Freie Universität Berlin Leistungsabhängige Gesundheitsstörungen bei Nutztieren - die ethische Dimension - Jörg Luy Institut für Tierschutz und Tierverhalten / FB VetMed / FU Berlin Erna-Graff-Stiftung für Tierschutz, Berlin Fachgespräch “Wenn Zucht zur Qual wird”, BTFraktion B90/GRÜNE, Berlin 23.05.2011 Gliederung 1. Kurze Einführung in die Tierethik 2. Was gibt die Tierethik bei der Tierzucht zu bedenken? 3. Welche Empfehlungen im Hinblick auf die Nutztierzucht resultieren aus einer ethischen Betrachtung? Kurze Einführung in die Tierethik Einführung Tierethik „Wenn ein Gesetz für ungerecht gehalten wird, scheint es stets aus demselben Grunde für ungerecht gehalten zu werden, aus dem auch ein Rechtsbruch ungerecht ist, nämlich weil es jemandes Rechte verletzt. Da diese Rechte diesmal nicht die gesetzlich verbürgten Rechte sein können, erhalten sie eine andere Bezeichnung und werden moralische Rechte genannt. (John Stuart Mill: Der Utilitarismus, 1863) Einführung Tierethik Der Zweck der Tierethik ist die logische Klärung moralischer Rechte von Tieren im Rahmen des Gerechtigkeitsempfindens (der Bevölkerung). • Deskriptive Ethik: Recherche und Beschreibung von Tierschutznormen (im weltweiten Vergleich). • Präskriptive (normative) Ethik: Prüfung und Optimierung der Tierschutznormen im Hinblick auf allgemeine Plausibilität und erfolgversprechende Anwendung. Die interdisziplinäre Diskussion (Ethik, Recht, Tiermedizin) neuer Formen des Tierschutzrechts orientiert sich an den Defiziten der Gegenwart. Jüngere Innovationen waren z.B.: - „Würde der Kreatur“ (Schweiz) - Verbot ganzer Nutzungsformen: z.B. Pelztiere (Österreich) - Annäherung an Rechtsfähigkeit: z.B. Verbandsklage Einführung Tierethik „Der Schutz des Tieres als Lebewesen ist in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland noch immer unzulänglich. Die Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung soll dem Gebot eines sittlich verantworteten Umgangs des Menschen mit den Tieren Rechnung tragen. Die Leidens- und Empfindungsfähigkeit insbesondere von höher entwickelten Tieren sowie die inzwischen bekannt gewordenen Ergebnisse von Wissenschaft und Forschung, die selbst das Klonen von Tieren ermöglichen, erfordern dringend ein ethisches Mindestmaß für das menschliche Verhalten. Die einfachgesetzlichen Regelungen des Tierschutzgesetzes reichen dazu nicht aus.“ Zitat aus dem erfolgreichen, gemeinsamen Gesetzentwurf der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP – BT Dr 14/8860 vom 23.04.2002 → Grundgesetzänderung zur Aufnahme des neuen Staatsziels Tierschutz (in Art. 20a GG) Was gibt die Tierethik bei der Tierzucht zu bedenken? Was gibt die Tierethik bei der Tierzucht zu bedenken? 1. Leistungsassoziierte Gesundheitsstörungen: anthropogenes Phänomen (Kausalzusammenhang mit vorsätzlichem Handeln des Menschen) → direkte Verantwortlichkeit (≠ schicksalhafte Gesundheitsstörungen, wie die klassischen Erbkrankheiten) → moralische Pflichten der Verantwortlichen bzw. moralische Rechte der betroffenen Tiere Was gibt die Tierethik bei der Tierzucht zu bedenken? 2. Das moralisch integere Ziel von Tierzüchtung und -haltung ist ein Gemeinsames und besteht – in Anlehnung an die bekannte Formulierung von Lorz*– gewissermaßen in einer „Harmonie von Genotyp und Haltungsumwelt“, wobei Harmonie für die durchgängig gelingende, leidensfreie Adaptation des Individuums steht. * Die seit über dreißig Jahren herangezogene Definition des durch § 1 TierSchG geschützten „Wohlbefindens“ des Tieres lautet: „Zustand körperlicher und seelischer Harmonie des Tieres in sich und mit der Umwelt“ (Lorz, 1973, 1999). Was gibt die Tierethik bei der Tierzucht zu bedenken? 2a. Zuchtziel: Tiere, denen es innerhalb der gesamten Schwankungsbreite unterschiedlicher Lebensbedingungen im Prinzip durchgängig gelingt, sich erfolgreich zu adaptieren – also ihr inneres Gleichgewicht aufrecht zu erhalten und damit Schmerzen, Leiden und Schäden zu vermeiden. 