PX05_0271_0284:px06_01.qxd 18.2.2009 8:46 Uhr Seite 271 PRAXIS Mini-Review Praxis 2009; 98: 271–283 271 Kompetenzbereich für Psychosomatische Medizin, Inselspital, Universität Bern1, Psychosomatische Fachklinik Kinzigtal, Gengenbach, Deutschland2 N. Egloff, 2U.T. Egle, 1R. von Känel 1 Therapie zentralisierter Schmerzstörungen Therapy of Disorders With Central Pain Sensitization Zusammenfassung Schmerz ist ein Signal, das in der Regel durch eine periphere, körperliche Schädigung ausgelöst wird. Die schmerzperzeptierenden Strukturen des Nervensystems sind aber ihrerseits nicht inert sondern unterliegen – v.a. bei chronischer Einwirkung – einer Modulierbarkeit, welche ein eigenes Krankheitspotenzial in sich birgt und zu Schmerzkrankheiten beiträgt. Somatische Schmerzvorerfahrung (Priming, Wind-up), psychobiographische Prägung (Pain proneness) und Stressbelastung (Action proneness) sind die Hauptfaktoren, welche zu einer veränderten Schmerzverarbeitung des ZNS führen. Klinisch zeigt sich diese Entwicklung durch Schmerzsensibilisierung und Schmerzkonservierung. Bei vielen chronischen Schmerzpatienten liegt eine Mischung dieser sensibilisierenden Einflüsse vor. Im Gegensatz zur Therapie des akuten, peripher begründeten Schmerzes ist die Therapie chronisch-zentralisierter Schmerzstörungen stets nur in einem multimodalen Vorgehen realisierbar. Letztlich zielen alle Therapiemassnahmen darauf ab, die «anti-nozizeptiven» Anteile der zerebralen Schmerzmatrix zu stärken. Die Medikamentenlisten für neuropathische Schmerzen und somatoforme Schmerzen weisen verständlicherweise grosse Überlappungen auf. Psychotherapeutische Massnahmen dienen der ver© 2009 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern besserten Schmerzkontrolle, emotionalen Entlastung und Verhaltensoptimierung. Dieser Artikel gilt als Fortsetzung und Vertiefung unseres Aufsatzes «Weder Descartes noch Freud», in dem wir uns bereits von einem allzu dichotomen Schmerzverständnis (organisch versus psychogen) verabschiedet haben [1]. Schlüsselwörter: funktionelle somatische Syndrome – Schmerz, zentralisierter – Schmerzstörung, somatoforme – Schmerztherapie, multimodale Einleitung Schmerz ist stets ein Phänomen zentralnervöser Perzeption und damit ein psychophysischer Vorgang. Bei einem akut-nozizeptiven Schmerzproblem liegt in der Regel eine Gewebeschädigung als Schmerzursache vor. Bei peripher-neuropathischen Schmerzen, erwarten wir eine Läsion innerhalb der Nervenüberleitung. Bei zentralisierten Schmerzen ist die Symptomgenese in den höheren Strukturen der Schmerzwahrnehmung begründet. Zwei Gruppen zentraler Schmerzen lassen sich unterscheiden: Zentral-neuropathische Beschwerden und zentralsomatoforme Beschwerden. Bei zentralneuropathischen Schmerzen erwarten wir eine fassbare Läsion neuronaler Strukturen im ZNS, welche direkt oder indirekt den Schmerz auslösen. Bei ca. 8% der Insult-Patienten und bei ca. 40% der Patienten mit Rückenmarksverletzungen kommt es zu solchen zentralneuropathischen Beschwerden [2,3]. Bei zentral-somatoformen Schmerzen sind neurohistopathologisch keine strukturellen Läsionen fassbar; indessen lassen sich mit funktioneller Bildgebung Veränderungen objektivieren, welche auf eine gesteigerte Schmerzwahrnehmung hinweisen [4–6]. Dieser zweiten Gruppe zentralisierter Schmerzstörungen gilt der Hauptfokus dieses Artikels. Sie zeichnet sich aus durch klassische anamnestische und klinische Charakteristika (s. Kasten 1 im Anhang). Im klinischen Alltag präsentieren sich diese Krankheiten häufig als chronische Schmerzen mehrerer Körperregionen (chronic widespread pain) oder als sogenannte funktionelle somatische Syndrome, beispielsweise in Form einer Fibromyalgie (s. Kasten 2 im Anhang). Sowohl somatosensorische Vorerfahrungen als auch psychobiographische Aspekte sind bei der Entstehung dieser zentralisierten Schmerzstörungen entscheidend. Pathophysiologisch steht in den meisten Fällen die gesteigerte Schmerzempfindlichkeit infolge Schmerzsensibilisierung des Nervensystems (Hyperalgesie) im Vordergrund. Mentale, emotionale und mnestische Faktoren fliessen mit in die Schmerzempfindung ein. Diese BeDOI 10.1024/1661-8157.98.5.271 PX05_0271_0284:px06_01.qxd 18.2.2009 8:46 Uhr PRAXIS schwerden einseitig als «psychogen» zu beurteilen, greift zu kurz und führt in der Regel in eine therapeutische Sackgasse [1]. Beispiele zentralisierter Schmerzstörungen Fallbeispiel 1: Somatosensorisches Priming – Schmerzchronifizierung primär durch somatogene Sensibilisierung 69-jährige ehemalige Köchin mit Rückenschmerzen. Die Patientin hatte über Jahre hinweg Schmerzmittel gemieden und «auf die Zähne gebissen». Trotz inzwischen ausgebauter Analgetikatherapie ist die Patientin zunehmend auch in Ruhe nicht mehr schmerzfrei. Eine vor Jahren durchgeführte Diskushernienoperation führte zu keiner Symptombesserung. In der klinischen Untersuchung fällt eine Tendenz zur «Schmerzausweitung» auf. Das aktuelle Schmerzausmass lässt sich nicht mit einer Zunahme von degenerativen Veränderungen erklären. Sekundär hat sich eine reaktive depressive Entwicklung eingestellt. Die Patientin ist verunsichert und fragt sich, ob sie sich denn das alles nur einbilde. Die Schmerzsensibilisierung dieser Patientin erfolgte primär auf somatosensorischem Weg. Ständiger nozizeptiver Schmerzinput aus «überreizten» Gelenken, zentral-spinale Reizverstärkung (Gating- und Wind-up-Mechanismen) [7–9] sowie jahrelange Sensibilisierung des somatosensorischen Kortex führten zu einer neuroplastischen Fixierung der Rückenschmerzen [10]. Subtile nicht Dermatombezogene Sensiblitätsstörungen weisen ebenfalls auf eine zentralisierte Schmerzkomponente hin [11]. Aufgrund der anhaltenden Schmerzen und zunehmenden Einschränkungen im Alltag baute sich sekundär eine Seite 272 Mini-Review Praxis 2009; 98: 271–283 272 Folgende Fallbeispiele illustrieren vier Konstellationen, welche zu zentralisiertsomatoformen Schmerzstörungen führen können. Dabei stehen je exemplarisch somatosensorisches Priming, Action proneness, Pain proneness oder Traumatisierung im Vordergrund (Abb. 1). In vielen Fällen kommen gleich mehrere der aufgeführten Sensibilisierungsrisiken zum Zuge. depressive Affektlage auf, welche die somatogene Schmerzwahrnehmung zusätzlich emotional-limbisch verstärkt. Fallbeispiel 3: Pain proneness – Schmerzdisponierende Kindheitsumstände