Gastrosophie – von der Ethik des „guten Essens“ und einer nachhaltigen Esskultur Ein Beitrag von Dr. Uwe Meier anlässlich der Akademieveranstaltung am 20.02.2014 zum Thema „Gastrosophie mit Gemüsesuppe. Zur Ethik und Politik des Essens.“ Gibt es etwas Angenehmeres, als gemeinsam mit guten Freunden oder mit der Familie „gutes Essen“ zu sich zu nehmen? Dass wir uns die Zeit nehmen, die Mittel zum Leben bewusst auszusuchen, sie gezielt schonend zuzubereiten und sie langsam und genussvoll zu verspeisen. Lebensmittel mit Genuss und Langsamkeit unserem Körper zuzuführen, ist ein Zeichen von Kultur und Würde. Insbesondere im heutigen „fast food- Zeitalter“, in dem Essen nur noch einen Preis, aber keinen Wert mehr hat, was auch deutlich wird an den Millionen Tonnen Nahrungsmitteln, die jährlich weggeworfen werden. Wir messen dem Essen, das unser Leben erhält, kaum noch Bedeutung zu. Rasch irgendwas einkaufen, am besten vorgefertigtes Industriefutter – Mikrowellenküche oder „just in hot water“ auflösen – reinstopfen – satt. Der Höhepunkt unserer „Unkultur des Schnellessens“ ist die Zuführung von Nahrungsmitteln auf der Straße, weil „Coffee to go“ oder „Food to go“ total in ist. Sobald ein englischer Begriff für eine Unsitte gefunden wurde, wie z. B. auch „fingerfood“, gilt es als modern und fortschrittlich, diesem kulturfeindlichen Begriff mit seinen primitiven Inhalten zu folgen. Für nichts tatsächlich „Wichtiges“ ist mehr Zeit in unserem Alltag. Weder für eine Kultur des Essens noch für eine Kultur der Gemeinsamkeit. Warten können wir nicht mehr: nicht auf die Feldfrüchte der Saison, nicht auf das Weihnachtsfest, das inzwischen Ende August in den Geschäften beginnt und nicht auf die Erfolge in der Pflanzenzüchtung ohne die zuchtverkürzende Gentechnik. Die Lebensmittelindustrie kann den Kunden alles vorsetzen. Es wird alles gekauft und alles wie in einen Müllschlucker geschluckt. Die ständigen Lebensmittelskandale zeugen davon. Aber im Grunde ist das den Futter-Verwertern auch egal. Eine Woche Skandal ist bereits eingepreist– dann ist ohnehin alles vergessen. Die Folgen und Ergebnisse sind nicht nur die vielen ernährungsbedingten Krankheiten und die grassierende Fettleibigkeit, die jeder und jede für sich alleine zu verantworten hat, obwohl die Gemeinschaft zahlt. Es ist vor allem das verloren gegangene „kultivierte Benehmen“. Es ist der fehlende Respekt vor uns selber, unseren Mitmenschen mit ihrem Hunger, den Tieren, den Pflanzen und den Lebensgemeinschaften, in denen auch wir Bestandteil sind. Und es ist der fehlende Respekt unseren Nahrungsmitteln und kommenden Generationen gegenüber. Die Respektlosigkeit in unserer Gesellschaft geht mit der Kulturlosigkeit einher. Die „Gastrosophie“ steht den oben beschriebenen Kulturlosigkeiten und ihren Folgen kritisch gegenüber. Sie ist eine Philosophie über die „Lehre der Weisheit des guten Essens und der Gastlichkeit“. Das Nachdenken und der Diskurs über Ernährung gehört seit den Philosophen der Antike zur Reflexion über das „rechte", das „gute Leben", über die Nahrungsaufnahme hinaus. Gerade heute, wenn man sich in die Ursachen und Folgen der Lebensmittelskandale oder die Auswirkungen des BSE-Skandals ansieht, sind umfassende Gedanken über das rechte oder richtige Leben, über das gute Leben und Lebensstile immer dringlicher. „Gastrosophie“ ist also zu verstehen als ein Zusammenwirken und fundiertes Nach- und Zusammen-Denken aller natur- wie geisteswissenschaftlichen Fächer und Disziplinen, die sich im weitesten Sinne auf Ernährung beziehen und sich damit beschäftigen. Seit 2012 wird Gastrosophie an der Universität Salzburg gelehrt. Als wissenschaftliches Lehrfach, das noch in den Kinderschuhen steckt, ist die Gastrosophie transdisziplinär angelegt; sind in diesem Lehrfach doch recht unterschiedliche Disziplinen vereinigt. Überschneidungen gibt es mit der Ernährungssoziologie, den Agrarwissenschaften mit ihrer „Agrarethik“, der