Nick Dudka und Sylvia Luetjohann TIBETISCHE MEDITATIONSPRAXIS IN BILDERN Gewahrsein, Mitgefühl und Weisheit mit einem Geleitwort von Chögyal Namkhai Norbu Urheberrechtlich geschütztes Material Möge der kostbare Erleuchtungsgeist dort entstehen, wo er noch nicht entstanden ist, und möge er da, wo er schon entstanden ist, sich weiter mehren und wachsen. Urheberrechtlich geschütztes Material Inhalt Geleitwort von Chögyal Namkhai Norbu 5 Einführung 6 Die Buddhas der Drei Zeiten 23 Guru Padmasambhava 31 Vajradhara 41 Vajrasattva 49 Der tausendarmige Avalokiteshvara 57 Die Grüne Tara 67 Die Weiße Tara 75 Der Medizinbuddha 81 Manjushri (Rigsum Gonpo) 89 Vajrapani 97 Palden Lhamo 105 Das Lebensrad 113 Widmung von Verdienst 124 Danksagungen 125 Glossar 126 Ausgewählte Literatur 133 Urheberrechtlich geschütztes Material Geleitwort von Chögyal Namkhai Norbu Das uralte Wissen aus Tibet hat viele verschiedene Ausdrucksformen: buddhistische Philosophie, Grammatik, Logik, Medizin und Astrologie. Auch die Thangka-Malerei ist ein Teil dieser heiligen Wissenschaft, die vor vielen Jahrhunderten ihren Anfang nahm. Jede Epoche hat ihre eigenen Beschreibungen des spirituellen Pfades zur Erleuchtung, und ein spiritueller Pfad braucht eine gewisse Erklärung und Hilfestellung. Die Thangka-Malerei ist vielleicht die einzige Kunstform, die zahlreiche Aspekte in einer einzigen Darstellung zusammenfasst. Auf der gewöhnlichen Ebene mag Thangka-Malerei als eine simple Kunstform erscheinen, die Bildwerke von Buddha, großen Meistern und ihren Lebensgeschichten zum Gegenstand hat. Dabei kann es sich auch um Darstellungen von Gottheiten handeln, die uns dabei helfen, unser schwieriges Leben zu meistern. Die erzählenden Berichte können den Betrachter belehren und ihm gleichzeitig unbegrenzte Freude bereiten, wenn er dem Pinsel des Künstlers folgt. Für den Praktizierenden kann ein Thangka den Zustand veranschaulichen, der dem wirklichen Zustand des „Buddha in uns“ entspricht. Einerseits ist ein Thangka ein Hilfsmittel für die Visualisierung und zeigt uns andererseits, wie das göttliche Wesen, unser Freund, aussieht. Auf der höchsten Ebene gibt uns das Thangka eine Vorstellung davon, wie unser eigener Zustand, unser eigenes reines Wesen beschaffen ist. Mein Schüler Nick Dudka, der diese heilige tibetische Kunst seit mehr als zwanzig Jahren studiert und ausübt, hat die für dieses Set zusammengestellten Thangkas gemalt. Nick, der in Burjatien im Osten Russlands lebt, hat die traditionelle tibetische Thangka-Malerei erlernt und ganz in sich aufgenommen. Seine Farben sind rein und ausdrucksstark, die Proportionen und Zeichnung genau ausgeführt. Traditionell werden Thangkas mit Liebe und Achtsamkeit angefertigt – und das sollte auch so sein. Nick arbeitet auf genau diese Weise. Ich bin davon überzeugt, dass diese Ausgabe mit Reproduktionen von Nicks Thangka-Malereien all jenen helfen wird, die an Praxis interessiert sind und nach Verwirklichung streben. G ELEITWORT Urheberrechtlich geschütztes Material 5 Einführung Der Geist ist der größte Künstler. Er malt die relative Wahrheit mit dem Pinsel der ursprünglichen Idee. Thinley Norbu Die tibetische Kunst beruht vollständig auf der buddhistischen Lehre, dem Dharma, und ihrer Praxis. Die in diesem Set zusammengestellten Meditationsbilder werden als Thangkas bezeichnet. Das tibetische Wort Thangka als Bezeichnung für ein Rollbild mit einer religiösen