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Einführung in die
praktische Philosophie
Vorlesung 2.
Attischer Frühling
Sokrates, Platon und der Beginn der
philosophischen Ethik
Claus Beisbart
TU Dortmund
Sommersemester 2009
399 v. Chr.
Ein Prozess
Ort: Athen
Ankläger: Anytos, Lykon und Meletos
Anklage: Verderben der Jugend und Gottlosigkeit
Angeklagter: Sokrates
“Prozessberichterstatter”: Platon
399 v. Chr.
Ein Prozess
Der Ausgang des Prozesses ist bekannt.
Bekannt ist auch, dass der Prozess eine große
Bedeutung für das Entstehen der westlichen
Philosophie hat.
Weniger bekannt ist, dass der Prozess auch mit den
Anfängen der praktischen Philosophie zu tun hat.
Ziel dieser Vorlesung
Ausgehend vom Prozess um Sokrates möchte ich
zeigen, dass und wie Sokrates und Platon die
praktische Philosophie und die philosophische Ethik
begründet haben.
Quellen
Sokrates selbst hat nichts publiziert.
Hauptquellen zu Sokrates:
1. Platons Dialoge
2. Xenophon
Platon hat vor allem Dialoge geschrieben, in denen
oft Sokrates eine Hauptrolle spielt.
Zitate nach: Platon, Sämtliche Werke (übersetzt von
F. Schleiermacher), Hamburg 1957 – 8
Platons Dialoge
werden oft in drei Gruppen eingeteilt:
Frühdialoge: Kriton, Laches, Charmides, ...
Mittlere
Dialoge:
(Ideenlehre)
Spätdialoge:
Gesetze”)
Politeia
Sophistes,
(“Der
Timaios,
Staat”),
Nomoi
...
(“Die
Die Dialoge deuten an, dass Platon hat seine
philosophischen Positionen während der Zeit stark
verändert hat.
Fokus hier
Da uns die Anfänge der praktischen Philosophie
interessieren, im folgenden Konzentration auf die
Frühdialoge und die “Politeia”
Zumindest für die Frühdialoge ist einigermaßen
wahrscheinlich, dass sie Sokrates' Philosophieren
widerspiegeln.
Die Frage, welchen Beitrag Sokrates, welchen Beitrag
Platon liefert, klammern wir hier aus.
Dialogform
Konsequenz:
Wir können keine Theorie oder kein Lehrgebäude
erwarten. Die platonischen Dialoge haben etwas
Fließendes, oft Irritierendes.
Fokus hier eher: Themen, Fragestellungen und die
Art, wie sie behandelt werden.
1. Ausgangspunkt:
Die Apologie des Sokrates
Apologie des Sokrates: Verteidigungsrede
Sokrates, aufgezeichnet von Platon.
des
Aber was hat das mit praktischer Philosophie zu
tun?
Eine Beobachtung
Sokrates verteidigt sich
offiziellen Anklagepunkte.
nicht
nur
gegen
die
Für ihn basiert die offizielle Anklage auf dem Ruf,
den Sokrates in Athen genießt,
“als gäbe es einen Sokrates, einen weisen Mann,
der den Dingen am Himmel nachgrübelt und auch
das Unterirdische alles erforscht habe und Unrecht
zu Recht mache.”
18b/S. 10
Also: Sokrates wird für einen Weisen (sophos)
gehalten.
Woher kommt der Ruf?
“Ich habe nämlich, Ihr Athener, durch nichts
anderes als durch eine gewisse Weisheit diesen
Namen erlangt. Durch was für eine Weisheit aber?
Die eben vielleicht die menschliche Weisheit ist
[...]”
20d/S. 12
Zeuge
Als Zeugen für seine Behauptung, er habe diese
Weisheit, ruft Sokrates, Apollon, den Gott, der
durch das Orakel in Delphi spricht, auf:
Ein Freund von Sokrates ließ fragen, ob jemand
weiser als Sokrates sei, und das Orakel verneinte
das.
Sokrates' Reaktion
“nachdem ich dieses gehört, gedachte ich bei mir
also: Was meint der Gott und was will er andeuten?
[...] Und lange konnte ich nicht begreifen, was er
meinte; endlich wendete ich mich gar ungern zur
Untersuchung der Sache auf folgende Art. Ich ging
zu einem von den für weise Gehaltenen, um dort,
wenn irgendwo, das Orakel zu überführen und dem
Spruch zu zeigen: Dieser ist doch wohl weiser als
ich, du aber hast auf mich ausgesagt.”
