spinozistische Grundansicht

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Schopenhauers
spinozistische
Grundansicht
Ortrun Schulz (Hannover)
Schopenhauer beruft sich zwar meistens auf Piaton und Kant, doch ist
seine Philosophie auch bedeutend durch Spinoza mitgeprägt worden. Die
Rezeption Spinozas durch Schopenhauer hat einen beeindruckenden Niederschlag in Schopenhauers Randnotizen zu seinen Büchern gefunden. 1
Der Umfang seiner Kommentare wird nur von denen zu Kant und Fichte
übertrofFen. Schopenhauer besaß Spinozas Werke in der Ausgabe von Paulus, erschienen 1802-3 in Jena, Opera quae supersunt omnia
Nach
Ansicht Hübschers dürfte er sie um 1811-13 erworben haben. 2 In seiner
Dissertation 1813 behandelt er Spinoza; in seinem Hauptwerk finden sich
Referenzen; der Abfassung der 2. Auflage der Welt als Wille und Vorstellung ging eine erneute intensive Auseindersetzung mit Spinoza voraus;
auch in den späten Parerga noch finden sich etliche Spinoza-Zitate, woraus
hervorgeht, daß er sich zeitlebens mit Spinoza auseinandergesetzt hat.
Schopenhauer sagt selbst:
....
—
Mein System verhält sich zu dem des Spinoza wie das Neue Testament zum Alten Testament.
Denn: was das alte Testagemeinsam
ment mit dem neuen
hat ist derselbe Gott Schöpfer.
Eben so ist bei mir, wie bei Spinoza, die Welt durch sich selbst
und aus sich selbst. 3
Manche Interpreten gehen sogar so weit, Schopenhauers System eine "Synthese zwischen Spinoza und Kant" zu nennen. 4 Der metaphysische Monismus ergibt sich bei Schopenhauer durch den Übergang von der pla1 Abgedruckt
in HN V, zu den Werken Spinozas auf den Seiten 166-174.
2 Henry W. Brann, "Schopenhauer und Spinoza". In: 51. Jb. 1970, S. 139.
3
111,241.
HN
Zuerst bemerkte Schopenhauers Rezensent Herbart, daß eine Lektüre Schopenhauers als Denkübung zu empfehlen sei, zumal weniger mit störenden Dunkelheiten behaftet
als die Schriften Fichtes und Schellmgs, "wäre es auch nur, um sich vollends zu überzeugen, dass diese neueste, idealistisch-spinozistische Philosophie in allenihren Wendungen
und Darstellungen immer gleich irrig ist und bleibt."Herbart-Zitat bei Tomas Bohinc,
Die Entfesselung des Intellekts, Frankfurt: Lang, 1989, S. 11. Eine "Synthese zwischen
Spinoza und Kant" nennt Schopenhauers System Rudolf Lehmarm, Schopenhauer und
die Entwicklung der monistischen Weltanschauung, Berlin 1892, und derselbe, Schopenhauer: Ein Beitrag zur Psychologie der Metaphysik, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1894, bes. das Kapitel "Monismus und Ethik". Einige weitere sprechen von
einer "Synthese von Kant und Spinoza-Schelling": Johannes Volkelt, Arthur Schopen4
51
tonischen Vielheit der Ideen und einer Vielheit von Dingen an sich 1814
zum einen Wesen der Welt. Der Wille zum Leben ist bei Schopenhauer
das Substrat aller Wirklichkeit und erfüllt eine vergleichbare Rolle wie die
Substanz bei Spinoza. 1815 sagt Schopenhauer: "Man vergleiche doch die
hier aufgewiesene Einheit der Welt als Erscheinung eines Willens mit der
substantia aeterna des Spinoza" 5
Auch für seine Lehre vom Willen als Wesen des Menschen macht Schopenhauer eine Übereinstimmung mit Spinoza geltend. In Verteidigung
seines Originalitätsanspruches gegen seine Zeitgenossen gibt Schopenhauer
einen Teil davon preis, indem er bei Spinoza Rückendeckung sucht: "Wollte
man hingegen dergleichen zufällige Aussprüche als Prioritäten gegen mich
geltend machen [er bezieht sich hier auf Fichte und Schelling und die von
anderen bemerkten Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten jener mit seinen eigenen "Philosophemen"]; so hätte man viel weiter auszuholen". 6
Unter den namhaften Vertretern der Philosophiegeschichte führt er nach
Clemens Alexandrmus an bereits zweiter Stelle Spinoza an und zitiert dessen Sätze: ilHic conaius, cum ad mentem solarn referiur, volunias appellaiur; sed cum ad mentem et corpus simul refertur, vocatur appetilus,
qui proinde nihil aliud est, quam ipsa hominis essentia" [Dieser Antrieb
heißt Wille, wenn er allein auf den Geist bezogen wird; er heißt Begierde,
wenn er zugleich auf Geist und Körper bezogen wird; und er ist nichts anderes als das eigentliche -Wesen des Menschen]. Und: "Cupidiias est ipsa
uniuscuiusque natura seu essentia" [Die Begierde ist gerade das, was bei
jedem seine Natur oder sein Wesen ausmacht].
Die Schopenhauersehe Willenslehre ist nicht nur ein Aspekt seines philosophischen Systems, sondern dieses selbst. Schopenhauer analysiert das
Wesen des Willens, gibt aber nicht eine Theorie, die den Willen erklärt,
sondern eine Metaphysik des Willens, die zur Deutung der Phänomene
dienen soll. Die Willensmetaphysik wird ermöglicht durch die Transponierung eines besonderen Wille-Intellekt- Verhältnisses, das sich quer durch
alle Ebenen des Seins hindurchziehen läßt. Das Verhältnis der Indepen.5.
hauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre, sein Glaube, Stuttgart: 1901, S. 343. Zu
erwähnen sind u.a. vor allem auch Max Grünwald 1897, Ernst Clemens 1899, Samuel
Rappaport 1899, Baron Cai \u03bd. Brockdorff 1900, Wilhelm Feyerabend 1910, Umberto A.
Padovani 1934, Henry W. Brann 1970. Inneuester Zeit hat Rotenstreich Schopenhauers
Philosophie eine systematische Variation über das Thema des dynamischen Pantheismus bzw. des "geläuterten Spinozismus" genannt: Nathan Rotenstreich, "The Thing
in itself and Will", 69. Jb. 1988, p. 136. Ich verweise auch auf meine Dissertation
Wille und Intellekt bei Schopenhauer und Spinoza, Hannover 1992, im Erscheinen bei
Lang, Bern /Frankfurt am Main.
Schopenhauer-Zitat bei Samuel Rappaport, Spinoza und Schopenhauer, Berlin:
Gärtner, 1899, S. 133.
6 "Fragmente zur Geschichte der Philosophie", §14: "Einige Bemerkungen
über meine
eigene Philosophie", \u03a1 \u039 , 142-3.
52
denz des Willens vom Intellekt, das Schopenhauer vertritt, ist nun aber
nach seiner Meinung noch nie zuvor in der Philosophiegeschichte "in jemandes Kopf gekommen" Die Independenzthese gipfelt darin, daß
.