Darstellung leitet sich ab von thang yig und hat etwa die Bedeutung von „Bericht“ oder „Aufzeichnung“. Ein Thangka ist, allgemein gesprochen, eine buddhistische Bilddarstellung. Sie stellt die Idealform einer Gottheit des buddhistischen Pantheons dar und kann die Präsenz des Buddha-Aspektes vermitteln, dessen Verkörperung sie ist. Darüber hinaus ist sie die symbolische Darstellung einer höchsten buddhistischen Wahrheit, die Einblick in die Natur des Geistes gibt. Als solche ist sie weit mehr als ein bloßes Objekt der Verehrung, sondern ein außerordentlich wichtiges Hilfsmittel für die Meditationspraxis. Die tibetische Tradition der Rollbilder Die Tradition von Rollbildern ist in Tibet sehr weit verbreitet, was sich durch den großen Bevölkerungsanteil an Nomaden erklärt. Schon die lokalen Herrscher reisten umher und errichteten an verschiedenen Orten ihre Lager, wo sie in Zelten Gericht hielten. Dieser Brauch wurde später auch von den religiösen Orden übernommen, und das nomadisierende Klosterleben war ein fester Bestandteil der tibetischen Kultur; zum Beispiel ist das tibetische Wort gar, das ursprünglich „Nomadenlager“ bedeutet, noch heute ein gebräuchliches Synonym für „Kloster“ . Die Mönche führten auf ihren Reisen alles mit sich, was sie für die Ausübung ihrer Religion brauchten, unter anderem tragbare Altäre und Rollbilder als Ersatz für die Wandmalereien in den 6 E INFÜHRUNG Urheberrechtlich geschütztes Material Tempeln. Auch als immer mehr Klöster entstanden, wurden Thangkas weiterhin als Rollbilder gemalt und in den Gebäuden aufgehangen. Gewöhnlich werden Thangkas auf Leinwand, manchmal auch auf Seide gemalt. Nach Fertigstellung werden sie mit verschiedenfarbigen Brokaten eingefasst. In der Mitte der Einfassungen unter dem Bild stellt ein Quadrat aus besonders fein gearbeitetem Brokat eine Art „Tor“ dar, welches den Eingang in die dargestellte andere Dimension versinnbildlicht. Zum Schutz werden die Malereien mit einem Vorhang aus roten und gelben Seidenstoffen bedeckt, über denen zwei rote Bänder hängen. Diese lung nön oder „Windhalter“ sind ein Überbleibsel aus den Zeiten, als die Thangkas noch in Zelten hingen und zur Sicherheit gegen Windböen an der Zeltwand angebunden werden mussten. Oben und unten werden Holzstäbe in die Brokate eingezogen. Ursprünglich wurden solche Rollbilder von umherwandernden Geschichtenerzählern als visuelle Hilfen zur Veranschaulichung ihrer Erzählungen verwendet. Im Laufe der Zeit wurden diese Kunstwerke dann zu religiösen Bildwerken, die zu Lehrzwecken und bis heute als Objekte der Verehrung genutzt werden. Hauptsächlich dienen sie aber als Meditationshilfen und werden in den höheren tantrischen Praktiken zur Verfeinerung der meditativen Visualisierung genutzt. Spezielle Thangkas sind zumeist hinter einem Vorhang verborgen und werden nur im Rahmen von Zeremonien oder zu besonderen festlichen Anlässen gezeigt. Praktizierende hängen Thangkas mit Darstellungen von Gurus ihrer Übermittlungslinie oder von Yidams, ihren persönlichen Meditationsgottheiten, als ständige Erinnerung an deren Präsenz über ihren Schrein. Die Anfertigung eines Thangka kann, wenn sie nicht als reines Handwerk angesehen wird, schon in sich selbst ein religiöses Ritual und Teil der spirituellen Übung sein. Die Gestaltung hält sich an bestimmte festgelegte Regeln: mit Ausnahme von Landschaftselementen und anderen Formen der Ausschmückung ist der