21b-c/S. 12
Das Ergebnis der
Untersuchung
“Im Gespräch mit ihm [einem für weise gehaltenen
Staatsmann] schien mir dieser Mann zwar vielen andern
Menschen und am meisten sich selbst sehr weise
vorzukommen, es zu sein aber nicht. Darauf nun versuchte
ich ihm zu zeigen, er glaubte zwar weise zu sein, wäre es
aber nicht; wodurch ich dann ihm selbst verhaßt ward und
vielen der Anwesenden. Indem ich also fortging, gedachte ich
bei mir selbst, als dieser Mann bin ich nun freilich weiser.
Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas
Tüchtiges und Sonderliches wissen; allein dieser meint etwas
zu wissen, obwohl er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht
weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses
wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß,
auch nicht zu wissen glaube.”
21c-d/S. 12 f.
Zusammenfassung
Inspiriert durch
das Orakel, macht Sokrates
ungedeckte Wissensansprüche offenbar. Daher
denken die Athener, er selber wisse etwas, sei also
ein Weiser, und so entsteht der Ruf des Sokrates in
Athen.
Wissen und Wissensansprüche gehören in die
theoretische Philosophie.
Aber wie sieht es mit der praktischen Seite aus?
Hat die Geschichte mit dem Orakel auch praktische
Konsequenzen?
Praktische Konsequenzen 1
Sokrates sieht es als seine Aufgabe, als sein
Lebensprojekt an, die ungedeckten Wissensansprüche seiner Zeitgenossen aufzudecken.
“Es scheint aber, ihr Athener, in der Tat der Gott [...] mit
diesem Orakel dies zu sagen [...]: Unter Euch,Ihr Menschen,
ist der der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in der
Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt. Dieses nun
gehe ich auch jetzt noch umher nach des Gottes Anweisung
zu untersuchen und zu erforschen, wo ich nur einen für weise
halte von Bürgern und Fremden; und wenn er es mir nicht zu
sein scheint, so helfe ich dem Gotte und zeige, dass er nicht
weise ist.”
23a-b/S. 14
Praktische Konsequenzen 2
Dabei legt Sokrates eine große Kompromißlosigkeit
an den Tag.
Selbst unter der Drohung des Todes will er nicht
aufhören, die vermeintlich Weisen zu befragen.
Aber warum ist Sokrates hier so kompromißlos?
Praktische Konsequenzen 3
a. Sokrates fürchtet den Tod nicht.
“Denn es ist ein Dünkel, etwas zu wissen, was man
nicht weiß. Denn niemand weiß, was der Tod ist,
nicht einmal, ob er nicht für den Menschen das
größte ist unter allen Gütern. Sie fürchten ihn aber,
als wüßten sie gewiß, daß er das größte Übel ist.”
29a/S. 19
Praktische Konsequenzen 4
b. Sokrates hält seine Tätigkeit für etwas Gutes
“Und ich meines Teils glaube, daß noch nie ein größeres Gut
dem Staate widerfahren ist als dieser Dienst, den ich dem
Gott leiste. [...] Denn wenn ihr mich hinrichtet, werdet ihr
nicht leicht einen anderen solchen finden, der ordentlich [...]
von dem Gotte der Stadt beigegeben ist, wie einem großen
und edlen Rosse, das aber eben seiner Größe wegen sich zur
Trägheit neigt und der Anreizung durch einen Sporn bedarf,
wie mich der Gott dem Staat als einen solchen zugelegt zu
haben scheint, der ich euch einzeln anzuregen, zu überrreden
und zu verweisen den ganzen Tag nicht aufhöre, überall euch
anliegend.”
30a-b und 30e-31a/S. 20 f.
Praktische Konsequenzen 5
b. Sokrates sagt auch:
“Denn nichts anderes tue ich, als daß ich umhergehe, um
jung und alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib
und für das Vermögen zuvor noch überhaupt so sehr zu
sorgen wie für die Seele, daß diese aufs beste gedeihe, indem
ich zeige, daß nicht aus dem Reichtum die Tugend entsteht,
sondern aus der Tugend der Reichtum, und alle andern
menschlichen Güter insgesamt, eigentümliche [individuelle]
und gemeinschaftliche.”