"die Erkenntnis und ihr Substrat, der Intellekt, ein vom Willen
gänzlich verschiedenes, bloß sekundäres, nur die höhern Stufen
der Objektivation des Willens begleitendes Phänomen sei, ihm
selbst unwesentlich, von seiner Erscheinung im tierischen Organismus abhängig, daher physisch, nicht metaphysisch, wie
er selbst; daß folglich nie von Abwesenheit der Erkenntnis geschlossen werden kann auf Abwesenheit des Willens; vielmehr
dieser sich auch in allen Erscheinungen der erkenntnislosen,
sowohl der vegetabilischen als der unorganischen Natur nachweisen läßt; also nicht, wie man bisher ohne Ausnahme annahm, Wille durch Erkenntnis bedingt sei; wiewohl Erkenntnis
durch Wille."7
Mit dem höchsten Nachdruck stellt Schopenhauer seine Zentralthese auf:
"Der Grundzug meiner Lehre, welcher sie zu allen je dagewesenen in Gegensatz stellt, ist die gänzliche Sonderung des Willens von der Erkenntnis, welche beide alle mir vorhergegangenen Philosophen als unzertrennlich, ja den Willen als durch
die Erkenntnis, die der Grundstoff unsers geistigen Wesens sei,
bedingt und sogar meistens als eine bloße Funktion derselben
angesehn haben." 8
Schopenhauers Independenzthese involviert die Differenz von Wille und
Intellekt und den Primat des Willens gegenüber dem Intellekt. Weder die
Differenz von Wille und Intellekt, noch der Primat des Willens im Erkennen ist neu, hat doch der Wille bei Augustmus und Duns Scotus ebenfalls
eine Vorrangstellung inne. Und bei Descartes verfügt das Willensvermögen
über einen unendlichen Bereich. Nicht mit dem Willensprimat und der
DifFerenzthese also, aber mit der Trennung des Willens vom Intellekt, der
"gänzlichen Sonderung des Willens von der Erkenntniß", der Independenz
des Willens von der Vorstellung erhebt Schopenhauer den Anspruch, sich
von der gesamten Tradition abzuheben. Kein Unterschied käme dem zwischen Wille und Vorstellung an Radikalität gleich. Der Wille sei wesentlich
7 N, 3.
N,19. Inder Einleitung zu seiner 1835 abgefaßten Schrift Ober den Willen in der
Natur setzt Schopenhauer nachdrücklich auseinander, was der "Kern und Hauptpunkt"
seiner Lehre, "die eigentliche Metaphysik derselben" ist. Er nennt sie auf zwei Seiten
auch die "paradoxe Grundwahrheit", das "Grunddogma", welches der "alle übrigen
Teile meiner Philosophie bedingende Hauptgedanke ist". N, 3.
BN,8
53
erkenntnisunabhängig, und wie er selbst das ansiehseiende, ewige Wesen
der Welt ausmacht, so auch das Wesen des Menschen, das also nicht, wie
imAnschluß an Spinoza im Deutschen Idealismus, in der Vernunft läge.
Schopenhauers
Intellekt
These der Independenz des Willens vom
Seine These von der grundsätzlichen Differenz von Wille und Intellekt und vom Willensprimat sucht Schopenhauer inseinem philosophischpsychologischen 9 Kapitel "Vom Primat des Willens im Selbstbewußtsein"
durch zahlreiche Beobachtungstatsachen zu untermauern. Sowohl in der
Introspektion wie bei einem Wechsel der Perspektive auf den naturwissenschaftlichen Standpunkt ergibt sich die Vorrangstellung des Wollens
gegenüber dem Vorstellen und die Unabhängigkeit des Willens von der
Vorstellung. Dabei gilt der Primat in zwiefacher Weise: zum einen im
Vorstellungsleben als Vorrang der Begierde, zum anderen in der Existenz
als Vorrang der Begierde zu leben über das Vorstellungsleben, die ihren
angestammten Sitz im Leib hat und nicht imIntellekt. Wille und Intellekt,
das Begehrungsvermögen und das Vorstellungsvermögen, sind beide grundverschieden in ihren Funktionsweisen. Der Wille steht in antagonistischer
Beziehung zum Intellekt: "denn überall ist der Wille, als das Prinzip der
Subjektivität, der Gegensatz, ja der Antagonist der Erkenntnis."
Schopenhauer faßt den Willen vorwiegend als Begierde oder ein Analogon derselben, nicht als unbestimmtes Begehrungsvermögen auf. 10 Bestimmt wird es nicht, wie bei Kant, durch reine Vernunft, sondern umgekehrt bestimmt der Wille zum Leben die Wertungen. Erkenntnis liefert
dem Willen nur mehr Wahlmöglichkeiten. Der Wille ist an sich erkenntnisloses Streben und wird in Lust und Leid gefühlt. Schopenhauer begründet
9Kap. 19, W 11, 224-276.
10 Der "eigentliche Wille, das was man wahrhaftig den reinen Willen nennen sollte
[...], der Willegesondert vom Erkennen, ist ein dunkler, dumpfer Drang zu leben". Manuskripte 1814/5, §362, HN I, 226. Vgl. zu Schopenhauers extensionaler Bestimmung
des Willens durch Aufweis seiner Phänomene etwa auch: W I, 370: "Zwischen Wollen
und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort." N, 67: "Endlich willich
nicht unbemerkt lassen, daß schon Piaton den Pflanzen Begierden, also Willen beilegt".
"Aphorismen zur Lebensweisheit", \u03a1 \u039 , 350: "Andererseits nun aber hat die gesteigerte
Intelligenz eine erhöhte Sensibilität zur unmittelbaren Bedingung und größere Heftigkeit des Willens, also der Leidenschaftlichkeit zur Wurzel". Kap. 3: "Den Intellekt
überhaupt und in jeder Beziehung betreffende Gedanken", \u03a1 11, 68-9: "Zu den Verunreinigungen der Erkenntnis (...) kommen nun noch die direkt aus dem Willen und seiner
einstweiligen Stimmung, also aus dem Interesse, den Leidenschaften, den Affekten des
Erkennenden hervorgehenden". Der Geschlechtstrieb ist der "Brennpunkt des Willens".
54
sein Argument, daß der Wille wesentlich von der Erkenntnis nicht nur
verschieden, sondern von ihr unabhängig sei, mit dem Hinweis auf den
Schmerz, den jedes Wesen fühlt, dessen Wollen durchkreuzt wird. Dazu
bedarf es keines Denkens. Das Leid nimmt Gestalt an als Seelenschmerz
und als körperlicher Schmerz. Das Gefühl des Schmerzes ist aber kein
Gedanke, noch ist die Grundlage desselben, der Wille zum Leben, ein Gedanke. Er ist blindes Streben nach Dasein.
Schopenhauer folgert aus den Tatsachen des Selbstbewußtseins und den
naturwissenschaftlichen Ergebnissen, daß
"demnach dieser Wille, weit davon entfernt, wie alle bisherigen
Philosophen annahmen, von der Erkenntnis unzertrennlich und
sogar ein bloßes Resultat derselben zu sein, von dieser, die
ganz sekundär und spätem Ursprungs ist, grundverschieden
und völlig unabhängig ist, folglich auch ohne sie bestehn und
sich äußern kann [...].n
Ausgehend von der empirischen Selbsterfahrung, dem uns unmittelbar Bekanntesten überhaupt, das wirin uns als unseren Lebenswillen finden, gelangt Schopenhauer zur Erklärung des Wesens an sich selbst der Welt, wie
sie uns in unserer Vorstellung erscheint. Dieses ihr Wesen ist, analog zu
unserem eigenen, Wille: "Ich habe demnach nicht die Welt aus dem Unbekannten erklärt; vielmehr aus dem Bekanntesten, das es gibt und welches
uns auf eine ganz andere Art bekannt ist als alles übrige." 12 "Die Welt als
Ding an sich ist ein großer Wille, der nicht weiß, was er will,denn er weiß
nicht, sondern er will bloß, eben weil er ein Wille ist und nichts anderes".