Fallbeispiel 2: Action proneness – Schmerzsensibilisierung im Rahmen von Dauerstress 48-jähriger Instruktor mit seit drei Jahren bestehenden Gliederschmerzen und Fatigue. Der Patient arbeitete über Jahre hinweg bis zu 80 Stunden pro Woche. Seine Freizeit verbrachte der Patient mit Hochleistungssport. Die Beschwerden exazerbierten anlässlich eines grippalen Infekts. Eine internistisch-rheumatologische oder neurologische Grunderkrankung sind bei diesem Patienten mehrmals ausgeschlossen worden. Die geklagte Schmerzproblematik und der Dauererschöpfungszustand entbehren einer «peripheren Ursache». Klinisch zeigt sich eine fibromyalgieforme Störung und ein Chronic Fatigue Syndrome, einhergehend mit generell erhöhter Reizempfindlichkeit (Phonophobie, Photophobie und Arousalsymptomen). Der Hauptakzent der zentralnervösen Schmerzsensibilisierung liegt bei diesem Patienten in der übermässigen psychischen und physischen Stresserfahrung [12,13].Tendenz zu Perfektionismus und Selbstüberforderung sind klassische Züge des Action prone-Profils [14,15]. Schmerz führt umgekehrt zu einer veränderten Stressphysiologie [16]. Zusätzlich ist ein somatosensorisches Priming (Gliederschmerzen) denkbar durch die jahrelange körperliche Verausgabungstendenz im Rahmen des Hochleistungssports. 21jähriger Mann mit seit Jahren bestehendem Halbseitenschmerz links. Die leiblichen Eltern waren beide drogenabhängig. Nach dem ersten Lebensjahr wurde er ihnen durch die Behörden weggenommen. Es folgen mehrere Umplatzierungen. Die Schmerzproblematik habe begonnen, als er als Elfjähriger vom Motorrad seines Stiefvaters gestürzt sei. Neben Prellungen konnten damals keine strukturellen Schädigungen festgestellt werden. Zwischenzeitlich wurde der Schmerz zum täglichen Begleiter. Cannabiskonsum helfe den Schmerz etwas zu reduzieren. Die Triggerung der Schmerzkrankheit erfolgte anamnestisch akut durch einen Unfall. Orthopädische oder neurologische Erklärungen für die Schmerzpersistenz mit Halbseitenausdehnung sind aus damaliger und heutiger Sicht nicht möglich. Die halbseitige Schmerzsymptomatik ist indessen klassisch für einen zentralisierten Vorgang [11,17,18]. Die verminderte zerebrale Schmerzkontrolle geht im konkreten Fall einher mit verminderter Stress- und Impulskontrolle. Erhöhte Schmerzdisposition im Kontext ungünstiger Kindheitsumstände ist wissenschaftlich breit untersucht worden [19–23]. Fallbeispiel 4: Traumatisierung – Schmerzprägung durch lebensbedrohliche Extremerfahrung 37-jähriger Patient aus Südostasien mit Folteranamnese. Der Patient leidet seit PX05_0271_0284:px06_01.qxd 18.2.2009 8:46 Uhr Seite 273 PRAXIS Jahren an einer schweren Schlafstörung. Neben anhaltenden Spannungsschmerzen im Nackenbereich kommt es zweibis dreimal pro Monat zu nächtlichen Schmerzexazerbationen v.a. im Lendenund Beckenbereich. In dieser Körperregion habe er während der Gefangenschaft «Fusstritte» erhalten. Die Haut des ganzen Körpers ist übersät von Narben durch Zigaretten-Brandmale. Der Patient hat sich bereits wiederholt wegen exazerbierten Lendenschmerzen beim Hausarzt vorgestellt. Differentialdiagnostisch wurde zunächst an eine Diskopathie mit Wurzelkompressionssyndrom gedacht. Die schliesslich durchgeführte CT zeigte keine strukturellen Auffälligkeiten der LWS. Traumatisierungserfahrungen erzeugen im ZNS einen «schockartigen» Prägungsprozess. Die unter Gefahr erlebten Umwelteindrücke werden mit einer enormen Schärfe und Nachhaltigkeit abgespeichert (Hypermnesie). Auch die erlittenen somatosensorischen Körperempfindungen werden konserviert und können u.U. als Dauerschmerzen bestehen bleiben oder später «flashbackartig» reaktiviert werden (sog. «Offline»-Schmerzen). Die Extremerfahrung der Folter provoziert eine psychophysische Reaktion, welche Schmerzwahrnehmung und Erleben nachhaltig verändern. Die Komorbiditätsrate von posttraumatischen Belastungsstörungen und fibromyalgiformen Beschwerden liegt je nach Studie zwischen 30–60% [24]. Therapie Zentralisierte Schmerzstörungen sind chronische Krankheiten. Das zentrale Schmerzperzeptionssystem ist oft nachhaltig verändert. Die Erwartung einer schnellen Schmerzreduktion oder Schmerzfreiheit ist nicht realistisch. Die Therapie zentralisierter Schmerzstörungen ist vergleichbar mit der Therapie chronischer neurologischer Krankheiten, bei welchen ebenfalls primär die Symp- Mini-Review Praxis 2009; 98: 271–283 273 Psychobiographische Prägung Genetische Vulnerabilität Kindheitsprägung Pain prone Stress (Trauma) Action prone Zentrale Schmerzsensibilisierung Somatosensorisches Priming Spinale Sensibilisierung Periphere Sensibilisierung Abb. 1: Ursachen der zentralen Hyperalgesie. tomkontrolle und die Verbesserung der Lebensqualität im Zentrum stehen. Zu unterscheiden sind folgende Therapiestadien (Abb. 2): – 1. Basisbetreuung: Aufarbeiten der Problemlage, Diagnostik, Patienteninformation, Einleitung und Organisation von Therapien – 2. Weiterführende Behandlung: z.B. Einzelpsychotherapie, Schmerzmanagementkurse, Patientenschulung in Gruppe, Physiotherapie – 3. Langzeitbetreuung: Verlaufskontrolle, medikamentöse Optimierungen und Anpassungen, Therapieevaluationen, therapeutisches «Auffrischen» Viele ambulante und stationäre Angebote in Schmerzkliniken fokussieren im Sinne der Basisbetreuung auf eine genaue Diagnostik und das Einleiten therapeutischer Massnahmen. Die Diagnostik erfolgt nach algorithmischen Mustern (Abb. 3). Einzelne Kliniken und Spezialisten bieten zudem für die weiterführende Behandlung mehrmonatige ambulante «Schmerzkurse» an, welche von den Betroffenen sehr geschätzt werden [25]. Die fachgerechte Langzeitbetreuung wird in der Regel durch Hausärzte gewährleistet. Indikationsgründe für eine Hospitalisation sind u.a. ungenügende Symptom- kontrolle, zunehmende Gefährdung der Teilhabe am Erwerbsleben, starker sozialer Rückzug sowie diagnostische Unklarheiten, welche einer stationären Exploration und Beobachtung bedürfen. Ziel sämtlicher Massnahmen ist 1.) die Verbesserung der Schmerzkontrolle durch Ausschöpfen aller möglichen positiven Schmerzmodulatoren, 2.) Verhinderung von kontraproduktivem schmerzassoziierten Verhalten und 3.) Förderung der Selbstkompetenz und des allgemeinen Wohlbefindens der Betroffenen. Grundsätzlich lässt sich das ZNS-Befinden physikalisch, chemisch, sensorisch, emotional und mental modulieren. Entsprechend