Neuronale Grundlagen der Intuition

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Neuronale Grundlagen der Intuition
von Beatrice Wagner
Sehen, was man gar nicht sehen kann: Dem sechsten Sinn oder der Intuition werden oft
übersinnliche Kräfte zugeordnet. Erstmal aber zeigt jetzt die Forschung, dass die Intuition
nichts anderes ist als eine Mustererkennung. Aber weil diese im impliziten, unserem
Bewusstsein nicht zugänglichen Teil des Gehirns verläuft, sind wir vom Ergebnis oft selbst
überrascht.
Der 11-jährige Sohn darf zum ersten Mal allein zum Sprachkurs nach England. Er sollte in
einer Gastfamilie leben. Die Eltern hatten mit ihm vereinbart, nicht so häufig zu telefonieren,
um das Heimweh nicht zu schüren. Es schien auch alles in Ordnung zu sein. Trotzdem war
der Vater beunruhigt. Am zweiten Tag konnte er nicht anders, er musste doch noch einmal in
England anrufen. Wie war der Sohn erleichtert! Denn es hatte sich mittlerweile herausgestellt,
dass er in chaotische Familienverhältnisse hineingeraten war und das Kind nur wegen des
Geldes aufgenommen wurde. Der Familie wurde später nie wieder ein Gastkind vermittelt.
War das Zufall, dass der Vater angerufen hatte? War es eine höhere Eingebung? Jedenfalls
war es eine gute Intuition.
Mit Intuition bezeichnet man das Phänomen, wenn man ohne nachzudenken einen
Sachverhalt oder einen komplizierten Vorgang begreift. Oder wenn man, ohne die
Zusammenhänge zu kennen, ein Urteil oder eine Entscheidung fällt und sozusagen
sprichwörtlich aus dem Bauch heraus handelt. Oder auf das Zucken seines Beines hört, wie es
der Hank Quinlan (Orson Welles) in dem Film „Im Zeichen des Bösen“ macht.
Dahinter steckt allerdings nichts Geheimnisvolles. „Eine Intuition beruht genauso auf
neuronalen Vorgängen im Gehirn wie das analytische Lösen einer Mathematikaufgabe“, sagt
Ernst Pöppel, Professor für Medizinische Psychologie an der Universität München. „Wir
haben es nur verlernt, auf unsere Intuition zu achten, weil wir immer noch der Meinung sind,
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eine gefühlsmäßige Entscheidung sei eine irrationale Entscheidung. Das ist aber falsch.“
Diese neue Erkenntnis hat der Hirnforscher zusammen mit seinem ehemaligen Doktoranden
Rüdiger Ilg in wissenschaftlichen Versuchen ergründet.
Um das zu verstehen, muss man sich ganz kurz die beiden verschiedenen Mechanismen der
Informationsverarbeitung vergegenwärtigen. Es gibt zum einen das „explizite Denken“ und
zum andern die „Mustererkennung“.
Beim expliziten Denken – der Name explizit, also ‚ausdrücklich’ bezieht sich auf den Teil
unseres Gehirns, der uns bewusst ist und dessen Vorgänge wir mit Worten ausdrücken können
– durchdenken wir den Sachverhalt Schritt für Schritt, oder wir setzen Einzelwahrnehmungen
zueinander in Beziehung. Daraus ziehen wir dann Schlussfolgerungen. „Kurz gesagt ist das
explizite Denken ein sequentieller analytischer Vorgang“, sagt Rüdiger Ilg, der mittlerweile
als Neurologe am Klinikum Rechts der Isar arbeitet. Was dabei herauskommt, bezeichnen wir
umgangssprachlich als „Kopfentscheidung“.
Ganz anders die Mustererkennung. Dies ist eine Art Erfassen des Ganzen mit einem Blick.
Sie funktioniert ohne Nachzudenken in Sekundenbruchteilen und ist abgeschlossen, bevor der
Vorgang der „Kopfentscheidung“ bzw. der expliziten Analyse startet. „Die Musterkennung ist
ein integrierter, automatisierter Vorgang“, definiert Rüdiger Ilg. Das ist Ergebnis hiervon ist
die „Bauchentscheidung“ oder Intuition. Wie die Forscher Tversky und Kahneman schon vor
über 20 Jahren darstellten, spart diese Art der Informationsverarbeitung viel Zeit und
Anstrengung. Die Musterkennung dient dazu, sich schnell in der Welt zurechtzufinden und
schnell reagieren zu können.