Schopenhauers
Kritik an Spinozas Identitätsthese
Die klarste Gegenthese zu Schopenhauers Zentralthese stellt nun diejenige Spinozas dar: "Volunias, et intellecius unum, ei idem sunf. 13 Unwirsch kommentiert Schopenhauer in seinen Randnotizen zu den in seiner
Bibliothek befindlichen Büchern diesen Satz der Ethica, den er doppelt
unterstreicht, mit: "Quandoque délirât bonus Spinoza". 14 Schopenhauer
zitiert in seinen veröffentlichten Werken diese Stelle in den Parerga und
Paralipomena 1 5I 15 und rügt Spinozas Terminologie. Zu Spinozas Äußerung
"N, 2.
12 N, 144.
13 Ethik, Teil 2, Lehrsatz 49 Folgesatz, Opera/Werke 11, S.
14 Schopenhauer antwortet Spinoza in seinen Buchnotizen meistens
242/3.
*s"Skize5 "Skizze einer Geschichte
V, 170.
auf lateinisch. HN
der Lehre vom Idealen und Realen", \u03a1 \u0399, 13-14.
55
im Anhang zu seiner Schrift über Descartes' Prinzipien 16 : "Ich habe dagegen gesagt und klar erwiesen, daß der Wille nur der denkende, d.h. der
bejahende oder verneinende Verstand selbst ist", bemerkt Schopenhauer
handschriftlich am Rand: "quod falsissimum" 17 Derjenige Philosoph, gegen den Spinoza diese Identität vertritt, ist Descartes. Schopenhauer erhebt gegen beide den gleichen Vorwurf: "Der Wille wurde sogar als ein
Denkakt betrachtet und mit dem Urtheil identificirt,namentlich bei Cartesius und Spinoza." Spinoza hätte, so Schopenhauer, den Willen zum
Denkakt gemacht, d.h. ihn darauf reduziert, und ihn sogar mit dem Urteil
identifiziert. "Ein ganz krasser und fast toller Irrthum des Spinoza (den er
aber durch den Kartesius erhalten hat) ist der, daß ihm der Willeeinerlei
ist mit dem Vermögen zu Bejahen und zu Verneinen". 18
Für Schopenhauer ist kein Gegensatz so tief wie der zwischen Wille
und Intellekt. Er begründet einen fundamentalen Dualismus zwischen irrationalem Weltprinzip und rational strukturierter Erfahrungswelt, zwischen irrationalem Wesen und Bewußtsein. Der Titel von Schopenhauers
Hauptwerk, Die Welt als Wille und Vorstellung, vereint ja nun auch Wille
und Intellekt. Der Gegensatz wird aber dadurch nicht aufgehoben, sondern besteht analog dem bei Spinoza zwischen Ausdehnung und Denken,
welche beiden Attribute durch die Substanz geeint werden und nur der
Betrachtungsweise nach verschieden sind. Während Spinoza Wille und
Intellekt identifiziert und unifiziert im Denken, identifiziert und unifiziert
Schopenhauer Ausdehnung und Denken im Vorstellen. Der Wille bleibt
außerhalb des Vorstellens. Der Intellekt wird zum Vorstellungsvermögen.
Schopenhauer verwirft die Identitätsthese Spinozas in der Bedeutung
der Identität von Willensakt und Idee und Wille und Intellekt und stellt
die Antithese auf: "Willensakt und Leibesakt sind ein und dasselbe" und
Wille und Leib sind eines und identisch. Er verwirft die Identität von
Wollen und Denken: das Wollen geht nicht im Denken auf.
Er verwirft die These auch in der Bedeutung einer Identität von Denken
und Wahrnehmung: diese beiden Vorstellungsarten des Intellekts seien
grundverschieden. Auch sei der Intellekt ein wesentlich passives Vorstellungsvermögen. Der Willenseinfluß auf den Intellekt aber ist mannigfaltig
und teils nützlich, überwiegend aber schädlich.
Hauptsächlich wendet sich Schopenhauer gegen eine Identifizierung der
Begierde mit der Vorstellung.
Der Wesensbegriff Spinozas ist für ihn ein logischer, der conatus eine Idee
oder Erkenntnis, also Vorstellung. Schopenhauers Willensbegriff soll eine
solche kognitivistische Fassung des Wesens des Menschen wie aller Dinge
.17.
16Spinoza,
Appendix, continent cogitata metaphysica, Paulus S. 138.
"Schopenhauer, HN V, 166.
18Manuskripte 1815, §493, HN I, 328. Auch Manuskriptbücher 1821, §44, HN 111, 91.
56
ersetzen. Wille und Erkenntnis seien nicht gleichursprünglich, noch sei die
Erkenntnis ursprünglich, sondern allein der Wille.
Wille und Leib
Schopenhauer wendet sich in seiner Kritik an Spinoza einmal gegen die
Identifikation des Wollens mit dem Denken. Der Willeist das, was der Leib
an sich selbst ist, denn er ist der Strebenstrieb, der gar nicht vorgestellt
zu werden braucht und trotzdem da ist. Hierbei ist es der Willensbegriff,
den Schopenhauer nicht akzeptiert.
Schopenhauer verwirft die Verortung des Willens nur im Urteil und
stellt dem Lehrsatz der Identität von Wille und Intellekt Spinozas in genuin spinozanischer Diktion gegenüber: "Mein Leib und mein Wille sind
ein und dasselbe, nur von zwei verschiedenen Seiten betrachtet": seine
Formel für das "irrationale Verhältnis" zwischen der Vorstellung (hier eines Ausgedehnten, des materiellen Leibes) und dem Willen, welches das
Selbst wie die Welt zusammenhält.
Das Bewußtsein des eigenen Wollens fällt zusammen mit dem Bewußtsein der eigenen Willkürbewegung; mit dieser Kausalität ist zugleich das
Wissen um deren inneren Hergang gegeben. Identisch mitmeinem Wollen
sind also nicht die Gedankeninhalte, sondern die Steuerung aller BewegunWillen zum Leben ist mein
gen durch mich. Und identisch mit meinem
— "will",
Leib. Es ist der Körper, der
leben
ob er es weiß oder nicht.
Und wenn er es weiß, ist dieses Wissen nur der Reflex dieses Willens zum
Leben im Bewußtsein. Das Dasein ist es, worauf dieses Streben überall
geht. Für Schopenhauer hat das Wollen überhaupt nicht seinen Ursprung
im Denken, wenngleich es dort hineinragt und sich der Vorstellungen des
perzipierenen Intellekts bedient, die es verschiebt, die es bearbeitet, mit
denen es umgeht.
—
Spinoza meint mit "Wille" das Bejahungsvermögen
des Geistes, das
er mit dem Denkvermögen identifiziert. Der Wille ist das Affirmations-
vermögen des Geistes, der Intellekt der aktive Geist. Wenn Spinoza Wille
und Intellekt identifiziert, so gilt das nur für die "göttlichen" Vermögen
oder die des Menschen, sofern er 'wie Gott' denkt, denn das menschliche
Bejahungsvermögen bejaht auch Verworrenes, wie Spinoza zugibt. Auch
inadäquate Ideen sind gewollte. Die postulierte Erkennbarkeit ist nicht
identisch mit einer wirklichen Erkenntnis einzelner Bewußtseinseinheiten.
Die Identität von Wille und Intellekt ist also für den Menschen ein Postulat oder eine Richtschnur. Die Strebensnatur des Menschen bringt es
57
aber mit sich, daß leicht ein Einfluß des Strebens und Begehrens über die
Bejahung von Verworrenem auf die Überzeugungen statthat.
