Ableitung und Integral 1 Sei f eine auf R oder auf einer Teilmenge von R (wie z.B. dem Intervall (a, b) := {x|x ∈ R, a < x < b}) definierte Funktion. 2 Die Funktion f heißt differenzierbar in x, wenn sie in x lokal linear approximierbar ist (sprich: “bei x durch eine Gerade angenähert werden kann”) 3 f ′ (x)∆x ∆x 0 x 4 Die Zahl f ′(x) (die Steigung der approximierenden Geraden) heißt Ableitung von f in x. 5 f (x + ∆x) − f (x) f ′ (x)∆x ∆x 0 x 6 Der Zuwachs der linearen Approximation f ′(x)∆x ist eine Näherung für den Zuwachs von f f (x + ∆x) − f (x). 7 f (x + ∆x) − f (x) = f ′(x)∆x + o(∆x) f (x + ∆x) − f (x) f ′ (x)∆x ∆x 0 x 8 f (x + ∆x) − f (x) = f ′(x)∆x + o(∆x) Die Zahl f ′(x) heißt Ableitung von f in x. Sie ist die Steigung der in x lokal approximierenden Geraden. Man schreibt auch f ′(x) df dy = (x) = dx dx oder df (x) = f ′(x) dx. 9 Sir Isaac Newton 1643 - 1727 Gottfried Wilhelm Leibniz 1646 - 1716 10 Aus der Differenzierbarkeit von f in x folgt die Stetigkeit von f in x: f (x + ∆x) → f (x) für ∆x → 0. Damit gleichbedeutend: |f (x + ∆x) − f (x)| = o(1) für ∆x → 0 (In Worten: f (u) ist nahe bei f (x), falls u nahe bei x ist.) 11 Ein Beispiel für eine Funktion, die stetig, aber nicht differenzierbar im Punkt x = 0 ist, ist die Funktion u 7→ |u|. |u| u 12 Im Folgenden denken wir immer an eine “hinreichend glatte” Funktion f . Die Funktion f ′ : x 7→ f ′(x) heißt die (erste) Ableitung von f . Die Ableitung von f ′ nennt man die zweite Ableitung von f : f ′′(x) := (f ′)′(x) f (n)(x) := (f (n−1))′(x) ... n-te Ableitung 13 Beispiel: f (x) := x2 f (x + ∆x) = (x + ∆x)2 = x2 + 2x ∆x + (∆x)2 (x + ∆x)2 − x2 = 2x ∆x + o(∆x). (x2)′ = 2x (x2)′′ = (2x)′ = 2. 14 f (x) := xn f (x + ∆x) = (x + ∆x)n = xn + nxn−1 ∆x + (....)(∆x)2 (x + ∆x)n − xn = nxn−1 ∆x + o(∆x). (xn)′ = nxn−1 (xn)′′ = (nxn−1)′ = n(n − 1)xn−2. (xn)(n) = n! 15 Beispiel: y = ex dy = y. dx Daraus gewinnt man leicht die Ableitung der Umkehrfunktion ln 16 2 dy dx =y dx dy = 1y Daraus gewinnt man auch die Ableitung der Umkehrfunktion 1 y = ex 0 -1 0 1 2 17 1 2 dy dx =y dx dy = 1y x und y vertauscht: 1 dy 1 = dx x y = ex 0 -1 0 1 y = ln(x) 1 2 18 y = ex, x = ln y dy dx = y, dx = 1 dy y x und y vertauscht: y = ln x, dy 1 = dx x Also: (ex)′ = ex (ln(x))′ = 1 x. 19 (ln(x))′ = 1 x Mit anderen Worten: ln(x) ist eine Stammfunktion von 1 x. 20 Stammfunktionen Z f (x)dx 21 F heißt Stammfunktion von f , falls F ′(x) = f (x) für alle x aus dem Definitionsbereich von f . Man sagt dafür auch: F ist unbestimmtes Integral von f und schreibt F (x) = Z f (x) dx 22 Ist F eine Stammfunktion von f , dann ist für jede Konstante C auch F + C eine Stammfunktion von f . Denn: Die Ableitung von F (x) + C ist F ′(x) = f (x). 23 Je zwei Stammfunktionen von f unterscheiden sich nur um eine additive Konstante. Denn wenn F ′(x) = f (x) und G′(x) = f (x), dann hat H(x) := F (x) − G(x) die Ableitung H ′(x) = F ′(x) − G′(x) = f (x) − f (x) = 0, also ist H(x) konstant. 24 Zusammen: Wenn F (x) eine Stammfunktion von f (x) ist, so sind F (x) + C alle Stammfunktionen von f (x) (wobei C alle reellen Zahlen durchläuft). 