Wo gibt es Intuition?
Die Intuition ist bei jedem Menschen mehr oder weniger ausgeprägt. Sie tritt z. B. bei den
Menschen auf, die richtig sattelfest in ihrem Beruf sind. So kann ein Mathematiker spontan,
ohne zu rechnen, das Ergebnis einer komplizierten Rechnung abschätzen. Ärzte, die am
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Krankenbett schon hundertmal eine bestimmte Kombination von Symptomen gesehen haben,
wissen sofort, an welcher Krankheit der Patient leidet, auch wenn die Bluttests oder
Röntgenaufnahmen noch ausstehen. Mit einem geschulten „klinischen Blick“ stellen sie eine
verlässliche Diagnose, ohne diese mit einem eindeutigen Symptom zu begründen. Die
Intuition tritt auch auf, wenn Menschen sich besonders nahestehen, wie es im
Eingangsbeispiel von Vater und Sohn beschrieben war. „Man hat den Eindruck, dass
bestimmte Anzeichen zusammengehören, ohne im Moment explizit angeben zu können,
warum das der Fall ist. In Wahrheit aber wussten wir schon lange um die Zusammenhänge,
und haben diese an früheren Beispielen gelernt. Sie waren nur unserem Bewusstsein nicht
zugänglich“, so Ilg.
Wer ist besser, Kopf oder Bauch?
Die schnelle Mustererkennung, das Bauchgefühl, ist zwar zeitlich effizient, aber übrigens
nicht immer richtig. Dies zeigt ein Experiment mit dem alten Zufallsspiel „Kopf oder Zahl“.
Machen Sie doch mit und beantworten Sie spontan, aus dem Bauch heraus, die folgende
Frage: Welche Kombination tritt mit einer höheren Wahrscheinlichkeit innerhalb von 80
Würfen ein,
a) „zuerst viermal Kopf und dann viermal Zahl“, oder
b)„einmal Kopf, zweimal Zahl, einmal Kopf, einmal Zahl, zweimal Kopf und einmal Zahl“?
Haben Sie die Antwort? Dann können Sie weiterlesen. Die meisten Menschen haben jetzt b
genannt. Laut Mathematik aber ist die Wahrscheinlichkeit von beiden Kombinationen gleich
häufig. Trotzdem neigen wir dazu, eine sehr geordnete Reihenfolge als unwahrscheinlich zu
erachten, und eine vermeintlich unordentliche Reihenfolge als wahrscheinlicher. „Der Grund
liegt einfach darin, dass wir in unserem Kopf nur die ordentliche Reihenfolge als Muster
gespeichert haben und nicht die unordentliche“, so der Neurologe Ilg. Was die unbewusste
Mustererkennung mit der Intuition zu tun hat, das hat er in seiner Doktorarbeit erforscht.
Das Messen der Intuition
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Ilg wollte untersuchen, ob in unserem Gehirn bei einer intuitiven Eingebung bestimmte
Hirnbereiche aktiviert werden. Dazu hat er mit freiwilligen gesunden Versuchspersonen einen
Sprachtest durchgeführt und die Aktivierung des Gehirns während der Antworten in einem
Kernspintomografen gemessen. Mit der sogenannten funktionellen Kernspintomografie kann
man aktive Nervenzentren im Gehirn sichtbar machen.
Um die neuronalen Vorgänge im Gehirn zu messen, hat Ilg den Probanden die Aufgabe
gestellt, schnell zu entscheiden, ob zwischen drei verschiedenen Wörtern eine Gemeinsamkeit
besteht. Eine Dreierkombination aus seinem Test lautete: grün, hoch, Ziege. Diese Wörter
stammen aus dem Bild einer grünen Hochalm, auf der Ziegen grasen. Ein anderes Beispiel
lautete Berg, Schere, weiß. Diese drei Wörter lassen sich nicht zu einem schlüssigen Bild
vereinen.