Nun widerlegt Spinoza die absolute Macht des menschlichen Geistes
[mentis potestas). 19 Weder kennt der Geist den Körper, noch kann er alles
bewirken, was sein bewußter Wille will. Das Scholium ist aber ein Prolog zu Schopenhauer. Seine Beispiele, der Erfahrung entnommen, werden
nur an Anschaulichkeit von denen Schopenhauers übertroffen. Sie belegen
aber genauso das Zurückbleiben des Bewußtseins hinter den Vorgängen des
Körpers. Niemand kenne (novit) bisher Bau —
und Funktionen des eigenen
—
Körpers so genau, daß sein eigener "Geist"
d.h. seine Erkenntnis
sich nicht darüber wunderte.
Ich habe jedoch bereits gezeigt, daß die Gegner selbst nicht
wissen, was der Körper vermag, und was aus der bloßen Betrachtung seiner Natur hergeleitet werden kann, und daß sie
selbst vieles nach den bloßen Gesetzen der Natur geschehen sehen, wovon sie nie geglaubt hätten, daß es ohne Leitung des
Geistes geschehen könnte; wie etwa das, was die Nachtwandler
im Schlafe tun, und worüber sie nachher im wachen Zustande
sich selber wundern. 20
Zum Vergleich Schopenhauer:
Also schon die untersten Naturkräfte sind von jenem selben
Willen beseelt, der sich nachher in den mit Intelligenz ausgestatteten individuellen Wesen über sein eigenes Werk verwundert wie der Nachtwandler am Morgen über das, was er
im Schlafe vollbracht hat; oder richtiger, der über seine eigene
Gestalt, die er im Spiegel erblickt, erstaunt. 21
Der Sache wie dem Wortlaut nach sagt Spinoza nun das aus, was zu dem
Kern der Philosophie Schopenhauers zusammenschmilzt, der seinerseits
sich beinahe derselben Diktion bedient: 22
Dies alles zeigt gewiß klar, daß sowohl der Entschluß des Geistes wie der Trieb und das Bestimmtwerden des Körpers von
Natur gleichzeitig oder vielmehr eine und dieselbe Sache sind,
die wir, wenn sie unter dem Attribute des Denkens betrachtet und durch es erklärt wird, Entschluß nennen, und wenn sie
19Ethik, Teil 3, Lehrsatz 2 Anmerkung, Opera/Werke 11, S.
262/3 ff.
20 Ethik, Teil 3, Lehrsatz 2 Anmerkung.
21 Kap. 25, "Transzendente Betrachtungen über den Willen als Ding an
sich", W 11,
369-370.
22
"Einheit und Identität des Willens mit dem Leibe". U.a. in §306, "Psychologische
Bemerkungen", \u03a1 11, 618.
58
unter dem Attribute der Ausdehnung betrachtet und aus den
Gesetzen der Bewegung und Ruhe abgeleitet wird, Bestimmung
heißen.
Schopenhauer dazu:
Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind nicht zwei objektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität verknüpft, stehn nicht im Verhältnis der Ursache und
Wirkung; sondern sie sind eines und dasselbe, nur auf zwei
gänzlich verschiedene Weisen gegeben [...].23
Intellekt und Vorstellung
Schopenhauer akzeptiert zum anderen auch nicht den IntellektbegrifF
Spinozas. Spinoza versteht unter Intellekt die Geistesaktivität, unter Vorstellung aber die seelische Rezeptivität. Während Spinoza den Intellekt
als Denken oder Geist und dessen Aktivität abhebt vom passiven Vorstellungsvermögen, ist gerade das letztere für Schopenhauer der Intellekt
im eigentlichen Sinn. In einem weiter gefaßten Sinn allerdings gehören
zum Intellekt bei Schopenhauer alle Bewußtseinsinhalte, die passiven wie
die aktiven. Während Spinoza die Trennung vornimmt zwischen Intellekt und Vorstellung (intellecius und imaginatio), deren Oberbegriff das
Mentale (mens) ist, ein Modus des absoluten Denkens (cogiiaiio), zieht
Schopenhauer terminologisch alles Mentale, alle Vorstellungen, Gefühle,
alles Denken in den Oberbegriff des "Intellekts" hinein. Das Vorstellungsvermögen identifiziert Schopenhauer mit dem Intellekt. Dieser umfaßt also
sowohl die Denkaktivität, als auch die Rezeption von Eindrücken und deren Gegebensein im Bewußtsein. Diejenigen Vorstellungsgebilde, die aus
geistiger Spontaneität resultieren, sind Begriffe. Die "Vernunft" ist die für
Abstraktionen und Schlüsse zuständige Instanz im Intellekt. Der "Verstand", ebenfalls ein "Vermögen" des Intellekts, ist ebenfalls ein spontanes
Vermögen, stiftet aber nur die Anschauung, indem er Sinnesempfindungen
kausal bezieht auf Objekte. Vernunft und Verstand machen das Denken
im weiten Sinn aus, die Vernunft das Denken im engen Sinn, wobei Denken geistige Aktivität ist. Die rezeptive Funktion des Intellekts aber ist
seine ihn eigentlich auszeichnende, d.h. die ihn von der Willensaktivität
am klarsten unterscheidende.
Die Denkaktivität ist wohl auch für Schopenhauer, wie für Descartes und Spinoza, wenn auch nicht nur dem Willen, da dieser mehr ist als das Denken, so doch eher dem Willen, sofern
23 W i, 119.
59
er sich im Medium des Geistes tätig manifestiert, nicht aber der seelischen Passivität des Erlebens, die Spinoza "Vorstellungsvermögen" nennt,
zuzurechnen. "Willkürlich" gebildete Spekulationsbegriffe werden durch
die Wahrnehmung korrigiert. Bei "abstrakter Geistesbeschäftigung" ist
der "Wille der Lenker", Was von Schopenhauer selbst eingeräumt wird.
Begriffe seien ein "Produkt der Vernunft und schon daher ein Werk der
Absichtlichkeit":
Auch ist bei aller abstrakten Geistesbeschäftigung der Wille
der Lenker, als welcher ihr, seinen Absichten gemäß, die Richtung ertheilt und auch die Aufmerksamkeit zusammenhält [...].24
Anstrengung und Aufmerksamkeit setzen Tätigkeit des Willens voraus, so
Schopenhauer. Überhaupt ist
der Wille allein das Beharrende und Unveränderliche im Bewußtsein. Er ist es, welcher alle Gedanken und Vorstellungen
als Mittel zu seinen Zwecken zusammenhält, sie mit der Farbe
seines Charakters, seiner Stimmung und seines Interesses tingiert, die Aufmerksamkeit beherrscht und den Faden der Motive, deren Einfluß auch Gedächtnis und Ideenassoziation zuletzt in Tätigkeit setzt, in der Hand hält [\u0084.]." 25
Der Intellekt empfängt sein Brennöl vom Willen. So hängt die Fähigkeit
des Gedächtnisses entschieden von der Leidenschaftlichkeit und dem Ansporn des Willens ab, so daß "daher an einer reinen Intelligenz, d.h. an
einem bloß erkennenden und ganz willenlosen Wesen sich ein Gedächtnis nicht wohl denken läßt".26 Die Aktivität des Geistes muß auch für
Schopenhauer, da der Wille für ihn die "eine Urquelle aller Bewegung"
ist,27 letztlich durch den Willen bedingt bzw. eine Form von Willensaktivität sein. Die eigentliche, reine Funktion des Vorstellungsvermögens qua
Intellekts erblickt Schopenhauer in der Rezeptivität dcs Bewußtseins; das
eigentliche Wesen dcs Intellekts als eines "Spiegels" kann nur in zweckfreier
Wahrnehmung, in "unbestochener", reiner Aufnahme liegen.