30 a-b/S. 20
Praktische Konsequenzen 6
c. Zur Abwägung: Eigenes Leben
Lebensprojekt/den Dienst an Athen
gegen
das
“Vielleicht aber möchte nun einer sagen: Aber schämst du
dich denn nicht, Sokrates, daß du dich mit solchen Dingen
befaßt hast, die dich nun in Gefahr bringen zu sterben? Ich
nun würde diesem die billige Rede entgegnen: Nicht gut
sprichst du, lieber Mensch, wenn du glaubst, Gefahr um
Leben und Told müsse in Anschlag bringen, wer auch nur ein
weniges nutz ist, und müsse nicht vielmehr allein darauf
sehen, wenn er etwas tut, ob es recht getan ist oder unrecht,
ob eines rechtschaffenen Mannes Tat oder eines schlechten.”
28b/S. 19
Praktische Konsequenzen 7
d. Dabei wichtig: das eigene Gewissen.
“Mir aber ist dieses von Kindheit an geschehen,
eine Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie
sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun
will, zugeredet aber hat sie mir nie.”
31d/S. 22
Was ist hier interessant für
die praktische Philosophie?
1. Sokrates verteidigt sich nicht nur gegen die
rechtlichen und offiziellen Vorwürfe, sondern
verteidigt sein Lebensprojekt allgemeiner. Wir
können das als den Versuch ansehen, ein
bestimmtes
Leben,
eine
Lebensform,
ein
Lebensprojekt mit Argumenten als richtig oder gut
herauszustellen.
2. Sokrates ist eine konsequente, moralisch
integere
und
daher
vielleicht
auch
bewunderungswürdige Person. Er stellt sein
eigenes Schicksal dem der guten Sache (seinem
Dienst an Athen) hintan.
Was ist hier interessant für
die praktische Philosophie?
3. Die Gespräche, die Sokrates führt, müssen eine
praktische Dimension besitzen, anders könnte
Sokrates nicht behaupten, er ermahne die
Gesprächspartner zur Tugend.
4. Sokrates ist davon überzeugt, dass man vor
allem das Richtige tun muss, ja sogar, dass
Unrechtleiden besser ist als Unrecht tun. Das klingt
paradox! Wie begründet er das?
Im folgenden möchte ich diese beiden Punkte
genauer besprechen.
2. Die Fragestellung des
Sokrates
In vielen der (Früh)dialoge Platons lenkt Sokrates
das Gespräch auf eine Frage der Art:
Was ist X?
wobei X eine Tugend ist.
Beispiele:
Laches: Was ist Tapferkeit (andreia)?
Charmides: Was ist Besonnenheit (sophrosyne)?
Euthyphron: Was ist Frömmigkeit?
Politeia: Was ist Gerechtigkeit?
Was soll die Frage?
Oft beantworten die Gesprächspartner die Frage,
indem sie Beispiele von tapferem etc. Verhalten
nennen.
“Sokrates: So sage also, was du behauptest, daß
das Fromme sei, und was das Ruchlose.
Euthyphron: Ich sage eben, daß das fromm ist, was
ich jetzt tue, den Übeltäter nämlich [...] zu
verfolgen, sei er auch Vater oder Mutter oder wer
sonst immer; ihn nicht verfolgen aber ruchlos.”
Euthyphron, 5d/S. 182
Was soll die Frage?
Sokrates ist mit solchen Antworten nicht zufrieden.
“Sokrates: Oder ist nicht das Fromme in jeder
Handlung sich selbst gleich und das Ruchlose
widerum allem Frommen entgegengesetzt und sich
selbst ähnlich, so daß alles, was ruchlos sein soll,
soviel nämlich seine Ruchlosigkeit betrifft, eine
gewisse Gestalt hat? [...]
Du erinnerst Dich doch, daß ich Dir nicht dieses
aufgab, mich einerlei oder zweierlei von dem vielen
Frommen zu lehren, sondern jenen Begriff selbst,
durch welchen alle Fromme fromm ist.”
Euthyphron, 5d/S. 182 und 6d/S. 184
Was soll die Frage?
Sokrates
möchte
offenbar
eine
allgemeine
Begriffsbestimmung der Frömmigkeit – eine
Begriffsbestimmung,
die
das
Wesen
der
Frömmigkeit auf den Punkt bringt.
Im griechischen Original steht hier für “Begriff”
“idea” - die Idee.
Im Dialog “Euthyphron” kommt das Wort “Idee”
zum ersten Mal in diesem Zusammenhang vor.
Die
Ideenlehre
gehört
also
in
diesen
Zusammenhang.
Sokrates' Leistung
Sokrates plädiert für eine begriffliche Behandlung
von Fragen, welche die Lebensführung betreffen.
Wenn
Philosophie ein Nachdenken ist und
praktische Philosophie ein Nachdenken über das
gute Leben ist,
Nachdenken der Begriffe bedarf,
dann
brauchen wir braucht praktische Philosophie
Begriffe, mit denen wir über unser Leben
nachdenken können.
