungen
und Hyperplasien in der Nase beobachtet. Bei den Weibchen der höchsten
Dosisgruppe traten Nasentumore auf, jedoch nicht statistisch signifikant. Die
behandelten Tiere wiesen gegenüber den Kontrollen eine erhöhte Mortalität auf
(statistisch signifikant bei 80 ppm bereits im ersten Versuchsjahr), was auf eine
Überschreitung der maximal tolerablen Dosis (MTD) hinweist. Das Körpergewicht
war bei beiden Geschlechtern in der höchsten Dosisgruppe über die gesamte
Versuchsdauer signifikant gegenüber der Kontrolle vermindert (außer bei Weibchen
in den letzten Versuchsmonaten). Die Inzidenzen für die genannten Lokalisationen
sind in der folgenden Tabelle 1 wiedergegeben.
Tabelle 1
Tumorinzidenz bei Sprague-Dawley-Ratten nach inhalativer Exposition
gegen Acrylnitril über die gesamte Lebenszeit (Quast et al., 1980).
Tumortyp
Geschlecht
0 ppm
20 ppm (44
mg/m3)
80 ppm (176
mg/m3)
Überlebende Tiere nach 12
Monaten
m
96/100
92/100
81/100
w
91/100
97/100
81/100
18/100
14/100
4/100
22/100
9/100
1/100
0/100
0/99
7/99
0/100
4/100
4/100
0/100
4/99
15/99*
0/100
4/100
17/100*
1/96
0/14
7/89*
0/96
0/9
1/91
Überlebende Tiere nach 24
Monaten
m
w
Fokale oder multifokale
Gliazellproliferationen
m
w
Astrozytome
m
w
Zunge
(Plattenepithelkarzinome)
m
w
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
Dünndarmkarzinome
7
m
w
Zymbaldrüsentumore
(Adenome und Karzinome)
Brustdrüsenadenokarzinome
m
w
m
w
2/99
2/20
14/98*
0/100
3/100
4/100
2/100
4/100
11/100*
0/100
2/100
13/100*
0/100
0/100
1/100
9/100
8/100
20/100*
* signifikanter Effekt, p < 0,05 (Fisher’s Exact Test)
Andere Pfade
Quast (2002) exponierten Sprague-Dawley Ratten (je 80 pro Geschlecht und Dosis
in der Kontrollgruppe, je 48 in den Dosisgruppen) für 2 Jahre gegenüber AN im
Trinkwasser in Konzentrationen von 0, 35, 100 und 350 mg/l (0, 3,4; 8,5 und 21,3
mg/kg • d für Männchen, 0, 4,4; 10,8 und 25,0 mg/kg • d für Weibchen). Zusätzlich
wurde eine Gruppe von 10 Tieren pro Geschlecht und Dosis 1 Jahr exponiert. Die
Exposition bewirkte in allen Gruppen eine Körpergewichtsreduktion und bei
Weibchen erhöhte Mortalität (bei Männchen bei 300 mg/l). Beobachtet wurden
dosisabhängige Hyperplasien und Hyperkeratosen des Vormagenepithels bei allen
exponierten Weibchen, bei Männchen ab 100 mg/l, und nichtneoplastische
Veränderungen in mehreren Organen, u.a. dem Gehirn (fokale Gliosen). Tumore des
Gehirns (u.a. Astrozytome) und Vormagenpapillome traten bereits nach 7-12
Monaten auf und waren am Ende der Studie bei Tieren beiderlei Geschlechts in allen
Expositionsgruppen signifikant und dosisabhängig vermehrt. Weitere Lokalisation mit
signifikanter kanzerogenen Effekten waren Zymbaldrüse, Zunge, Vormagen, Darm
und Brustdrüse.
Bei Sprague-Dawley Ratten (40 Tiere je Geschlecht und Dosis, Kontrollgruppe je 75
Tiere), die für ein Jahr per Schlundsonde 3-mal pro Woche gegenüber 5 mg/kg AN
exponiert und über die gesamte Lebensspanne beobachtet wurden, war keine
signifikante kanzerogene Wirkung zu beobachten (Maltoni et al., 1977; Maltoni und
Mehlman, 1987; Maltoni et al., 1988).
Johannsen und Levinskas (2002a) exponierten Sprague-Dawley Ratten (100 je
Gruppe und Geschlecht) für ca. 20 Monate gegenüber 0, 1 und 100 mg/l Trinkwasser
(entsprechend 0, 0,09-0,15 und 8,0-10,7 mg/kg • d) oder per Schlundsonde in Dosen
von 0, 0,1 und 10 mg/kg • d (vergleichbare Dosen für verschiedene Applikationsart).
Bei Männchen der höheren Dosis (beide Studien) war die Körpergewichtsentwicklung verzögert. Verabreichung über Trinkwasser bewirkte bei der höheren Dosis
eine vermehrte Bildung von Astrozytomen des Gehirns sowie Karzinomen des
Vormagens und der Zymbaldrüse. Bei der Schlundsondenstudie wurde eine erhöhte
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
8
Inzidenz für Tumore in Gehirn (Astrozytome), Zymbaldrüse (Karzinome) und
Vormagen (Papillome/Karzinome) beobachtet. Die Trinkwasserverabreichung war
hinsichtlich der Entstehung der Astrozytome effektiver als Schlundsondenapplikation,
während die kanzerogene Wirkung im Verdauungstrakt bei Schlundsondengabe
stärker war.
Johannsen und Levinskas (2002a) untersuchten die kanzerogene Wirkung von AN
bei lebenslanger Trinkwasserexposition auch in F344 Ratten in Konzentrationen von
0, 1, 3, 10, 30 und 100 mg/l, entsprechend Körperdosen von 0, 0,1; 0,3-0,4; 0,8-1,3;
2,5-3,7 und 8,4-10,9 mg/kg • d. Bei der höchsten Dosierung war die
Körpergewichtentwicklung verzögert und die Mortalität erhöht. Ab 10 mg/l traten
signifikant vermehrt Astrozytome des Gehirns und Karzinome der Zymbaldrüse auf.