Wie aber ist willensfreie Erkenntnis überhaupt möglich? Denn die
Wahrnehmung ist Vorstellung und als solche an den Leib gebunden, mit
24 Kap. 30, "Vom reinen Subjekt des Erkennens, W 11, 421-2.
25 Kap. 15, "Von den wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts", W 11, 153.
26 "VomPrimat des Willens im Selbstbewußtsein", W 11, 250.
27Nicht nur in Buch IIvon W I, sondern auch in \u039d bekräftigt Schopenhauer:
"Es
gibt demnach nur ein einziges, einförmiges, durchgängiges und ausnahmsloses Prinzip
aller Bewegung: ihre innere Bedingung ist Wille, ihr äußerer Anlaß Ursache, welche
nach Beschaffenheit des Bewegten auch in Gestalt des Reizes oder des Motivs auftreten
kann."
60
diesem aber Erscheinung des Willens zum Leben. Schließlich stellt Schopenhauer in Buch IV von W Ifest, daß die Aufhebung des Willens auch
seinen Spiegel, die Vorstellung aufhöbe: "Kein Wille: keine Vorstellung,
keine Welt*'.28 Die Differenzierung in die Wahrnehmung "im Dienste des
Willens" (Buch Ivon W I) einerseits, die künstlerische Auffassung der
Ideen (Buch III) andererseits bietet auch keine befriedigende Lösung dieses Problems. Die kontemplative Erfassung der Ideen, die Schopenhauer
mit Spinozas cogniiio intuitiva in Beziehung setzt, läßt sich relativ desinteressiert, zweckfrei denken, aber nicht "willenlos" ineinem weiteren Sinn.
Denn welche Idee an einem und demselben Wahrnehmungsgegenstand
erfaßt wird (z.B. ob der Hund, das Säugetier, der Pudel), ist ein Akt willkürlicher Abstraktion und Selektion. Auch die Transzendierung des individuell
bedürftigen Selbst durch das moralische Subjekt (Buch IV) ist durch einen
Analogieschluß der Vernunft vermittelt, die Erkenntnis des tat twam asi
ein Urteilsakt, traditionell als ein Akt des Willens im Denken angesehen.
Schopenhauer negiert aber nicht, daß das Denken ein Willensakt sei, sondern er berichtigt die Annahme, der Wille sei nichts anderes als ein Denkakt. Wenn also bei Schopenhauer die Rede vom "willenlosen Erkennen"
ist, muß damit wohl ein Erkennen ohne Rücksicht auf Interesse gemeint
sein, genauer: Interesse an der Durchsetzung der eigenen Willensnatur. 29
Schopenhauer räumt vier Arten des absichtslosen Erkennens ein: die anschauende Ideenkontemplation, die wissenschaftliche Erkenntnis nach dem
Grundprinzip, die abstrakt-philosophische Erkenntnis, die mystische Intuition der Einheit im Durchschauen der Individuation. "Reine Erkenntnis"
kann so durchaus auch dem objektiven Forscher möglich sein, der redlich
den Gründen nachgeht, ohne dabei praktische Zwecke zu verfolgen, sofern
man der dem Individuationsprinzip verhafteten Erkenntnis nicht prinzipielle Falschheit attestierte, sondern bloß relativ auf die philosophische
Wahrheit eine geringere Durchdringung der Wirklichkeit.
Schopenhauer verwirft die spinozanische These außerdem in der Bedeutung einer Identität von Denken und Wahrnehmung, wenn Denken, das
Operieren mit Begriffen, für ihn (auch) eine Form von Willenstätigkeit ist
und Wahrnehmung der Intellekt in seiner Eigentlichkeit.
Für Schopenhauer besteht ein Unterschied zwischen Wahrnehmung und
Denken (Vorstellungsinhalt und Vorstellungsakt) und einer zwischen Intel28 W I, 486.
29 In diesem
Sinne hätte Edith Matzun recht mit der Annahme, es gäbe "willensfreies
wissenschaftliches Erkennen", in: Der Begriff der intuitiven Erkenntnis bei Schopenhauer, Diss. Kiel 1926. Daß es für Schopenhauer reine Reflexion gibt, leugnet Heinrich
Günther in: Über den Begriff der Vernunft bei Schopenhauer, Frankfurt am Main:
Lang, 1989, S. 84-5, 107 u.ö. (Europäische Hochschulschriften :Reihe 20, Philosophie
;Bd. 291). Vgl. auch die Rezension von Matthias Koßler im 72. Jb. 1991, S. 161-5.
61
lekt (Vorstellungsvermögen) und Wille (Akt). Unter "Wahrnehmung" versteht er das vernunftlose Apprehendieren, das sich imMedium des Bewußtseins abspielt. Spinoza hebt den affirmativen Charakter der Wahrnehmung
heraus und weist damit, da für ihn jede Affirmation Willenstätigkeit ist,
die bei Descartes noch überwiegend willenlos gedachte Wahrnehmung als
Willensgebilde aus. Zwar lehnt auch Schopenhauer zumindest die Annahme einer rein passiven Haltung des Bewußtseins in der Wahrnehmung
ab, da die Anschauung schon durch die Spontaneität des Verstandes kausal
strukturiert erscheint. Auch hier dürfte
in der "Spontaneität"
der
Wille als Beweger im Intellekt ein Betätigungsfeld haben. Die Wahrnehmung kann jedoch ohne Denken ablaufen, wie zürn Beispiel beim Hören
von Musik. Hier liegt keine Vergegenständlichung und kein Urteilen vor,
also keine Willensaktivität des Denkens. Wahrnehmung und Denken sind
hier so verschieden wie Intellekt und Wille.
Schopenhauer bemerkt, daß Spinoza, wenn dieser gegen Descartes einwendet, die Urteilsenthaltung sei kein besonderer, geschweige denn ein
"freier" Willensakt, sondern nur die Wahrnehmung der defizitären Evidenzlage, er damit eben die Verschiedenheit der Wahrnehmung vom Willen eingesteht! "Das Zurückhalten des Urtheils ist also in der Tat ein
Wahrnehmen und kein freier Wille"30 Darauf erwidert Schopenhauer in
einer Randbemerkung inseiner Ausgabe: "Keineswegs also sind Wille und
Intellekt ein und dasselbe." D.h., Denken und Wahrnehmen sind nicht dasselbe. Schopenhauer meint, daß Spinoza, wenn er die Urteilsaussetzung für
"bloße Wahrnehmung" hielte, das Urteilen für mehr und darum etwas anderes, nämlich einen Willensakt, halten müßte. Dann wären Wahrnehmen
und Urteilen voneinander unterschieden, bzw. "Intellekt" und "Wille"
in den Bedeutungen Descartes'. Schopenhauer versteht die Funktion des
Intellekts wie bei Descartes als Perzeption, als passives Rezipieren von
Eindrücken im Bewußtsein; das Fällen von Urteilen aber als Willenstätigkeit.
