Alice Schumann: Prosozialität im Hinduismus in Lehre und Geschichte bis Gandhi. Religionspädagogik in Forschung und Praxis Bd. 1. Hamburg: Dr. Kovać 2011, 384 S. Zeittafel, Glossar (zugleich Dissertation an der Universität zu Köln 2010) – ISBN 978-3-8300-5504-4 Die Autorin bezieht sich mit dieser sozialpädagogisch ausgerichteten Dissertation sowohl auf originale Quellen, indologische Diskussionsfelder und auf praktische Erfahrungen: Ihr eigener biografischer Hintergrund ist geprägt durch jahrelange engagierte Arbeit im interreligiösen Dialog und durch Reisen nach Indien sowie die Arbeit für ein Sozialprojekt dort, das sie weiter begleitet. Mit einem solchen hermeneutischen Schlüssel gehen religiöse Schwerpunktsetzungen, religionswissenschaftliches Interesse und pädagogische Erkenntnisse eine Verbindung interdisziplinärer Art ein, die dadurch auch dem interkulturellen und dem interreligiösen Lernen nicht nur im Bereich der Sozialpädagogik zugute kommen. In diesem Rahmen gehört auch die von der Autorin herangezogene BhaktiFrömmigkeit, zugleich Tendenz in jenen hinduistischen Richtungen, bei denen die Kastenfrage eher am Rande auftaucht. Die innige Liebesbeziehung bildet den Grund des gesamten religiösen Lebens und eröffnet eine klare Perspektive für sinnhaftes Verhalten. Die Personifizierung des Göttlichen spielt dabei eine ziemlich untergeordnete Rolle. Ethische Vorgaben Angesichts dieser biografischen Verbindungen und mit der Schwerpunktsetzung auf die Bhakti-Frömmigkeit hat sich die Autorin zugleich einen unverkrampften Zugang zu der bis heute nicht überwundenen Kastenproblematik in Indien verschafft. Dazu bedient sich Alice Schumann der eigenständigen Kommentierung der Quellen. Für die Sozialpädagogik ist das sicherlich eine ungewöhnliche Herangehensweise, Wichtig jedoch ist, Pro-Sozialität als Teil von Religion zu erkennen und dies am Hinduismus sowohl geschichtlich orientiert wie grundsätzlich vorzuführen. Dies dürfte sowohl für die Religionswissenschaft wie für die Sozialpädagogik neue interdisziplinäre Sichtweisen eröffnen. Um nun aber nicht von vornherein in Schematismen zu verfallen und Vorurteile zu schnell als nicht stringent beiseite zu lassen, definiert Alice Schumann nach der Vorstellung ihrer Arbeitsmethode und der Hauptquellen einleitend die Begriffe Altruismus/Nächstenliebe und Prosozialität im Kontext ethischer Vorgaben, insbesondere der „Goldenen Regel“. Unter Heranziehung einer Reihe von Fachwissenschaftlern, besonders des Sozialpädagogen Hansjosef Buchkremer, wird die Uneigennützigkeit im Altruismus der Prosozialität gegenübergestellt, die Selbstlosigkeit nicht voraussetzt, aber die enge Verbindung von Altruismus und Prosozialität zeigt (S. 28). Von da aus ordnet sie die „Goldene Regel“ als ethische Basis in die philosophischen und religiösen Traditionen Europas und Asiens ein. Weltanschauliche Hintergründe des vielfältigen Hinduismus Die Autorin stellt nun die Grundzüge verschiedener hinduistischer Richtungen dar, besonders die vedischen und upanishadischen Varianten bis hin zu Bhagavad Gita (Kap. 1). Um Prosozialität zu verstehen, unterscheidet sie individuelle und gesellschaftliche Ordnung, weil die individualpädagogischen Konzeptionen stärker Dharma, Karma und Samsara einbeziehen, in der Gesellschaftsordnung aber die Kastenfrage virulent wird (Kastenursprung in den vier „Varnas“ und Entstehung der eigentlichen Kasten „Jatis“, S. 151ff und 208ff). Das Manu-samhita/Manu-smrti spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. (vgl. INTR°A-Rezension: http://ein-sichten.blogs.rpi-virtuell.net/2010/12/15/hinduismus-verstehen-lernen-manus-gesetzbuch/) Dass durch die differenzierte gesellschaftliche Gliederung in Kasten auch ein „prosoziales Integrationspotential entsteht“ (S. 212ff), leuchtet zwar ein, hat aber auch seine Schattenseiten. So muss man trotz aller Pervertierungen, die Radakrishnan (und auch Gandhi) betonen, wohl fragen, inwieweit durch diese an Kasten orientierte Integrationskraft der Hinduismus Vorbildcharakter für andere Kulturen, Nationen und Religionen habe (S. 212f). Die Autorin selbst hält sich hier mit einer Wertung zurück. Man vergleiche darum die auch von ihr herangezogene deutlich abweichende Haltung von Bhimrao Ramji Ambedkar, der aus Protest gegen das Kastenwesen insgesamt mit fast 400.000 Anhängern 1956 zum Buddhismus übertrat (siehe: Rodrigues, Valerian [ed.]: The Essential Writings of B.R. Ambedkar. New Delhi u.a.: Oxford