Nichtkanzerogene und kanzerogene Veränderungen waren auch im Vormagen zu
beobachten (Hyperplasien und Hyperkeratosen/ Papillome und Karzinome).
Zusätzlich zu den beschriebenen Studien an Ratten liegt auch eine NTP-Studie an
Mäusen vor (Ghanayem et al., 2002; NTP, 2001). Hierbei wurden B6C3F1 Mäuse
per Schlundsonde an 5 d/w für 2 Jahre gegenüber 0, 2,5, 10, und 20 mg/kg • d AN
exponiert. Bei der höchsten Dosis war die Mortalität erhöht und die Körpergewichte
reduziert. Weiterhin zeigten sich bei weiblichen Tieren vermehrt Atrophien und
Zysten der Ovarien. Bei den beiden höheren Dosisgruppen traten signifikant
vermehrt nichtkanzerogene und kanzerogene Effekte im Vormagen (Hyperplasien
und Hyperkeratosen/ Papillome und Karzinome) auf. Die Inzidenzen für Tumore der
Harder’schen Drüse waren bei allen exponierten Männchen und Weibchen ab 10
mg/l erhöht. Die Autoren werten die Befunde als „clear evidence of carcinogenic
activity“. Kanzerogene Effekte in Ovarien und Lunge bei weiblichen Mäusen wurden
als „may have been related to administration of acrylonitrile” gewertet.
In vitro induzierte AN Zelltransformationen in Mäuse- und Hamsterzellkulturen,
welche mit der Induktion von 8-Oxodeoxyguanosin korreliert waren (IARC, 1999;
Saphhire, 2004).
1.1.2 Gentoxizität
Humandaten
Zwei in einer Übersichtsarbeit zitierte Untersuchungen an gegenüber AN exponierten
Arbeitern sind wegen Mischexposition gegenüber anderen Chemikalien nicht
bewertbar (ECB, 2004).
Beskid et al. (2006) untersuchten Chromosomenschäden bei 61 AN-exponierten
Arbeitern (Kautschukpolymerisation, Exposition bis zu 0,7 mg/m3 AN, keine
Angaben, ob Mischexposition vorlag) mittels Fluoreszenz-in situ- Hybridisierung der
Chromosomen 1 und 4. Sie fanden signifikante Unterschiede im Vergleich zu 49
nichtexponierten Kontrollen. Die Anzahl der Aberrationen auf Chromosom 1 der
Exponierten waren erniedrigt, die auf Chromosom 4 erhöht.
Berufliche Exposition gegenüber AN und Dimethylformamid (bis zu 0,3-17,6 mg/m3
bzw. 0,6 bis 23 mg/m3) führte bei 26 exponierten Arbeitern im Vergleich zu
Kontrollpersonen zu erhöhten Raten an Chromosomenaberrationen, Schwesterchromatidaustauschen und außerplanmäßiger DNA-Synthese (UDS) in peripheren
Lymphozyten (Major et al., 1998). Da Dimethylformamid in entsprechenden
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
9
Gentoxizitätsstudien überwiegend negativ getestet wurde, könnte diese Wirkung von
AN herrühren. Allerdings beschränkt die kleine Fallzahl und die Mischexposition die
Aussagekraft dieser Studie.
Andere Daten
AN wirkte in einer Vielzahl von in vitro Testsystemen gentoxisch, insbesondere nach
metabolischer Aktivierung, während die in vivo-Befunde zumeist negativ waren
(allerdings bei beschränkter Datenbasis). In der Sekundärliteratur wird AN (nach
metabolischer Aktivierung zu Cyanoethylenoxid, vgl. Abschnitt 1.1.3) als nur
schwaches Mutagen bewertet (ECB, 2004; Sapphire, 2004; WHO, 2002).
Zahlreiche Tests an Bakterien erbrachten (fast ausschließlich bei metabolischer
Aktivierung) positive Befunde in Salmonella typhimurium sowie in E.coli. Auch in
Hefen wurden durch AN gentoxische Effekte (Genkonversionen, Mutationen,
Aneuploidie) induziert. In Untersuchungen an Säugerzellen in vitro erwies sich die
Substanz sich als mutagen, so (mit und ohne metabolische Aktivierung) im L5178Y
Mauslymphom-Assay und bei metabolischer Aktivierung in humanen Lymphoblasten.
Für dieses Testsystem liegen aber auch negative Befunde vor. Bei Untersuchungen
auf
chromosomenschädigende
Wirkungen
(Induktion
von
Mikronuklei,
Chromosomenaberrationen oder Schwesterchromatidaustausch) in Zellen des
chinesischen Hamsters wurden (mit und ohne metabolische Aktivierung)
überwiegend positive Ergebnisse beobachtet, während die Resultate in humanen
Zellen (Lymphozyten, Bronchialepithelzellen) uneinheitlich ausfielen. Allerdings
waren positive Befunde z.T. mit zytotoxischen Wirkungen assoziiert. AN verursachte
DNA-Brüche in Säugerzellen verschiedener Spezies, die Befunde zur Induktion von
UDS waren überwiegend negativ. Der Metabolit Cyanoethylenoxid war (ohne
metabolische Aktivierung) in menschlichen Lymphoblasten (TK-Locus) mutagen und
induzierte UDS in humanen Mammaepithelzellen, aber nicht in primären
Rattenhepatozyten. Die Substanz band auch in vitro an Nukleinsäuren und bildet 7(2-oxoethyl)-Guaninaddukte und weitere DNA-Addukte (ECB, 2004; Greim, 1999;
IARC, 1999; Sapphire, 2004; WHO, 2002).