Diese spontane Willenstätigkeit ist für Spinoza identisch mit dem Denken selbst; das richtige Denken aber ist Erkennen. Darum ist Erkennen
Wollen. Wahrnehmungsvorstellungen sind für ihn keine Erkenntnisse. Damit weicht er von Descartes und von Schopenhauer ab und reduziert das
Erkennen auf Aktivität, die andererseits beschränkt ist auf die Richtigkeit der Ideen. Schopenhauer sucht dagegen den Gehalt an Passivität in
der Erkenntnis zu verteidigen und reduziert den Intellekt sogar seinem eigentlichen Wesen nach darauf. Begreifendes Erkennen ist teilweise auch
ein Wollen. Der Wille ist aber abtrennbar und daher verschieden von der
Erkenntnis.
—
.
3oSpinoza, Eihica, Paulus-Ausgabe
1802, S. 127
62
—
Das wahrnehmende Vorstellen ist bei Schopenhauer kein Wollen und
der Resonanzboden des Bewußtseins ist der Intellekt in seiner reinsten
Form. Dieser Intellekt ist nur ein Akzidens des Willens und nicht der
Wille selbst in seiner Grundgestalt. Aber auch Spinoza meint nicht, daß
das passive Vorstellen identisch mit Willensakten sei. Eine vergleichbare
Opposition der Sache nach, wenn auch nicht der Terminologie nach, bleibt
also zwischen allen drei Denkern, Descartes, Spinoza und Schopenhauer,
bestehen.
Begierde und Vorstellung
Mit der Ablehnung der Identitätsthese von Wille und Intellekt intendiert Schopenhauer auch und vor allem, die Identität von Begierde und
Vorstellung zu verwerfen. Zwar meint Schopenhauer wie Spinoza, daß
wenn ein Mensch wolle, er immer "etwas" wolle. Aber dieses "Etwas"
kann unerkannt bleiben; es ist nur das vage Dasein. Er meint, gegen Spinoza die Vorrangstellung und Unabhängigkeit des Begehrens nicht nur von
der Bewertung, sondern sogar von aller Vorstellung zu verteidigen. Neugeborene wollen schon auf das Heftigste, aber wissen noch nicht, was sie
wollen.
In seiner Auffassung des Begehrens ist Spinoza durch Descartes beeinflußt worden. Spinoza bemängelt aber den uneinheitlichen Sprachgebrauch
in bezug auf den Willen und die Begierde. Die Begierde würde nicht immer
eindeutig vom Willen abgehoben, sondern auch bisweilen mit dem Wort
"Wille" belegt. Eine solche schon aus der Tradition bekannte Auffassung
begreife den "Willen als ein Begehren um des Guten willen".31 In der
Ethik?2 vermerkt Spinoza, daß er unter "Wille" die Fähigkeit zu bejahen
und zu verneinen versteht, und hebt diese scharf ab vom Begehren: der
Wille ist allgemein die Fähigkeit des Geistes zu bejahen, und im besonderen kann er unter der Form der theoretischen Bestimmung Wahres und
Falsches bejahen oder verneinen, oder aber unter der Form des Begehrens
Güter und Ziele bestimmen: das Begehren sei das geistige Erstreben oder
Verabscheuen von Dingen. Begierde ist die Kraft, mit der der "Geist etwas
erstrebt oder verabscheut". 33 Der theoretische Wille fallt Sachurteile, der
— Bejahungen sind beide.
praktische Wille, d.i. die Begierde Werturteile
31 Spinoza, Renali Des Cartes Principiorum Philosophiae, in deutscher Übersetzung:
Descartes' Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet, Appendix,
continent cogitata mctaphysica ..., Hamburg: Meiner, S. 161.
32 Spinoza, Ethik Teil 2, Lehrsatz 48, Anmerkung, Opera/Werke 11, S. 240/1.
33 Spinoza, Ethik, Teil 2, Lehrsatz 48.
63
Spinoza stellt fest, daß bei Werturteilen "der Wille das Bejahen ist, daß
etwas gut oder nicht gut ist".
Die Begierde ist bei Spinoza "eines jeden Wesen oder Natur selber, sofern diese als durch irgendeinen gegebenen Zustand ihrer selbst zu einer
Handlung bestimmt gedacht wird".34 In der Definition 1 der Affekte setzt
Spinoza hinzu: sofern dieses Wesen "durch irgendeine gegebene innere Erregung als zu einer Tätigkeit bestimmt gedacht wird". Er erläutert das so,
daß darunter "jeglicher Zustand dieses Wesens, mag derselbe angeboren
sein, mag er durch das bloße Attribut des Denkens oder durch das bloße
Attribut der Ausdehnung begriffen werden, oder mag er beide zugleich
angehen" 35 , zu verstehen sei. Also versetzen nicht nur äußere Ursachen
die innere Natur in einen bestimmten Zustand, sondern die Arten der Erregbarkeit liegen indieser Natur selbst. Der Trieb aber ist das Wesen, auch
des Menschen, "sofern es bestimmt ist, zu tun, was zu seiner Erhaltung
dient". 36
Für Schopenhauer ergibt sich aus einer solchen Reduktion des Wollens
auf das Urteilen, die er hier nun auch versteht als Reduktion des Begehrens
auf das Erkennen, als falsche Konsequenz:
Danach nun wäre jeder Mensch das, was er ist, erst infolge seiner Erkenntnis geworden: er käme als moralische Nullauf die
Welt, erkennte die Dinge in dieser und beschlösse darauf, der
oder der zu sein, so oder so zu handeln, könnte auch infolge
neuer Erkenntnis eine neue Handlungsweise ergreifen, also wieder ein anderer werden. Ferner würde er danach zuvörderst ein
Ding für gut erkennen und infolge hievon es wollen; statt daß
er zuvörderst es willund infolge hievon es gut nennt. Meiner
ganzen Grundansicht [eig. Hervorheb. OS] zufolge nämlich ist
jenes alles eine Umkehrung des wahren Verhältnisses. 37
Für Descartes empfindet die Seele das Begehren, nachdem sie etwas Gutes
bejaht oder verneint hat; das Verlangen folgt auf den Willensakt. Spinoza
referiert die Auffassung Descartes' 38 : "Hätte aber der Geist vermöge seiner
Freiheit etwas nicht für gut behauptet, so würde er auch nichts begehren."
Hieraus geht hervor, daß es kein Begehren ohne Idee eines Gutes geben
34 Spinoza,
35 Spinoza,
36 Spinoza,
Ethik, Teil 2, Lehrsätze 56 u. 57.
Ethik, Teil 3, Aflektendefinition 1, Erläuterung.
Ethik, Teil 3, Affektendefinition 1.
37 W I, 345. Ähnlich auch in Manuskriptbuch Foliant I(1822), §113, HN 111, 133:
"Demnach würde der Mensch zuvörderst ein Ding für gut erkennen und in Folge davon
wollen; statt daß er zuvörderst es willund in Folge davon es für gut erkennt."
3iDescartes' Prinzipien der Philosophie
auf geometrische Weise begründet; Anhang,
enthaltend metaphysische Gedanken (cogitata metaphysica), Meiner S 161.
es
.
64
kann, und sich das Begehren nach der Einsicht richtet, nicht umgekehrt.