Die Probanden konnten folgende Antworten geben:
1) Wörter gehören zusammen, und sie ergeben das Bild XY (z. B. Hochalm)
2) Wörter gehören zusammen, aber ich weiß nicht, warum
3) Wörter gehören nicht zusammen.
Ilg wollte jetzt mithilfe der funktionellen Kernspintomografie untersuchen, ob bei den
unterschiedlichen Antworten unterschiedliche Nervenzentren aktiviert werden. Vor allem
interessierte ihn, ob zwischen Antwort eins (die Wörter gehören zusammen und ich weiß
auch, warum) und Antwort zwei (die Wörter gehören zusammen, aber ich weiß nicht, warum)
Unterschiede im Kernspinbild zu erkennen sind. Dies ist tatsächlich der Fall!
Bei Antwort eins wurden vornehmlich Areale der linken Gehirnhälfte aktiviert. Hier ist das
logische analytische Denken angesiedelt, das auf dem expliziten oder semantischen
Gedächtnis beruht. Auf diese Bereiche haben wir mit unserem Bewusstsein Zugriff. Dieses
Ergebnis war zu erwarten, weil die Probanden ja ihre Antwort begründen konnten. D. h. sie
haben diesen Teil des Gehirns angestrengt, und aus den drei einzelnen eine gemeinsame
Schlussfolgerung gezogen.
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Ganz anders sah das Kernspinbild aus, wenn die Probanden die Antwort zwei gegeben haben.
Hier kam es zusätzlich zur Aktivierung von drei Arealen, die unserem Bewusstsein nicht
zugänglich sind. Diese drei Areale heißen: unterer Scheitellappen oder inferiorparietaler
Cortex, sowie STS (sulcus temporalis superior) und Gyrus parahippocampalis. „Man nimmt
an, dass die ersten beiden Areale eine Art assoziative Verknüpfungsfunktion im Gehirn
haben. In ihnen laufen Informationen aus verschiedenen Hirnarealen zusammen“, sagt Ilg.
Und hier kommen wir der Ergründung der Intuition schon ein gutes Stück näher. Die
Ergebnisse aus dem Kernspintomografen bedeuten nämlich, dass bei intuitiven
Entscheidungen solche Nervenzentren im ganzen Gehirn beteiligt sind, die nach einem
Muster hinter den Begriffen suchen. Ilg bezeichnet sie zusammenfassend als „assoziative
Nervenzentren“. Und das für Laien spannendste Ergebnis: Diese Mustersuche läuft
automatisch ohne Zutun unseres expliziten, das heißt sprachlich ausdrückbaren Bewusstseins
ab. Das Gehirn untersucht bei den intuitiven Entscheidungsprozessen nur, ob sich die
einzelnen Bestandteile des Sprachtests irgendwie „überlappen“ und so eventuell zu einem
gemeinsamen Muster gehören. Ist das der Fall, sagt das „Bauchgefühl“ ja.
Übertragen auf das Eingangsbeispiel bedeutet das Ergebnis aus Ilgs Versuchen: Beim ersten
Telefonat mit dem Sohn hat der Vater bestimmte Anzeichen wahrgenommen. Dies können
sein: Leichtes Zögern bei der Antwort, etwas weniger Begeisterung als erwartet, ein
gedrückter Unterton. Der Vater hat dies alles wahr-, aber nicht ernstgenommen, denn der
Kopf hat ihm gesagt, es sei doch alles in Ordnung. Trotzdem hat das Gehirn Erinnerungen an
diese Verhaltensweisen abgefragt und netzwerkartig an die Verknüpfungsareale
weitergeleitet, bis ein stimmiges Muster entstanden ist. Das Muster ist gleichbedeutend mit
der intuitiven Erkenntnis: „Da in England, da stimmt etwas nicht mit meinem Sohn.“ Es gab
dann noch einen inneren Streit zwischen Bauchgefühl („sofort anrufen!“) und
Kopfentscheidung („Sohn in Ruhe lassen, das war abgemacht.“), bei dem zum Glück die
Intuition stärker war.