In Drosophila melanogaster war das Auftreten von somatischen Mutationen und
Rekombinationen nach inhalativer und oraler Exposition erhöht. In vivo wurden in
Nagern überwiegend negative Befunde zur gentoxischen Wirkung erhoben (Tests
auf Induktion von Mikronuklei, Chromosomenaberrationen und Schwesterchromatidaustausch in Knochenmark und Blut von Mäusen sowie von dominanten
Letalmutationen bei Mäusen und Ratten). Nach intraperitonealer Applikation von AN
wurden in einer Studie geringe DNA-Adduktmengen in der Leber von Ratten
nachgewiesen (N7-(2-oxoethyl-)-Guanin-Addukte), nicht aber bei mehreren Studien
im Gehirn von Ratten. In weiteren Untersuchungen (subakute orale Exposition von
Ratten) war die Menge an 8-Oxodeoxyguanosin im Gehirn erhöht. Dies weist auf
eine oxidative Schädigung der DNA im Gehirn hin. Nach subchronischer oraler
Exposition von Ratten wurde eine dosisabhängig erhöhte Mutationsrate am HPRTLokus in T-Zellen der Milz berichtet. Studien, bei denen nach oraler Exposition von
Ratten Induktion von UDS und DNA-Addukte in Leber, Verdauungstrakt, Gehirn,
Lunge und Testes nachgewiesen wurden, werden als nicht verlässlich eingeschätzt,
da bei der gewählten Methodik evtl. auch replizierende Zellen erfasst wurden und
möglicherweise Kontamination mit Protein (und damit Proteinaddukten) vorlag: AN
kann als direktes Alkylans mit den Thiolgruppen von Proteinen reagieren und bildet
z.B. effektiv Hämoglobinaddukte (N-Cyanethyl-Valin in Erythrozyten), welche als
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
10
interner Belastungsparameter verwendet werden (ECB, 2004; Greim, 1999; Greim
und Lehnert, 2000; IARC, 1999; Sapphire, 2004; WHO, 2002).
In einer in diesen Übersichtsarbeiten nicht berücksichtigten Studie von Wakata et al.
(1998) wurde nach i.p. Applikation oder Schlundsondengabe eine Induktion von
Schwesterchromatidaustauschen in Maus-Knochenmarkzellen sowie die Induktion
von Mikrokernen im Knochenmark von Ratten beobachtet.
1.1.3 Metabolismus
AN wird inhalativ, oral und dermal gut resorbiert. Beim Menschen wurde in
Freiwilligenstudien bei inhalativer Exposition eine Resorptionsrate von ca. 50%
bestimmt, bei Ratten und Affen war die Retention nahezu vollständig. Bei oraler
Exposition wird nach Befunden aus Tierstudien von vollständiger Resorption
ausgegangen. Die dermale Penetrationsrate bei Freiwilligen war 0,6 mg/cm2 • h, an
menschlicher Haut in vitro 3,6 mg/cm2 • h (ECB, 2004; Sapphire, 2004).
AN wird über zwei Reaktionspfade verstoffwechselt:
-
beim reduktiven, entgiftenden Stoffwechsel führt eine nichtenzymatische oder
enzymatische Konjugation mit Glutathion (GSH) zur Bildung von N-Acetyl-S(2-cyanoethyl)cystein und S-(2-Cyanoethyl)thioessigsäure, welche im Urin von
Nagern nachgewiesen werden konnten (letztere nur bei der Maus).
-
beim oxidativen Stoffwechsel, welcher bei Glutathionmangel begünstigt wird,
wird AN durch Cytochrom P450 (CYP2E1) zu Cyanoethylenoxid metabolisiert,
was als aktivierender Schritt interpretiert wird. Dieser Metabolit ist ein stabiles
Epoxid mit einer Halbwertszeit von 99 min (37 °C, Phosphatpuffer). Es wurde
im Blut und im Gehirn von behandelten Tieren nachgewiesen.
Cyanoethylenoxid kann entweder mit Makromolekülen reagieren (vgl.
Abschnitt 1.1.2), mit Glutathion konjugiert werden oder hydrolysieren. Im Urin
von
Nagern
gefundene
Hauptmetabolite
waren
N-Acetyl-S-(2hydroxyethyl)cystein
und
N-Acetyl-S-(1-cyano-2-hydroxyethyl)cystein,
weiterhin
N-Acetyl-S-(2-carboxymethyl)cystein,
Thiodiglykolsäure,
Thionyldiessigsäure und Thiocyanat (siehe Abbildung -1). Bei inhalativer und
oraler Exposition scheint auch bei niedrigen Dosen neben dem reduktiven
Metabolismus ein relevanter oxidativer Stoffwechsel stattzufinden.
Die Ausscheidung erfolgt überwiegend über den Urin, in geringerem Umfang auch
über Faeces und Abatmung (als CO2). Eine nennenswerte Akkumulation ist nicht zu
erwarten (ECB, 2004; Greim, 1999; IARC, 1999; Sapphire, 2004; WHO, 2002).
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
Abbildung -1
1.2
11
Metabolismusschema für Acrylnitril (in Anlehnung an IARC, 1999
bzw. WHO, 2002).
Berechnung der krebserzeugenden Potenz von Acrylnitril nach
Einmalexposition
1.2.1 Mechanistische Überlegungen
Es liegen experimentelle Vergleichsdaten vor, welche das Auftreten von Tumoren
nach kürzerer als lebenslanger Exposition berichten: in der Studie von Maltoni
(Maltoni et al., 1977; Maltoni und Mehlman, 1987; Maltoni et al., 1988) wurden
Ratten nur über 52 Wochen inhalativ exponiert und lebenslang nachbeobachtet (vgl.
Abschnitt 1.1.1.2). Es war jedoch in dieser Studie keine klare DosisWirkungsbeziehung der kanzerogenen Effekte ersichtlich. Die bei jeweils wenigen
Tieren pro Gruppe (1-2) beobachteten enzephalischen Gliazelltumore des Gehirns
unterschieden sich zudem vom Tumortyp von den in der Studie von Quast et al.
(1980) nach 2-jähriger Expositionsdauer hauptsächlich aufgetretenen Astrozytomen.
Eine nach Expositionsdauer differenzierte Risikoabschätzung auf Basis dieser Daten
erscheint deshalb äußerst unsicher.