Begriffe wie Gerechtigkeit sind solche Begriffe.
Sokrates' Leistung
Cicero beschreibt die historische Leistung von
Sokrates so:
“Sokrates hat als erster die Philosophie vom
Himmel herunter gerufen, sie in den Städten
angesiedelt, sie sogar in die Häuser hineingeführt,
und sie gewzungen, nach dem Leben, den Sitten
und dem Guten und Schlechten zu forschen.”
Tusculanae Disputationes V.10
zitiert nach Zürich 1991, 215
Sokrates' Leistung
Mit dem Himmel spielt Cicero auf die ionischen
Naturphilosophen an (etwa Thales von Milet).
Diese
beschäftigten
sich
in
begrifflichsystematischer Weise mit der Welt, dem Kosmos,
insbesondere auch den Sternen (daher spricht
Cicero vom Himmel). Sie kamen etwa zu Thesen
wie “Alles ist (eigentlich) Wasser”. Diese Thesen
kann man als Antwort auf die Frage auffassen, was
denn die Dinge in der Welt (wirklich) sind. Sokrates
wendet die “Was ist”-Frage auf Wörter an, die für
unsere Praxis wichtig sind. Damit holt er die
Philosophie
vom
Himmel
der
ionischen
Naturphilosophen.
Sokrates' Leistung
In seiner “Kulturgeschichte Griechenlands” spricht
E.
Friedell
in
Anbetracht
der
ionischen
Naturphilosophen vom Ionischen Frühling.
In Hinblick
auf die Ethik können wir sagen,
Sokrates habe einen attischen (zu Athen gehörigen)
Frühling in der praktischen Philosophie bewirkt.
Sokrates' Leistung
Aristoteles äußert sich ähnlich über Sokrates:
“Nun beschäftigte sich damals Sokrates mit den
sittlichen Tugenden und suchte zuerst über sie
allgemeine Begriffe aufzustellen.”
Metaphysik 1078b, Hamburg 1991, 3. Auflage (Bonitz/Seidl), s. 289
Nebenbemerkung
Was legitimiert Sokrates, das begriffliche Denken
für praktische Fragen stark zu machen und nach
Definitionen von Tugenden zu fragen? Wozu ist das
gut?
Offensichtliche Antwort: Wenn wir mit Begriffen
über unser Leben, Handeln etc. nachdenken, dann
wird unser Leben und Handeln besser, dann
können wir auch anderen besser Rat erteilen.
Beleg
“Denn wenn wir etwa ganz und gar nicht wüßten
von der Tugend, was sie eigentlich ist, wie könnten
wir wohl jemandem Rat darüber erteilen, auf
welche Weise er sie am besten erwerben möge?”
Laches, 190b-c/S. 163
Nebenbemerkung, Fs.
Oft wollen wir die praktische Frage beantworten.
Wie wir gesehen haben, sind nicht alle Antworten
auf die praktische Frage gleich gut – wir wollen die
richtige, die angemessene Antwort.
Wir müssen diese durch Überlegen herausfinden.
Dieses Überlegen bedarf spezieller Begriffe –
praktischer Begriffe wie “Zivilcourage” (vgl. “Was
tun? - Du solltest an diesem Punkt Zivilcourage
zeigen und ... tun.”)
Unsere Überlegungen und Antworten auf die
praktische Frage werden besser, wenn wir die
Begriffe besser verstehen.
3. Unrecht tun und leiden
Wir wenden uns jetzt einer zentralen These zu, die
Sokrates und Platon vertreten:
Unrecht zu erleiden ist besser als
Unrecht zu tun.
3a. Zum Kontext
Gegen wen richtet sich die These?
Antwort: gegen die Sophisten.
In vielen der platonischen Dialogen setzt sich
Sokrates mit Sophisten auseinander.
Historisch etwa Gorgias von Leontinoi.
Wer sind die Sophisten?
Buchheim: “Die Sophistik als Avantgarde [...]”
Die Sophisten lehren gegen Geld Rhetorik und
verwandte Künste.
Grundlegend für ihre Auffassungen
Gegensatz zwischen nomos und physis.
ist
der
Nomos griech. Gesetz
Physis griech. Natur
“Kallikles: Denn diese beiden stehn sich größtenteils
entgegen, die Natur und das Gesetz”
Gorgias, 482e/238
Gesetze
1. Naturgesetze. Beispiel: Zwei Massen ziehen sich
mit einer Kraft an, die dem Quadrat des Abstands
zwischen ihnen umgekehrt proportional ist
(Newtonsches Gravitationsgesetz). Kant: Gesetze
der Natur.
