Konstruktionen zum ‚richtigen Essen’ als soziales Konfliktfeld Prof. Dr. Lotte Rose Wir können nicht einfach drauf los essen! Ernährungsnormen haben zu allen Zeiten das Essen bestimmt Antwort auf die Frage: Was darf, soll und darf ich nicht essen? Aussage der Ernährungssoziologie: Wir essen unsere Nahrungsmittel nicht, „weil sie ‚gut zu essen’ sind, sondern weil sie ‚gut zu denken’ sind“ (Lévi-Strauss, Claude 1965, S. 116) Bedarf nach einem Denkgebäude, das eine spezifische Ernährungsweise „richtig“ erscheinen lässt Seite 2 Leitfiguren zum „richtigen Essen“ Ernährung muss Diätetik Gruppe und ihrem Lebensraum gut tun Religion gottgefällig sein Gesundheit medizinisch notwendigen Stoffe enthalten Schlankheit Übergewicht verhindern Nachhaltigkeit ökologische Ressourcen erhalten Leben achten auf Tierprodukte verzichten Fairness Produzenten gutes Leben ermöglichen Genuss Geschmackslust schaffen Autonomie Individuum Selbstbestimmung lassen Seite 3 Leitfiguren zum „richtigen Essen“ Es gibt verschiedene Leitfiguren. Leitfiguren verändern sich in der Geschichte. Leitfiguren zielen entweder auf das Wohl des Individuums oder das Wohl der Welt ab. Es gibt Widersprüche zwischen den Leitfiguren. Es gibt gesellschaftlich dominante und marginale Leitfiguren. Soziale Gruppen erkennen Leitbilder verschieden an. Seite 4 Konzept Wertefokus Aktualität Religion Individuum verschieden in Religionen Gesundheit Individuum sehr hoch Schlankheit Individuum sehr hoch Genuss Individuum marginal Autonomie Individuum hoch Diätetik Welt marginal Nachhaltigkeit Welt marginal, aber aufsteigend Lebensschutz Welt marginal, aber aufsteigend Fairness Welt marginal, aber aufsteigend Seite 5 Ernährung als Feld sozialer Kämpfe Soziale Gruppen grenzen sich voneinander ab durch ihre Vorstellungen zum „richtigen Essen“ das, was sie essen die Art wie/wann/wo/wieviel/mit wem sie essen. Diskriminierungseffekt: die eigene Ernährungsweise ist „richtig“, die der Anderen „unrichtig“ Bemächtigungseffekt: Ernährungsweise einer mächtigen Gruppe wird zur Norm für alle erklärt Marginalisierte Gruppen werden aufgefordert, ihre Ernährungsweise der der mächtigen Gruppe anzupassen Konfliktpotential: bemächtigte Gruppen wehren sich Seite 6 Die Leitfigur des gesunden Essens Dominante Leitfigur in der aktuellen Ernährungskultur breiter gesellschaftlicher Konsens breit verankertes Wissen zu gesundem Essen völlig einsichtig nicht hinterfragbar Seite 7 Fallgeschichte: Der Frühstückskönig Eine Studentin, die in einer Kita arbeitet, berichtet im Seminar von einer Maßnahme zum gesunden Essen, die seit einiger Zeit erfolgreich durchgeführt wird. Die Fachkräfte haben allen Nahrungsmitteln, die die Kinder zum Frühstück mitbringen nach ihrem Gesundheitswert gepunktet. Je gesünder, desto höher die Punktzahl. Obst, Gemüse, dunkles Brot, Milchprodukte weisen hohe Punktwerte auf, zuckerhaltige Nahrungsmittel und Fertigsnacks bleiben punktlos. Jeden Morgen erhalten so die Frühstücke der Kinder je nach ihrer Zusammensetzung Punktwerte, und es wird am Ende der Frühstückskönig gekürt. Manchmal kommt es vor, dass die Erzieherinnen darauf drängen müssen, dass die Punktprodukte auch gegessen werden. Besonders gefreut haben sich die Erzieherinnen, als ein türkisches Mädchen, nachdem es lange jeden Morgen mit einem Kuchenstück kam, dann auch hochwertige Punkt-Nahrung mitgebracht hat. Das Seminar ist sehr angetan. Seite 8 Fallgeschichte: Der Frühstückskönig Was erzählt sie uns? Unhinterfragbarkeit der Leitfigur gesunden Essens Bemächtigungseffekt: Kinder wollen anders essen begehren erfolglos auf türkisches Mädchen erfüllt schließlich auch die Regeln des gesunden Essens Generationenmacht: Erwachsene setzen - gegen Kinder eine „richtige“ - Ernährungsweise durch, bestrafen die „falsche“ Standardisierungseffekt: alle müssen das gleiche essen! Tilgung von kultureller Diversität Seite 9 „Gesundes Essen“ als Feld von Über- und Unterordnungen Gesundes Essens wird durchgesetzt von privilegierten Schichten Erwachsenen Frauen Seite 10 Aufbegehren der bemächtigten Gruppen: ein Beispiel Feed-me-better Kampagne des englischen Starkochs Jamie Oliver Anliegen: gesundes Essen in den Schulen Effekt: Aufruhr bei SchülerInnen, Eltern und Küchenkräften Seite 11 Entwicklungsperspektiven für die Verpflegung in Kinderinstitutionen Anerkennung des Essens als Konfliktthema zwischen den Generationen, Geschlechtern, sozialen Gruppen… Entwicklung von partizipativen Praxiskonzepten – statt der vorherrschenden paternalistischen Verhandlungen zum Essen zwischen den verschiedenen Akteuren in der Institution ermöglichen Politisierung des Diskurses ums Essens - statt der vorherrschenden Medikalisierung Seite 12 Literatur Claude Lévi-Strauss (1965): Das Ende des Totemismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Ottovay, Kathrin; Schorb, Friedrich (2009): Von der Ernährungskrise zur Ernährungsrevolution – Wenn der Fernsehkoch Jamie Oliver Sozialpolitik macht. In: Lotte Rose, Benedikt Sturzenhecker (Hg.): „Erst kommt das Fressen…“ Über Essen und Kochen in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden Seite 13