In älteren Studien an Ratten, Mäusen und Hunden (Brewer, 1976) wurden dagegen
bei inhalativer Exposition bis zu 243 mg/m3 (6 h/d, 5 d/w 57 Expositionen) Anzeichen
von Atemwegsreizungen, jedoch keine hyper- oder neoplastischen Gewebsveränderungen berichtet.
Im Hinblick auf den Mechanismus der Kanzerogenese wird das durch CYP2E1
gebildete Cyanoethylenoxid überwiegend für die Bindung an Nukleinsäuren (N7-(2-
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
12
oxoethyl-)-Guanin-Addukte) sowie die Bindung an Proteine und eine daraus
resultierende Gewebetoxizität verantwortlich gemacht, während die Konjugation mit
Glutathion einen entgiftenden Schritt darstellt.
Die Diskrepanz der gentoxischen Aktivität von Cyanoethylenoxid (in vitro positiv, in
vivo überwiegend negativ, siehe Abschnitt 1.1.2) wird mit entgiftenden Mechanismen
im lebenden Organismus erklärt, welche in vitro nicht existieren. Es ist vorstellbar,
dass es bei sehr hoher Exposition infolge von Sättigung dieser Mechanismen
(Glutathiondepletion) zu einer vermehrten Bildung von Cyanoethylenoxid und evtl.
gentoxischer Wirkung kommt (Bolt, 2003; ECB, 2004; Sapphire, 2004; WHO, 2002).
Als relevanter Mechanismus für die Entstehung der Gehirntumoren bei der Ratte wird
in letzter Zeit vor allem (abgesehen von einer evtl. sehr schwachen gentoxischen
Wirkung), eine indirekte gentoxische Wirkung in Form oxidativer DNA-Schädigung
infolge von oxidativem Stress angesehen. Da das Gehirn selbst eine nur geringe
Aktivität für den AN-Metabolismus aufweist, sind vermutlich in anderen Organen
(Leber, Lunge) gebildete und über das Blut ins Gehirn transportierte Metabolite für
die toxischen Effekte verantwortlich (Bolt, 2003; Sapphire, 2004; WHO, 2002). Diese
vermutlich organspezifische Wirkung im Gehirn der Ratte wird u.a. mit einer
geringeren Aktivität an antioxidativen Schutzmechanismen im Vergleich zur Maus
sowie einer AN-induzierten Inhibition der interzellulären Kommunikation erklärt.
(Sapphire, 2004). Zusätzlich zu diesen Faktoren scheiden Ratten AN langsamer aus
als Mäuse (nach i.v. Applikation äquivalenter Dosen), so dass die interne Belastung
bei Ratten vermutlich höher ist als bei Mäusen (Jacob und Ahmed, 2004).
Zwei Studien berichten die vermehrte Bildung von 8-Oxodeguanosin im Gehirn von
Sprague-Dawley Ratten, welche 14-90 Tage mit 30-500 mg/l Trinkwasser behandelt
worden waren. Bei Exposition gegenüber bis zu 5 mg/l konnten auch nach 90 Tagen
keine derartigen Veränderungen beobachtet werden, so dass ein Schwellenwert für
oxidativen Stress unterstellt wird. In Mäusehirnen zeigten sich dagegen keine
oxidativen DNA-Schäden (Jiang et al., 1998; Sapphire, 2004; Whysner et al., 1998).
Die oxidative DNA-Schädigung korrelierte aber nicht notwendigerweise mit anderen
zelltypischen Anzeichen von oxidativem Stress: zwar fanden Jiang et al. (1998)
reduzierte Glutathionkonzentration, Katalase und Superoxid-Dismutase-Aktivität im
Gehirn der behandelten Tiere, Whysner et al. (1998) konnten dagegen keine
Veränderung der Konzentration an Glutathion oder Aktivitätsänderungen der
Glutathionoxidase oder Katalase und auch keine vermehrte Lipidperoxidation
nachweisen. Auch in einem weiteren in vivo-Experiment an Ratten, denen 14 Tage
lang 200 mg/l AN im Trinkwasser verabreicht wurde, konnte in den Gehirnen im
Vergleich zu Kontrollen keine Anzeichen von oxidativem Stress beobachtet werden
(untersuchte Parameter: Lipidperoxidation, verminderte Glutathionkonzentrationen
und erniedrigte Katalasewerte; Carrera et al., 2007).
Oxidative DNA-Schäden wurden auch bei Studien mit Rattengehirnzellen in vitro
beobachtet. In der Studie von Kamendulis et al. (1999) verursachte AN in Gliazellen
die Bildung von 8-Hydroxydeguanosin (nicht aber in Parallelstudien mit
Hepatozyten), zusammen mit einer Verringerung der Glutathionkonzentration und
der Aktivitäten von Katalase und Superoxid-Dismutase. Eine oxidative DNASchädigung, jedoch keine DNA-Strangbrüche, wurden in einer Untersuchung von Pu
et al. (2006) an Rattenastrozyten berichtet, welche durch Antioxidanzien vermindert
und durch Glutathiondepletion verstärkt wurde. Die Zugabe eines Cytochrom P450-
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
13
Inhibitors verhinderte die DNA-Schädigung, was mit der Hypothese der oxidativen
Aktivierung der Substanz in Einklang steht.
Auch die zelltransformierenden Eigenschaften von AN in Hamsterembryozellen in
vitro wurden mit einer oxidativen Schädigung erklärt (Zhang et al., 2002).
Die oxidative DNA-Schädigung ist deshalb relevant, weil die Anwesenheit von 8Oxodeguanosin bei der Replikation Mutationen (A → T oder C → G Austausche)
auslösen und die Genexpression verändern kann (Murata et al., 2001; Sapphire,
2004).