2. Normen. Beispiele:
a. gesellschaftliche Normen (der Herr öffnet der
Dame die Tür)
b. rechtliche Normen (Rechtsfahrgebot)
c. Moralische Normen (Ein Versprechen muss man
halten) Kant nennt moralische Normen Gesetze
der Freiheit, auch Sittengesetz
Mit dem nomos meinen die Sophisten Normen
Was denken die Sophisten?
“[Kallikles:] die die Gesetze geben, das sind die Schwachen
und der große Haufe. In Beziehung auf sich selbst also und
das, was ihnen nützt, bestimmen sie die Gesetze und das
Löbliche, was gelobt, das Tadelhafte, was getadelt werden
soll; und um kräftigere Menschen, welche mehr haben
könnten, in Furcht zu halten, damit diese nicht mehr haben
mögen als sie selbst, sagen sie, es sei häßlich und
ungerecht, für sich immer auf mehr auszugehen. [...] Die
Natur selbst aber, denke ich, beweist dagegen, daß es
gerecht ist, daß der Edle mehr habe als der Schlechtere und
der Tüchtigere mehr als der Untüchtige. [...].”
Gorgias, 483b-d/S. 239
Was denken die Sophisten?
Nomos: Gesetze und Normen sind letztlich vom
Menschen (von der Mehrheit der Menschen)
gemachte Artefakte
Physis: Die Natur hat ihr eigenes “Recht/Gesetz”:
das Recht des Stärkeren.
Hinter diesem Gegensatz steht eine bestimmte
Erfahrung.
Pluralismus
In Athen wusste man von anderen Kulturen, in
denen andere Gesetze und Normen gelten. Dabei
geht
es
nicht
nur
um
Normen
des
gesellschaftlichen Umgangs (grüßen wir eine
Person mit der rechten oder der linken Hand oder
spucken wir ihr zur Begrüßung in die Hand?).
Auch moralische Normen sind betroffen, vgl. etwa
den Umgang mit Älteren.
Deskriptiver Pluralismus: Unterschiedliche Kulturen
haben
unterschiedliche
Gesetze,
Normen,
Vorstellungen darüber, was gut ist.
Was bedeutet der
Pluralismus?
Eine mögliche Erklärung für den beschriebenen
Pluralismus lautet, dass Gesetze einfach willkürliches
Menschenwerk sind. Es gibt keine besseren oder
schlechteren Gesetze.
Die Sophisten bevorzugen diese Erklärung.
Es gibt aber auch andere Erklärungen:
1. Unterschiedliche Kulturen befinden sich nach der
Suche nach dem guten Leben und erkennen
unterschiedlich gut, was wirklich gut ist, welche
Gesetze gelten sollten.
2. In verschiedenen Umständen (etwa geographischer
Art) sind unterschiedliche Gesetze angemessen.
Die praktischen
Konsequenzen
“[Kallikles:] Wenn aber einer mit einer recht tüchtigen Natur
zum Manne wird: so schüttelt er das alles ab, reißt sich los,
durchbricht und zertritt all unsere Schriften und Gaukeleien
und Besprechungen und widernatürlichen Gesetze und
steht auf, offenbar als unser Herr.”
Gorgias, 484a/S. 239
Die praktischen
Konsequenzen
“[Kallikles:] Sondern das ist eben das von Natur Schöne und
Rechte, was ich dir nun ganz freiheraus sage, daß, wer
richtig leben will, seine Begierden muß so groß werden
lassen als möglich und sie nicht einzwängen; und diesen,
wie groß sie auch sind, muß er dennoch Genüge zu leisten
vermögen durch Tapferkeit und Einsicht und befriedigen,
worauf seine Begierde jeweils geht. [...] Üppigkeit und
Ungebundenheit und Freigebigkeit, wenn sie nur Rückhalt
haben, sind Tugend und Glückseligkeit; jenes andere aber
sind
Zierereien,
widernatürliche
Satzungen,
leeres
Geschwätz der Leute und nichts wert.”
Gorgias, 491e-492a/S. 247
Das Problem
Wir haben rechtliche und moralische Normen, die uns einen
gewissen Respekt vor den anderen und manchmal auch
Leistungen gegenüber den anderen gebieten. Das Befolgen
dieser Normen schränkt oft das ein, was wir zu unserem
eigenen Vorteil tun können. Beispiel: Wenn ich meine
Steuer ehrlich zahle, dann kommt das sozial Schwächeren
zugute, aber das Geld, das ich als Steuer zahle, kann ich
nicht für einen schönen Urlaub aufwenden.