breit gefächert sind auch die Ansätze zur Schmerztherapie. Viele nichtmedikamentöse Ansätze der Schmerztherapie stellen den Versuch dar, positive «Gegenerfahrungen» im ZNS zu konsolidieren, mit welchen der negative Schmerzzustand aufgebrochen, moduliert, eingegrenzt und relativiert werden kann. Aus neurobiologischer Sicht beabsichtigt die multimodale Schmerztherapie, die pro-nozizeptiven Einflüsse innerhalb der zerebralen Schmerzmatrix abzumildern und die anti-nozizeptiven Wirkgrössen zu stärken [26]. Aus psychologischer Sicht, sollte eine Schmerztherapie sowohl Körperempfindungs-, PX05_0271_0284:px06_01.qxd 18.2.2009 8:46 Uhr PRAXIS Verhaltens-, Gefühls- und Denkprozesse wie auch biographisch-mnestische Aspekte des Schmerzerlebens einbeziehen. Neben passiver pharmakologischer Unterstützung ist daher Schmerztherapie im Hauptteil ein aktiver Prozess des persönlichen (Um-)Lernens und Reifens. Die Komplexizität des Leidens erfordert immer einen multimodalen Ansatz [27– 30]. Das heisst, es kommen in der Regel gleichzeitig medikamentöse, körperliche (u.a. Physiotherapie) wie auch verhaltens- respektive psychotherapeutische Strategien zum Einsatz. Es folgt ein Überblick über die Palette möglicher Massnahmen, wie sie bei Patienten mit zentralisierter Schmerzstörung eingesetzt werden. Patienteninformation Untersuchungen haben gezeigt, dass für Patienten, die eine Schmerzklinik aufsuchen, die Erklärung ihrer Schmerzprobleme genau so wichtig ist, wie die Behandlung der Schmerzen selber [31]. Die Kommunikation eines zentralisierten Schmerzproblems (bei welchem eben kein erklärender Schaden aufzeigbar ist!) ist besonders anspruchsvoll. Hat der behandelnde Arzt selber ein differenziertes Verständnis zwischen körperlicher Schädigung (= Objekt) und dem neuroperzeptiven Phänomen Schmerz (= Wahrnehmungsvorgang des Objekts), spürt der Patient, dass man seine Beschwerden ernst nimmt. Häufig hilft auch für die primäre Verständnisbildung das Beiziehen von Metaphern, z.B. das Bild der «Alarmanlage»: Erlebt der Patient Schmerz (= «Alarm»), weil tatsächlich eine ursächliche körperliche Schädigung (= «Gefahr») da ist oder weil die Alarmanlage durch gewisse Umstände sensibilisiert («zu fein eingestellt») ist? Ein kompetentes Verständnis für Schmerz reduziert das Gefühl von Unsicherheit und Ausgeliefertsein, vermindert die Angst vor etwas Verpasstem und erhöht die Therapiemotivation. Seite 274 Mini-Review Praxis 2009; 98: 271–283 274 Um ein solides therapeutisches Bündnis zu erlangen, ist das Erarbeiten eines gemeinsamen Schmerzverständnisses Ausgangsbedingung. Die Erfahrung zeigt, dass die Patienten durchaus für neurobiologische Erklärungsmodelle (z.B. bezüglich des Sensibilisierungsvorgangs) Interesse zeigen und sich diese biologischen Modelle als Einstieg auch gut dafür eignen, später ein weiter differenziertes «bio-psycho-soziales» Verständnis, z.B. das Diathese-Stressmodell, aufzubauen [16,32]. I Basisbetreuung (erste Konsultationen) Anamnesegespräch: Patientenzentrierte Exploration des Hauptleidens Fachanamnese (vgl. Hinweiskriterien Kasten 1 im Anhang) Erfassen von Komorbiditäten Herstellen einer Beziehungsbasis Diagnostische Abklärungen: Körperstatus Med.-technische Ergänzungsdiagnostik Verhaltensmedizinische Diagnostik Psychometrische Diagnostik Konsensbildung: Therapeutisches Bündnis Patienteninformation über Diagnose und Therapieoptionen Einleiten therapeutischer Massnahmen Information, Rücksprache mit involvierten KollegInnen II Weiterführende Behandlung (Therapiephase über Monate) Multimodale Schmerztherapie Einzeln: Pharmakologische Unterstützung Psychotherapeutische Einzeltherapie Behandlung komorbider Leiden Individuelle Verlaufsbestimmung Einzeln oder in der Gruppe: Schmerzmanagementkurse Patientenschulung Anleitung und Trainieren einer Relaxationstechnik Stützende und aktivierende Physiotherapie Verhaltensmedizinische Therapie III Langzeitbetreuung (Nachkontrollen über Jahre) Regelmässige, im voraus vereinbarte Kontrolltermine (nicht «on demand») Reevaluation des Schmerzverhaltens, Erfassung von Symptomverschiebungen! Therapieanpassungen, ev. «Auffrischkurse» z.B. Physiotherapie Medikamentöse Kontrollen (auch Abbau von unwirksamen Medikamenten!) Früherfassung von Rückfallskonstellationen Unterstützung bei sozialmedizinischen Folgeproblemen Vernetzung und Rücksprache mit involvierten KollegInnen Abb. 2: Flussdiagramm der Therapie zentralisierter Schmerzstörungen. PX05_0271_0284:px06_01.qxd 18.2.2009 8:46 Uhr Seite 275 PRAXIS Für den Erfolg einer Therapie ist letztlich eine verständige, identifizierte und partizipative Haltung des Patienten Voraussetzung. Die Wirksamkeit einer Patientenschulung konnte (u.a. am Beispiel der Fibromyalgie) aufgezeigt werden [30,33]. Für die Aufklärungsarbeit und Therapiemotivation können verschiedene didaktische Hilfsmittel zum Einsatz kommen. Erklärungsschemen auf dem PC werden bei der Vermittlung der komplexen Inhalte eingesetzt [34]. Abbildung 4 zeigt einen Ausschnitt aus einem Patientenschulungs-Clip, wie wir sie zu diesem Zwecke verwenden. Individualisierte Psychotherapie Bei somatoformen Schmerzstörungen ging man früher landläufig davon aus, dass ein hintergründiger psychischer Konflikt «die Ursache» des Schmerzes sei (s. Kasten 3 im Anhang). Therapeutisch bedeutete dies, dass man primär anstrebte, «den verborgenen Konflikt» zu erfassen um ihn idealerweise durch Psychotherapie aufzulösen. Dieses Konzept greift nach heutigem Verständnis eindeutig zu kurz. Es besteht auch die Gefahr, den Patienten damit gleich zweifach zu stigmatisieren: Einerseits wird suggeriert, dass sich der Patient eigentlich in seiner Schmerzwahrnehmung täusche («Verwechslung» von etwas Psychischem mit etwas Somatischem) anderseits wird ihm unterstellt, in seinem psychischen Haushalt offensichtlich etwas falsch anzugehen. Sicher spielen bei der Schmerzbewältigung psychodynamische Vorgänge eine Rolle (z.B. Sekundärgewinn, Problemverlagerung, Abwehr, Zeugnisfunktion des Schmerzes etc.). Tatsächlich leiden Schmerzpatienten im Vergleich zu Gesunden häufiger an gravierenden psychischen Problemen. Auch ist die Rate bezüglich psychiatrischer Komorbiditäten, insbesondere Depressionsund Angststörungen, erhöht [35,36]. Schliesslich sind auch Schmerz- und Depressionsphysiologie eng miteinander verflochten [37,38]. Doch bezüglich des Kausalitätsbezuges zwischen dem Mini-Review Praxis 2009; 98: 271–283 275 Diagnose einer zentralisierten Schmerzstörung 1. Ausgangslage Subjektives Befinden des Patienten diskrepant zu den erwarteten objektiven peripheren Befunden (Erwägung, resp. Ausschluss der Differentialdiagnose einer Symptomvortäuschung erst nach Durchlaufen untenstehender Algorithmusschritte) 2. Objektivierungsmethode Falsche Methodik? Könnte es sich um eine Störung handeln, welche ich nicht zu diagnostizieren gewohnt bin? Somatische Zusatzabklärungen? Spezialisten beiziehen? Falscher Fokus? Liegt die Störung weniger in einem pathologisch veränderten organischen System, sondern in der veränderten Perzeption des Systems? Bsp. Funktionelle Somatische Syndrome (s. Kasten 2 im Anhang) 3. Differentialdiagnose der zentralisierten Schmerzstörung Mit stattgehabter neurologischstruktureller Schädigung («neuropathisch»). Ohne stattgehabte neurologischstrukturelle Schädigung («somatoform»). 