Nahrungsforschung, der Kulturgeschichte, der Anthropologie, der Ökotrophologie, der Medizin und der Philosophie. Die Gastrosophie stützt sich auf keine fachwissenschaftlich und subjektiv beschränkte Sichtweise, sondern versucht von einem allgemeinen Standpunkt aus, möglichst alle Aspekte, die mit Essen zu tun haben, einzubeziehen und disziplinübergreifend zu denken. Sie strebt also ein „Wissen um die Wahrheit des Essens“ an. Weiterhin basiert der philosophische Begriff des guten Essens bewusst auf einem normativen Verständnis des Guten: Das moralisch (gastrosophisch) Gute beruht, wie oben dargelegt, in der Erkenntnis und Berücksichtigung der ökologischen, ökonomischen, gesundheitlichen und kulturellen Auswirkungen der Esssitten auf das Wohl, den Alltag und die Gesundheit des Menschen, sowie die Gerechtigkeit und natürlichen Lebensgrundlagen aller. Gute Gründe für eine Kultur des guten Essens In der “Kultur des guten Essens“ muss das moralisch Gute, wie Beachtung von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, nicht als «saure Pflicht« (Kant) verstanden werden. Es gibt schließlich ein Eigeninteresse am leiblichen Wohlergehen und dem ästhetischen Genuss besseren Geschmacks. In Form einer eigenen Kochkunst und Esskultur mit gutem Gewissen wird Genuss zutiefst erfahrbar – nicht nur am Gaumen, sondern auch in der Psyche. Dementsprechend geht es einer Gastrosophie um die schlichte Erkenntnis, dass sich in dem alltäglichen Lebensbereich des Essens eine Praxis der Freiheit mit der Lust am Wohlschmeckenden verbinden lässt. Die Gastrosophie bezweckt eine kulturelle Aufwertung der Nahrungsauswahl und Esspraktiken und versucht für die Alltäglichkeit eines kulinarischen Selbstgenusses zu werben, der für jeden und jede nicht schwer zu haben ist. Das kulinarisch Gute muss nicht teuer sein, zumal es im Ganzen darauf ankommt, wofür man sein Geld ausgibt. Dabei geht es nicht zuletzt um das politische Bewusstsein, dass das eigene Konsumverhalten über die ökonomischen Strukturen mitentscheidet: Jede/r kann die sprichwörtliche »königliche« Macht des Kaufaktes dazu nutzen, die kapitalistischen Machtmechanismen gegen sich zu unterstützen, oder als mündige Verbraucher einem ethischen Konsum nachzugehen (Lübke, 2012:299, in Agrarethik – Landwirtschaft mit Zukunft. Hrsg.: Uwe Meier). Damit kann man mit geringstem Aufwand, anstelle ungerechter und umweltschädlicher Konsumgewohnheiten, der eigenen Verantwortung für bessere Produktionsverhältnisse nachkommen. Die Argumente pro und contra des Fleischessens sind im Verlauf der Philosophiegeschichte vielfach erörtert worden. Nach Lemke (2012:19, in Agrarethik – Landwirtschaft mit Zukunft. Hrsg.: U. Meier) hat sich in dieser Diskussion recht deutlich herausgestellt, dass aus tierethischen Gründen einer Anerkennung des Wohls der Tiere jede qualvolle Massenhaltung und jedes Töten nicht zu rechtfertigen sind. Aus strikt tiermoralischer Sicht sind die Menschen dazu verpflichtet, im Prinzip auf Fleischkonsum zu verzichten. Gegenüber diesem moralisch korrekten Rigorismus respektiert eine gastrosophische Sicht, so Lemke „unter rein kulinarischen Gesichtspunkten anthropozentrischer Geschmacksfreiheit einen minimalen Fleischgenuss, der seine Schuld am Tieropfer wenigstens durch eine »artgerechte Haltung« verantwortet, die den Nutztieren ein möglichst gutes Leben gewährt.“ Unter dem großen theoretischen Dach der philosophischen Disziplin „Gastrosophie“ ist ein praktisches Leben möglich. Das beweisen in Europa die vielen Anhänger der internationalen Non-Profit-Organisation „Slow Food“. „Sie wurde 1989 gegründet, um Fast Food und Fast Life entgegen zu treten. Damit sollen das Verschwinden der Esskultur und lokaler Traditionen aufgehalten werden. Es soll deutlich werden, wie sich unsere Ernährungsgewohnheiten auf die Ernährung der Menschen in anderen Teilen der Welt auswirken. Nach Slow Food bedeutet Essen Genuss, Bewusstsein und Verantwortung.