2b. Tierzüchter: Berücksichtigung der Tierhaltungssysteme und des Betriebsmanagements ihrer Abnehmer Tierhalter: Einsatz des zur Haltungsform passenden Genotyps Welche Empfehlungen im Hinblick auf die Nutztierzucht resultieren aus einer ethischen Betrachtung? Bundesratsbeschluss vom 14.03.2003 (BR Dr 36/03) Der Versuch, das Qualzuchtverbot gemäß § 11b des Tierschutzgesetzes mittels eines Gutachtens zu präzisieren, hat […] bisher nicht zu dem erhofften Erfolg geführt. Der Bundesrat stellt fest, dass eine Weiterentwicklung der Rechtssetzung im Zusammenhang mit dem Verbot der Qualzucht gemäß § 11b des Tierschutzgesetzes dringend erforderlich ist. […] Das im Auftrag des BMVEL erstellte Gutachten zur Auslegung von § 11b des Tierschutzgesetzes ist […] nicht geeignet, die kontroversen Diskussionen zum Qualzuchtverbot zwischen Tierschutz- und Heimtierzuchtverbänden sowie der Wissenschaft und dem Verwaltungsvollzug zu beenden. Nach Auffassung des Bundesrates ist dies nur mittels einer Rechtsverordnung möglich, mit der das Qualzuchtverbot gemäß § 11b des Tierschutzgesetzes hinreichend konkretisiert wird. Ba-Wü Landwirtschaftsminister Willi Stächele (Initiator) dazu im BR: „Konsequenter Tierschutz im Zuchtgeschehen ist nur durch eindeutige bundeseinheitliche Regelungen möglich.“ Urteil BVerwG vom 17.12.2009 (Haubenenten) Die Revision des Klägers ist begründet. […] Der Verwaltungsgerichtshof hat […] verkannt, unter welchen Voraussetzungen mit derartigen erblich bedingten Schäden „gerechnet werden muss“. Dies ist dann der Fall, wenn es nach dem Stand der Wissenschaft überwiegend wahrscheinlich ist, dass solche Schäden signifikant häufiger auftreten, als es zufällig zu erwarten wäre. […] Ein Züchter würde […; andernfalls; …] bereits dann verbotswidrig handeln, wenn eine Frage in der Wissenschaft umstritten wäre. Das Risiko, dass sich die Frage nach dem Stand der Wissenschaft nicht beantworten lässt, würde ihm aufgebürdet […] Deshalb war […] die Sache zur […]Entscheidung an das Tatsachengericht zurückzuverweisen. Dieses muss prüfen, ob es nach dem Stand der Wissenschaft überwiegend wahrscheinlich ist, dass bei der Nachzucht gegenwärtig Schäden […] signifikant häufiger auftreten, als es zufällig zu erwarten wäre. Urteil BVerwG vom 17.12.2009 (Haubenenten) Ergebnis: 1. Das Zuordnungsverfahren für § 11b ist nun geklärt: Vergleich repräsentative Gruppe (aus verdächtigter Population) mit Kontrollgruppe 2. Nachweis: Die „Verumgruppe“ zeigt Schmerzen, Leiden, Schäden signifikant häufiger als die Kontrollgruppe. Gruppengrößen sind biometrisch berechenbar. (Keine zusätzlichen Schwierigkeiten durch „erheblich“; s. TierSchG.) 3. Beweislast liegt (wieder) bei der Behörde. D.h. der Vollzug benötigt nun für jeden § 11b-Fall statistische (experimentelle) Daten aus der in Frage stehenden Zuchtpopulation. FAZIT Zurück zum BR-Beschluss von 2003: Ba-Wü Landwirtschaftsminister Willi Stächele: „Konsequenter Tierschutz im Zuchtgeschehen ist nur durch eindeutige bundeseinheitliche Regelungen möglich.“ Nach dem BVerwG-Urteil empfiehlt sich ein zweistufiges Vorgehen: 1. Für die verdächtigten Zuchttiere werden die geforderten Daten experimentell erhoben. Die Projekte hätten experimentell mit einer biometrisch abgesicherten Gruppengröße die Häufigkeit des Auftretens leidenskorrelierter Merkmale gegen eine erbgesunde Kontrollgruppe zu erfassen. Gut möglich bei Geflügel und Schweinen (!) – mangels standardisierter Genotypen weniger gut bei anderen. • Bsp.: gängige Broilerlinie – in Bodenhaltung (gem. Mindestvorgaben) – vs. Zweinutzungshuhn-Rasse FAZIT 2. Auf Grundlage erster experimenteller Daten wird eine Rechtsverordnung gem. § 11b Abs. 5 TierSchG erlassen. Darin: Regelung eines Zulassungsverfahrens für genound phänotypische Merkmale von Nutztieren (zur Umsetzung von RL 98/58/EG, Nr. 21 des Anhangs*) mit Übergangsfristen. * „Tiere dürfen nur zu landwirtschaftlichen Nutzzwecken gehalten werden, wenn aufgrund ihres Genotyps oder Phänotyps berechtigtermaßen davon ausgegangen werden kann, dass die Haltung ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen nicht beeinträchtigt.“ --:--