4. Exploration bezüglich Hinweisen einer somatoformen Schmerzsensibilisierung – Hinweise bezüglich Krankheitsverlauf (s. Kasten 1 im Anhang) – Hinweise bezüglich Symptomatik (s. Kasten 1 im Anhang) – Hinweise bezüglich biographischem Hintergrund (s. Kasten 1 im Anhang und Abb. 1) 5. In Forschungssettings (und als Zukunftsperspektive) Beiziehen von neurofunktionellen Bildgebungsverfahren zur Klärung spezieller Fragestellungen Abb. 3: Algorithmus zur Diagnose zentralisierter Schmerzstörungen. Schmerzproblem und der psychischen Leiden ist dringend eine differenzierte Betrachtung anzustreben: Zu unterscheiden ist, ob der psychische Aspekt eine losgelöste, ursächliche, mitunterhaltende oder eher nur konsekutive Rolle spielt. Eine differenziertes Sachverständnis führt automatisch auch zu einer vorsichtigeren Verwendung von Begriffen wie «psychogen», «nicht-orga- nisch», «aggravatorisch» etc. (s. Kasten 4 im Anhang). Ein spezielles Augenmerk gilt der Angst: Stellt Schmerzerleben das «Alarmsystem» bezogen auf körperliche Gefahren dar, hat die Angst dieselbe «Alarmfunktion» bezogen auf situative Gefahren. Grundsätzlich haben Schmerz und Angst also protektiven Zweck! Bei vielen PX05_0271_0284:px06_01.qxd 18.2.2009 8:46 Uhr Seite 276 PRAXIS Schmerzpatienten löst Schmerz auch Angst aus. In der Folge wird das Individuum gleich durch zwei Alarmsysteme gebeutelt, welche sich gegenseitig noch aufschaukeln können, klassischerweise in Form von Panikattacken. Das Spektrum der angewandten Psychotherapieformen ist vielfältig. Die Methode richtet sich primär nach der zugrunde liegenden Problematik. Neben den klassischen, Psychotherapierichtungen (verhaltenstherapeutisch und psychoanalytisch) haben Mischformen (z.B. Gesprächstherapie, Traumatherapie etc.) stark an Bedeutung gewonnen. Ziel jeder psychotherapeutischen Begleitung soll sein, einerseits den vorhandenen intrapsychischen Druck abzubauen, biologisch gesprochen den emotional-limbischen Schmerzeinfluss zu vermindern. Andererseits soll jede Therapie zu einem Kompetenzausbau der Persönlichkeit beitragen. Psychologische und therapeutische Aspekte illustriert anhand der Fallbeispiele Fallbeispiel 1: Die ehemalige Köchin leidet aufgrund der Schmerzen und der aufgezwungenen Immobilisierung heute unter einer depressiven Entwicklung. Die Depression, welche es parallel zu behandeln gilt, droht zum mitunterhaltenden Faktor der Schmerzstörung zu werden. Die begleitende Physiotherapie (Badegruppe) wird von der Patientin sehr geschätzt. Frühzeitige Interventionen im Akutstadium (medikamentöse und physiotherapeutische) hätten die zentrale Sensibilisierung möglicherweise verlangsamen oder verhindern können [39]. Fallbeispiel 2: Beim Instruktor steht die unmittelbare Kausalität der Schmerzerkrankung im Zusammenhang mit dem hohen Ausmass der jahrelangen psychophysischen Stresserfahrung. Die Neigung zu «Überleistungen» hat wiederum auch ihre biographischen Mini-Review Praxis 2009; 98: 271–283 276 Schmerzkontrollzentren Schmerzgedächtnis Patienteninformation: Massnahmen zur 앫 Stärkung der Schmerzkontrolle 앫 Beruhigung der Schmerzleitung Abb. 4: Ausschnitt aus einem Patientenschulungs-Clip. Hintergründe. Gesprächstherapeutische Methoden im Sinne eines Stressmanagements standen im Vordergrund, auch durchlief der Patient ein sorgfältig strukturiertes körperliches Rekonditionierungsprogramm. Fallbeispiel 3: Der junge Patient zeigt Zeichen frühkindlicher Deprivation. Langfristige und zuverlässige psychotherapeutische Begleitung durch einen «elterlichen» Kinder- und Jugendpsychiater im Sinne eines Alltags-Coachings trug zur Persönlichkeitsstabilisierung bei. Hinzu kam später, als Übung zur verbesserten Selbstregulation, das Erlernen einer entspannenden asiatischen Bewegungstherapie. Fallbeispiel 4: Der Patient aus Südostasien war vor dem Traumatisierungsereignis eine psychisch unbelastete Persönlichkeit. Heute zeigt der Patient Symptome einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Nur ein Teil seiner Beschwerden liess sich durch eine spezifische Traumatherapie lindern. Hinzu kommen sekundäre stress- und schmerzmitunterhaltende Folgebelastungen wegen migrationsspezifischen Problemen (Trennung von der Familie), Arbeitslosigkeit und Versicherungsproblemen. Schmerzmanagementkurse in Gruppen Im Gegensatz zur Einzelpsychotherapie, welche individuelle psychische Belastungen bei Schmerzpatienten ansteuert, richtet der Schmerzmanagementkurs den Fokus pragmatisch auf den Ausbau allgemeingültiger Schmerz-Copingsstrategien. Spezialisierte Kliniken bieten zu diesem Zweck ambulante oder stationäre Gruppenangebote an. Ein offensichtlicher Vorteil solcher Gruppenangebote ist, dass automatisch ein soziales Reframing durch Gleichbetroffene geschieht («Ich bin nicht die einzige Person, welche an einer solchen Störung leidet»). Ausserdem ist auch für die Betreuerseite der Zusammenzug zur Gruppenschulung ressourcensparender. Die Schmerzmanagementkurse lassen sich idealerweise zeitlich verknüpfen mit dem Gruppenangebot einer Relaxationstechnik oder einem Gruppenphysiotherapieangebot (z.B. gemeinsames Nordic Walking). Auch für die Schmerzmanagementkurse gilt, was für die individualisierte Psychotherapie gilt: die Indikation muss individuell gestellt werden, nicht jeder chronische Schmerzpatient kann gleichermassen von diesem Angebot profitieren. Mögliche Themeninhalte solcher Schmerzmanagementkurse