Die meisten von uns halten sich aber an diese Normen und
akzeptieren sie auch ein Stück weit innerlich.
Die Sophisten stellen diese Gesetze radikal als Menschenwerk
infrage (akzeptieren sie daher nicht mehr innerlich) und
empfehlen, den Gesetzen und moralischen Vorstellungen
zuwider zu handeln.
Ein Problem, Fs.
Problem:
Wie können wir die Sophisten davon überzeugen, daß sie
falsch liegen?
Wie können wir sie argumentativ dazu bringen, sich an die
gängigen moralischen Gesetze zu halten?
Wohlgemerkt: Argumentation ist vielleicht gar nicht die einzig
richtige Reaktion. Vielleicht sollten wir die Sophisten einfach
ins Gefängnis werfen (sofern sie Unrecht tun).
Nur: Wenn wir das tun, dann würden wir gerne sicher sein,
dass wir recht haben! Dazu müssen wir uns argumentativ
mit den Sophisten auseinandersetzen.
Terminologie
Eine Person, die nur den eigenen Wohlbefinden
dient und sich dabei nicht um andere schert,
heißt ein radikaler Egoist.
Eine Person, die sich nicht durch moralische
Vorschriften gebunden fühlt, heißt Amoralist.
Kallikles scheint ein
Amoralist zu sein.
radikaler
Egoist
und
ein
Ebenso Thrasymachos in der “Politeia”
Im folgenden geht es also Argumente gegen den
radikalen Egoismus und den Amoralismus zu
finden.
Ein Standardargument
gegen den Amoralisten
“Irgendwann wird die Polizei herausfinden, was Du tust, und
(insofern Du gegen geltendes Recht verstoßen hast) Dich
ins Gefängnis werfen.”
Problem: Das Standardargument gilt nur dann, wenn die
Polizei heraufindet, was der Egoist tut, und ihn verfolgt.
Idee der Sophisten: Ein Tyrann (Alleinherrscher), der einen
Stadtstaat beherrscht, wird nicht mehr durch die Polizei
verfolgt. (vgl. auch die Geschichte mit dem Ring des Gyges,
Politeia II)
Daher: Ein Tyrann müsste man sein ... Das Leben eines
Tyrannen als Ideal eines guten Lebens.
Stimmt das wirklich?
Wie können wir vielleicht
doch zeigen, dass nur ein
Leben im Einklang mit der
üblichen
Moral,
den
üblichen Gesetzen etc. ein
gutes Leben ist?
Sokrates und Platon haben
Argumente
Unterscheide zwei Teile von Kallikles' Position.
I. Positives Lebensideal: Richtig und gut zu leben
heißt, die eigenen Gelüste so weit als möglich zu
befriedigen.
II. Negativ gegen den nomos (die Moral etc.):
Richtig und gut zu leben, bedeutet nicht, gerecht
zu sein (im Sinne von: den üblichen Vorschriften
von Moral etc. folgen)
I. Gegen das Lebensideal
von Kallikles
a. Bildhaft:
Wer nur seinen Begehrlichkeiten nachgeht, gleicht
einem löchrigen Fass, das nichts behalten kann.
Dieses Bild soll das Lebensideal des Kallikles
diskreditieren.
Gorgias, 493e - 494c
I. Gegen das Lebensideal
von Kallikles
b. Reductio ad absurdum:
Wenn es nur auf die Befriedigung der eigenen
Begehrlichkeiten und die dabei entstehende Lust
ankommt, dann könnte das richtige, gute Leben
im bloßen Sich-Jucken bestehen. Das ist aber
offenbar absurd.
Gorgias, 494c – 495b
I. Gegen das Lebensideal
von Kallikles
c. Kallikles' Ideal geht offenbar davon aus, dass das
Gute mit dem Angenehmen oder Lustvollen
identisch ist. Das Gute und das Angenehme
können nicht zusammenfallen, da es eine
Strukturverschiedenheit gibt.
Ein Leben kann nicht zugleich gut und nicht gut
sein.
Das Löschen von Durst zum Beispiel ist zugleich
angenehm (insofern der Durst verschwindet) und
nicht angenehm (insofern noch etwas Durst
vorhanden ist).