individuelle künstlerische Selbstausdruck so gut wie nicht erlaubt. Insbesondere die Gottheiten müssen nach bestimmten Richtlinien gemalt werden, damit die beabsichtigte Wirkung im Rahmen der spirituellen Praxis erreicht wird. Bereits der ganze Malprozess wird als eine Meditationsübung verstanden. Diese Tradition ist bis heute ungebrochen erhalten geblieben, und auch die Techniken dürften sich seit Jahrhunderten so gut wie nicht verändert haben. E INFÜHRUNG Urheberrechtlich geschütztes Material 7 Elemente der tibetischen Ikonographie Tibet war in allen Himmelsrichtungen von kulturell wie künstlerisch hoch entwickelten Ländern umgeben. Keine Kultur – auch nicht die tibetische – entwickelt sich in einem Vakuum. Daher spiegeln sich in der tibetischen Kunst viele Einflüsse der benachbarten Zivilisationen wider. König Trisong Detsen lud im 8. Jahrhundert Künstler und Kunsthandwerker aus Indien, China, Nepal, Kaschmir, Persien und Khotan nach Tibet ein. Bei der Errichtung von Samyê, dem ersten buddhistischen Tempel auf tibetischem Boden, soll der untere Teil im tibetischen Stil, der mittlere Teil mit einem chinesischen und der obere Teil mit einem indischen Dach erbaut worden sein. In der Thangka-Malerei sind vor allem künstlerische Einflüsse aus der indischen und der chinesischen Kunst in die Darstellung eingeflossen. Was sie von indischen oder chinesischen Darstellungen vor allem unterscheidet, erklärt sich aus den besonderen Umständen, auf die der Buddhismus bei seiner Einführung in Tibet traf, und aus den schamanischen Elementen, die aus der vorbuddhistischen BönReligion integriert worden sind. Die verschiedenen Kunststile, die es auch in der Thangka-Malerei gibt, sind letztlich aber dem Inhalt untergeordnet, denn es handelt sich hier um eine visionäre Kunst, die durch Bildsymbole den Zugang zu einer geistigen Welt und letztlich zu der Natur des Geistes eröffnen will. Die Vielfalt der dargestellten Thangka-Motive kann in sechs allgemeine Themengruppen unterteilt werden: 1. Erleuchtete Wesen: Dazu gehören Buddhas, Bodhisattvas und Gurus. Sie werden visualisiert, um Zuflucht zu nehmen und Bodhichitta zu entwickeln, sind ein Objekt der Hingabe und stellen die Verbindung zu der spirituellen Übermittlungslinie her. – Siehe dazu auch die beiden Abschnitte „Die Drei Körper eines Buddha“ und „Die Fünf Buddha-Familien“ weiter unten. 2. Yidams: Bei einem Yidam handelt es sich um eine persönliche Meditationsgottheit, die in Übereinstimung mit der seelisch-geistigen Beschaffenheit des Praktizierenden oder auch als komplementäre Ergänzung für die ihn charakterisierende Ausdrucksform der Buddha-Natur steht. Dadurch kann der Schüler seine grundlegende Energie erkennen und durch seine Praxis die Vereinigung mit den Qualitäten des Yidam verwirklichen. 8 E INFÜHRUNG Urheberrechtlich geschütztes Material 3. Dharmapalas: Dies sind Hüter der Lehre, die den Dharma kollektiv gegen äußere Feinde, individuell aber auch den Praktizierenden vor Illusionen und Abwegen in seiner Praxis beschützen. In der Form von Lokapalas werden sie als Aspekte des nationalen Ego betrachtet, die nicht nur die Lehre, sondern auch den Ort bzw. das Land schützen. 