sind: PX05_0271_0284:px06_01.qxd 18.2.2009 8:46 Uhr Seite 277 PRAXIS – Entwicklung eines multikausalen und konstruktiven Schmerzverständnisses – Entwicklung und Information über wirksamkeitsgesicherte Behandlungsperspektiven – Erarbeitung der individuellen Schmerz-Modulationsfaktoren – Erfahren und Üben von Selbstwirksamkeitsmethoden (z.B. Aufmerksamkeitslenkung, Wärmeapplikation, Selbstrelaxationstechniken) – Positive Körperwahrnehmungsschulung (z.B. Atemübungen, Achtsamkeitstrainig, Genussübungen) – Einübung von Techniken zur Schmerz-Emotionsentflechtung und Schmerzdistanzierung – Bewusstwerdung mentaler Einflussgrössen auf Schmerzerleben, Erkennen und Auflösung so genannter dysfunktionaler Kognitionen – Stressmanagement im Alltag (Erfassung der Stressoren, Ausbau von Problemlösungskompetenzen, Prioritätensetzung, Erkennen von körperlichen oder psychischen Warnsignalen, Einübung bewusster Belastungsdosierung, Pausensetzung, Schlafhygienemassnahmen) – Ressourceninventar, Ressourcen(re-)aktivierung, Ressourcenpflege – Methoden der Selbstwertfindung, Sensibilisierung für Vertrauen, Verbündete, Eigenverantwortung, Kohärenz – Training sozialer Fertigkeiten, z.B. fremde und eigene Bedürfniswahrnehmung und Bedürfniskommunikation – Einübung von therapeutischen Tagebuchtechniken, Entlastung durch Narration – Sozialmedizinische Aspekte (z.B. Rollenverlust, sekundärer Krankheitsgewinn, familiendynamische Prozesse, Versorgungs- und Autarkiekonflikte, berufliche Desintegrations- und Reintegrationsprobleme, versicherungsrechtliche Konsequenzen, Kenntnisvermittlung bezüglich dem Angebot fachlicher Hilfestellungen) Mini-Review Praxis 2009; 98: 271–283 277 Entspannungstraining Stress- und Schmerzphysiologie sind zerebral untrennbar miteinander verflochten. Die Stressempfindlichkeit bei Schmerzpatienten ist subjektiv und objektiv erhöht [40]. Viele Schmerzpatienten zeigen im Rahmen von Stress eine Schmerzzunahme. Stressbedingt leiden viele Patienten zusätzlich auch an autonom-vegetativen Symptomen wie Verdauungsstörungen, Schlafstörungen, Hypertonie, Tachykardie, Myogelosen etc. Die funktionellen somatischen Syndrome (s. Kasten 2 im Anhang) wurden bezeichnenderweise früher auch «stress-related syndromes» genannt [41,42]. Das Erlernen und regelmässige Durchführen einer Relaxationstechnik zur Drosselung des erhöhten Sympathikotonus, respektive zur Stärkung des Parasympathikus ist eine wichtige Gegenmassnahme. Am meisten Erfahrungen liegen für die Muskelrelaxation nach Jakobson vor.Weitere Methoden mit vergleichbarem Effekt sind Achtsamkeitstraingsmethoden, Yoga, Hypnosetherapie, geleitete Imagination, regelmässiger Waldspaziergang sowie Entspannung durch Einsatz von Relaxations-Musik. Biofeedbacktrainer am PC oder mittels kleiner Taschengeräte erfreuen sich bei jüngeren Patienten grosser Beliebtheit. Entscheidender als die Art der Entspannungsmethode ist es, dass jeder Patient eine Technik findet, die zu ihm passt, und die er gerne und regelmässig ausübt. Vorzuziehen sind grundsätzlich Methoden, welche der Patient auch selbständig weiterführen kann. Physiotherapie Die Körperwahrnehmung von Betroffenen ist oft einseitig vom Schmerzerleben geprägt. Analog zum Verhalten bei akutem Schmerz führt dies spontan zu Schonverhalten und damit längerfristig zur allgemeinen physischen Dekonditionierung mit Immobilisationserscheinungen. Die Physiotherapie stellt einen sehr wesentlichen Teil der multimodalen Schmerztherapie dar. Eine Autorengruppe aus Deutschland hat unter Einbezug von nahezu 90 Arbeiten physiotherapeutische Verfahren bezogen auf die Fibromyalgie verglichen [43]. Gelingt es, ein besseres Körpergefühl und eine Aktivitätssteigerung zu vermitteln, hat dies sowohl auf die Körperwahrnehmung als auch auf die Stimmung einen korrigierenden Einfluss. Wichtig ist, dass die Therapie lustvoll durchgeführt wird. Durch Vermittlung angenehmer Körpererfahrungen, spielerischen Zugang, Musikeinbezug, gar «Balneotherapie-Atmosphäre» wird das Körperbefinden auf emotional-limbischem Weg positiv beeinflusst. Geschieht Physiotherapie in einer Atmosphäre von mechanistischem Leistungsdruck, tritt das Gegenteil ein. Folgende Inhalte, aufgelistet nach zunehmendem Aktivitätsniveau, können zum Zug kommen: – Positive Körperwahrnehmungsvermittlung z.B. durch Wärmelampe, haptisch-sensorische Erlebnisse, Fango, Einreibungen, Wasser – Schmerzentlastung durch Haltungsverbesserung, muskelrelaxierende Übungen, beruhigende Atemtechnik, manuelle Lösung schmerzassoziierter Myogelosen – Bewegungsaktivierung z.B. mit Musik oder Spiel, bewusstes Auflösen von kontraproduktivem Schonverhalten und «blockierter» Bewegungsmuster – Dosiertes aerobes Aktivieren unter Erkennen und Respektierung von Belastungsgrenzen – Sukzessiver Ausbau des Aktivierungsniveaus unter Vermittlung von Erfolgserlebnissen und positivem Feedback (Bsp. Gehtraining mit Nordic Walking, Wandern, Schwimmen) – Transfer des Aktivitätsverhaltens in den Alltagsrahmen («Treppe statt Lift») – Selbsthilfestrategien, Übernahme und Förderung jener physiotherapeutischen Methoden, welche als Heimprogramm eigenständig weiter geführt werden können PX05_0271_0284:px06_01.qxd 18.2.2009 8:46 Uhr Seite 278 PRAXIS Medikamentöse Therapieansätze Bei der zentralen Schmerzperzeption ist eine derart grosse Zahl von Transmitter-, Rezeptor- und Neuromodulatorensysteme involviert, dass nicht von einer einzelnen chemischen Substanz das «Ausschalten» der zerebralen Schmerzperzeption erwartet werden kann! Einzige Ausnahme sind Narkose-Substanzen, welche indessen nicht nur den Schmerz sondern auch gleich das Bewusstsein unterbrechen. Die Tatsache, dass chronisches Schmerzerleben stets auch mit abgespeicherter Lernerfahrung («Schmerzgedächtnis») zu tun hat, lässt die Hoffnung auf eine einseitig pharmakologische Schmerztilgung schwinden. Antidepressiva Die partielle Wirksamkeit von Antidepressiva in der Behandlung von chronischen (somatogenen, neuropathischen und somatoformen) Schmerzen ist seit langem bekannt und wird oft genutzt. Der Wirkungseffekt der alleinigen antidepressiven Therapie ist eher als moderat denn als durchschlagend zu bezeichnen. Die zentral-analgetische Wirkkomponente der Antidepressiva ist grundsätzlich nicht vom Vorhandensein einer Depression abhängig. Auch wird die analgetische Wirkung beispielsweise bei Trizyklika bereits bei deutlich