Univ. Press 2010, 8. Aufl.) Prosoziale Tendenzen in der Geschichte Indiens Alice Schumann geht nun im 2. Kapitel den prosozialen Formen im Hinduismus geschichtlich nach. Dem Aufstieg und Niedergang der hinduistischen Großreiche kommen der zum Buddhismus übergetretene Ashoka und der muslimische Akbar natürlich besonders ins Blickfeld. Dabei fällt auf, dass die Autorin die im Hinduismus angelegte Prosozialität auch hier weiter bestehen sieht. Gewiss haben Buddhismus wie Islam aus ihre eigenen Quellen sehr starke eigene altruistische und prosoziale Züge entwickelt. Einen besonderen Schwerpunkt legt sie auf die immer wieder und unterschiedlich stark gesellschaftlich wirkende Bhakti-Frömmigkeit, aus deren Rahmen auch der Sikhismus erwachsen ist. Die europäische Kolonisation sowie die katholische und protestantische Mission haben interessanterweise das vorherrschende Kastenwesen nicht aufgelöst, sondern nur leicht verändert: „Weder die Eroberer oder Missionare, noch die späteren hinduistischen Reformer waren in der Lage, dieses System abzuschaffen, da es an Glauben und Überzeugung an starke Familientraditionen gebunden war“ (S. 280). So sieht die Autorin durch die Kolonialpolitik eine Zementierung und Verschärfung der Ungerechtigkeiten im Kastenwesen dadurch, dass u.a. das Reinheitsprinzip ethisch so in den Vordergrund 1 gestellt wurde, dass die Unberührbarkeit, verbunden mit einer extremen Armut, ein kontinuierlicher Skandal bleibt (S. 280). Neohinduismus: 19./20. Jahrhundert Angesichts dieser brisanten Mischung aus gesellschaftlichen Vorbedingungen und kolonialer Wirkungsgeschichte bekommt der Reform orientierte Neohinduismus eine wichtige Funktion sowohl im Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft wie in der Ausprägung eigenständiger Formen (Kap. 3). Neben der von Ram Mohan Roy (1772–1833) gegründeten Brahma-Vereinigung (Brahmo Samaj) kommen die auf Dayananda Saraswati (1824– 1883) zurück gehende Arya Samay (Gesellschaft der Arier = Gesellschaft der Edlen) und natürlich Ramakrishna (1836–1886) sowie sein Schüler und Gründer der Ramakrishna-Mission Vivekananda (1863–1902) ins Blickfeld. Die letzten beiden betonen besonders denselben Gott und die Wahrheit, die in allen Religionen vorhanden ist, so dass Konversionen unsinnig erscheinen müssen. Schließlich richtet Alice Schumann ihr Augenmerk besonders auf Gandhis „hinduistisch-prosoziale Beweggründe“, Sozialkritik und Aktionen der Gewaltlosigkeit (S. 300ff), und zwar in seiner biografisch-geschichtlichen Entwicklung von Südafrika bis zur Befreiung Indiens. Hinduismusbilder in Europa Im 4. Kapitel geht es schließlich um die Rezeption hinduistischer Elemente in das abendländische Bewusstsein, das zwischen orientalischer Begeisterung und Ignoranz schwankt. Die Autorin verdeutlicht dies u.a. an Hegel und besonders an Max Weber, der sich ausführlich mit Radhakrishnan auseinandersetzte. Als Ergebnis hält sie fest, dass im Blick auf das Christentum der Hinduismus auf Grund seiner a-hierarchischen Struktur keine karitativen Organisationen in großem Ausmaß entwickelt hat, aber sowohl selbstloses Handeln wie prosoziale Wirkungen ermöglicht. Von daher kann im Dialog mit Hans Küngs Weltethos-Konzept die für den Hinduismus „typische Grundeinstellung“ nach einübender Praxis über jede Lehre hinaus als bereicherndes Element insgesamt gesehen werden. Dies gilt umso mehr, wenn man auf das beispielhafte Handeln der hinduistischen Reformer zurückgreift. Als Anhang zur Dissertation gibt Alice Schumann ein Gespräch mit dem ehemaligen Leiter des UNESCOInstituts Hamburg, Prof. Ravindra Dave, wieder, in dem die Autorin die Einschätzung eines kompetenten IndienExperten für ihre Anfragen und zur aktualisierenden Konkretisierung benutzt. Ausblick Insgesamt liegt mit dieser Dissertation eine wichtige sozialpädagogische und religionsvergleichende Herausforderung vor. Diese nötigt, viel stärker auf Religionen übergreifende ethische Werte und Normen bei den aktuellen gesellschaftlichen Diskursen zu setzen. Dabei stehen solche „cross-cultural“ Beurteilungen offensichtlich erst am Anfang und bedürfen weiterer Fortsetzungen. Aber der bisher nur in Ansätzen vorhandene hinduistisch-christliche Dialog muss über die bisherigen Grundlagen eines Weltethos noch hinausgehen, und zwar im Sinne der Intensivierung interreligiösen Lernens sowie universal einzufordernder anthropologischer und sozialethischer Konsequenzen. Reinhard Kirste Rz-Schumann 25.01.11 2