Descartes vertritt eine unmittelbare Freiheit des Geistes inbezug auf das
Gutheißen und eine mittelbare Freiheit hinsichtlich des darauffolgenden
Begehrens. Determiniert ist das Begehren allerdings von der vorgängigen Erklärung über das Gute (und Schlechte), aber dieses entspringt aus
freiem Willen. Nicht nur in seiner Wiedergabe von Descaries' Prinzipien
..., sondern auch im Anhang dazu hebt Spinoza also seine Ansicht nicht
deutlich von der des Descartes ab, und Schopenhauer, der viel zu lesen
hat, wirftbeide in einen Topf:
Bei mir ist es nun grade umgekehrt. Der Wille ist das erste
und ursprüngliche: die Erkenntnis bloß hinzugekommen und
zur Erscheinung des Willens gehörig. Jeder Mensch ist was er
ist, durch seinen Willen [...]. Er erkennt sich also in Folge und
Gemäßheit seines Willens; da er hingegen, nach jenen Ändern
[Cartesius und Spinoza], willin Folge und Gemäßheit seines
Erkennens. [...] Bei ihnen will er, was er erkennt, bei mir
erkennt er was er will.39
Spinozas eigene Auffassung weicht aber von der Descartes' ab. In der
Ethik40 vertritt er die Meinung, daß das Werturteil über gut und schlecht
sich nach dem Begehren richtet. 41 Zwischen der Begierde im allgemeinen,
sich als Zweck zu erhalten, und den einzelnen Begehrungen der Mittel ist
noch zu unterscheiden. 42 Zu unterscheiden ist auch das sprachlich artikulierte Werturteil von der vorsprachlichen Idee des Guten. Bei Spinoza folgt
das sprachliche dem vorsprachlichen; das Werturteil und die Vorstellung
des Guten aber folgen dem Begehren. 43
39 §44, Manuskriptbücher 1821, HN 111, 91. Auch in W I, 345.
40 Spinoza, Ethik,
Teil 3, Lehrsätze 12-13.
41 Allerdings finden sich abweichende Aussagen Spinozas in Ethik T. 4, Lehrs. 15,
16 u. 17: demnach entspränge die
freilich rationale im Gegensatz zur "blinden"
Begierde aus der Erkenntnis des Guten. In T. 4, Lehrs. 8 spricht er sich eher für eine
Identität, nicht ein Folgeverhältnis aus, wenn er behauptet, die Erkenntnis des Guten
sei nichts anderes als der bewußtgewordene Affekt der Freude; in Lehrs. 19 heißt es,
—
—
der Mensch begehre, was er als gut beurteile, allerdings stünde die Begierde oder der
Trieb in Abhängigkeit zu den "Gesetzen der Natur" oder des "Wesens" eines Dinges.
42 Danney Ursery, "Spinoza's Primary Emotions", Dialogue: Journal
of Phi Sigma
Tau 22 (1980), p. 60.
43Raoul Richter, Der Willensbegrifl in der Lehre Spinozas, Leipzig: Engelmann, 1898,
meint einen Intellektualismus bei Spinoza daraus ableiten zu können, daß es bei ihm
keinBegehren ohne Vorstellung, aber Vorstellungen ohne Affekte gäbe (S. 32). Spinozas
Intellektualismus stößt aber an eine Grenze, die von Richter durch seinen unreflektierten Willensbegriff übersehen wurde. Richter berücksichtigt nicht die Unterscheidung,
die Spinoza zwischen dem Denkakt qua Willen und der Leidenschaft der Begierde vornimmt, noch Spinozas Erklärung des Selbsterhaltungstriebes, der auch nicht an eine
"Vorstellung" gebunden ist.
65
Schopenhauer kämpft hier also "für die Ansicht Spinozas gegen Spinoza" !4 ! 44 Die Stelle in der Ethik Spinozas, 45 die Schopenhauer überlesen zu
haben scheint, ist deutlich genug: "Aus diesem Allen ist also entschieden,
dass wir nichts erstreben, wollen, begehren noch wünschen, weil wir es für
gut halten, sondern vielmehr, dass wir deshalb etwas für gut halten, weil
wir es erstreben, wollen, begehren und wünschen." Das Begehren aber
ist nur der bewußtgewordene Trieb, der auch unbewußt bleiben kann, und
der Trieb ist ein Ableger des allgemeinen und an sich nicht unbedingt als
solches von Bewußtsein begleiteten Selbsterhaltungsstrebens! Für Spinoza
gilt kein Primat der Vorstellung vor dem Streben und kein Primat des
Bewußtseins vor dem bewußtlosen Trieb.
Spinoza spricht sich bereits ausdrücklich für den später von Schopenhauer aufgestellten und vehement vertretenen Primat des bewußtlosen
Triebes und der Abhängigkeit der bewußten Urteile der Menschen von diesem aus: "Aus dem allen geht nun hervor, daß wir nicht streben, wollen,
verlangen oder begehren, weil wires als gut beurteilen, sondern umgekehrt,
daß wir darum etwas als gut beurteilen, weil wir es erstreben, wollen, verlangen und begehren." 46 Für Spinoza sind unsere Leidenschaften nicht nur
die Wirkungen aus unseren Urteilen, sondern bringen auch unsere Urteile
und Überzeugungen hervor. 47 Spinoza erklärt, gegen Descartes gewendet,
der sie aus dem freien Willen erklärt, die Werturteile aus dem Streben
allgemein. So sagt er 48, daß "gut" alles sei, was zur Freude beitrage, und
das hieße, was "einen Wunsch befriedigt, welcher Art immer er sei". Die
Freude aber stellt sich immer beim Übergang zu größerer Vollkommenheit
ein, bzw. sie ist "die Begierde oder der Trieb selbst, sofern er von äußeren Ursachen vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird".49
So heißen wir gut, was wir begehren und jeder schätzt gut und schlecht
nach seinem Affekt. Die Affekte beziehen sich alle auf die Begierde, und
unterscheiden sich je nach der Begehrung; die Begehrungen selbst aber
unterscheiden sich je nach der Natur des Dinges. Es gibt soviele Arten
des Begehrens wie Arten von Gegenständen (Lehrs. 56), aber auch soviele
Arten der Begierde wie Charaktere. Die Unterschiede im Wesen bedingen
die Unterschiede der Genüsse und Leiden. Ahnliche Affekte haben so aber
44 Samuel Rappaport, Spinoza und Schopenhauer, Berlin: Gärtner, 1899, S. 71.
45 Spinoza, Ethik, Teil 3, Lehrsatz 9 Anmerkung, Opera/Werke 11, S.
274/5.
46
nihil nos conati, velie, appetere, ncque cupere, quia id bonum esse judicamus;
sed contra, nos propterea, aliquid bonum esse, judicare, quia id conamur, volumus,
"/.../
appetimus, aique cupimus." [Sic]. Ebd.
47 Vgl.
Bernard Carnois: "Nos passions en effet nous inspirent des craintes, d'où
dérivent nos opinions". "Le désir selon les Stoïciens et selon Spinoza", in: DialogueCanadian Philosophical Review/Revue canadienne de philosophie vol. XIX, No. 1
(March/Mars 1980), p. 268.
48 Spinoza, Ethik, Teil 3, Lehrsatz 39 Anmerkung.
49 Spinoza, Ethik, Teil 3, Lehrsatz 57.
66
auch Tiere (Lehrs. 57), da die Begierde des Menschen nur der bewußte
TVieb ist, TViebe ohne Vernunft jedoch die Tiere ebenfalls haben. Für
Spinoza ist zwar die Begierde per definitionern bewußt und daher intentional, kommt also nicht unabhängig von Vorstellungen begehrter Objekte
vor. Das Begehren ist aber der bewußtgewordene Trieb, der selbst nicht
unbedingt immer bewußt sein muß. Was ein Mensch ist, folgt auch bei
bei Spinoza nicht so sehr aus seiner Erkenntnis; vielmehr folgen die Erkenntnistätigkeit und sein Wertverhalten aus dem, was er ist, d.h. aus der
Strebensnatur seines Wesens. Schopenhauers "Grundansicht" ist also eine
spinozistische!