Dass speziell die Glutathiondepletion ein relevanter Mechanismus der AN-Toxizität
sein könnte zeigen in vitro-Experimente an Rattengehirnzellen bei denen die
toxischen Wirkungen von AN in Rattenastrozyten und –gliazellen (Viabilität,
Membranschädigung, Lipidperoxidation) durch N-Acetylcystein als Glutathionquelle,
nicht aber durch andere Antioxidanzien vermindert wurden (Carrera et al., 2007;
Esmat et al., 2007).
Als weitere Ursache für toxische Wirkungen wird auch das bei der Hydrolyse des
Cyanoethylenoxids entstehende Cyanid vermutet (Chanas et al., 2003; Esmat et al.,
2007), welches durch Entkopplung der oxidativen Phosphorylierung reaktive Sauerstoffspezies und somit ebenfalls oxidativen Stress auslösen kann (Murata et al.,
2001).
Dennoch ist AN ein pluripotentes Kanzerogen in Ratten (Zymbaldrüse; Brustdrüse,
Zunge, Vormagen, Dünndarm, Nase) und Mäusen (Harder’sche Drüse, Vormagen).
Es kann also vermutet werden, dass mit Ausnahme des Gehirns andere
Mechanismen der Kanzerogenese als oxidative DNA-Schädigung relevant sind, so
z.B. die in anderen Organen beobachtet DNA-Adduktbildung (Bolt, 2003; ECB,
2004). Das Ausbleiben von Lebertumoren (einem Hauptorgan des Stoffwechsels, mit
potenziell hoher Wahrscheinlichkeit der Bildung des gentoxischen Metaboliten
Cyanoethylenoxid und dem Nachweis geringer Mengen an N7-(2-oxoethyl-)-GuaninAddukten) zeigt jedoch, dass zusätzlich zu gentoxischen Effekten noch weitere
Faktoren relevant sein müssen.
1.2.2 Verwendung stoffspezifischer Daten
1.2.2.1 Verwendung von Kanzerogenitätsdaten
NAC/AEGL-Kanzerogenitätsbewertung für Acrylnitril
Im „Technical Support Document“ für Acrylnitril (Stand: Juli 2007, Proposed status)
wurde ein nennenswertes Krebsrisiko bei Einmalexposition gegenüber AN verneint
und keine quantitative Betrachtung im Vergleich zu nichtkanzerogenen Effekten
vorgenommen (Anonymus, 2007).
Unit Risk Ableitungen
Es liegen mehrere unit risk-Abschätzungen für die inhalative Exposition vor, welche
entweder auf den Lungentumorraten bei Humanexposition oder auf den Daten der
Rattenstudie von Quast et al. (1980) basieren (entweder auf Basis kumulierter
Inzidenzen in mehreren Organen oder auf Basis der Gehirntumore). Eine
Zusammenfassung dieser Abschätzungen und ihre Qualitätsbewertung finden sich in
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
14
Schneider et al. (2002). Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Abschätzungen
auf Basis von Humandaten generell mit großen Unsicherheiten behaftet sind
(Kategorie UR-, u.a. wegen der Verwendung veralteter Daten, Unsicherheiten der
Expositionsabschätzung, Nichtberücksichtigung des Raucherstatus, teilweise
Mischexposition mit anderen Kanzerogenen). Gleiches trifft auf die mittlerweile
vorliegende aktuellere Risikoabschätzung der WHO (2000) zu, bei der gegenüber
der Fassung von 1987 keine inhaltliche Aktualisierung erfolgte.
Dagegen wurden die Ableitungen auf Basis der Tierstudie mittels linearer
Extrapolation in den Niedrigdosisbereich (direkte lineare Extrapolation, MultistageModell, ED10/LED10-Verfahren auf Basis eines Multistage-Modells) durchgängig als
verlässlicher, jedoch angesichts der mechanistischen Diskussion (mögliche
Beteiligung indirekt gentoxischer und/oder nichtgentoxischer Faktoren) dennoch als
mit Unsicherheiten behaftet angesehen. Die Spanne der Abschätzungen ist trotz
teilweise etwas unterschiedlicher Methodik sehr gering und umfasst unit riskSchätzer im Bereich von 5,7 • 10-6 bis 2,7 • 10-5 pro µg/m3 (Faktor < 5).
Zu Vergleichszwecken wurde auch von Sapphire (2004) eine lineare Extrapolation
analog den o.g. Risikoabschätzungen durchgeführt. Die Autoren kamen auf Basis
der externen Belastungen und einer LED10 der zusammengefassten Ergebnisse der
vorliegenden Inhalationsstudien zu Gehirntumoren (Quast et al.; Maltoni et al.: Daten
von Muttertieren und Nachkommen) zu einem unit risk-Schätzer in Höhe von 1,5 •
10-6 pro µg/m3. Für die Daten der Studie von Quast et al. (1980) ergäbe sich
entsprechend ein unit risk von 1,7 • 10-6 pro µg/m3 (Faktor <3 niedriger als die untere
Grenze der o.g. Spanne). Ausgehend von einer Betrachtung der inneren Belastung
gegenüber Cyanoethylenoxid im Gehirn (Methodik siehe im folgenden Abschnitt
„Nichtlineare Risikoextrapolation“) wurde eine LED10 von 22,9 mg/m3 abgeleitet,
welche in linearer Extrapolation mit einem unit risk von 4,4 • 10-6 pro µg/m3
korrespondiert.
Insgesamt kommen die vorliegenden linearen Risikoabschätzungen also zu gut
übereinstimmenden Werten (für unterschiedliche Verfahren mit einer Spanne von ca.
einer Größenordnung). Allerdings ist davon auszugehen, dass diese unit risk-Werte
angesichts des vermuteten Schwellenwert-behafteten Mechanismus einer oxidativen
DNA-Schädigung eine Risikoüberschätzung bedingen.
Wenn man ein unit risk von 0,8 • 10-5 pro µg/m3 (Mittel der Spanne der
Risikoabschätzungen auf Basis der Gehirntumore in männlichen Ratten der Studie
von Quast et al., 1980) als Basis für die Extrapolation auf kurzzeitige Exposition
zugrunde legt, ergibt sich ein Risiko von 1 • 10-4 (1:10000) bei einer lebenslangen
Exposition (70 Jahre = 25600 Tage) gegenüber 12,5 µg/m3.