Gorgias, 496 d – 497 d
I. Gegen das Lebensideal
von Kallikles
Etwas allgemeiner: Zum richtigen Leben gehören
offenbar Lust und Unlust. Das richtige, gute Leben
muss zumindest die Lust und Unlust auf lange
Sicht in einen Gesamtzusammenhang des Lebens
integrieren.
I. Gegen das Lebensideal
von Kallikles
d.
Wir unterscheiden oft
unguter Lust und wählen
höherwertige Lust. Das
Gesichtspunkt des Guten
wir die Lust um des Guten
zwischen guter und
dann die bessere oder
heißt aber, dass der
vorrangig ist und dass
willen erstreben.
Gorgias, 499 c – 500 a
II. Für die Gerechtigkeit
1. Der Mensch hat nicht nur eine Leib, sondern auch
eine Seele.
2. Wir brauchen die Seele für ein gutes Leben.
3. Genau wie der Leib Aufgaben hat, die er am
besten
erfüllt,
wenn
er
die
für
ihn
charakteristischen
positiven
Eigenschaften
aufweist, so hat die Seele Aufgaben, die sie am
besten
erfüllt,
wenn
sie
die
für
sie
charakteristischen
positiven
Eigenschaften
aufweist.
4. Die für die Seele charakteristischen positiven
Eigenschaften sind die Tugenden, unter anderem
die Gerechtigkeit.
Politeia, Buch I
Textstelle zu 3.
“Und sage mir also, dünkt dich wohl etwas das
Geschäft des Pferdes zu sein? - O ja. - Und
würdest du nicht das als Geschäft des Pferdes
und so auch jedes andern Dinges aufstellen, was
einer entweder nur mit jenem allein oder doch
mit ihm am besten verrichten kann? - Ich
verstehe nicht, sagte er. - Aber so: Kannst du
wohl mit etwas anderem sehen als mit den
Augen? - Wohl nicht – Und wie? Mit etwas anderm
hören als mit den Ohren ? - Keineswegs. - Mit
Recht also würden wir dies für die Geschäfte
dieser Teile erklären. - Freilich.”
Politeia, 352 d-e/S. 94
Textstelle zu 2./3.
“Und scheint dir nicht auch jegliches eine Tugend
zu haben, dem ein Werk aufgetragen ist. Die
Augen haben doch ein Geschäft? - Das haben sie.
- Gibt es nun nicht auch eine Tugend der Augen? Auch eine Tugend. - [...] Können wohl die Augen
ihr eigentümliches Geschäft gut verrichten, wenn
sie ihre eigentümliche Tugende nicht haben,
sondern statt der Tugend Schlechtigkeit? - Und
wie doch, sagte er.”
Politeia 353b-c/S. 94
Textstelle zu 2./3.
“Hat auch die Seele ihr Geschäft, was du mit gar
keinem anderen Dinge verrichten könntest, wie
zum Beispiel dergleichen: besorgen, beherrschen,
beraten und alle dieser Art, könnten wir dies mit
Recht irgend etwas anderem zuschreiben als der
Seele und behaupten, daß es jenem eigentümlich
sei? - Keinem anderen. - Wie nun aber leben?
Wollen wie dies auch für ein Geschäft der Seele
erklären? - Ganz vorzüglich ja, sagte er. - Also
auch, daß es eine Tugend der Seele gebe? - Das
sagen wir.”
353d/S. 95
Gerechtigkeit
Aber warum ist Gerechtigkeit eine Tugend?
Argument (Politeia I, 348 b – 350 c): Die Guten
wollen nur den Schlechten voraus sein, die
Schlechten aber sowohl den Guten als auch den
Schlechten.
Mit den Gerechten verhält es sich ebenso.
Daher ist die Gerechtigkeit etwas Gutes oder eine
Tugend.
Andere Plausibilisierung: Vgl. einen ungerechten
Staat. In ihm wird es zu Bürgerkriegen etc.
kommen, und der Staat kann seine Aufgaben
nicht mehr erfüllen. Ebenso ergehe es der
ungerechten Seele (351c - 352d).
Die Konstruktion der
“Politeia”
Isomorphie-Annahme: Die menschliche Seele und der Staat
sind strukturgleich.
Plausibilisierung: Sowohl die Seele als auch den Staat können
wir gerecht nennen.
“Gerechtigkeit, sagen wir doch, findet sich an einem einzelnen
Manne, findet sich aber auch an einer ganzen Stadt. Freilich, sagte er. - Und größer ist doch die Stadt als der
einzelne Mann? - Größer, sagte er. - Vielleicht ist also mehr
Gerechtigkeit in dem Größeren und leichter zu erkennen.