4. Illustrationen der Lehre: Das bekannteste Beispiel aus dieser Gruppe ist das Lebensrad. Auch die Abbildungen zu den Medizin-Tantras und die symbolischen Opfergaben für die fünf Bewusstseinsformen der Sinne fallen in diese Kategorie 5. Mandalas und Stupas: Ein Mandala ist eine symbolische Darstellung kosmischer Kräfte, meist durch eine Meditationsgottheit verkörpert, die zahlreiche Elemente zu einer geordneten Einheit zusammenführt. Ein Stupa ist eine symbolische Darstellung von Buddhas Körper, Rede und Geist in Form eines nach der buddhistischen Kosmologie und den Fünf Elementen konzipierten Reliquienschreins. Beide Darstellungen können auch dreidimensional sein. 6. Yantras: Ein Yantra ist ein geometrisches Muster, das Elemente aus der Ikonographie in zumeist abstrahierter Form abbildet. Die Drei Körper eines Buddha Die Vielzahl von Erscheinungsformen auf tibetischen Thangkas steht auch mit der Trikaya-Lehre von den „Drei Körpern“ eines Buddha in Verbindung. Ein Buddha kann in vielerlei Formen Gestalt annehmen, um die Wesen in verschiedenen Daseinsbereichen zu fördern. Ein Wesen, das den Buddhazustand verwirklicht, erlangt damit gleichzeitig auch drei verschiedene Körper: Der Dharmakaya oder „Körper der Wahrheit“ entspricht der reinen Erkenntnis eines Buddha und verkörpert den Aspekt der Leerheit seines Geistes; diese Ebene ist zumeist formlos und manifestiert sich nur in Gestalt eines Ursprünglichen Adi-Buddha (Vajradhara/Vajrasattva und Samantabhadra). Der Sambhogakaya oder „Körper der Glückseligkeit“ stellt eine feinstoffliche Dimension der Freude und Harmonie dar und entspricht der Klarheit und dem Glanz E INFÜHRUNG Urheberrechtlich geschütztes Material 9 des Geistes; auf dieser Ebene manifestieren sich die meisten Meditationsgottheiten. Der Nirmanakaya oder „Ausstrahlungskörper“ bezeichnet die Erscheinungsform eines Buddha in unserer grobstofflich-materiellen Welt und entspricht der Verkörperung der unbeschränkten Energie und Dynamik des Geistes; hier manifestieren sich Lehrer wie beispielsweise Buddha Shakyamuni und Guru Padmasambhava. Verbale Erklärungen dürften gewöhnlich nicht ausreichen, um erkennen zu können, dass sich bereits in der Erscheinungswelt auch die höchste Realität manifestiert. Vor allem mit den Darstellungen auf der Ebene des Sambhogakaya illustriert die Thangka-Malerei bildhaft diese Erkenntnis und vermittelt die Sichtweise, in der Erscheinungswelt Schönheit, Vollkommenheit und das Potential für Verwirklichung wahrzunehmen. Die Fünf Buddha-Familien Die fünf Prinzipien der Buddha-Familien sind wesentlich für das Verständnis der Meditationsbilder und gehören zu den Grundlagen der tantrisch-buddhistischen Praxis. Sie bilden das Mandala mit Vajra im Osten, Ratna im Süden, Padma im Westen, Karma im Norden und Buddha im Zentrum. In ihnen verkörpert sich jeweils ein Prinzip, das wie eine Münze zwei Seiten hat: Die verwirrte oder neurotische Form von Energie wird in Weisheitsenergie verwandelt. Diese erwachten Bewusstseinsformen werden auf der Sambhogakaya-Ebene durch fünf transzendente Dhyani-Buddhas verkörpert, die alle Manifestationen des einen Buddha-Prinzips sind. Als ihre praktischen Helfer und Vermittler fungieren die Bodhisattvas und Yidams auf der Sambhogakaya-Ebene. Vajra steht mit dem Element Wasser und der Farbe Weiß in Verbindung; der DhyaniBuddha ist Akshobhya, das Symbol das unzerstörbare Diamantzepter. Die Energie des Zorns wird in Spiegelgleiche Weisheit umgewandelt. Ratna wird mit dem Element Erde und der Farbe Gelb assoziiert; der DhyaniBuddha ist Ratnasambhava, das Symbol der Wunscherfüllende Edelstein. Stolz und Arroganz werden in die Weisheit des Gleichmuts verwandelt. Padma steht mit dem Element Feuer und der Farbe Rot in Verbindung; der DhyaniBuddha ist Amitabha, das Symbol der Lotos. Die Energie von Leidenschaft, Begehren und Anhaftung wird in Unterscheidende Weisheit verwandelt. 