Für eine Kurzzeitexposition von einem Tag ergibt sich somit:
12,5 µg/m3 x 25600 = 320 mg/m3
Das National Advisory Committee for Acute Exposure Guideline Levels for
Hazardous
Substances
(NAC/AEGL)
verwendet
üblicherweise
einen
Standardunsicherheitsfaktor von 6, um die Unsicherheiten bei der Berechnung der
Kanzerogenität nach Kurzzeitexposition auf Basis einer chronischen Studie zu
berücksichtigen.
320 mg/m3 / 6 = 53 mg/m3 (24 ppm).
Eine Konzentration von 24 ppm über 24 Stunden würde also einem Risiko von
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
15
1:10000 entsprechen.
Linear umgerechnet auf die kürzeren Zeiträume unter Berücksichtigung der
Haber’schen Gesetzes Cn x t = constant mit n = 1 ergibt sich somit unter
Berücksichtigung eines Krebsrisikos von 1:10000:
8 h: 72 ppm
4 h: 144 ppm
1 h: 576 ppm
T25-Ableitung
In ECB (2004) wurde für die Berechnung nach dem T25-Konzept (zur Methodik
vergleiche AGS, 2008) die Daten für Gehirntumore bei männlichen Ratten aus der
Studie von Quast et al. (1980) zu Grunde gelegt. Es ergab sich eine T25 von 16,1
mg/kg • d. Umgerechnet auf die äußere Exposition des Menschen (Annahme 20 m3
Atemvolumen/d, 70 kg Gewicht) entspricht dies einer Luftkonzentration von 56,4
mg/m3 (25,6 ppm).
Linear umgerechnet auf ein 1:10000 Risiko ergibt sich auf Basis der T25 ein
Tumorrisiko von 1:10000 bei 0,023 mg/m3
Diese Berechnungen gehen von einer lebenslangen Exposition (70 Jahre = 25600
Tage) aus. Für eine Kurzzeitexposition von einem Tag ergibt sich somit:
0,023 mg/m3 x 25600 = 589 mg/m3
Unter Verwendung des bei NAC/AEGL üblichen Standardunsicherheitsfaktors von 6,
um die Unsicherheiten bei der Berechnung der Kanzerogenität nach
Kurzzeitexposition auf Basis einer chronischen Studie zu berücksichtigen, ergibt sich:
589 mg/m3 / 6 = 98 mg/m3 (44 ppm)
Eine Konzentration von 44 ppm über 24 Stunden würde also einem Risiko von
1:10000 entsprechen.
Linear umgerechnet auf die kürzeren Zeiträume unter Berücksichtigung der Beziehung cn x t = k mit n = 1 ergibt sich somit unter Berücksichtigung eines Krebsrisikos
von 1:10000:
8 h: 132 ppm
4 h: 264 ppm
1 h: 1056 ppm
Angesichts der guten Modellierbarkeit der Daten der Studie von Quast et al. (1980)
mit dem Multistage-Modell ist im konkreten Fall der Risikoabschätzung auf Basis der
ED10/LED10-Methode der Vorzug zu geben, da hierbei die gesamte DosisWirkungsbeziehung berücksichtigt werden kann. Die Abschätzung auf Basis der T25
kommt allerdings nur zu geringfügig höheren Werten bestätigt i.w. deren Befunde.
Nichtlineare Risikoextrapolation
Während u.a. ECB (2004) AN als Kanzerogen ohne Schwellenwert betrachten,
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
16
kommen Sapphire (2004) und Haber und Patterson (2005) zu der Einschätzung,
dass sowohl die Verwendung eines unit risk auf Basis von Humandaten zur
Risikoabschätzung als auch eine lineare Extrapolation auf Basis von Tierdaten
angesichts eines zu vermutenden nicht-gentoxischen Mechanismus nicht
angemessen sei.
In Sapphire (2004) wurde folgender Ansatz verfolgt:
- Kumulative Auswertung der Inzidenzen für Gehirntumore in den vorliegenden
Studien mit inhalativer und Trinkwasser-Exposition
- Umrechnung der externen Belastung dieser Datensätze auf interne Gehirnbelastung gegenüber Cyanoethylenoxid mittels eines PBPK-Modelles von Kedderis et
al. (1996) (hierbei erwiesen sich nach den Betrachtungen von Kirman et al. (2000)
die Spitzenkonzentrationen zur Modellierung der Dosis-Wirkungsbeziehung als
geeigneter im Vergleich zur AUC).
- Modellierung der Dosis-Wirkungsbeziehung (extra risk, gamma-Modell) und
Bestimmung eines „Point of Departure“ (POD) für die Risikobewertung (ED05 und
LED05 für Cyanoethylenoxid-Konzentration)
- Umrechung dieser Werte mittels des PBPK-Modells auf humane äußere
Luftbelastungen. Es ergab sich so eine ED05 von 25,9 mg/m3 und eine LED05 von
21,3 mg/m3.
Ausgehend von diesen Werten wurde unter Berücksichtigung eines
Gesamtunsicherheitsfaktors von 220 eine Konzentration analog einer Referenzdosis
von gerundet 0,1 mg/m3 abgeleitet. Bei Einhaltung dieser Konzentration sei nach
Ansicht der Autoren kein nennenswertes Krebsrisiko mehr zu unterstellen. Der
Faktor von 220 setzt sich zusammen aus Unsicherheitsfaktoren von 3,2
(Interspeziesfaktor für dynamische Unterschiede der Toxizität, toxikokinetische
Unterschiede durch das Modell berücksichtigt), 7 für Intraspeziesunterschiede (2,2
für toxikokinetische Unterschiede auf Basis des Vergleichs von mittlerer
Cyanoethylenoxid-Belastung und dessen 95. Perzentil, Faktor 3,2 für dynamische
Unterschiede der Toxizität) und 10 (zur Abschätzung eines NOAEL ausgehend von
einem 5% Effektniveau).