niedrigen Dosierungen erreicht als der antidepressive Wirkungseffekt. Trizyklika werden nach wie vor als Mittel der Wahl betrachtet bei fibromyalgiformen Störungen, chronischen lumbalen Rückenschmerzen und Kopfschmerzen vom Spannungstyp [44,45]. Den bis heute durch Placebostudien am besten dokumentierte Effekt hat bezogen auf das Fibromyalgiesyndrom niedrig dosiertes Amitriptylin, die Effektstärke ist als mässig zu bezeichnen [46]. Einen günstigen Effekt ist v.a. auf den Schlaf zu erwarten. Um die Compliance zu begünstigen, ist mit relativ geringen abendlichen Dosierungen (10 mg) zu beginnen und später auf Retard-Präparate (50–75 mg) um- Mini-Review Praxis 2009; 98: 271–283 278 Key messages ● Zentralisierte Schmerzstörungen sind reale chronische Schmerzkrankheiten ohne notwendigerweise vorhandenes peripheres Korrelat. ● Neben eher generalisierten Schmerzsyndromen wie Fibromyalgie und Chronic widespread pain sind eine ganze Reihe lokalisierter Schmerzsensibilisierungssyndrome bekannt (= funktionelle somatische Syndrome) ● Somatische Schmerzvorerfahrung (Priming, Wind-up), psychobiographische Prägung (Pain proneness) und Stressbelastung (Action proneness) sind die wichtigsten Faktoren, welche zu einer Schmerzsensibilisierung des ZNS führen. ● Die Therapie solcher Erkrankungen erfordert einen multimodalen Ansatz. ● Gruppentherapieangebote (Schmerzmanagementkurse) sind eine Option in der Behandlung dieser Erkrankungen. Lernfragen 1. Sie vermuten bei einem Patienten eine zentralisierte Schmerzstörung. Welche der folgenden Aspekte weisen auf eine somatosensorische Reizamplifizierung hin? Der Patient berichtet, a) dass er ständig die Position wechseln muss, weil ihm die angespannten Muskeln oder die Körperauflageflächen schmerzen. b) dass er lärmempfindlicher geworden ist und einen Tinnitus entdeckt hat. c) dass er nach körperlicher Beanspruchung, die Erschöpfung noch Tage später spüre. d) dass er das Einkaufen in Kaufhäusern am Samstag meide, weil ihm sonst nach kurzer Zeit «der Kopf drehe». 2. Welcher Zweck hat die begleitende Psychotherapie bei Schmerzerkankungen? a) Schmerzassoziierte dysfunktionale Verhaltensmuster abzubauen (z.B. Rückzug, Schonen, Delegieren). b) Schmerzassoziierte dysfunktionale Kognitionen abzubauen (z.B. Katastrophisieren, Verallgemeinern, Grübeln) c) Abbau emotionaler Stressoren (z.B. in Zusammenhang mit lebensbiographischen Belastungen, Alltagskonflikten, Spannungen, Ängsten, Sinnfragen) d) Verbesserung der allg. Lebensqualität (z.B. durch Ressourcenreaktivierung, Reframing, Selbstwirksamkeitserfahrung, Selbstwertverbesserung, Kompetenzausbau) zustellen. In diesem Dosisbereich ist das Medikament auch für neuropathisch bedingte Schmerzen wirksam. Der Patient ist aufzuklären, dass ein Wirkungseintritt nicht unmittelbar zu erwarten ist und initiale Nebenwirkungen (z.B. Benommenheit) in der Regel wieder abklingen. Die Daten zum Wirkungsvergleich von Trizyklika und SSRI sind uneinheitlich. Auch für viele der moderneren Antidepressiva (Venlafaxin, Mirtazapin, Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin etc.) liegen aber zunehmend Studien zur partiellen Wirksamkeit bei Schmerzzuständen vor [46,47]. Dual wirksame Prä- PX05_0271_0284:px06_01.qxd 18.2.2009 8:46 Uhr PRAXIS parate (serotoninerg und noradrenerg) scheinen gegenüber einseitig serotoninerg wirkenden Präparaten etwas überlegen zu sein [45]. Grundsätzlich gilt es bei der Auswahl eines Antidepressivums Begleitsymptome, Komorbiditäten und v.a. Präferenzen des Patienten zu berücksichtigen. Konventionelle Basisanalgetika Das WHO-Schema zur akuten Schmerztherapie ist nicht für die Behandlung chronischer zentralisierter Schmerzen vorgesehen. Die gute Basisanalgetikatherapie, z.B. mit NSAR, ist v.a. wichtig in der Prävention von Schmerzkrankheiten im Akutstadium! Bei etablierter Schmerzkrankheit zeigen diese Schmerzmittel nur einen geringen bis keinen Effekt [46,48]. Allenfalls helfen NSAR schmerzassoziierte sekundäre muskuläre Verspannungen zu lindern. Wie Myorelaxantien sollten NSAR dann aber nur kurzfristig und sporadisch zum Zug kommen. Eine Basisanalgetikatherapie gegen schmerzhafte muskuläre Verspannungen mit Paracetamol und/oder Tramadol ist unbedenklicher, kann individuell evaluiert werden und soll aber bei Ineffizienz auch wieder sistiert werden. Einsatz von Opiaten Im Gegensatz z.B. zur Analgetikatherapie bei chronischen Tumorschmerzen haben Opiate in der Behandlung somatoformer Erkrankungen keine Verwendung. Die Risiken einer Abhängigkeit übersteigen in der Regel den analgetischen Benefit. Es gibt Hinweise, dass Opiate bei somatoformen Schmerzstörungen längerfristig sogar zu einer Schmerzsensibilisierung beitragen können. Auch der Einsatz von Oxycodon ist bei Fehlen eines anhaltend peripheren oder neuropathischen Schmerzkorrelates in der Regel enttäuschend. Die Evaluation von Opioiden bei individuellen Patienten mit zentralisierten Störungen und/oder psychiatrischen Erkrankungen mit dem Leitsymptom «Schmerz» sollte demnach nur in doku- Seite 279 Mini-Review Praxis 2009; 98: 271–283 279 mentierten Einzelfallstudien oder kontrollierten Studien erfolgen, da der Wirksamkeitsnachweis von Opiaten aussteht [49]. Antikonvulsiva Antikonvulsiva wie z.B. Gabapentin und Carbamazepin haben in der Therapie von neuropathisch bedingten Schmerzen einen festen Platz. Auch Pregabalin hat die Zulassung für den Einsatz bei zentral-neuropathischen Störungen. In den USA ist Pregabalin inzwischen auch zur Therapie von zentral-somatoformen Störungen wie Fibromyalgie zugelassen. Die langfristige Wirksamkeit einer Therapie mit Pregabalin ist bei fibromyalgiformen Störungen aber noch nicht gesichert. Eine zeitlich befristete Therapie kann im Einzelfall unter Überprüfung der Wirksamkeit erwogen werden [46]. Schlafhygiene Schwere Schmerzerkrankungen gehen in der Regel mit einer gestörten Schlafphysiologie einher. Ein wichtiger Aspekt sowohl in der stationären als auch der ambulanten Therapie sind Verbesserungen in diesem Bereich. Bei stark beeinträchtigter Wach-Schlafperiodik kann ein limitierter, max. 2–3-wöchiger Einsatz von Benzodiazepinen (z.B. Oxazepam) oder Benzodiazepinagonisten (z.B. Zolpidem, Zopiclon) gerechtfertigt sein. Erwünschte schlafbegünstigende Effekte sind bei der Auswahl eines Antidepressivums (z.B. Trizyklika, Trazodon, Mirtazapin) mit zu berücksichtigen. Folgende