10 E INFÜHRUNG Urheberrechtlich geschütztes Material Karma ist mit dem Element Wind und der Farbe Grün verbunden; der DhyaniBuddha ist Amoghasiddhi, das Symbol entweder ein Schwert oder ein doppelter Vajra. Die neurotische Energie der Eifersucht wird in Allesvollendende Weisheit verwandelt. Buddha im Zentrum gehört zum Äther oder Raum mit der Farbe Blau; der DhyaniBuddha ist Vairochana, das Symbol das Rad des Dharma. Unwissenheit wird in Allesdurchdringende Weisheit verwandelt. Zur Rolle der Gottheiten im tibetischen Buddhismus Nahezu jedes tibetische Ritual, jede Sadhana-Praxis schließt die Verbindung zu einer „Gottheit“ ein – mit einem vollkommen reinen und strahlenden Wesen der Erleuchtung, mit einem Aspekt der Buddha-Natur. Wie sind diese Gottheiten mit der durchaus logisch aufgebauten buddhistischen Philosophie vereinbar? Nach Ansicht von Dagyab Kyabgön Rinpoche lässt der Buddhismus keinen Raum für abergläubische Vorstellungen, doch sind bestimmte Denkweisen und Praktiken aus dem Bön sowie aus der diesem vorausgehenden Naturreligion in ihn eingeflossen. In positiven Kräften der fünf Elemente wurden „Götter“, in schädlichen „Dämonen“ gesehen. Folgerichtig entstanden Praktiken, um die Götter zu verehren und die Dämonen zu vertreiben. Dazu gehören religiöse Bräuche, Bittgebete, Opfergaben, Praktiken zur Heranziehung von Glück und zur Schadensabwehr, Reinigungs- und Totenrituale, zornvolle Praktiken und bestimmte Schützerrituale usw. Diese alten Bräuche, die bis heute von großen Gelehrten bis hin zum einfachen Volk praktiziert werden, müssen im buddhistischen Kontext aber stets vom „Salz des Bodhichitta“ und dem „Gewürz der Leerheit“ geprägt sein. Gerade im Zusammenhang mit den vielen Gottheiten in der Bilderwelt und Praxis des tibetischen Buddhismus ist das Verständnis von Leerheit besonders wichtig. Sie ist nicht gleichbedeutend mit einem „Nichts“, sondern geht aus dem Gesetz des Abhängigen Entstehens und der Substanzlosigkeit aller Erscheinungen hervor in dem Sinne, dass diese, weil sie eben nur in wechselseitiger Abhängigkeit existieren, „leer“ von einer absoluten Wirklichkeit sind. Für ein besseres Verständnis wird gerne der Vergleich mit dem Traum herangezogen, dessen Bilder sich verflüchtigen, sobald E INFÜHRUNG Urheberrechtlich geschütztes Material 11 wir aus dem Schlaf erwacht sind. Werden aufgrund von Unwissenheit die Dinge und Erfahrungen für real gehalten, obwohl sie nur wie Träume sind, erwächst daraus Leiden. Die Erkenntnis ihrer Leerheit ist Weisheit: Wenn sich der Praktizierende in der Vajrayana-Praxis selbst in Form von verschiedenen Gottheiten visualisiert, können alle Dinge ihrer Natur nach leichter als „leer“ erkannt werden; und da Weisheit und Methode zusammengehören, erwächst aus dieser Erkenntnis spontanes Mitgefühl. Die geschickten Mittel der Vajrayana-Praxis Nach außen praktiziere die reine Lebensführung und die grundlegenden Lehren Buddhas. Dann entwickle Bodhichitta und sei im Herzen ein Bodhisattva. Im Innersten gehe den Weg der Transformation und praktiziere die geschickten Mittel des Vajrayana. (Patrul Rinpoche) Nach der sowohl intellektuellen als auch meditativen Schulung auf der Stufe des Hinayana und