Wenn man in Ergänzung zu den Extrapolationsrechnungen auf Basis von unit riskund T25-Werten diese ED05 in Höhe von 25,9 mg/m3 auf einmalige Exposition
umrechnet, ergibt sich ein
Tumorrisiko von 1:10000 bei 0,052 mg/m3.
Damit ist das Krebsrisiko unter Berücksichtigung eines PBPK-Modells zur
Konzentration des relevanten Metaboliten Cyanoethylenoxid um ca. den Faktor 2
höher als die Abschätzung unter Verwendung der externen Expositionsdaten.
Diese Berechnungen gehen von einer lebenslangen Exposition (70 Jahre = 25600
Tage) aus. Für eine Kurzzeitexposition von einem Tag ergibt sich somit:
0,052 mg/m3 x 25600 = 1331 mg/m3
Unter Verwendung des bei NAC/AEGL üblichen Standardunsicherheitsfaktors von 6,
um die Unsicherheiten bei der Berechnung der Kanzerogenität nach
Kurzzeitexposition auf Basis einer chronischen Studie zu berücksichtigen, ergibt sich:
1331 mg/m3 / 6 = 222 mg/m3 (101 ppm)
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
17
Eine Konzentration von 101 ppm über 24 Stunden würde also einem Risiko von
1:10000 entsprechen.
Linear umgerechnet auf die kürzeren Zeiträume unter Berücksichtigung der Beziehung cn x t = k mit n = 1 ergibt sich somit unter Berücksichtigung eines Krebsrisikos
von 1:10000:
8 h: 303 ppm
4 h: 606 ppm
1 h: 2424 ppm
Diese Werte sind das Resultat einer linearen Abschätzung, ausgehend von der ED05
auf Basis pharmakokinetischer Modellierung für den oxidativen Stoffwechsel. Unter
der Annahme einer nichtlinearen Dosis-Wirkungsbeziehung wäre bei weiterer
Extrapolation in den Niedrigdosisbereich ein Knickpunkt in der DosisWirkungsbeziehung zu erwarten, dessen Abschätzung innerhalb des gegebenen
Rahmens aufwandsbedingt nicht möglich war. Eine Extrapolation der von Sapphire
(2004) abgeleiteten Referenzdosis auf Kurzzeitexposition würde beträchtliche
Unsicherheiten in sich bergen und wurde aus diesem Grund nicht durchgeführt.
1.2.2.2 Verwendung von Gentoxizitätsdaten
Geeignete in vivo-Daten zu gentoxischen Wirkungen liegen nicht vor.
1.3
AEGL-Werte für Acrylnitril
Im Rahmen der Aktivitäten des National Advisory Committee for Acute Exposure
Guideline Levels for Hazardous Substances (NAC/AEGL Committee) wurden AEGLWerte für AN abgeleitet. Das „Technical Support Document“ (vom 7. Juli 2007)
befindet sich im „proposed“ Status. In der Endfassung des TSD können sich also
noch Änderungen gegenüber den hier dargestellten Werten ergeben.
Der AEGL-1 Wert basiert auf einer Studie von Jakubowski et al. (1987), bei der nach
8-stündiger Exposition von Freiwilligen gegenüber 4,6 ppm keine Effekte beobachtet
wurden. Dieser Wert wird gestützt durch Daten an Berufstätigen, wo bis zu 10 ppm
keine Effekte beschrieben sind und ab 12-15 ppm erste Reizwirkungen auftraten.
Nachdem erste, minimale Effekte in Studien an Berufstätigen unabhängig von der
Expositionsdauer auftraten, wurde keine Zeitabstufung des AEGL-1 Wertes
vorgenommen.
Die AEGL-2 Werte wurden abgeleitet auf Basis einer Studie von Dudley und Neal
(1942), bei der Ratten nach einer 2 h Exposition gegenüber 305 ppm leichte Augenund Nasenreizungen aufwiesen, welche innerhalb von 12 h reversibel waren. Die
Befunde werden durch Befunde bei Berufstätigen gestützt. Ausgehend von diesem
POD wurde ein Gesamtunsicherheitsfaktor von 10 gewählt (Faktor 3 für
Interspeziesvarianz auf Basis eines PBPK-Modells für CyanoethylenoxidKonzentrationen in Blut und Gehirn für Ratten und Menschen; Faktor 3 für
Intraspeziesvariabilität wegen geringer innerartlicher Unterschiede bei akuten
Effekten). Für die Zeitabhängigkeit fand das Haber’sche Gesetz Cn x t = constant mit
n = 1,1 Anwendung.
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
18
Die AEGL-3 Werte wurden anhand von BMCL05-Modellierungen von Letalitätsdaten
aus den Studien von Dudley und Neal (1942) sowie Appel et al. (1981) für 30 min, 1
h und 8 h Expositionsdauer abgeleitet. Ausgehend von diesem POD wurde ein
Gesamtunsicherheitsfaktor von 10 gewählt (Faktor 3 für Interspeziesvarianz auf
Basis eines PBPK-Modells für Cyanoethylenoxid-Konzentrationen in Blut und Gehirn
für Ratten und Menschen; Faktor 3 für Intraspeziesvariabilität wegen geringer
innerartlicher Unterschiede bei akuten Effekten). Für die Zeitabhängigkeit zur
Ableitung der 10 min- und 4 h-Werte fand das Haber’sche Gesetz Cn x t = constant
mit n = 1,1 Anwendung.
Die AEGL-Werte sind in der folgenden Tabelle 2 zusammengefasst.