Verhaltensmassnahmen kommen hinzu: – Meidung von erregenden Aktivitäten (z.B. Sport) unmittelbar vor dem Schlaf – Einschlafrituale (z.B. Schlaftee, ruhige Musik, Tagebuch, Lesen, Meditation, warmes Bad, Spaziergang) – Umwertung der Schlaflosigkeit: anstatt «Versagergefühle hegen», die Zeit für bewusstes Entspannen nutzen – Mentale Techniken zum Verlassen des frühmorgendlichen «Sorgen- und Grübelkarussells» einüben – Schlafbegünstigende Gestaltung des Ruheplatzes (Reduktion akustischer Immissionen, Schlichtheit, Installation von Geborgenheitsattributen, «Ruhebilder», Ruhesymbole etc.) Danksagung Die Diagnosestellung einer zentralisierten Schmerzstörung geschieht in der Regel in Zusammenarbeit mit ärztlichen Mitarbeitern aus verschiedenen Fachrichtungen und der Grundversorgung. Die multimodale Schmerztherapie ist ein Angebot, welches nur dank guter interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Fachkräften aus Psychologie, Physiotherapie, Ergotherapie und Pflege funktioniert. An dieser Stelle speziellen Dank jenen Mitarbeitenden, welche mithelfen, die Therapie chronischer Schmerzpatienten mitzutragen, weiter zu entwickeln und zu evaluieren. Abstract Previous somatic pain experience (priming), psychobiographic imprinting (pain proneness), and stress (action proneness) are key to an enhanced centralised pain response. This centralised pain response clinically manifests itself in pain sensitization and chronification. The therapeutic approach to chronic centralised pain disorders is multimodal. The overarching aim of the various interventions of a multimodal treatment program is to activate anti-nociceptive areas of the cerebral matrix involved in pain processing. The lists of medications targeting neuropathic and somatoform pain disorder show considerable overlap. Psychotherapy helps patients with central pain sensitization to improve pain control, emotional regulation and pain behaviour. Key words: central sensitization – central sensitivity syndromes – somatoform pain disorder – functional somatic syndromes – chronic widespread pain – multimodal pain therapy PX05_0271_0284:px06_01.qxd 18.2.2009 8:46 Uhr Seite 280 PRAXIS Résumé L’expérience antérieure de douleurs somatiques (priming), l’empreinte psychobiographique (pain proneness) ainsi que le stress (action proneness) sont les principaux facteurs provoquant une réponse douloureuse accrue du système nerveux central. Cliniquement, celle-ci se caractérise à la fois par une sensibilisation à et une chronification de la douleur. En fin de compte, toutes les mesures thérapeutiques adoptées ont comme but de renforcer les composantes antinociceptives de la matrice de la douleur au niveau cérébral. Il existe bien sûr un chevauchement important entre les listes de médicaments contre les douleurs neuropathiques et les douleurs somatoformes. Les démarches psychothérapeutiques visent à améliorer le contrôle de la douleur ainsi qu’à apporter un soutien émotionnel et comportemental. Mots-clés: sensibilisation centrale – syndrome douloureux somatoforme – syndromes somatiques fonctionnels – traitement multimodal des douleurs chroniques Mini-Review Praxis 2009; 98: 271–283 280 Bibliographie 1. Egloff N, Egle UT, von Känel R. Weder Descartes noch Freud? Aktuelle Schmerzmodelle in der Psychosomatik. Praxis 2008; 97: 549-57. 2. Nicholson BD. Evaluation and treatment of central pain syndromes. Neurology 2004 ; 57: 1-164. 3. Sidall PJ, McClelland JM, Rutkowski SB, Cousins MJ. A longitudinal study of the prevalence and characteristics of pain in the first 5 years following spinal cord injury. Pain 2003; 103: 249-57. 4. Gracely RH, Petzke F, Wolf JM, Clauw DJ. Functional Magnetic Resonance Imaging Evidence of Augmented Pain Processing in Fibromyalgia. Arthritis and Rheumatism 2002; 46: 1333-43. 5. 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Alle Antworten sind richtig. 25. Thieme K, Häuser W, Batra A, et al. Psychotherapie bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom. Schmerz 2008, 22: 295-302. PX05_0271_0284:px06_01.qxd 18.2.2009 8:46 Uhr Seite 282 PRAXIS Mini-Review Praxis 2009; 98: 271–283 282 Kasten 1 Hinweise für das Vorliegen einer zentralen Schmerzsensibilisierung Die folgende Liste gründet auf Erfahrungswerten. Einzelne erfüllte Kriterien erlauben nie eine Diagnosestellung. Hinweise bezüglich zeitlichem Krankheitsverlauf – Jahrelange Schmerzanamnese mit multiplen vorangegangenen Abklärungen und Eingriffen, oft ohne klare Befundlage – Sehr hohe Stressbelastung oder hohes Aktivitätsniveau zum Zeitpunkt des somatischen Auslöseereignisses – Beginn des Leidens nach lang anhaltender emotionaler Belastung – Jeweils temporäre Schmerzverstärkung parallel oder im Nachzug an «fight-flight-Affekte» (Anspannung, Schreck, Angst, Ärger) – Verstärkung der Symptomatik am Folgetag nach körperlicher Beanspruchung («Büssen müssen») – Intensität der Beschwerden stark von Tagesform abhängig – Wechselhafter, unvorhersehbarer Schmerzpegel («Ich weiss nicht, wie es mir morgen geht») Hinweise bezüglich Symptomatik – Keine relevante Verbesserung mit klassischen Analgetika – Beschwerden lassen sich ungenügend mit organischen Strukturgrenzen (z.B. Organ- oder Dermatomgrenzen) erklären – Oftmals «brennende» Schmerzqualität, Umschreibung der Beschwerdeart mit «nicht-sensorischen», eher affektiv-wertenden Adjektiven wie z.B. «höllisch», «mörderisch», «unerhört», «wahnsinnig», «grausam» – Hyperalgesiezeichen bei Schmerzprovokationstests, z.B. empfindliche Fibromyalgie-Druckpunkte – Allgemein erhöhte Reizempfindlichlichkeit: Phonophobie, Photophobie, Arousal, inklusiv vermehrter emotionale Reizbarkeit – Subtile, nicht Dermatom-bezogene Berührungs- und Thermohypästhesien (sensible Quadranten-, Halbseitensyndrome) – Neuropsychische Begleitbeschwerden wie Kurzzeitgedächtnisstörung, Konzentrationsstörungen, chronisches Erschöpfungsgefühl, Schlafstörung, Leistungsintoleranz, Libidoverlust – Multiple stressassoziierte vegetativ-autonome Begleitbeschwerden wie Verdauungsbeschwerden, kalte Akren, Mundtrockenheit, Spannungskopfschmerzen, nuchale Myogelosen – Assoziation mit Depression, Angststörungen, Panikattacken – Komorbidität mit anderen funktionellen somatischen Syndromen (siehe Kasten 2) Hinweise bezüglich biographischem Hintergrund – Erste Schmerzerfahrungen bereits in der Kindheit (z.B. Intensivpflegebehandlung