Wenn ihr also wollte, so untersuchen wir zuerst an den
Staaten, was sie wohl ist, und dann wollen wir sie so auch
an den einzelnen betrachten.”
Politeia II, 368e – 369a/S. 106
Aufbau “Politeia”
Die Entstehung und der Aufbau eines idealen Staates wird
untersucht, dann werden die Ergebnisse auf die
menschliche Seele übertragen.
Die Isomorphie
Der Staat:
Stände:
Herrscher
Wächter
Gerechtigkeit
heißt hier und dort:
Jeder Teil tut das,
was ihm zusteht
(jedem das Seine)
Kaufleute/Handwerker
Die Seele:
Teile:
Vernunft
Zornmütiges
Begehrungsvermögen
Gerechtigkeit
heißt also Ordnung
Die Isomorphie
Der Staat:
Stände:
Herrscher
Was bedeutet
“Jedem das Seine”?
Vernunft herrscht mit
Hilfe des Zornmütigen.
Die Seele:
Teile:
Vernunft
Wächter
Zornmütiges
Kaufleute/Handwerker
Begehrungsvermögen
Kardinaltugenden
Der Staat, der konstruiert wurde, ist
weise, tapfer, besonnen und gerecht.
Wo sind diese Tugenden zu lokalisieren?
Und was lässt sich für den Einzelnen
lernen?
Kardinaltugenden
Der Staat:
Die Seele:
Stände:
Teile:
Herrscher
Weisheit
Vernunft
Wächter
Taperkeit
Zornmütiges
Kaufleute/Handwerker
Begehrungsvermögen
Besonnenheit
Gerechtigkeit
(betreffen Verhältnis
der Stände/Teile)
Warum gerecht sein?
Ohne diese Ordnung lebt die Seele in Feindschaft
mit sich selbst und ist nicht in der Lage zu tun,
was sie tun soll.
“ganz lächerlich doch scheint mir wenigstens nun schon diese
Untersuchung [ob man gerecht leben sollte] zu werden,
wenn man doch, sobald die Natur des Leibs verderbt ist,
glaubt nicht leben zu können, auch nicht mit allen Speisen
und Getränken und allem Reichtum und aller Gewalt; wenn
aber die Natur dessen, wodurch wir doch eigentlich leben,
in Unordnung und verderbt ist, ob man dann leben soll,
wenn einer nur alles andere tun kann, was er will, außer das
nicht, wodurch
er eben die Schlechtigekt und
Ungerechtigkeit loswerden und zur Gerechtigkeit und
Tugend gelangen könnte.”
Politeia IV, 445a-b/S. 170
Zusammenfassung
Fragestellung: Wie können wir argumentativ mit
einem Amoralisten oder Egoisten umgehen und
ihn davon überzeugen, dass er ein gerechtes
Leben im Einklang mit den moralischen etc.
Normen führen sollte?
Platons Idee: Gerechtigkeit ist eine Eigenschaft der
Seele, sie macht die Seele gut, wobei die Seele
das Prinzip des Lebens ist.
Etwas plakativer: Wer nicht gerecht lebt, lebt nicht
wirklich gut, weil die Seele in Ordnung ist und
Schaden nimmt.
Zusätzlich:
Sokrates ist von der Unsterblichkeit der Seele
überzeugt.
In mehreren Dialogen finden sich Beweise für die
Unsterblichkeit der Seele (etwa Phaidon).
Sokrates entwickelt Szenarien, in denen die Seele
nach dem körperlichen Tod nach ihrem bisherigen
Leben belohnt/bestraft wird (Politeia X).
Zusammenfassung der
Vorlesung
Wir haben die Beginne der philosophischen Ethik
verfolgt.
Wir haben gesehen, wie Sokrates (Platon)
- begriffliches Denken auf Fragen der Lebenspraxis
anwendet.
- sich argumentativ mit Amoralisten und radikalen
Egoisten auseinandersetzt und dabei ein Leben
im Einklang mit der Moral als gutes Leben
verteidigt.
Literaturhinweise
G. Santas, Plato: Ethics, in: Shield, C. (ed.), The Blackwell
Companion to Ancient Philosophy, Oxford 2003, 118 –
129
D. Frede, Plato's Ethics. An Overview, in: E. Zalta (ed.),
Stanford
Encyclopedia
of
Philosophy,
http://plato.stanford.edu/entries/plato-ethics/
E. Brown, Plato's Ethics and Politics in The Republic, in:
E. Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy,
http://plato.stanford.edu/entries/plato-ethics-politics/
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