25 Beispiele: Die Stammfunktionen von 2x sind von der Form Z 2x dx = x2 + C. 26 Beispiele: Die Stammfunktionen von exp sind von der Form Z ex dx = ex + C. 27 Beispiele: Die Stammfunktionen von 1 x sind von der Form Z 1 dx = ln(x) + C. x 28 Je zwei Stammfunktionen F und G von f haben zwischen a und b den gleichen Zuwachs: F (b) − F (a) = G(b) − G(a) (denn die additive Konstante, um die sich F und G unterscheidet, fällt beim Bilden der Differenz weg) 29 Stammfunktion und Fläche 30 f (x) a b 31 f (x) Φ(a, b) a b 32 y = f (x) Φ(a, b) a b Φ(a, b) ist die Größe der Fläche zwischen der Kurve y = f (x), der x-Achse und den Grenzen x = a und x = b 33 Übrigens: Wenn f Werte mit verschiedenen Vorzeichen hat, y = f (x) dann ist Φ(a, b) die mit dem Vorzeichen von f (x) signierte Fläche zwischen der Kurve y = f (x), . a b x-Achse zählt positiv zählt negativ der x-Achse und den Grenzen x = a und x = b. 34 f (x) Φ(a, b) a b b+h Wie wächst Φ(a, b) mit b? 35 f (x) Φ(a, b) a b b+h Φ(a, b + h) = Φ(a, b) + hf (b) + o(h) 36 f (x) Φ(a, b) = F (b) a b b+h Sei für festes a F (b) := Φ(a, b) F ′(b) = f (b) 37 f (x) F (b) a b b+h F ′(b) = f (b) Die Größe der Fläche unter der Kurve f , 38 f (x) F (b) a b b+h F ′(b) = f (b) Die Größe der Fläche unter der Kurve f , aufgefasst als Funktion der oberen Grenze b, f (x) F (b) a b b+h F ′(b) = f (b) Die Größe der Fläche unter der Kurve f , aufgefasst als Funktion der oberen Grenze b, ist eine Stammfunktion von f . f (x) Φ(a, b) a b b+h Die Gleichheit Φ(a, b) = F (b) − F (a) gilt (wegen Φ(a, a) = 0) für die Funktion F (x) = Φ(a, x) und damit für jede Stammfunktion F von f . 39 y = f (x) Φ(a, b) a b Man nennt Φ(a, b) auch das 40 y = f (x) Φ(a, b) a b Man nennt Φ(a, b) auch das bestimmte Integral von f (x) zwischen a und b y = f (x) Φ(a, b) a b Man nennt Φ(a, b) auch das bestimmte Integral von f (x) zwischen a und b Z b a und schreibt f (x)dx := Φ(a, b) y = f (x) Rb a f (x)dx a b Man nennt Φ(a, b) auch das bestimmte Integral von f (x) zwischen a und b Z b a und schreibt f (x)dx := Φ(a, b) 41 Wir fassen zusammen: 42 Wir fassen zusammen: x 7→ Z x a f (x)dx ist eine Stammfunktion von f und die Gleichheit Z b a f (x)dx = F (b) − F (a) gilt für jede Stammfunktion F von f . Zur Erinnerung: ex ist Stammfunktion von ex. ln(x) ist Stammfunktion von 1 x, Fazit: 43 10 y = ex 5 Rb x e dx a x 0 -3 -2 -1 = eb − ea . 0 1 2 a 3 b 44 1 y=1 x Rb 1 1 x dx = ln b − ln 1 = ln b. 0 1 b x ln b ist die Fläche zwischen der Hyperbel y = 1 x , der x-Achse (y = 0) und den Grenzen x = 1 und x = b. 45 1.2 1.0 0.8 0.6 0.4 0.2 ln 10. 0.0 Die Fläche in Gelb ist 0 2 4 6 8 x 46 10 0.6 0.8 1.0 1.2 1 + ... + 1 . 1+1 + 2 3 9 0.4 ist 0.2 (die Fläche der Stäbe) 0.0 Die Fläche in Lila 0 2 4 6 8 x 47 10 1.2 1.0 0.8 0.6 0.4 1 + ... + 1 . Hn := 1 + 1 + 2 3 n 0.2 mit der harmonischen Zahl 0.0 Vergleichen wir ln n 0 2 4 6 8 x 48 10 1.2 1.0 0.0 Hn → ∞ für n → ∞. 0.2 0.4 also: 0.6 0.8 Hn > ln n, 0 2 4 6 8 x 49 10 1.2 1.0 0.4 0.2 für n → ∞? 0.0 Hn−1 − ln n 0.6 0.8 Was passiert mit der Differenz 0 2 4 6 8 x 50 10 Hn−1 − ln n 0.0 In der Tat: man kann die grünen 0.4 Diese Fläche ist kleiner als 1. 0.2 Behauptung: 0.6 0.8 zwischen den Grenzen 1 und n. 1.0 der grünen Flächen 1.2 ist die Summe Flächen alle in den linken Balken verschieben, ohne dass sie dort 0 2 4 6 8 x überlappen. 51 10 Wir sehen: Die Folge der Zahlen Hn−1 − ln n wächst mit n TTTTTTTTTTTTTTTfür n → ∞. für n → ∞ (denn 1 = o(1) Hn − Hn−1 = n TTTTTTTTTTTTTTTfür n → ∞) 0.8 0.0 Hn − ln n = γ + o(1) 0.2 Und es gilt auch 0.6 Hn−1 − ln n = γ + o(1) 0.4 Also gibt es eine Zahl γ mit 1.0 1.2 und ist beschränkt (durch 1). 0 2 4 6 x 52 8 10 Zusammengefasst: 1 1 1 Hn := 1 + + + ... + 2 3 n sind die sogenannten harmonischen Zahlen. (Sie spielen in der Informatik eine Rolle bei der Analyse von Algorithmen.) Es gibt eine Zahl γ mit Hn = ln n + γ + o(1). γ ≈ 0.57 γ heißt Euler-Konstante. 53 Leonhard Euler 1707-1783 54