Mahayana folgt auf der Stufe des Vajrayana die tantrische Praxis. Diese setzt eine Vielfalt von Meditationsmethoden ein, um den Praktizierenden rasch das Ziel des vollkommenen Erwachens zum Wohle aller fühlenden Wesen erreichen zu lassen. Sie beginnt im Allgemeinen mit den vier Vorbereitenden Übungen des Ngöndro und setzt sich mit der Meditation auf eine persönliche Gottheit, den Yidam, fort. Alle diese Übungen werden von Visualisierungen begleitet. Diese sind kein Selbstzweck, sondern sie dienen dem Austausch der gewöhnlichen inneren Bilder, Gedanken und geistigen Prägungen durch heilsamere Inhalte. Die tibetische Thangka-Malerei ist vor allem zur Unterstützung für die Technik der Visualisierung entwickelt worden. Ziel der Visualisierung ist nicht, dass wir irgendeine äußere Gottheit verehren; vielmehr soll uns diese zur Vergegenwärtigung und vollkommenen Verinnerlichung einer er12 E INFÜHRUNG Urheberrechtlich geschütztes Material leuchtenden Präsenz verhelfen, die den Prozess der Identifizierung mit einem bestimmten Prinzip der Energie und Inspiration einleiten kann. Bei dieser Kunst ist also nicht, wie sonst üblich, ein eher distanziertes Verhalten zwischen Betrachter und Bild gefordert, sondern das Bild soll den Betrachter dazu anregen, die in ihm dargestellte erleuchtete Form als bestimmte Ebene der Verwirklichung aktiv nachzuvollziehen und sich schließlich damit zu vereinen. Tulku Urgyen, ein zeitgenössischer (1996 verstorbener) Meditationsmeister, hat eine sehr knappe und einprägsame Zusammenfassung des Vajrayana-Pfades gegeben: Das Vajrayana wird einfach deshalb als der schnelle und direkte Pfad zur Erleuchtung bezeichnet, weil es die Praxis der Entwicklungs- und der Vollendungsstufe verbindet – und auf diese Weise geschickte Mittel und Weisheit vereint. Diese Praxis verknüpft die Visualisierung einer Meditationsgottheit mit der Erfahrung der eigenen Geistessenz. Die Schulung des Vajrayana hilft uns zu erfahren, dass alle Erscheinungen „so wie sie sind“, das Buddha-Mandala sind. Um diese Wahrnehmung zu ermöglichen, werden die Sadhanas als Übungsfolgen mit Visualisierungen einer Gottheit und Rezitationen praktiziert. Im Kyerim, auf der Entwicklungsstufe der schrittweisen Visualisierung des äußeren Mandala, wird mit der Anhaftung an die Welt der Form gearbeitet, vor allem mit den Sinneseindrücken, durch welche wir die Erscheinungen für real halten. In der Sadhana-Praxis werden alle Eindrücke als Reines Land und Mandala der Gottheit visualisiert, alle Klänge als Mantra wahrgenommen, alle Gedanken als Ausdruck des Geistes der Gottheit und damit der Leerheit des eigenen Geistes erkannt. Im Dzogrim, der Vollendungsstufe, arbeitet der Praktizierende mit den Energien des inneren Mandala. An die Stelle von geistiger Vorstellungskraft tritt die reine Sicht, bis Innen und Außen in Körper, Rede und Geist integriert werden. Jede formale Sadhana-Praxis beginnt mit der Zufluchtnahme und dem Erwecken von Bodhichitta, dem Erleuchtungsdenken, wird dann mit den Praktiken der Entwicklungs- und Vollendungsstufe als Hauptteil fortgesetzt und mit der Weitergabe von Verdienst und Wunschgebeten für das Wohl anderer abgeschlossen. Auf diese Weise verbindet der Übende die Sutra- mit den Tantra-Lehren und praktiziert die wichtigsten Elemente aller Drei Fahrzeuge „in derselben Übungssitzung, auf demselben Meditationssitz“. 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