Tabelle 2
Proposed AEGL-1, AEGL-2- und
(Anonymous, 2007; EPA, 2009)
AEGL-3-Werte
für
Acrylnitril
Zeitpunkt
AEGL-1 (ppm)
AEGL-2 (ppm)
AEGL-3 (ppm)
10 min
4,6
290
480
30 min
4,6
110
180
1h
4,6
57
100
4h
4,6
16
35
8h
4,6
8,6
19
1.4
Vergleich kanzerogene Potenz nach Einmalexposition vs. AEGLWerte
Der Vergleich der AEGL-2 Werte mit den Störfallbeurteilungswerten, die auf Basis
der kanzerogenen Wirkung von AN (nach der Methode des NRC (2001) auf Basis
des unit risk- oder des T25-Verfahrens) abgeleitet wurden, zeigt, das die AEGL-2
Werte um ca. eine Größenordnung unter den kalkulierten Werten für ein Risiko von
1:10000 liegen. Die auf Basis der ED05 (Sapphire, 2004) abgeleiteten Werte lägen
nochmals um den Faktor ca. 2 höher. Nachdem diese Risikoabschätzungen
vermutlich alle eine Risikoüberschätzung beinhalten (vgl. Abschnitt 1.2.1), stellt dies
eine konservative Betrachtung dar. Die Relevanz kanzerogener Effekte bei
Kurzzeitexposition ist demnach vermutlich noch geringer.
Die Werte sind in der folgenden Tabelle 3 zusammengefasst.
Tabelle 3
Zeitpunkt
8 Stunden
Vergleich der Störfallbeurteilungswerte auf Basis kanzerogener und
nicht-kanzerogener Endpunkte
AEGL-2
Zusätzliches Krebsrisiko 1:10.000
(nicht kanzerogener
Endpunkt)
Kalkuliert nach unter
Verwendung des unit risk
Kalkuliert unter Verwendung
der T25
8,6 ppm
72 ppm
132 ppm
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
19
4 Stunden
16 ppm
144 ppm
264 ppm
1 Stunde
57 ppm
576 ppm
1056 ppm
1.5
Diskussion
AN ist ein Kanzerogen der Kategorie 2. Die Gentoxizitätsdaten sprechen für eine
schwache gentoxische Aktivität in vitro. In vivo wurden überwiegend negative
Befunde erhalten, wenn auch bei beschränkter Datenlage. Für die DNA-schädigende
Wirkung wird der oxidativ gebildete Metabolit Cyanoethylenoxid verantwortlich
gemacht, welcher die DNA und auch Proteine alkylieren kann.
Häufig wird diskutiert, dass die Befunde in den Tierstudien nicht in Einklang mit
Humanbefunden stehen würden, da beim Menschen keine erhöhten
Tumorinzidenzen nach beruflicher Exposition gefunden wurden (z.B. Sapphire,
2004). Wie jedoch in Schneider et al. (2002) gezeigt wurde, steht die
Risikoabschätzung auf Basis der Tierdaten zu Gehirntumoren nicht im Widerspruch
zu den Humandaten für Lungenkrebs: ausgehend von einem gemittelten unit risk von
1,26 • 10-5 pro µg/m3 lassen sich auf Basis der ppm-Jahre z.B. niedrigere Risiken als
die in der Studie von Blair et al. (1998) beobachteten abschätzen, so dass das
tatsächliche Humanrisiko auf Basis von Tierdaten tendenziell sogar unterschätzt
wird. Die zu erwartenden Risiken wären ebenfalls nicht statistisch signifikant.
Zu vergleichbaren Aussagen kommen auch Schulz et al. (2001): sie schätzten
anhand der Daten der Studie von Quast et al. (1980), umgerechnet auf ppm-Jahre,
eine vergleichbare Zahl an Gehirntoten wie die tatsächlich beobachteten Fälle für die
Kohorten aus den Studien Blair et al. (1998) (17,7 vs. 12), Swaen et, al (1998) (3,7
vs. 6) und Wood et al. 1998 (7,6 vs. 6). Sämtliche geschätzten Fallhäufigkeiten lagen
innerhalb der beobachteten Konfidenzintervalle der humankanzerogenen Wirkung.
Es liegen keine Studien vor, in denen die krebserzeugende Wirkung nach kurzer Expositionszeit untersucht wurde. Auf Grund der Beobachtungen, dass bereits nach
Einmalexposition in vitro eine Bindung an DNA erfolgt und weitere gentoxische
Effekte beobachtet wurden, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es bereits nach
einer Kurzzeitexposition zu bleibenden Schäden kommt. Dies begründet die
Ableitung von Störfallbeurteilungswerten unter Berücksichtigung der kanzerogenen
Wirkung. Im Bezug auf die Kanzerogenese im Gehirn von Ratten wird ein indirekter
gentoxischer Mechanismus vermutet, welcher auf indirekter DNA-Schädigung infolge
von oxidativem Stress der Zellen beruht.
Eine Beurteilung der Störfallsituation auf Basis einer chronischen Studie ist mit
großen Unsicherheiten behaftet. Rechnerisch liegen die Störfallbeurteilungswerte auf
Basis der Daten zur Kanzerogenität, unabhängig ob ausgehend vom unit risk oder
mittels T25 berechnet (die Ergebnisse nach beiden Methoden unterscheiden sich nur
um etwa den Faktor 2) oberhalb der AEGL-2 (und der AEGL-1) Werte. Dies spiegelt
die relativ niedrige kanzerogene Aktivität bei hohen Konzentrationen wider.
In beiden Fällen wurde der Standardfaktor 6 zur Berücksichtigung der Unsicherheiten
bei der Extrapolation von der chronischen auf die akute Situation angewendet.
Dieser Faktor ist möglicherweise zu hoch, wenn man berücksichtigt, dass in
Langzeitstudien erste Tumore erst nach 7-12 Monaten beobachtet wurden, die
Gentoxizität offensichtlich nur schwach ausgeprägt ist und weitere, indirekt
gentoxische Mechanismen der Kanzerogenese relevant sein dürften.
Acrylnitril (CAS 107-13-1)
20
Unter diesen Aspekten kann plausibel angenommen werden, dass die vorliegenden
Störfallbeurteilungswerte ausreichend Schutz vor kanzerogenen Effekten bieten.
1.6
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