als Säugling) – Elterliche Vernachlässigung in der Kindheit, Hinweise für frühe Bindungsstörung – Wiederholte Beziehungsabbrüche, «biographische Lücken» – Phasen langandauernder emotionaler Belastung (z.B. Angst um Angehörige während der Balkankriege) – Wiederholter unfreiwilliger Wohnortswechsel, Flucht, unfreiwillige Migration, Integrationsstress – Traumatisierung (Unfallereignis, Folterung, Verfolgung, Haft, Vergewaltigung, Missbrauch) – Anhaltende psychosoziale Belastungen und Sorgen (z.B. durch finanzielle Ängste, Arbeitsplatzverlust) – Tendenz zu beruflicher Verausgabung, Selbstüberforderung («Überleister», «Perfektionisten») Kasten 2 Was sind funktionelle somatische Syndrome? Zentralisiert-somatoforme Schmerzstörungen lassen sich einteilen in Krankheitsbilder mit eher generalisiertem Schmerzcharakter (z.B. chronic widespread pain) und Krankheitsbilder mit eher lokalisiertem Beschwerdebild, so genannte funktionelle somatische Syndrome. Es handelt sich um eine Gruppe von Störungsbildern mit grosser Symptomüberlappung [50,51]. Da zentrale Schmerzsensibilisierung ein entscheidender pathophysiologischer Faktor ist, sprechen gewisse Autoren zu Recht auch von den Central Sensitivity Syndromes [52]. Als Hauptgenesefaktoren für die Schmerzsensibilisierung werden somatosensorisches Priming und psychobiographische Stressprägung diskutiert. Bei einzelnen Syndromen (z.B. Reizdarmsyndrom, Fibromyalgie, Chronic Fatigue Syndrome) sind zusätzlich auch genetische Vulnerabilitätsfaktoren vermutet worden. Charakteristisch für diese chronischen Störungen ist ein sehr hohes Komorbiditätsrisiko für eine Zweiterkrankung aus demselben Formenkreis [50,51]. Hinsichtlich der Therapieansätze zeichnen sich ebenfalls grosse Überlappungen auf. So kommen beispielsweise bei Fibromyalgie [53] und Reizdarmsydrom [54] sehr analoge Therapiekonzepte zur Anwendung. Fachgebiet Beispiele funktioneller somatischer Syndrome Zentrale Hypersensitivität Rheumatologie Fibromyalgie nachgewiesen (>20 Studien) Gastroenterologie Reizdarmsyndrom, funktionelle Dyspepsie nachgewiesen (>20 Studien) Infektiologie (Postviral) Chronic Fatigue Syndrome wahrscheinlich (1 Studie) HNO Temporomandibularschmerz, Burning mouth, Tinnitus, Globussyndrom nachgewiesen (7 Studien) wahrscheinlich Allergologie Chemical Sensitivity Syndrome wahrscheinlich (1 Studie) Urologie Male Chronic Pelvic Pain Syndrome, interstitielle Zystitis wahrscheinlich (1 Studie) [modifiziert nach 51 und 52] PX05_0271_0284:px06_01.qxd 18.2.2009 8:46 Uhr Seite 283 PRAXIS Mini-Review Praxis 2009; 98: 271–283 283 Kasten 3 Problemdiagnose: «Anhaltende somatoforme Schmerzstörung» (ICD-10 F 45.4) Die anhaltende somatoforme Schmerzstörung ist eine Diagnosekategorie aus den 1980er Jahren. Im Raster des damals eher dichotomen Schmerzverständnisses (Psyche versus Soma) wurden die zugrunde liegenden Beschwerden als primär «psychogen» gewertet. In der Alltagssemiotik v.a. von Nicht-Fachleuten, wird «psychogen» leider bis heute assoziiert mit «nicht-real», «ersponnen», «psychopathologisch» oder gar «vorgetäuscht». Auch taucht in versicherungsjuristischen Texten immer wieder die Fehlannahme der «willentlichen Überwindbarkeit» dieser Schmerzkategorie auf. Für die dabei oft beigezogenen «Försterkriterien» gibt es bis heute keinen medizinischen Beleg [55]. Die Diagnose anhaltende somatoforme Schmerzstörung ist zu einer versicherungsrechtlich unberechenbaren Hülse geworden. Aber auch aus rein nosologischer Sicht melden sind zunehmend Vorbehalte an, da die Diagnose zu wenig kohärent ist, die Ausschlusskriterien verschwommen sind, klar definierte diagnostische Schwellen fehlen [56]. Auch ist die Diagnose schwierig zu kommunizieren, da der Arzt oft nicht in der Lage ist, nachzuweisen, wie es zu der «Verkörperlichung» von seelischen Leiden kommt. Missverständnisse kommen daher sehr häufig vor. Gemäss heutigem Schmerzverständnis sind dringend Differenzierungen nötig, welche neuere biologische Kenntnisse integrieren. Die Etikette «anhaltende somatoforme Schmerzstörung» stellt daher für die Autoren keine Enddiagnose dar, sondern eher eine Ausgangsbasis für weiterführende differentialdiagnostische Überlegungen unter Einbezug der grossen Gruppe der funktionellen somatischen Syndrome und den anderen hier dargestellten Formen zentralisierter Schmerzstörungen. Kasten 4 Terminologisches: Alles dasselbe? – Ein Vorschlag Funktionell: Der Begriff «funktionell» wurde früher häufig als verschleierndes Synonym für «psychogen» verwendet. Mit der Entwicklung funktioneller bildgebender Verfahren gewann der Begriff wieder eine neutralere Ausrichtung. «Funktionell» (als Gegensatz zu «strukturell») ist ein deskripitiver Begriff zum Beschrieb eines körperlichen Vorgangs, welches nicht auf einer histologischen Strukturläsion basiert sondern auf einer neurogenen Regulationsstörung beruht, z.B. vegetative Unteraktivität oder Überaktivität. Psychogen: «Psychogen» impliziert die direkte Kausalität psychischer Ursachen. Die «Psychogenizität» vieler psychosomatischer Krankheiten besteht darin, dass die betroffenen Personen unter erheblichem Stress stehen. Der Begriff «psychogen» wird von medizinischen Laien leider oft in einem pejorartiven Sinn, wie «selbstverschuldet» «psychopathisch» oder «eingebildet» verstanden. Somatoform: Unter somatoformen Beschwerden versteht man körperlich empfundene Beschwerden, welche nicht durch einen körperlichen Schaden erklärbar sind. In der Regel entstehen somatoforme Beschwerden in den Strukturen der Körperwahrnehmung (Bsp. Schmerzstörungen) oder in den Strukturen der Körperregulation (Bsp. Stressstörungen). Hypochondrisch: Unter hypochondrischen Beschwerden versteht man das zwanghafte, angstbesetzte darüber Nachdenken-Müssen, an einer bedrohliche Krankheit zu leiden. Man könnte Hypochondrie den Krankheitsphobien zuordnen. Nicht-organisch: «Nicht-organisch» (versus organisch) wurde vielfach als Synonym für funktionell verwendet. Der Begriff ist obsolet, da irreführend, denn auch die funktionellen Störungen beruhen letztlich auf organischen Grundlagen. Simulation: Simulation bedeutet die bewusste, willentliche Vortäuschung eines Symptoms oder einer Krankheit. Aggravation: Bedeutet die absichtliche, willentliche Überzeichnung von Beschwerden. Nicht selten werden Symptome bei zentraler Hyperalgesie als aggravatorisch fehlgedeutet!