Intuition neu definiert
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Mit diesem Ergebnis ist einer Neudefinition von Intuition der Weg gebahnt worden. Um die
Intuition aber endgültig aus dem Bereich des Mysteriums herauszuholen, muss ein ähnlicher
Versuch auch für die Wahrnehmung von Objekten und anderen Inhalten durchgeführt werden.
Einen solchen Versuch nimmt Rüdiger Ilg, als Pendant zum Sprachtest, jetzt in Arbeit. Die
Probanden müssen dann nicht sprachliche Information miteinander in Beziehung setzen,
sondern gegenständliche Information. Bestätigen sich die Ergebnisse, bzw. lassen sie sich
übertragen – wofür viel spricht, so Ilg – dann gilt folgende Erkenntnis: Es gibt nicht die
Intuition per se. Intuition ist auch nichts Übersinnliches und hat nichts mit Wahrsagerei zu
tun. Der Begriff Intuition ist schlichtweg ein gemeinsamer Überbegriff für
Einzelbeobachtungen aus verschieden Bereichen. „Die Intuition ist das Erkennen des
kleinsten gemeinsamen Vielfachen“, erklärt Ilg. Es ist eine ähnlichkeitsbasierte
Mustererkennung im Gehirn, bei dem eine Abwägung von gelernten Wahrscheinlichkeiten
stattfindet.
Trau, schau wann
„Mit dieser Arbeit haben wir den Schlüssel zum Verständnis dessen, was sich Erfahrung
nennt“, erklärt auch Ernst Pöppel. Denn wie gut das Gehirn dieses Zusammenpuzzeln
bewerkstelligt, hängt von der Lebenserfahrung und der Menge an eingespeicherten
Beobachtungen ab. „Diese Arbeit zeigt uns aber auch, dass uns das implizite Wissen stärker
prägt als das explizite“, so der Hirnforscher. Denn die Prozesse der Intuition verlaufen
automatisch. Sie sind unserem Bewusstsein, dem expliziten Gedächtnis und seiner
langsameren analytischen Informationsverarbeitung nicht zugänglich! Und somit prägt uns
das implizite Wissen stärker als das explizite Wissen. Denn noch bevor wir explizit eine
Regel formuliert haben, verhalten wir uns schon unbewusst danach.
Pöppel: „Wir sollten also die Intuition wieder ernster nehmen, aber uns vorher gut überlegen,
wann wir der Intuition vertrauen können.“ Denn sie ist nicht der Königsweg zur
Entscheidungsfindung. Sie kann gut in den Bereichen sein, in denen wir große Erfahrung
haben. In den Lebensbereichen aber, in denen wir uns nicht auskennen, ist das sogenannte
Bauchgefühl nicht besser oder schlechter als der Zufall. Die Binsenweisheit, „sich einfach nur
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auf sein Gefühl verlassen“, sollte man also nur dort anwenden, wo man sich eh schon gut
auskennt.
Hintergrund: Die Intuition in der Geschichte
Der Begriff Intuition wird erstmals in der altgriechischen Philosophie gebraucht und
beschrieb eine Art des Erkennens. Er wurde benutzt für das schlagartige Erfassen des ganzen
Erkenntnisgegenstandes. Das Gegenteil der Intuition war das partielle Erkennen, bei dem
Teilaspekte des Ganzen betrachtet werden. Dies war die Basis für die spätere Unterscheidung
zwischen Intuition und Ratio. Bis in das letzte Jahrhundert hinein blieb die Intuition
ausschließlich in der Philosophie angesiedelt.
Von der Wissenschaft, genau gesagt von der Psychologie wurde die Intuition erst im 20.
Jahrhundert aufgegriffen, hier wurde sie als eine Form des Denkens eingeordnet. Sie wurde
aber bislang nie genau definiert, sondern galt als Übergriff für alle nicht-analytischen Arten
zu denken. Erst durch die modernen Methoden der bildgebenden Hirnuntersuchungen ist die
technische Möglichkeit gegeben, den Sitz der Intuition zu ergründen. Erst jetzt ist auch
bewiesen, dass die Intuition nicht aus dem Herzen kommt und nicht aus dem Bauch, sondern
dass ihr Ursprung ebenfalls im Kopf ist.
Für: Psychologie Heute
Stand: Oktober 2005
Autorin: Beatrice Wagner
© Beatrice Wagner
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