Schopenhauer vereinigt die willensartigen Phänomene. Er stellt eine
"Kontinuität" 50 der Willensphänomene her, die zwar alle "Affektionen",
"Eregungen" oder "Bewegungen" des einen Willens sind, aber doch unter
sich dem Grad der Erregung nach, aber offenbar auch der Qualität nach
wegen der Verschiedenheit der Motive, verschieden. So sind, wobei sich
Schopenhauer auf Augustmus Beobachtung, daß in allen Seelenaffekten
der Wille erregt werde, beruft, "alles Begehren, Streben, Wünschen, Verlangen, Sehnen, Hoffen, Lieben, Freuen, Jubeln u. dgl., nicht weniger alles Nichtwollen oder Widerstreben, alles Verabscheuen, Fliehen, Fürchten,
Zürnen, Hassen, Trauern, Schmerzleiden, kurz: alle Affekte und Leidenschaften den Äußerungen des Willens beizuzählen" , wie auch alle "Gefühle
der Lust und Unlust". Denn allesamt haben Bezug auf "Erreichen oder
Verfehlen des Gewollten und Erdulden oder Überwinden des Verabscheuten in mannigfachen Wendungen" Ein Willensakt aber ist der "Gebrauch
der Herrschaft", "die Tat".51
Denn solange er im Werden begriffen ist, heißt er Wunsch, wenn
fertig, Entschluß; daß er aber dies sei, beweist dem Selbstbewußtsein selbst erst die Tat: denn bis zu ihr ist es veränderlich.
Doch auch Spinoza faßt 52 schon "alle Strebungen" "ineins zusammen" :
"Trieb, Wille, Begierde oder Drang". Zwischen Trieb und Begierde sei kein
Unterschied, denn ob wir uns des Triebes bewußt seien inder Begierde oder
nicht, der Trieb sei doch "ein und derselbe". Ganz klar zieht er nochmals
alle Strebungen zusammen (ebd.):
Hier verstehe ich also unter dem Namen Begierde jegliches Bestreben, jeglichen Drang, TYieb, jegliches Wollen, die je nach
.
50 Cf. Christopher Janaway,
Self and World in Schopenhauer's Philosophy, Oxford:
Clarendon Press, 1989, p. 216, sowie seinen Verweis auf Brian O'Shaughnessy, The
Will,2 vols., Cambridge University Press, 1980.
61 Siehe Schopenhauers Ausführungen dazu in seiner Freiheitsschrift, \u0395 \u039 , 17;
Affektionen als Willensmodifikationen ebd., S. 11.
"Spinoza, Ethik, Teil 3 Affektendefinition 1
67
zu den
dem verschiedenen Zustande desselben Menschen verschieden
und nicht selten einander so entgegengesetzt sind, daß der
Mensch nach verschiedenen Richtungen hin sich gezogen fühlt
und nicht weiß, wohin er sich wenden soll.
Zusammenfassung
Bei Schopenhauer ist der Oberbegriff der "Wille zum Leben" ,der sowohl
im Bewußtsein wie im Leib erscheint, an sich aber unabhängig von Vorstellung ist. Was Spinoza "Streben" nennt, nennt Schopenhauer "Wille";was
Spinoza Denken als Funktion des Intellekts nennt, heißt bei Schopenhauer
"Denkakt" oder "Urteilskraft"; was Spinoza "Trieb" nennt, nennt Schopenhauer genauso. Die Begierde aber ist bei Schopenhauer die Grundform
des Willensund nicht an Vorstellung gebunden. Schopenhauer identifiziert
den Willen mit der Begierde und diese mit dem Willen zum Leben. Der
Wille ist nicht, wie vor ihm von allen anderen angenommen, unzertrennlich von der Erkenntnis, meist nur eine bloße Funktion derselben, sondern
vollkommen unabhängig von Erkenntnis. Von menschlicher Erkenntnis
unabhängig ist jedoch auch bei Spinoza der conatus. Was Schopenhauer
vehement angreift, ist die vermeintlich in der These Spinozas behauptete
Identität der Begierde zu leben mit dem Bewußtsein. Der Vorwurf aber,
daß das Streben nach Dasein bei Spinoza identisch mit dem Intellekt, oder
immer vorgestellt sei, wäre unberechtigt. Für Spinoza ist das "Streben"
(conatus) ein Oberbegriff, der sich aufteilt in das auf den Geist bezogene
Streben = Willeund das auf den Körper und (bewußten oder unbewußten)
Geist bezogene Streben = Begierde oder Trieb. Spinoza willalso gar nicht,
wie Schopenhauer zu glauben scheint, die Identität des Lebenstriebs mit
der Vorstellung behaupten. Allerdings räumt Spinoza dennoch kein allein
auf den Körper bezogenes Streben ein. Daß aber das Selbsterhaltungstreben nicht im Denken aufgeht, darin ist sich Schopenhauer mit Spinoza
einig, nur ohne es in der Weise reflektiert zu haben, wie wir das hier getan
haben.
Der theoretische Strukturbau enthält bei Schopenhauer wie bei Spinoza
ein funktionales Äquivalent in den den Leib-Seele-Hiat übergreifenden Begriffen des Willens bzw. Strebens. Der conatus bei Spinoza bezieht sich
sowohl auf den Körper wie auf den Geist. Dadurch ist die Tätigkeit des
Intellekts nicht der Antipode des Strebens, sondern dessen Effluenz. Bei
Schopenhauer ist es der Wille, der seine Aktivität im körperlichen und
geistigen Bereich ausübt, aber, anders als bei Spinoza, auch allein in der
68
Materie, unabhängig von "Geist", d.h. für Schopenhauer "Erkenntnis",
tätig sein kann. Das passiv-rezeptive Erkennen ist der Gegenspieler dieses
Strebens. Nicht eigentlich der gesamte Intellekt also, sondern nur dessen
spiegelnder Teil, ist der Antagonist des Willens.
Wenn nun Schopenhauers Grundzug ein spinozistischer ist, so heißt das,
daß zwar Spinoza in Schopenhauer "steckt", aber nicht Schopenhauer in
Spinoza. Es gibt bei Schopenhauer eine metaphysische Verlängerung der
Independenz des Willens vom Intellekt, die sich bei Spinoza noch nicht
findet. Bei Spinoza bringt das Attribut cogitatio in einem unendlichem
Intellekt Ideen oder Erkenntnisse hervor. Schopenhauer interpretiert Spinozas Attribut "Denken" (cogitalio) als bewußtes Denken oder Vorstellen. Gedanken könnten aber nicht unabhängig von Lebewesen, die sie
dächten, vorkommen. Damit verwirft er die Existenz eines unendlichen
Verstandes oder göttlichen Bewußtseins und trennt eine vermeintliche Erkenntnis Gottes oder der Natur von dem Treiben der Natur bzw. dem
Verhalten der Materie ab. Der Verstand Gottes verschwindet: den leeren
Platz nimmt der irrationale Wille ein. Und was bei Spinoza formuliert
ist, daß die Begierde die Bewertungen bestimmt, gelangt erst bei Schopenhauer zu voller Plastizität: Die Vernunft bestimmt nicht das Begehrungsvermögen. Spinoza bemüht sich schließlich, aus dem aufgeklärten
Eigeninteresse Edelsinn 1 abzuleiten; seine Theorie fundiert aber keine uneigennützige Tugend. Dem scharfen Blick des großen Moralphilosophen
Schopenhauer entgeht die Tatsache nicht, daß Intelligenz weder mit Egoismus noch mit Herzensgüte identisch ist: Kopf und Herz sind verschieden.
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1Ethik
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69
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